Economics 16.10.2012 Seite 1 von 13 Economic Newsletter Extra Griechenland und der Euro: Zwischen Skylla und Charybdis 1 Als Griechenland am 1. Januar 2001 der Eurozone beitrat, erfüllte es zwar formal jene Voraussetzungen, die als Maastricht-Kriterien bekannt wurden, im Nachhinein stellte sich jedoch heraus, dass Griechenland geschönte Daten geliefert hatte. Ein im November 2004 veröffentlichter Bericht von Eurostat zeigte auf, dass von Griechenland an die Kommission mitgeteilten Defizitzahlen nicht nach den europäischen Regeln berechnet worden waren. Nach der Neuberechnung lagen die griechischen Defizitangaben für die Jahre 1997 bis 2000 über dem Konvergenzkriterium von 3 % des BIP, sodass Griechenland der Währungsunion eigentlich nicht hätte beitreten dürfen. Durch die Zustimmung der europäischen Finanzminister konnte Griechenland trotzdem in der Währungsunion bleiben – mit allen, damals vernachlässigten, Risiken. Das Konzept einer Währungsunion Betrachtet man den Euroraum durch die Brille der verschiedenen ökonomischen Theorien über optimale Währungsräume, sind einige Fehler in der Konzeption der Europäischen Währungsunion (EWU) sofort offensichtlich. So besagt z.B. die Theorie des Wirtschaftsnobelpreisträgers Robert Mundell, dass ein gemeinsamer Währungsraum nur dann optimal ist, wenn ein externes Gleichgewicht bei gleichzeitiger Erreichung binnenwirtschaftlicher Ziele herbeiführbar ist. Sprich: Ein Währungsraum ist nur dann optimal, wenn eventuelle externe Schocks auf alle teilnehmenden Volkswirtschaften die gleichen Auswirkungen haben oder wenn – für die Praxis relevanter – eine hohe Faktormobilität zwischen den Mitgliedsstaaten besteht. Denn dadurch können die Ungleichheiten, die aufgrund eines Schocks entstehen, ausgeglichen werden (insbesondere beim Faktor Arbeit). Im Vergleich zur USA ist die Arbeitsmobilität innerhalb Europas allerdings nicht stark ausgeprägt, im Falle Griechenlands ist sie sogar noch schwächer. Angesichts dieser Theorie aus dem Jahre 1961 (!) ist es also fraglich, ob Griechenland überhaupt als funktionierender Teil einer optimalen Währungsunion anzusehen war.2 1 2 Skylla und Charibdis waren zwei Ungeheuer der griechischen Antike, zwischen denen sich Odysseus (König von Ithaka, Erbauer des trojanischen Pferdes, Protagonist eines der ersten Reiseberichte der Welt) durchlavieren musste. Charybdis, gestaltlos und gefräßig, saugte dabei das Meer ein und verschlang alles, was sich darauf befand, während Skylla mit ihren langen Fangarmen alles erstickte. Die Gestalt der Skylla ist überliefert: sie hatte den Oberkörper einer Frau, als Unterleib aber 12 Hundebeine und 6 Hundeköpfe. Diese Frage wäre allerdings auch in Bezug auf manch anderes Land gerechtfertigt. Economics 16.10.2012 Seite 2 von 13 Auch unter Bedachtnahme der Erweiterung des Modells von Mundell durch Ronald McKinnon lässt sich eine Aufnahme Griechenlands nicht rechtfertigen. McKinnon bezog den Offenheitsgrad einer Wirtschaft mit ein und postulierte, dass je offener eine Volkswirtschaft ist, desto weniger wirkungsvoll sind nominelle Wechselkursänderungen. Betrachtet man die Offenheit eines Landes als Durchschnitt von Import und Export im Vergleich zum BIP, zeigt sich, dass Griechenland mit nur 25 % (2010) wesentlich schwächer im internationalen Markt integriert ist als beispielsweise Deutschland mit 76 % oder Frankreich und Italien mit jeweils 49% des BIP. Unter diesem Aspekt ist eine Teilnahme Griechenlands an der EWU daher ebenfalls als kritisch zu betrachten. Maastrichter EUKonvergenzkriterien: Das jährliche Defizit der EuroMitgliedsstaaten muss unter 3 % des BIP liegen und die Gesamtverschuldung darf die Grenze von 60 % des BIP nicht übersteigen. Zusätzlich beinhalten die Kriterien das Ziel der