Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen The Ravages of Time: Latest Results from Analyzing Dental Structures in Fossil Humans Kupczik, Kornelius Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Zähne sind dank ihrer mineralisierten Zusammensetzung die am häufigsten erhaltenen Elemente im Fossilbericht der menschlichen Evolution. Sie geben Aufschluss über die Entw icklung und Ernährung des Menschen und seiner fossilen Vorfahren sow ie der Beziehung zu seiner Umw elt. W issenschaftler des MaxPlanck-Instituts für evolutionäre Anthropologie nutzen diese biologische Informationsquelle, um herauszufinden, inw iefern sich der Mensch von anderen Primaten unterscheidet und w ann und w ie unsere fossilen Vorfahren die Schw elle zur anatomischen und kulturellen Modernität überschritten haben. Summary Due to their mineralized content, teeth are by far the most commonly preserved remains in the human fossil record. The structure of the basic modules of teeth provides clues about the development and diet of humans and their fossil ancestors as w ell as their relation to the environment. Scientists of the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology make use of this biological source of information to find out in w hich w ays modern humans differ from other primates and w hen and how the fossil ancestors of modern humans passed the threshold to anatomical and cultural modernity. Rekonstruktion der Stammesgeschichte und der Ernährung des Menschen Die Untersuchung der Morphologie, das heißt der Größe und Gestalt von Zähnen, gibt Aufschluss über unterschiedliche Anpassungen an die Nahrung und Nahrungsaufnahme bei menschlichen und nichtmenschlichen Primaten. Diese sind von großer Bedeutung sow ohl für Studien zur Biologie von lebenden Primaten als auch für Fragen zur Evolution der Ernährung des Menschen und seiner fossilen Vorfahren. Darüber hinaus tragen zahnmorphologische Merkmale maßgeblich zum Verständnis der stammesgeschichtlichen Beziehungen der fossilen Arten der menschlichen Familie bei. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen Dre idim e nsiona le C om pute rre k onstruk tion de r unte re n Ba ck e nzä hne e ine s Ne a nde rta le rs, e ine s m ode rne n Me nsche n und de s Me nsche n von He ide lbe rg, e ine s frühe n Vorfa hre n de s he utige n Me nsche n. Die soge na nnte n P ulpa höhle n, die im le be nde n Za hn die Ne rve n e ntha lte n, wurde n virtue ll e x tra hie rt und ge tre nnt da rge ste llt (re chte Se ite ). © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Durch bildgebende Verfahren, insbesondere Computertomografie und Mikrotomografie, erhält man präzise 3DAbbilder von fossilen Kiefern und Zähnen inklusive der zerstörungsfreien Darstellung innerer Strukturen w ie des Zahnschmelzes und des Zahnbeins (Dentin) sow ie der Zahnw urzeln [1] (Abb. 1). Der harte Zahnschmelz, der dem Zahnbein aufliegt und den Großteil der Zahnkrone ausmacht, ist in den Backenzähnen der sogenannten robusten Australopithecinen (Paranthropus robustus) besonders dick. Sie haben vor etw a zw ei bis einer Million Jahren im südlichen Afrika gelebt haben und sind sehr w ahrscheinlich ein fossiler Seitenzw eig innerhalb der menschlichen Familie. Interessanterw eise ist der Zahnschmelz des modernen Menschen ebenso dick und zum Teil sogar dicker als der von Paranthropus robustus, trotz der vermeintlich w eicheren Nahrung von Homo sapiens verglichen mit seinem fossilen Verw andten. Die Neandertaler, die dem modernen Menschen stammesgeschichtlich am nächsten stehen, besitzen dagegen eine relativ dünne Zahnschmelzkappe auf ihren Backenzähnen [2]. Die Topografie der Grenzfläche zw ischen Zahnschmelz und Zahnbein, die sogenannte Schmelz-Dentin-Grenze, ist ebenso von stammesgeschichtlicher Bedeutung. Jüngste Studien zeigen, dass man anhand der Struktur der Schmelz-Dentin-Grenze der Backenzähne sow ohl Australopithecinen-Arten als auch Unterarten von Schimpansen unterscheiden kann [3] (Abb. 2). © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen C om pute rre k onstruk tion de r Krone e ine s unte re n Ba ck e nza hne s e ine s Schim pa nse n. De r Za hnschm e lz ist tra nspa re nt da rge ste llt, um da s da runte rlie ge nde Za hnbe in zu ze ige n. Die ge lbe n Kuge ln ste lle n Me sspunk te da r, die zur