IR ist mächtiger als IN Ein Theaterstück1 für vier Personen am STK Bochum Franco: der Vater, Luigia: die Mutter, Luca: der Sohn, E.T.: eine Spielzeugfigur, die Luca mit verstellter Stimme spricht. Ort: Irgendwo in Italien, beim Abendessen. Franco: Bisher haben wir nur untersucht, wann zwei unendliche Mengen gleich viele Elemente haben. Wir haben kein Beispiel von unendlichen Mengen, die verschieden groß sind. Luca: Unendlich ist unendlich! Franco: Zwei unendliche Mengen sind nicht gleichmächtig, wenn es keine eindeutige Beziehung zwischen ihnen gibt. Nicht wenn wir keine bijektive Abbildung finden, sondern wenn es keine gibt! Wenn wir nachweisen wollen, dass eine Menge nicht abzählbar ist, dann müssen wir zeigen, dass es keine eindeutige Beziehung zwischen dieser Menge und der Menge der natürlichen Zahlen geben kann. Luigia: Und woher willst du so eine Menge nehmen? Franco: Ich glaube, wir kennen schon so eine Menge ... eine Strecke. Genauer gesagt, alle Zahlen zwischen null und eins. Diese Menge ist nicht abzählbar. Luigia: Das bedeutet, wir können die reellen Zahlen zwischen null und eins nicht der Reihe nach aufschreiben? Franco: Genau, und das liegt nicht daran, dass wir zu dumm sind, sondern daran, dass es nicht geht. Niemand kann das. Luigia: Es gibt also vielmehr reelle als natürliche Zahlen? Luca: Das glaube ich nicht: Unendlich bleibt unendlich. Was sind eigentlich reelle Zahlen? Franco: Reelle Zahlen sind alle Kommazahlen. Wir brauchen aber nur die Kommazahlen, die mit Nullkomma anfangen. Also zum Beispiel 0,5 oder 0,003 oder 0.3333 und so weiter. Luca: 1 Geht auch 0.519735429725684216458745? nach einer Idee von Albrecht Beutelspacher, Pasta all´infinito, Meine italienische Reise in die Mathematik, Verlag C.H. Beck, 3. Auflage 2000, S. 127 – 133, ISBN 3 406 45404 6 Franco: Natürlich alles ist erlaubt. Die Ziffern dürfen irgendwann aufhören oder unendlich weitergehen, sie dürfen sich wiederholen oder ein irreguläres Muster bilden. Luca: So wie bei pi? Franco: Ja, pi ist ein gutes Beispiel. Wie lautet pi? Luca: Pi ist 3,14. Franco: So beginnt pi, aber es geht noch weiter: 3,1415926 unendlich lange geht es so weiter. Ohne dass sich die Zahl wiederholt. Ohne Muster. Luca: Also gehört auch pi dazu? Franco: Sagen wir, dass, was von pi übrig bleibt, wenn wir drei subtrahieren. Luca: Gut, ich glaube, dass es unendlich viele Kommazahlen zwischen null und eins gibt. Franco: Ja, und zwar so viele, dass du sie nicht der Reihe nach anordnen kannst. Luca: Verstehe. Es gibt keine kleinste Zahl. Ein Tausendstel ist nicht die kleinste Zahl, sondern es gibt immer noch eine kleinere, zum Beispiel ein millionstel, also weiss man nicht, wo man anfangen soll. Franco: Gut argumentiert, doch daneben. Anordnen heißt nicht der Größe nach anordnen. Du kannst mit einer beliebigen Zahl anfangen, mit einer anderen weitermachen, dann eine dritte wählen und so weiter. Das kannst du machen, wie du willst. Luca: Und? Franco: Egal, wie du das machst, du wirst auf diese Art nie alle Zahlen zwischen null und eins aufschreiben können. Luca: Woher willst du das wissen? Franco: Weil die Mathematiker das bewiesen haben. Luca: Und, wenn ich das einfach mache? Ich beginne mit einer, und dann kommt die nächste und so weiter, und wenn ich das lange genug mache habe ich alle aufgelistet? Franco: Du kannst das probieren, aber du wirst es nicht schaffen. Denn gerade das behaupte ich: Niemand kann das schaffen! Weil es nicht geht. Luca: Zugegeben, ich kann das vielleicht nicht, aber E.T., der Außerirdische, schafft das bestimmt. Franco: Nehmen wir an, E.T. behauptet, dass er die reellen Zahlen zwischen null und eins abzählen kann. Luca: Was willst du dagegen machen? So ein Außerirdischer kann mehr als du, der kann Dinge, von denen du keine Ahnung hast. Franco: Das gebe ich sofort zu, trotzdem kann er keine