Preisstabilität (maximal 1,5 Prozentpunkte über der durchschnittlichen Inflationsrate der drei preisstabilsten Mitgliedsländer), Wechselkursstabilität (mindestens zweijährige Teilnahme am Europäischen Wechselkurssystem ohne Abwertung) und – ironischerweise – eine langfristige Zinsstabilität: der Zinssatz für Staatsanleihen darf nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedsstaaten liegen. Peter Kenen untersuchte anschließend die erste Annahme Mundells (Staaten sind gleichen oder ähnlichen Schocks ausgeliefert) und erweiterte das Modell um die Integration des Gütermarktes und um die Ähnlichkeit der Wirtschaftszyklen der einzelnen Mitgliedsländer. Kenen schlussfolgerte, dass eine stärkere Verflechtung von Volkswirtschaften ein Auftreten asymmetrischer Schocks eher unwahrscheinlich macht. Sein zweiter Beitrag war die Berücksichtigung der Produktdiversifikation mit der Aussage, dass ein höherer Spezialisierungsgrad einer Region (eines Landes) die Anfälligkeit für asymmetrische Schocks erhöht. Für die Validierung dieser Theorie muss man sich zuerst die Wirtschaftsstruktur eines Landes ansehen. Im Fall Griechenlands wird vielfach angenommen, dass es „dort“ nur Tourismus und Landwirtschaft gibt – somit ein Indiz für einen hohen Spezialisierungsgrad und eine damit verbundene hohe Anfälligkeit für einen asymmetrischen Schock. Aber hält diese These der Realität stand? Primärer Sektor Die Landwirtschaft stellt für Griechenland eine bedeutende Einnahmequelle dar und beschäftigte im Jahr 2010 12 % der erwerbstätigen Bevölkerung. Im selben Jahr waren über 24 % der griechischen Exporte und 12,5 % der Importe landwirtschaftliche Produkte. Die klimatischen Bedingungen begünstigen den Anbau von Gemüse und Früchten sowie die Schaf- und Ziegenzucht. Eine ausgesprochen dynamische Entwicklung verzeichnete in den letzten Jahren die griechische Fischzucht. Mit einem Anteil von ca. 65 % an der gesamteuropäischen und ca. 57 % an der weltweiten Produktion von Wolfsbarsch und Königsbrasse ist Griechenland weltweit der größte Anbieter dieser Fischsorten. Mit 3,3 % (2011) hat Griechenland einen wesentlich größeren Primärsektor als der EU Durchschnitt (1,8 %). Selbst innerhalb der PIIGS-Staaten 3 hat nur Spanien mit 3,2 % einen vergleichsweise ähnlich stark ausgeprägten Sektor. Angesichts der geringen Größe des Primärsektors 3 Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien. Economics 16.10.2012 Seite 3 von 13 Griechenlands kann man dennoch nicht von einer Spezialisierung in diesem Wirtschaftsbereich sprechen. Sekundärer Sektor 2010 trug der griechische Industriesektor ca. mit 18 % zum BIP bei, beschäftigte 18% der erwerbstätigen Bevölkerung und lieferte knapp 60 % der griechischen Exporte. Innerhalb der PIIGS-Staaten weist Griechenland somit den niedrigsten Anteil des Sekundärsektors am BIP auf; der EU-Durchschnitt beträgt 25 %. Die von der Finanzkrise stark betroffene Sachgütererzeugung ist durch eine Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen gekennzeichnet. Die Mehrheit dieser Unternehmen sind kleine Familienbetriebe in den traditionellen Branchen Nahrungsmittel und Getränke, Bekleidung und Textilien, chemische Produkte und Plastik, Öl und Kohleprodukte, Glasprodukte und Zement. Neue Industrien entwickelten sich in den letzten Jahren in den Bereichen Technologie und Kommunikation. Tertiärer Sektor Der Dienstleistungssektor erzeugte 2010 knapp 79% des BIP und beschäftige 70% der erwerbstätigen Bevölkerung. Griechenland hat somit einen der ausgeprägtesten Tertiärsektoren innerhalb der EU (EU-Durchschnitt: 73,2 %). Die bedeutendsten Branchen dieses Sektors sind der Tourismus, die Schifffahrt, der Finanzsektor und der Handel. Die wichtigsten Sparten sind das Grundstücks- und Wohnungswesen, die öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung sowie Großhandel. Der griechische Staat hat jedoch einen aufgeblähten öffentlichen Sektor, welcher mitverantwortlich für den hohen Wettbewerbsnachteil von Griechenland gegenüber seinen Handelspartnern ist. Setzt man die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung, dem Militär und den Sozialversicherungen ins Verhältnis zu den insgesamt Beschäftigten, ergibt sich ein Anteil von 9 %. Das Land ist hierbei Spitzenreiter innerhalb der Europäischen Union. GR: Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung in % der Gesamtbeschäftigung Österreich Euroraum Spanien Griechenland 2011 2008 0% Q: Eurostat 1% 2% 3% 4% 5% 6% 7% 8% 9% 10% Economics 16.10.2012 Seite 4 von 13 Wird der Betrachtungswinkel erweitert und alle bei der öffentlichen Hand Beschäftigten zusammengezählt – wie Lehrer und staatliche Unternehmen – ist jeder vierte Erwerbstätige beim griechischen Staat beschäftigt. Notwendige Strukturreformen gehen indes schleppend voran: Von den rund 2.000 staatlichen Unternehmen, die oft defizitär geführt werden, sind bis Mitte 2012 erst 100 Betriebe geschlossen worden. Bis 2015 sollen von den 768.000 im griechischen Staatsapparat Beschäftigte, 150.000 Angestellte abgebaut werden. Aufgrund des großen Widerstandes, konnte die Regierung bislang jedoch erst die Entlassung von ungefähr einem Zehntel dieses Zieles durchsetzen. Allerdings konnten durch Lohn- und Gehaltskürzungen um mindestens 20 %, große Einsparungen im öffentlichen Dienst geschaffen werden. Zusätzlich ist Griechenland für seine vielen kleinen Läden bekannt, das Land hat einen hohen Anteil selbstständig Erwerbstätiger. In fast allen Geschäftszweigen liegt das Verhältnis der Selbstständigen zu den Gesamtbeschäftigten beinahe doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Eurozone. Dies zieht sich durch alle Wirtschaftszweige, insbesondere in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei, sowie in den wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen. Wenn alle griechischen Freiberufler und Selbstständigen ihre Steuern regulär abführen würden, bräuchte Griechenland einer Studie der Booth School of Business der Universität Chicago 4 zufolge kein neues Sparprogramm. In dieser Studie wurde aufgezeigt, dass die tatsächlichen Einkommen weit höher sind als offiziell angegeben. Dadurch entgehen dem Staat jedes Jahr 11,2 Mrd EUR. Dem gegenüber gestellt: Das Sparpaket, das die griechische Regierung zuletzt mit den internationalen Geldgebern vereinbart hat, hat ein Volumen von 11,5 Mrd EUR. GR: Selbstständig Erwerbstätige im Vergleich zur Gesamtbeschäftigung in % Euroraum 2012Q1 Erziehung und Unterricht Griechenland 2012Q1 Wissenschaftliche und technische Dienstleistungen Information und Kommunikation Gastgewerbe KFZ-Handel und Reparatur Baugewerbe Verarbeitendes Gewerbe Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Alle Wirtschaftszweige 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Q: Eurostat 4 Artavanis, Morse and Tsoutsoura: Tax evation across industries – Soft credit evidence from Greece; 25. Juni 2012; Link: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2109500 Economics 16.10.2012 Seite 5 von 13 Angesichts der wirtschaftstheoretischen Grundlage zu gemeinsamen Währungsräumen wird klar, dass die EWU ganz offensichtlich nicht nach einem rein ökonomischen Kalkül aufgebaut wurde. Ökonomisch gesehen war es nie sinnvoll, Griechenland in die EWU aufzunehmen, allerdings war die Idee eines geeinten Europas die treibende politische Kraft. Was aber waren und sind die Folgen des Beitritts Griechenlands zur EWU, zumal für das Land selbst? • Die Zinsen für Staatsanleihen fielen beinahe auf das Niveau von Deutschland. Dank dieser niedrigen