„WENN IHR NICHT SEHT, WAS ICH SEHE, DANN SEHT IHR: ICH

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GERD-RÜDIGER HOFFMANN
„WENN IHR NICHT SEHT, WAS ICH SEHE,
DANN SEHT IHR: ICH WEIßLE“
„Andorra“ von Max Frisch an der NEUEN BÜHNE Senftenberg in einer Inszenierung von Ingo Woesner (1995)
POSITIONEN 
Das Senftenberger Theater Neue Bühne, in der Provinz - im
Süden Brandenburgs - gelegen, war auch zu DDR-Zeiten
kein Provinztheater und auch kein Agitationsinstrument.
Doch Belehren gehörte zum Anspruch der Theaterleute. Vielleicht bringt das professionelle DDR-Aufarbeiter noch zu
dem Wort vom "verordneten Theater". Doch das Publikum
empfand das wohl nie als Gängelei. Und heute entwickelt
ein neues, ein junges, Publikum erneut das Bedürfnis nach
"Belehrung" und füllt die Plätze (97 Prozent Auslastung im
April '94). "Andorra" von Max Frisch in einer Inszenierung
von Ingo Woesner bringt wieder ganze Schulklassen dazu, in
"gelenkter Freiwilligkeit" ins Theater zu gehen. Die NEUE
BÜHNE lässt sich auf den neuen Trend ein und spielt selbst
am Vormittag. Diese "Andorra"-Inszenierung kann eine Art
Betroffenheit auslösen, die nichts mit modernen, das Gewissen beruhigenden "Betroffenheits-Trips" der Politiker und
Wohlstandsbürger zu tun hat.
Die Handlung ist schnell erzählt: Andri wächst in dem Glauben auf, ein Jude zu sein, gerettet vor den Schwarzen vom andorranischen Lehrer Can. Die Bewohner des Dorfes, in dem
der Lehrer mit Andri, seiner Frau und Tochter Barblin lebt, tragen Toleranz als Markenzeichen ihres kleinen Landes im Umgang mit Andri einem Werbeprospekt gleich zur Schau.
Doch dahinter verbergen sich - nicht anders als bei den Schwarzen, den mächtigen und
verhassten Nachbarn - Vorurteile und kleine und bereits größere Gemeinheiten gegenüber
dem vermeintlichen Juden Andri. Der Pfahl, in Andorra nicht zu sehen, ist dennoch gegenwärtig. Als die Schwarzen kommen und das Land besetzen, wird Andri endgültig als Nichtandorraner ausgestoßen, wird der Jude gebraucht, um sich selbst zu retten. Es hilft nicht
mehr das Bekenntnis des Lehrers, dass es sich um seinen leiblichen Sohn handle, aus der
Beziehung mit einer Schwarzen hervorgegangen, jener Señora die plötzlich auftauchte und
im Dorf von einem Unbekannten erschlagen wurde. Der Lehrer wollte Andri vor den Vorurteilen der Andorraner schützen, indem er die Geschichte vom geretteten Judenkind erfand.
Die Andorraner machen Andri zum Juden, indem sie in jeder Eigenheit etwas typisch Jüdisches sehen. Andri hat die Rolle des Juden angenommen. Die Ermordung der Señora dient
den Schwarzen als Vorwand, Andorra zu besetzen. Andri wird umgebracht.
Die bequemen Zuschauersessel der Neuen Bühne Senftenberg bleiben auch während der
Vorstellung unter Staubhüllen ungenutzt. Andorra von Max Frisch (15.5.1911 - 4.4.1991)
findet in Senftenberg für Schauspieler und Zuschauer auf der Bühne statt. Zwei Tribünen hoch genug, um alles sehen zu können, niedrig genug, um nicht dem Geschehen entrückt
Dr. Gerd-Rüdiger Hoffmann I Mitglied des Landtages Brandenburg I www.gerd-ruediger-hoffmann.de I
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zu sein - sind aufgebaut, eine auf der Vorbühne, den Zuschauerraum im Rücken, die andere
dort, wo sonst Schauspieler im verborgenen auf ihren Auftritt warten. Die Stühle sind hart,
die Bänke in den ersten beiden Reihen werden auch nicht durch die bereitgelegten Kissen
bequemer. Eine junge Frau findet keinen Platz mehr und setzt sich auf die Treppe, wo sie es
bis zum Schluss aushält. Junge Leute machen auf sich aufmerksam, indem sie nach mehr
oder weniger originellen Bemerkungen zum Verhältnis von Komfort und Preis suchen.
Doch spätestens nach dem 1. Bild, als der Wirt nach Frisch an die Zeugenschranke treten
sollte, um "Jahre später" Rechenschaft darüber abzulegen, was geschehen ist, stellt sich
Betroffenheit ein. Fast könnte man meinen, es gäbe ein regelrechtes Bedürfnis nach Betroffenheit und Belehrung. Der Wirt und alle folgenden stehen an keiner Schranke, sondern sitzen unter den Zuschauern, wenn sie ihre Unschuld und "eigentlich habe ich nichts gewusst" vorbringen. "Was die Soldaten, als sie ihn holten, gemacht haben mit ihm, weiß ich
nicht ... Einmal muss man auch vergessen können, finde ich", sagt später Der Jemand unter den Zuschauern sitzend.