m a the m a tische n C ha ra k te risie rung de r O be rflä che von Za hnstruk ture n ve rwe nde t we rde n. © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Welche Bedeutung allerdings dicker gegenüber dünnem Zahnschmelz oder die Unterschiede in der Form der Schmelz-Dentin-Grenze innerhalb verschiedener fossiler menschlicher Arten für die Funktion des Zahnes und somit für das Kauen und die Ernährung haben, liegen noch w eitgehend im Dunkeln. Durch experimentelle Messmethoden und computerbasierte numerische Simulationsverfahren lassen sich aber genau diese Fragen zur Beziehung zw ischen der Zahnmorphologie und ihrer funktionalen Bedeutung eingehender klären. Derzeit untersuchen W issenschaftlerinnen und W issenschaftler der Abteilung für Humanevolution des Max-PlanckInstituts für evolutionäre Anthropologie und vom Weizmann Institute of Science in Israel gemeinsam, w ie sich Zähne von heutigen Primaten unter Kaubelastung verformen und w elche Rolle dabei Unterschiede in der Schmelzdicke sow ie in der Form der Zahnw urzeln spielen. Die dabei gew onnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für w eiterführende Studien zur Zahnfunktion von fossilen Menschen. Entschlüsselung von Wachstumsprozessen Ebenso w ie bei zahlreichen anderen biologischen Systemen bestimmt ein tagesrhythmischer Zyklus die Bildung der Zahnhartgew ebe. Entw icklungsgeschw indigkeit und -dauer w erden bis zum Abschluss der Zahnbildung fortw ährend als Wachstumslinien im Zahnschmelz und im Zahnbein gespeichert. Diese Wachstumslinien ähneln den Jahresringen von Bäumen und mit ihrer Hilfe lässt sich das Alter eines Individuums bis zu einem gew issen Grad bestimmen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Wachstumsraten zw ischen verschiedenen Arten. Beispielsw eise entw ickeln sich Skelett und Zähne beim modernen Menschen langsamer als bei den lebenden großen Menschenaffen und fossilen Menschen. So dauern die Entw icklung und der Durchbruch des ersten Backenzahnes des Dauergebisses (Molar) beim Menschen bis zum sechsten bis siebten Lebensjahr an. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen Demgegenüber nimmt man an, dass sie bei Homo erectus, einem fossilen Vorläufer des modernen Menschen, nach ungefähr 4,5 Jahren abgeschlossen w aren und damit der Zahnentw icklung von frühen Hominiden ähnlicher sind, w ie sich an einem 3,3 Millionen Jahre alten Fossil eines Australopithecus-afarensis-Mädchens aus Dikika in Äthiopien zeigen lässt [4, 5]. Da das Durchbruchsalter des ersten Backenzahnes bei lebenden Primaten mit der Entw icklung der Gehirngröße gekoppelt ist, ist dieser Entw icklungsabschnitt ein w esentliches Ereignis in der biologischen Lebensgeschichte eines Individuums. Die Untersuchung der Zahnentw icklung bei fossilen Menschen ist daher besonders w ichtig, um herauszufinden, w ann bei den menschlichen Vorfahren der Schritt zur Entstehung des modernen Menschen stattgefunden hat. Im Vergleich zum modernen Homo sapiens w uchsen die Zähne beim Neandertaler generell schneller, w ie die Untersuchung eines 100.000 Jahre alten Neandertalerkindes aus Belgien gezeigt hat [6]. Obw ohl das Durchbruchsalter des ersten Backenzahnes nicht genau zu bestimmen w ar, gehen Forscher von einem W ert von knapp unter sechs Jahren aus. Damit w ürde das Entw icklungsmuster der Neandertaler zw ischen dem von Homo erectus und heute lebenden Menschen liegen. Anhand der Analyse der Zahnw achstumslinien in einem fossilen menschlichen Unterkiefer aus Nordafrika w urde mittels eines hochauflösenden Synchrotron-Mikrotomografieverfahrens nachgew iesen, dass bereits Menschen vor mehr als 160.000 Jahren ein ähnliches Wachstumsmuster und Zahndurchbruchsalter aufw iesen w ie das des heutigen Menschen [4]. Mit dem Einsatz von Synchrotronstrahlung, w ie es an der European Synchrotron Radiation Facility im französischen Grenoble möglich ist, beginnt das Zeitalter der virtuellen Histologie (Gew ebelehre), die es ermöglicht, zuvor unzugängliche Entw icklungsmerkmale virtuell freizulegen, ohne ein fossiles Fundstück dabei zu zerstören (Abb. 1) [4]. Zähne als biochemisches Archiv Im Laufe des Skelett- und Zahnw achstums w erden sogenannte stabile Isotope in die Hartgew ebe – Knochen, Schmelz und Zahnbein – eingelagert, die zuvor über die Nahrung und Wasser in den