solche Liste machen. Luca: Wie willst du das wissen? Franco: Ganz einfach, ich weise ihm nach, dass er mindestens eine Zahl nicht auf seiner Liste hat. 2 Luca: Du kennst doch seine Liste gar nicht. Franco: Nein, aber ganz egal, wie er seine Liste anlegt, er wird nie alle Zahlen erfassen. Luca: Wie willst du das machen? Kannst du gar nicht können. Du müsstest ihn ja erstmal alle Zahlen sagen lassen; solange kannst du nichts machen. Du sitzt da und drehst Däumchen. Bis er seine unendlich vielen Zahlen gesagt hat. Franco: Nicht schlecht argumentiert. Das haben viele Mathematiker geglaubt, und wer den Trick nicht kennt, der glaubt das auch heute noch. Alle haben das geglaubt, bis Georg Cantor einen teuflisch genialen Trick gefunden hat. Der Außerirdische muss mir seine Liste sagen, zuerst die erste Zahl, dann die zweite, die dritte und so weiter, und ich werde ihm eine Zahl angeben, die er nicht hat. Luca: Ich glaube, E.T wird als erste Zahl so etwas wie pi nehmen, dann muss er unendlich viele Ziffern aufsagen, und du kämst nie zum Zug. Franco: Probier es doch einfach mal aus. E.T. beginne. E.T.: Null komma eins ... Franco: Stop! Luca: Warum stop? Habe ich etwas falsch gemacht? Franco: Nein, es war wunderbar, aber mehr will ich von deiner ersten Zahl nicht wissen. Ich kenne die Zahl, die nicht auf E.T.s Liste steht jetzt schon ein bißchen, sie beginnt mit Null komma zwei. Luca: Und wie geht sie weiter? Franco: Das weiß ich noch nicht. Dazu brauche ich die nächsten Zahlen auf E.T.s Liste. Luca: Soll E.T. seine erste Zahl jetzt zuende sagen? Franco: Nein, ich bitte E.T., mir die zweite Zahl seiner Liste zu nennen. E.T.: Null komma neun neun ... Franco: Stop! Ich weiß genug von deiner zweiten Zahl. Ich kenne die Zahl, die nicht auf deiner Liste steht jetzt schon ein bißchen besser. Der Anfang der Zahl lautet null komma zwei vier. E.T.: Null komma eins vier eins. Franco: Genug! Meine Zahl lautet null komma zwei vier sieben. Luca: Erklär mir, was du machst! Luigia: Kann Francos Zahl E.T.s erste Zahl sein? Luca: Was war denn die erste Zahl? Luigia: Sie begann mit null komma eins, Francos erste Zahl hat eine zwei nach dem Komma, und deine hat an dieser Stelle eine eins; also können sie nicht gleich sein. Kann Francos Zahl E.T.s zweite Zahl sein? Die begann mit null komma neun neun. 3 Franco: Nein, denn meine zweite Zahl hat an der zweiten Stelle eine vier, und unterscheidet sich damit von E.T.s zweiter Zahl. Luigia: Und auch nicht deine dritte Zahl, denn Francos Zahl hat an dritter Stelle eine sieben und E.T.s dritte Zahl eine eins. Luca: Deshalb hast du 2 gesagt, als ich null komma eins sagte, und vier, als ich null komma neun neun sagte. Warum hast du damit gewonnen? Franco: Weil meine Zahl unter deinen nicht vorkommt, sie kann nicht die tausendste Zahl deiner Liste sein, weil sie sich an der tausendsten Stelle unterscheiden. Luca: Und auch nicht die millionste Zahl, weil meine Zahl und deine sich an der millionsten Stelle unterscheiden. Franco: Bravo! Das hast du gut verstanden. Luigia: Wir haben also bewiesen, dass die reellen Zahlen nicht abzählbar sind. Man nennt sie überabzählbar. Es gibt also viel mehr reelle als natürliche Zahlen. Die natürlichen Zahlen bilden nur eine verschwindende Minderheit. Franco: Die Methode, mit der man beweisen kann, dass es mehr reelle als natürliche Zahlen gibt, nennt man Cantorsches Diagonalverfahren. Satz Das reelle Intervall [ 0,1 [ ist überabzählbar. Beweis (Cantorsches Diagonalverfahren) Angenommen, es gäbe eine Liste z1, z 2 , z 3 , … in der alle reellen Zahlen zwischen null und eins vorkommen: z1 = 0, a11 a 22 a 33 … z 2 = 0, a 21 a 22 a 23 … z 3 = 0, a 31 a 32 a 33 … Jetzt definieren wir eine Zahl ~ z = 0, b1 b 2 b 3 … , wobei bk ≠ akk gilt. Dann kann ~ z nicht in der obigen Liste auftauchen, also ist [ 0,1 [ überabzählbar. QED. 4 5