DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Biotechnologie D ie Verfahren der Biotechnologie nutzen biologische Vorgänge für die industrielle Produktion, im besonderen die katalytische Wirkung von Enzymen, sei es in Form des gesamten Enzymsystems einer Zelle, sei es in Form einzelner, isolierter Enzyme. Die Biotechnologie ist ein Teilgebiet der chemischen Technik, dessen Kennzeichen die grundsätzlich biologische Natur der chemischen Reaktionen ist. Bei biotechnologischen Verfahren werden Mikroorganismen industriell gezüchtet und die Biomasse oder Produkte des primären oder sekundären Stoffwechsels gewonnen. Einfache und billige Rohstoffe sollen mikrobiell in die gewünschten Produkte umgewandelt werden. Als interdisziplinäres Gebiet berührt die Bio- Lebensmitteltechnologie Die ältesten biotechnologischen Verfahren dürften die Säuerung des Brotes und die alkoholische Gärung zur Herstellung von Getränken sein. Als Verfahren zur Herstellung von Nahrungsmitteln auf der Basis biologischer Vorgänge sind es biotechnologische Prozesse. Die Kultur der Rebe und die Herstellung von Wein sind über 4000 Jahre alt. Bier wurde schon von den Babyloniern, Sumerern und Ägyptern bereitet. Auch die Produktion von Sauermilch, Joghurt, Kefir und ähnlichen Substanzen und vielen Käsesorten beruht auf mikrobiellen Prozessen und gehört zu den biotechnologischen Verfahren, ebenso die Herstellung von Bäcker- und Futterhefe. Industriechemikalien Aber nicht nur für die Herstellung von Nahrungsmitteln ist die Nutzung stoffwechselphysiologischer Reaktionen und Produkte von technologie die Fachrichtungen Mikrobiologie, Biochemie, Molekularbiologie, Gentechnologie, technische Chemie und Verfahrenstechnik. Ausgeschlossen per definitionem wird die Land- und Forstwirtschaft. Biotechnologie umfaßt Verfahren, die von sehr alten über im Laufe der Jahrhunderte entdeckte und genutzte bis zu Verfahren reichen, die zur Zeit noch in der Entwicklung sind und erst in Zukunft für die Produktion genutzt werden sollen, die gentechnologischen Verfahren (Tabelle 1). Die Gentechnologie ist aber nur der kleinste Teil der Biotechnologie, sicher der modernste und der Teil, der die spektakulärsten Ergebnisse möglich erscheinen läßt, mit dem jedoch auch die spekulativsten Erwartungen verbunden sind. Mikroorganismen von Bedeutung. Mikroorganismen liefern auch Stoffwechselprodukte, die als industrielle Roh- und Halbfertigprodukte in der Chemie gesucht sind. Gerade diese Produkte und die Verfahren zu ihrer Herstellung gewannen in den letzten Jahren wirtschaftliche Bedeutung. Nicht allein die Alkoholherstellung durch Destillation, die sehr viel jünger als die bloße Wein- und Bierbereitung ist, sondern auch die industrielle Erzeugung von Essigsäure auf biotechnologischer Grundlage spielen seit der beginnenden Neuzeit eine wirtschaftliche Rolle. Seit dem vierzehnten Jahrhundert wird in Frankreich Essig aus Bier und Wein in industriellem Maßstab gewonnen. Neben Ethylalkohol und Essigsäure werden auf biotechnologischer Basis Zitronensäure, Milchsäure, Butanol, Azeton und Glyzerin erzeugt. Die Gewinnung von Alkohol aus Pflanzen wie Zukkerrohr und seine Verwendung als Motorentreibstoff und von Wasserstoff als besonders umweltfreundliche Energie durch Algen ist auch hier anzuführen. Enzyme wie Proteasen, Lipasen und Amylasen werden biotechnologisch im industriellen Maßstab erzeugt und zu verschiedenen Zwecken verwendet, alkalische Proteasen industriell als Waschmittelzusätze, Pilzproteasen für die Käseherstellung und zur Produktion von Sojasoße. Auch in der Backindustrie werden Enzyme als Hilfsmittel eingesetzt. Im medizinischen Bereich werden biotechnologisch hergestellte Enzyme für die Therapie gebraucht, zum Beispiel zur Therapie von Verdauungsstörungen durch orale Applikation von Pepsin, Lipasen, Amylasen und Proteasen, parenteral zur Thrombolyse mit Streptokinase, Asparaginase in der