Zinsen war es Griechenland möglich, billige Schulden aufzunehmen. Griechenland begann eine expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Der Großteil der Mittel floss jedoch nicht in öffentliche Investitionen sondern direkt in den Konsum. • Nach der Einführung des Euros verfehlte Griechenland die durchschnittliche Inflationsrate der Euroländer, die bis zum Ausbruch der Finanzkrise zwischen 2 % und 2,3 % pendelte, ständig. In Griechenland betrug die Preissteigerung stattdessen stetig zwischen 3 % und 4 %. Im Einklang mit höheren Inflationsraten kamen höhere Lohnforderungen der Gewerkschaften. • Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands lässt sich auch aus der Leistungsbilanz ablesen. Seit 1995 wies Griechenland ein sich stetig ausweitendes Leistungsbilanzdefizit auf und erreichte im Jahr 2008 einen Höhepunkt mit einer Lücke von 17,9 % des BIP. Seitdem konnte das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht zwar kontinuierlich abgebaut werden, ist aber immer noch defizitär. • Durch den Beitritt und den Währungswechsel verlor Griechenland, wie alle EuroStaaten, die Möglichkeit, über seine Geldpolitik selbst zu bestimmen. GR: Leistungsbilanz 0,0 0 -2,0 -5.000 -4,0 -10.000 -6,0 -8,0 -20.000 -10,0 -12,0 -25.000 -14,0 -30.000 -16,0 -35.000 Leistungbilanz Mio EUR Leistungbilanz % BIP -18,0 -40.000 -20,0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Q: Eurostat (ecowin), DGECFIN % BIP Mrd EUR -15.000 Economics 16.10.2012 Seite 6 von 13 Bei Betrachtung der ökonomischen Faktoren hat sich die Lage Griechenlands durch den Beitritt zur EWU also stark verbessert – ein robustes BIP-Wachstum, hohe Erwerbstätigkeit, eine starke Inlandsnachfrage usw. Allerdings konnte all dies nur aufgrund der billigen Finanzierung geschehen, die nicht nachhaltig war und nur die Ineffizienzen der griechischen Wirtschaft übertünchte. Mit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise wurde dies nur allzu offensichtlich: Desolate Staatsfinanzen aufgrund eines dysfunktionellen Fiskalsystems, ein überdimensionierter öffentlicher Sektor, gepaart mit endemischer Korruption und einem dramatischen Wettbewerbsverlust der griechischen Wirtschaft in den letzten Jahren. Staatsschuldenkrise Bereits vor dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise hatte Griechenland ein Budgetdefizit, das deutlich über dem Konvergenzkriterium von 3 % des BIP lag. Die Staatsausgaben lagen mit rund 64 % des BIP zwar im Durchschnitt der EU, die Einnahmen lagen mit 40 % allerdings drastisch darunter. Gründe für diese geringen Einnahmen sind unter anderem die ausgeprägte Schattenwirtschaft und die Korruption, die geringe offizielle steuerliche Bemessungsgrundlage griechischer Großunternehmer und schließlich eine weitläufig akzeptierte Steuerhinterziehung. Geschätzt wird, dass dem griechischen Staat aufgrund von Schattenwirtschaft jährlich bis zu 30 Mrd EUR entgehen, rund 25 % des BIP. Griechenland war denn auch das erste Land der Eurozone, das von der Staatsschuldenkrise erfasst wurde. 2009 stieg das Budgetdefizit auf 15 % des BIP und die gesamte Staatsverschuldung umfasste bereits 127 % des BIP. Der Zinsaufschlag griechischer 10Jahresanleihen auf den 10-Jahres Bund Deutschlands stieg Anfang Juni 2012 auf beinahe 3.000 Basispunkte. Unter normalen Umständen hätte Griechenland abgewertet, um die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen. In einem gemeinsamen Währungsraum steht diese Option aber nicht mehr zur Verfügung. Wettbewerbsverluste können nur durch eine „interne Abwertung“ ausgeglichen werden. GR: Öffentliche Ausgaben und Einnahmen in Mrd EUR 140 120 Budgetsaldo 100 80 60 40 Ausgaben Einnahmen 20 Q: Eurostat (EcoWin) 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001 2000 0 