Körper aufgenommen w orden sind. Stabile Isotope sind natürliche Bestandteile vieler chemischer Elemente, die sich in ihrer Neutronenzahl oder Massenzahl unterscheiden und im Gegensatz zu radioaktiven Isotopen nicht zerfallen. Dazu gehören unter anderen Kohlenstoff, Stickstoff, Schw efel und Strontium, die für die Rekonstruktion der Ernährung und Migrationsmuster prähistorischer Menschen w ichtig sind. Das Verhältnis der Anteile von Kohlenstoff- und Stickstoffisotopen von in Knochen und Zahnbein enthaltenen Eiw eißen, das durch massenspektrometrische Methoden ermittelt w ird, sagt beispielsw eise etw as über die Zusammensetzung der Nahrung aus. Daher kann man in prähistorischen Populationen zw ischen der Ernährung von Meeresfrüchten und der basierend auf terrestrischer Nahrung unterscheiden [7]. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen P robe ne ntna hm e für die Ana lyse von Strontium isotope n: unte re r m e nschliche r Ba ck e nza hn (link s) und Na ha ufna hm e de r O be rflä che de s Za hnschm e lze s m it m ik rosk opisch k le ine n Löche rn (re chts). © Ma x -P la nck -Institut für e volutionä re Anthropologie Der Anteil von Strontiumisotopen lässt dagegen Aussagen über die Wanderungsbew egungen eines Menschen w ährend seiner Kindheitsphase zu, da das Vorkommen von Strontium boden- beziehungsw eise ortsabhängig ist. Anhand der Strontiumanalyse eines 40.000 Jahre alten Backenzahnes aus Griechenland konnte gezeigt w erden, dass Neandertaler im Laufe ihres Lebens mobil gew esen sind und nicht in geografisch eingeschränkten Arealen lebten [8]. Die Strontiumisotope im Zahnschmelz w urden mithilfe der Methode der Laserablation zur Entnahme von mikroskopisch kleinen Proben bestimmt. Diese lässt eine detaillierte Analyse zu und man verliert gegenüber herkömmlichen Messmethoden nur w enig Probenmaterial (Abb. 3). Da Zähne ebenfalls ein Speicherort der DNS sind, aus deren Analyse Genetiker entscheidende Erkenntnisse über verw andtschaftliche Beziehung von Neandertalern und dem modernen Menschen ziehen, stellen Zähne somit ein mannigfaltiges Archiv zur Entschlüsselung der biologischen und kulturellen Evolution des Menschen dar. Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenAbsatzBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] K. Kupczik, M. C. Dean: Comparative observations on the tooth root morphology of Gigantopithecus blacki. Journal of Human Evolution 54, 196–204 (2008). © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2009/2010 | Kupczik, Kornelius | Der Zahn der Zeit: Aktuelle Ergebnisse der Analyse von Dentalstrukturen fossiler Menschen [2] A. J. Olejniczak, T. M. Smith, M. M. Skinner, F. E. Grine, R. N. M. Feeney, J. F. Thackeray, J.-J. Hublin: Three-dimensional molar enamel distribution and thickness in Australopithecus and Paranthropus. Biology Letters 4, 406–410 (2008). [3] M. M. Skinner, P. Gunz, B. A. Wood, J.-J Hublin: Enamel-dentine junction (EDJ) morphology distinguishes the lower molars of Australopithecus africanus and Paranthropus robustus. Journal of Human Evolution 55, 979–988 (2008). [4] T. M. Smith, P. T. Tafforeau, D. J. Reid,R. Grün, S. Eggins, M. Boutakiout, J.-J. Hublin: Earliest evidence of modern human life history in North African early Hom o sapiens. Proceedings of the National Academy of Sciences 104, 6128–6133 (2007). [5] Z. Alemseged, F. Spoor, W. H. Kimbel, R. Bobe, D. Geraads, D. Reed, J. G. Wynn: A juvenile early hominin skeleton from Dikika, Ethiopia. Nature 443, 296–301 (2006). [6] T. M. Smith, M. Toussaint, D. J. Reid, A. J. Olejniczak, J.-J. Hublin: Rapid dental development in a Middle Paleolithic Belgian Neanderthal. Proceedings of the National Academy of Sciences 104, 20220–20225 (2007). [7] Y . Hu, H. Shang, H. Tong, O. Nehlich, W. Liu, C. Zhao, J. Y u, C. Wang, E. Trinkaus, M. P. Richards: Stable Isotope Dietary Analysis of the Tianyuan 1 Early Modern Human. Proceedings of the National Academy of Sciences 106, 10971–10974 (2009). [8] M. P. Richards, K. Harvati, V. Grimes, C. Smith, T. Smith, J.-J. Hublin, P. Karkanas, E. Panagopoulou: Strontium isotope evidence of Neanderthal mobility at the site of Lakonis, Greece using laser-ablation PIMMS. Journal of Archaeological Science 35, 1251–1256 (2008). © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/6