Tumortherapie. Antibiotika als sekundäre Metabolite von aeroben Pilzen, aber auch von Bakterien zeichnen sich durch die Spezifität ihres Vorkommens, durch große Variationsbreite, durch Gruppen, die in den primären Metaboliten nicht vorhanden sind, und dadurch aus, daß sie keine Funktion für den Produzenten haben. Die medizinisch wichtigste Gruppe der Antibiotika sind die ß-Laktame wie Penicilline und Cephalosporine, die durch Ähnlichkeit in Aufbau und Wirkungsmechanismus gekennzeichnet sind. Neben den ß-Laktamen spielen die Aminoglykoside, Streptomycin, Gentamycin und Neomycin, die größte Rolle bei den Antibiotika. Obwohl die chemische Totalsynthese vieler Antibiotika möglich ist, werden sie aus wirtschaftlichen Gründen fast ausschließlich biotechnologisch erzeugt. Bei dem Verbrauch spielen mengenmäßig Tierernährung und Pflanzenschutz, wertmäßig die Humanmedizin die wichtigste Rolle. Biomasse meint die organische Zellsubstanz pflanzlicher oder tierischer Organismen, mikrobielle Biomasse also die Zellmasse von Mikroorganismen. Sie setzt sich im wesentlichen Dt. Ärztebl. 85 , Heft 24, 16. Juni 1988 (63) A 1825 - aus Kohlenhydraten, Lipiden, Proteinen und Nukleinsäuren zusammen. Das Hauptinteresse gilt dem Proteinanteil; deshalb bezeichnet man das Produkt auch als Bioprotein oder Einzellerprotein. Mikrobielle Biomasse kann aus geeigneten Rohstoffen technisch als Massenprodukt hergestellt werden. Das Produkt ist ein industriell erzeugter Rohstoff und kann als unkonventionelle Proteinquelle zu Futtermittel oder Nahrungsmittel, zu technischen, pharmazeutischen und kosmetischen Produkten verarbeitet werden. Die Rohstoffe für die Biomasseherstellung sollen möglichst billig sein. Mono- und Disaccharidhaltige Stoffe, die als Neben- oder Abfallprodukte in der Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Holzwirtschaft anfallen, werden eingesetzt. Aber auch rein chemische Rohstoffe wie Methan, Methanol, Ethanol, Essigsäure und Paraffine dienen als Ausgangssubstanz. Verfahrenstechnik Die Verfahren der Biotechnologie lassen sich allgemein und zusamenfassend durch die Gleichung Substrat+Mikroorganismus Verfahrenstechnik. Produkt beschreiben. Das eingesetzte Substrat soll billig und einfach zu erhalten sein. Nur dann kann das biotechnologische Verfahren auch wirtschaftlich sein. Neben Abfallprodukten wie Melasse, Schlempen, Molke und Zellstoffablaugen dienen als kohlenstoffhaltige Substrate Mono-, Di- und Polysaccharide, Kohlenwasserstoffe, Alkohole, CO und CO2, als Stickstoffquellen NH3 , NO3 , Harnstoff und Aminosäuren (Tabelle 2). Zentrale Bedeutung im Produktionsprozeß haben die Mikroorganismen. Eingesetzt werden Bakterien, Pilze, in geringem Maße auch Algen und pflanzliche und tierische Zellkulturen. Geeignete Arten der Mikroorganismen müssen gesucht, ausgewählt, isoliert und reingezüchtet werden. Einfache Methoden zur genetischen Abänderung des Mikroorganismus sind die Selektion der A-1826 Tabelle 1: Auswahl von Produkten der Biotechnologie und erzeugende Mikroorganismen Lebensmitteltechnologie Backwaren Saccharomyces cerevisiae Sauermilcherzeugnisse, Käse Streptococcus-Arten, Lactobacillus-Arten Sauergemüse Leuconostoc-Arten, Lactobacillus-Arten Wein, Bier Hefen (Saccharomyces-Arten) Organische Lösungsmittel Ethanol Saccharomyces cerevisiae Butanol Clostridium acetobutylicum Azeton Clostridium acetobutylicum Glyzerin Saccharomyces rouxii Organische Säuren Essigsäure Acetobacter-Arten Zitronensäure Aspergillus niger Milchsäure Lactobacillus-Arten Buttersäure Clostridium butyricum Aminosäuren Alanin Corynebacterium glycinophilum Asparaginsäure Escherichia, Pseudomonas Glutaminsäure Corynebacterium glutamicum Lysin Corynebacterium glycinophilum Polysaccharide Dextran Leuconostoc mesenteroides Antibiotika ß-Lactam-Antibiotika Penicillium chrysogenum, Streptomyces-Arten Aminoglykoside Streptomyces-Arten Wildstämme und Selektion nach künstlicher Mutationsauslösung durch chemische oder physikalische Mutagenese wie zum Beispiel durch Röntgenstrahlen. Die Verfahrenstechnik umfaßt das eigentliche Herstellungsverfah- (64) Dt. Ärztebl. 