Economics 16.10.2012 Seite 7 von 13 Arbeitsmarkt, Nachfrage, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit Ein Indikator zur Messung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes sind die Lohnstückkosten. Diese werden durch den Quotienten des Lohnniveaus eines Landes mit der Produktionsmenge bzw. dem Output pro Beschäftigten oder pro Arbeitsstunde ausgedrückt. Insofern können Lohnstückkosten als personalbezogene Stückkosten angesehen werden. Die nominalen Lohnstückkosten geben Auskunft darüber, welchen Druck Lohnkosten auf das Preisniveau ausüben. Seit Beginn der Währungsunion 1999 bis zum Ausbruch der Staatsschuldenkrise 2009 stiegen die nominellen Lohnstückkosten in Griechenland um beinahe 35 %, während sich diese zum Beispiel in Deutschland innerhalb des selben Zeitraumes nur um rund 7 % erhöhten. Diese Daten lassen vermuten, dass Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit (nicht nur im Vergleich mit Deutschland) stark abnahm. Zwar legte im Zeitraum 2000 bis 2009 die Produktivität in Griechenland um 20 % zu (gemessen als reales BIP pro Erwerbstätigen), allerdings stiegen im selben Zeitraum die Lohnkosten umso mehr und nahmen um 55 % zu (in Deutschland 12 %). PIIGS: Nominelle Lohnstückkosten Index 1999 = 100 145,0 140,0 Portugal Irland 135,0 Italien Griechenland 130,0 Spanien Deutschland 125,0 120,0 115,0 110,0 105,0 100,0 95,0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Q: Eurostat Griechenlands Lohnstückkosten sind seit 2009 im Sinken begriffen, was in einem starken Maße an Lohnsenkungen und Einsparungen liegt. Im Mai 2012 stieg die Arbeitslosenquote in Griechenland auf 24,4 % und wird aller Voraussicht nach mittelfristig noch weiter steigen. Fünf Jahre zuvor lag die Arbeitslosenquote bei durchschnittlich 8 %. Ein Nebeneffekt des Rückgangs der Lohnstückkosten durch Lohnsenkungen ist eine abnehmende Kaufkraft pro Kopf. Bezogen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage trägt der private Konsum mit 77 % des BIP den größten Anteil zum griechischen Wirtschaftswachstum bei; plötzlich abnehmende Konsumausgaben treffen die griechische Wirtschaft also hart. Economics 16.10.2012 Seite 8 von 13 GR: Bruttoinlandsprodukt und privater Konsum Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % 6,0 BIP Privater Konsum 4,0 2,0 0,0 -2,0 -4,0 -6,0 -8,0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Q: Eurostat (EcoWin) Steigende Arbeitslosigkeit (dadurch zunehmende Arbeitsmigration) und steigende Steuern lassen allerdings auch keine Dynamisierung der griechischen Wirtschaft erwarten. Zusammen mit der unsicheren politischen Lage verursacht dies eine stark sinkende Investitionstätigkeit in Griechenland. Zwischen 2007 und 2011 brach die Investitionstätigkeit in Griechenland um 7 Prozentpunkte (gemessen am BIP) ein. Im Vergleich mit den PIIGS-Ländern wird die griechische Kontraktion nur von Irland übertroffen. PIIGS: Bruttoanlageinvestitionen VGR, y-o-y, Veränderung in % 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 -5,0 -10,0 -15,0 Portugal Irland -20,0 Italien Griechenland -25,0 Spanien Deutschland -30,0 1999 Q: DGECFIN 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Economics 16.10.2012 Seite 9 von 13 GR: Beschäftigung und Arbeitslosigkeit 24,0 4,0 Beschäftigung 22,0 Arbeitslosenquote 2,0 0,0 18,0 -2,0 16,0 -4,0 14,0 2009 Jun.12 Dez.11 2008 Mär.12 Sep.11 Jun.11 Mär.11 Sep.10 Jun.09 Dez.10 8,0 Jun.10 -10,0 Mär.10 10,0 Dez.09 -8,0 Sep.09 12,0 Mär.09 -6,0 Arbeitslosenquote (%) Beschäftigung (y-o-y %) 20,0 Q: Eurostat (EcoWin) GR: BIP pro Kopf zu Kaukraftparitäten 115 110 105 100 Euroraum (17 Länder) Griechenland 95 90 85 80 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2010 2011 Q: Eurostat Wege aus der Krise Für Griechenland wird