85, Heft 24, 16. Juni 1988 ren, allgemein als Fermentation bezeichnet, und die anschließende Aufbereitung des Rohproduktes. Ziel der Verfahrenstechnik ist es, die biochemischen Leistungen der Mikroorganismen und ihre stoffwechselphysiologische Produktion Tetracycline Streptomyces-Arten Anthracycline Actinomyces-Arten neralsalzen und Spurenelementen. Eine Vielzahl von Faktoren beeinflußt das Wachstum der Mikroorganismen und muß entsprechend kontrolliert werden, was den hohen Aufwand an Meß- und Regeltechnik bedingt. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß nicht alle Größen unmittelbar und direkt meßbar sind, der Einfluß anderer nicht ausreichend bekannt ist und daß die Parameter sich gegenseitig beeinflussen. Deswegen ist auch die Vollautomatisierung biotechnologischer Verfahren schwierig. Bei dem eigentlichen Verfahren kann man zwischen Oberflächenund Submersverfahren unterscheiden. Bei den Oberflächenverfahren wachsen die Mikroorganismen auf der Oberfläche fester oder flüssiger Substanzen. Entsprechend benötigt man für Anlagen im industriellen Maßstab viel Raum, was teuer und hinsichtlich der Sterilität problematisch ist. Deswegen wird heute in der Industrie überwiegend mit Submersverfahren gearbeitet, bei denen die Mikroorganismen sich in der Nährlösung befinden und der Gasaustausch mit der Flüssigkeit durch Dispergierung des Gasphase erfolgt. Enzyme Amylase Bacillus-Arten Proteasen Bacillus-Arten, Aspergillus-Arten Glukose-Isomerase Streptomyces-Arten Pektinase Aspergillus-Arten Lipase Aspergillus-Arten Vitamine Ascorbinsäure Acetobacter-Arten Vitamin B 2 (Riboflavin) Candida-Hefen Vitamin B 12 (Cyanocobalamin) Propionibacterium-Arten ß-Carotinoide Rhodotorula gracilis, Blakeslea trispora Hormone Testosteron Saccharomyces Hydroxy-Progesteron Rhizopus nigricans Cortisol Corvularia lunata Prednisolon Arthrobacter simplex Triamcinolon Streptomyces-Arten Biotransformationen Alkaloide Mutterkornalkaloide (Lysergsäure) Claviceps-Arten Morphin Papaver-Zellkulturen Vinblastin Zellkulturen von Catharanthus roseus Vincristin Erzlaugung Kupfer, Uran zu optimieren, um eine auch wirtschaftliche Nutzung sicherzustellen. Dazu wurden spezielle Reaktoren, sogenannte Bioreaktoren, in denen die fermentative Umsetzung stattfindet, sowie Meß- und Regeltechniken, auch unter Einsatz von Computern, entwickelt. Bioreaktoren müs- Thiobacillus-Arten sen so aufgebaut sein, daß Luft zuund CO2 abgeführt, die Temperaturen geregelt und — bei vielen Prozessen — auf Sterilität geachtet werden kann. Das Fermentationsmedium besteht aus dem eingesetzten Substrat, den Mikroorganismen, Wasser, Mi- sind chemische Umwandlungen, die durch Mikroorganismen beziehungsweise ihre Enzyme katalysiert werden. Es kann sich um Oxidationen, Hydrolysen, Veresterungen, Wasserabspaltungen, Aminierungen und Desaminierungen handeln. Die Kombination von rein chemischer Synthese mit anschließender Biotransformation spielt eine Rolle zum Beispiel bei der Herstellung von Aminosäuren, die als Nahrungs- und Futtermittel von Bedeutung sind und in der Medizin eine Rolle spielen. Lysin und Asparaginsäure werden aus synthetischen Vorstufen durch Biotransformation hergestellt, ebenso Steroide, wie das Kortison, durch mikrobielle Umwandlung von chemisch erzeugten Vorprodukten. Interessant ist die Biotransformation von Antibiotika durch Mikroorganismen, die selbst kein Antibiotikum bilden. Dt. Ärztebl. 