es sehr schwierig sein, aus der Krise herauszukommen. Seit 2008 schrumpft die griechische Wirtschaft dramatisch, auch 2012 dürfte die Gesamtproduktion um rund 5 % bis 6 % abnehmen. Das massive Sparen hat zur Folge, dass sich die Steuereinnahmen immens verringern und sich in weiterer Folge das Haushaltsdefizit weiter ausweitet. War es ursprünglich vorgesehen, die griechische Staatsverschuldung bis zum Jahr 2020 auf 120 % des BIP (2012: 160,6 %) zu senken, musste dies erst kürzlich revidiert Economics 16.10.2012 Seite 10 von 13 werden – Ziel ist nun eine Verschuldung von 140 % des BIP. Griechenland befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem es nur schwer ist, wieder herauszukommen, ohne dass durch Investitionen die Wirtschaft des Landes stimuliert wird. Andererseits betont die internationale Staatengemeinschaft, die Griechenland Hilfspakete zur Verfügung stellt, dass erst ein konsequenter Sparkurs und eine innere Abwertung eine nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft herstellen kann. Daher wurden seit 2009 eine Vielzahl an Maßnahmen und Reformen in Griechenland getroffen. Unter anderem wurde(n) • die Mehrwertsteuer von 19 % auf 21 % und anschließend nochmals auf 23 % erhöht, • die Benzin- und Tabaksteuer erhöht, • Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst um 20% gekürzt, • das Pensionsantrittsalter erhöht und der volle Bezug der Rente erst nach 40, statt bislang 37, Arbeitsjahren gewährt, • Sozialleistungen gekürzt, • bei den Sozialtransfers und bei den Zuschüssen an die Rentenkasse gespart, • 15.000 Angestellte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, nur mehr jede fünfte Stelle nachbesetzt, • öffentliche Unternehmen geschlossen, • Staatseigentum privatisiert (Lotterie, Wettgesellschaft Opap, Olympisches Pressezentrum, ehemaliges Flughafengelände, etc.). Ob die Vorraussetzungen für die Auszahlung der Hilfspakete erfüllt werden, überwacht die Troika, welche aus Vertretern der EU-Kommission, der EZB und des IWF besteht. Demnächst soll der Bericht der Troika präsentiert werden. Angesichts der langsamen Wirkung der ergriffenen Reformmaßnahmen steht zu befürchten, dass Griechenland weitere Hilfspakete bzw. mehr Zeit für deren Rückzahlung benötigt. Eine Haftung aller EU-Bürger für diese Art von finanziellen „Rettungspaketen“ ist politisch jedoch immer schwerer durchsetzbar. Insbesondere Deutschland dürfte es schwer haben, für ein weiteres Sparpaket eine Mehrheit im Bundestag zu bekommen. Andererseits: Wenn Griechenland aus der Eurozone ausscheidet und die alte Währung wieder einführt, könnte es durch eine Abwertung gegenüber dem Euro seine verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit schneller stärken. Um dies zu erreichen, bedarf es aber einer Abwertung der „Nea-Drachmí“ um 30-50 %. Das steigert zwar die Wettbewerbsfähigkeit, da sich die Preise für griechische Waren dramatisch verringern, die griechischen Kredite (private als auch öffentliche) sind aber in Euro denominiert. Daher würden die Kreditsummen in Drachmen dramatisch ansteigen und die EU müsste wohl zumindest den Privatsektor unterstützen, um eine große Anzahl von Pleiten und nicht bedienbare Forderungen zu verhindern. Analog dazu wird sich Griechenland, wenn überhaupt, nicht in der eigenen Währung verschulden können, da Investoren eine weitere Abwertung erwarten. Auch die Kapitalflucht ins Ausland wird sich fortsetzen. Um diese zu verhindern, müsste mit der Rücknahme der Kapitalverkehrsfreiheit ein Grundpfeiler der EU ausgehebelt werden. Economics 16.10.2012 Seite 11 von 13 Dazu droht eine umfassende Inflation. Durch die Einführung der Drachme würde Griechenland zwar wieder eine eigenständige Geldpolitik zurückerlangen, gleichzeitig wären der griechischen Notenbank aber die Hände gebunden. Da ein Anstieg der Inflation die durch Abwertung mühsam zurückerlangte Wettbewerbsfähigkeit wieder zunichte machen würde, wäre die Notenbank letztlich mit einer Preis-Lohn-Spirale konfrontiert. Der Zeitschrift „The Economist“ 5 zufolge wäre ein Austritt (oder Rauswurf) Griechenlands daher sehr teuer: • Die EZB besitzt 40 Mrd EUR an griechischen Anleihen, welche möglicherweise nur teilweise oder gar nicht zurückgezahlt werden, wenn Griechenland die Drachme wieder einführt. • Kredite der Rettungsfonds in Höhe von ca. 130 Mrd EUR müssten wahrscheinlich abgeschrieben werden. • 100 Mrd EUR aus Target-2-Forderungen des ESZB gehen vermutlich verloren. • Weitere 50 Mrd EUR als eine Art Entwicklungshilfe könnten notwendig werden, um die chaotischen Zustände nach dem Ausscheiden zu überbrücken. Insgesamt wären dies also rund 320 Mrd EUR. Diese Zahlen sind zwar nur geschätzt, sie geben jedoch einen Einblick in die Größenordnung der direkten Kosten im Fall eines Ausscheidens Griechenlands aus der EWU. Zudem besteht das Risiko einer Ansteckung der verbleibenden Eurostaaten. So könnte dieser Präzedenzfall eines „no bail-out“ die Zinsen für Staatsanleihen der übrigen Eurostaaten in die Höhe schnellen lassen und zu Bank-Runs führen, was Rettungspakete für viele Banken, vor allem in der südlichen Peripherie, zur Folge hätte. In so einem Notfall würde die Rettung der verbliebenen Eurozone keine Zeit für Verhandlungen lassen, sondern sofortige Transferzahlungen erfordern, die an keine Auflagen wie Strukturanpassungen gebunden sind. Wenn man alle Anleihen, welche die EZB hält, alle Target-2-Forderungen, 6 alle Hilfspakete für Griechenland und für die anderen Staaten, die sich unter den Rettungsschirmen befinden, zusammenzählt, stehen am Ende des Tages 1.155.000.000.000 EUR! Und dies beinhaltet noch nicht einmal weitere mögliche Bankenhilfspakete im verbliebenen Rest eines Kern-Euroraums. Angesicht dessen kann von ökonomischer Seite nur zu einer weiteren, umfassenden Integration Europas geraten werden. Die Aufnahme Griechenlands war eine politische Entscheidung, die Einheit und der Fortbestand des erfolgreichen Projektes EU ist es auch. 5 6 The Economist: Breaking up the Euro area – The Merkel memorandum; 11 August 2012 Forderungen an Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern. Bemerkenswerterweise sind in dieser Berechnung Slowenien und Italien noch gar nicht berücksichtigt. Economics 16.10.2012 Seite 12 von 13 Disclaimer Dieser Newsletter wurde von der BAWAG P.S.K. Bank für Arbeit und Wirtschaft und Österreichische Postsparkasse Aktiengesellschaft, Georg-Coch-Platz 2, 1018 Wien („BAWAG P.S.K.“) ausschließlich zu Informationszwecken erstellt („Information“). Die Information stellt keine Anlageberatung bzw. sonstige Beratung dar. Die Information ist kein Angebot und keine Empfehlung, Wertpapiere oder andere Finanzinstrumente zu kaufen oder zu verkaufen. Die Information stammt aus öffentlich zugänglichen Quellen, die die BAWAG P.S.K. als zuverlässig erachtet hat. 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Economics 16.10.2012 Seite 13 von 13 Rückfragehinweis Stefan Rossmanith (Tel. +43 5 99 05 32055 / [email protected]) Andreas Birnstingl (Tel. +43 5 99 05 32053 / [email protected]) Bezugsquelle Diese und weitere Publikationen von Strategy & Economics finden Sie auf der Homepage der BAWAG P.S.K. unter dem Link http://www.bawagpsk.com/BAWAG/FK/SV/14032/Economics.html. Für Zusendungen per e-mail folgen Sie bitte dem Link „Think Business Newsletter An- bzw. Abmeldung“. © 2012, BAWAG P.S.K., Wien. BAWAG P.S.K. Bank für Arbeit und Wirtschaft und Österreichische Postsparkasse Aktiengesellschaft Strategy & Economics Georg-Coch-Platz 2 A-1018 Wien http://www.bawagpsk.com