85 , Heft 24, 16. Juni 1988 (67) A-1827 FÜR SIE REFERIERT Tabelle 2: Rohstoffe der Biotechnologie Komplexe Substrate Sojamehl, Baumwollsamenmehl, Melasse, Rübenschnitzel, Mais, Milch, Milchpulver, Molke, Schlempe, Fleischextrakt, Sulfitablauge, Klärschlamm Tödliche Thromboseneigung bei erworbenem Inhibitor von Protein C C-baltige Substrate Mono-, Di- und Polysaccharide Fruchtzucker, Rohrzucker, Milchzucker, Holzzucker, Stärke, Cellulose Kohlenwasserstoffe Methan, Methanol, Ethanol, Paraffine, Essigsäure CO, CO7 N-haltige Substrate Ammoniak, Nitrate, Harnstoffe, Aminosäuren Mineralsalze Phosphate, Sulfate, Karbonat, Chloride Spurenelemente Fe, Co, Zn, Mg, Cu Umweltbiotechnologie Auch die biologischen Abwasserreinigungsverfahren sind der Biotechnologie zuzurechnen. Das Rohabwasser bildet das Ausgangssubstrat, das durch Mikroorganismen in die Endprodukte gereinigtes Wasser und Klärschlamm überführt wird. Problematisch ist hier die Tatsache, daß das eingesetzte Substrat Rohabwasser qualitativ und quantitativ weder konstant noch beeinflußbar ist. Der Abbau organischer Substanz unterschiedlicher Zusammensetzung zu Methan und CO 2 (Biogas) durch anaerobe Bakterien wird schon länger auch im großtechnischen Maßstab genutzt. Erzlaugung Neue Möglichkeiten zur Nutzung bisher wirtschaftlich nicht erschließbarer Rohstoffquellen bietet die Biotechnologie mit dem mikrobiellen Laugungsverfahren. Bakterien der Gattung Thiobacillus überführen schwer lösliche Metallverbindungen durch biochemische Oxida- tion in wasserlösliche Verbindungen, Schwefel, Sulfide und Thiosulfat in Schwefelsäure. Man macht sich diesen Prozeß bei der Gewinnung von Schwermetallen wie Kupfer, Zink und Uran aus minderwertigen Erzen zunutze. Mit den biotechnologischen Verfahren können und werden nicht abbauwürdige Armerze und metallhaltige Industrieabfälle genutzt. Zur technischen Durchführung werden im einfachsten Falle Halden des erzhaltigen Gesteins mit Bakteriensuspensionen bewässert und aus der abfließenden metallhaltigen Flüssigkeit die Metalle extrahiert. Kupfer- und Uranerze werden bereits in nicht unbedeutenden Mengen nach diesem Verfahren gewonnen. Literatur: Präve, P. u. a.: Handbuch der Biotechnologie, Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden, 1982 A-1828 (68) Dt. Ärztebl. 85, Heft 24, 16. Juni 1988 Anschrift des Verfassers: Professor Dr. rer. nat. Adolf Habermehl Bahnhofstraße 7 3550 Marburg/Lahn Protein C ist ein Vitamin-K-abhängiges gerinnungshemmendes Protein, das den Gerinnungskofaktor V a und VIII a inaktiviert. Um antikoagulatorisch zu wirken, muß Protein C zunächst durch den Thrombin-Thrombomodulin-Komplex aktiviert werden. Der verminderte Gehalt an Protein C bei Heterozygoten ist verbunden mit rezidivierenden venösen Thrombosen und warfarininduzierten Hautnekrosen. Der absolute Protein-C-Mangel bei homozygoten Kranken geht einher mit Purpura fulminans und massiven Thrombosen beim Neugeborenen. Eine australische Arbeitsgruppe berichtet über einen 51jährigen Patienten mit einer IgG-Paraproteinämie, der disseminierte intravasale Gerinnungsphänomene und Purpura fulminans aufwies. Die IgG-Proteine hemmten vollständig die antikoagulatorische Wirkung des aktivierten Protein C. Der Verlauf betrug sechs Jahre, beginnend mit tiefen Venenthrombosen nach Verletzung des linken Beines. Die Erkrankung schritt dann mit tödlichem Ausgang fort bis zum Bild der Purpura fulminans Postmortale Untersuchungen bestätigten die disseminierte intravasale Gerinnung mit Thromben in fast allen Organen. Der Mechanismus, durch den die Wirkung des aktivierten Protein C gehemmt wird, ist unklar. Eine mögliche Therapie in Form einer Immunosuppression oder durch Plasmapherese konnte nicht mehr ausgeführt werden. Es ist wichtig, bei rezidivierenden Thrombosen auch an seltenere Ursachen des gestörten Gerinnungssystems zu denken und spezielle Untersuchungen einzuleiten. kue Mitchell, Ch. A.; Rowell, J. A.; Han, L.; Joung, J. P.; Salem, H. H.: A fetal thrombotic disorder associated with an actiuired inhibitor of Protein C. J. Engl. J. Med. 317 (1987) 1638-1642 Dr. H. H. Salem, Department of Medicine, Monash Medical School, Alfred Hospital, Commercial Rd., Prahan, Victoria, 3181, Australia