Andorra wird seit der Uraufführung im November 1961 in Zürich kontrovers diskutiert und
interpretiert. An einige Bedenken gegenüber dem Stück sei erinnert: Ohne Kenntnis der Religion und ohne Bezug auf das Judentum sei der Stoff Antisemitismus nicht zu behandeln,
meinten einige. Doch geht es Max Frisch überhaupt um eine historisch konkrete Form von
Antisemitismus?
Die Kirche komme bei Frisch zu schlecht weg, wenn Pater Benedikt lediglich mit abgehobener theologischer Phraseologie sich äußern darf, wo die Kirche doch "hinreichend
Deutliches und Tröstliches zu sagen hat", wie Erik G. Wickenburg in der "Welt" vom 14. April 1962 meinte. Für welche Kirche soll das in dieser Allgemeinheit gelten? Für die evangelische, die am 13. November 1933 eine Entschließung der Deutschen Christen zustande
brachte, in der die Erwartung ausgesprochen wurde, dass die "deutsche Volkskirche sich
frei macht von allem Undeutschen in Gottesdienst und Bekenntnis, insbesondere vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral"? Oder für die katholische, die nach dem
Krieg faschistische Mörder bei ihrer Flucht nach Südamerika unterstützte und den Judenmörder Touvier jahrelang versteckte?
Frisch wolle andeuten, dass zu den Voraussetzungen der Judenverfolgung die Bereitschaft
der Juden gehöre, ihre Außenseiterrolle anzunehmen. Im Prospekt der Neuen Bühne Senftenberg, mit dem für die Spielzeit '93/'94 geworben werden sollte, lese ich im Ankündigungstext zu Andorra den Satz: "Andri wird unschuldig ermordet." Weil er gar kein Jude ist,
nur die Außenseiterrolle eines Juden akzeptiert? Unter welchen Umständen würde er
schuldig ermordet? Wenn er tatsächlich Jude wäre? Ist es sprachliche Schluderei oder Zeichen der Unbeholfenheit im Umgang mit den Themen Juden, Rassismus, Täter- und Mitwisserschaft?
Woesner hält sich an Frisch, nicht an diese oder weitere Interpretationen, und kommt dadurch zu einem respektablen Ergebnis. Mit seiner Inszenierung versucht er nicht, das Stück
zu einer Generalabrechnung mit dem Faschismus und seinen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen zu nutzen. Wesentliche Machtmechanismen und historisch konkrete
Bezüge bleiben bei Frisch ausgeklammert, können deshalb schlecht nachträglich hineininterpretiert bzw. -inszeniert werden. Aber gerade dadurch, dass die Handlung auf ein kleines
Dorf beschränkt bleibt, sind das Geschehen und das Anliegen durchschaubar.
Diese Inszenierung von Andorra muss in gewisser Weise das Wissen um gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge bei den Zuschauern voraussetzen. Hier geht es, und darum
ging es wohl auch Max Frisch, um massenpsychologische Funktionsweisen beim Entstehen und Reproduzieren von Vorurteilen und Rassismus. Neben den unter dem Titel Der andorranische Jude bekannt gewordenen Tagebuchaufzeichnungen ist es vor allem die Fabel
Du sollst dir kein Bildnis machen, die das Anliegen des Autors verständlich werden lässt.
Sinn macht es auch, klassische Toleranztexte (Lessings Nathan) sowie Texte der Auseinandersetzung mit einer absurden aber funktionierenden Welt (Sartre und Camus) parallel zu
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Max Frisch zu lesen. Wenn wir uns auf dieses sehr allgemeine Anliegen von Andorra, nämlich der Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Identität und Identitätsverlust sowie den Mechanismen der gesellschaftlichen Sanktionierung von Rassismen, tiefer einlassen wollen, so
lohnt sich nach meiner Auffassung, den stark autobiographischen Roman Die Salzsäule des
jüdischen, europäisch gebildeten, Arabers Albert Memmi gegenzulesen. Auch seine Definition von "Rassismus", die Eingang in die französische Enzyklopädie fand, ist im Zusammenhang mit dem Andorra-Stoff erhellend. Danach ist Rassismus "die verallgemeinerte und
verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers
und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen". Aufklärung und Belehrung im Sinne einer - allein durch die Entscheidung, Schriftsteller, Schauspieler oder Regisseur zu werden - zugefallenen Verantwortung vor der Gesellschaft entspricht den Intentionen des schweizerischen Autors und trifft
sich mit den Vorhaben des Senftenberger Theaters, das sich - nicht ganz freiwillig aber erfolgreich - zu einem Kinder- und Jugendtheater profiliert. Max Frisch will Andorra als Modell verstanden wissen, mit dem Kleinstaat Andorra habe es nichts zu tun. Auch die
Schwarzen stehen als Modell. Doch kann der Jud als Modell gesehen werden? Wenn nicht
- und einiges spricht dafür, dass das nicht aufgehen kann (ich denke nur an die teilweise
empörten Reaktionen einiger jüdischer Gemeinden, wenn wieder einmal unsensibel und
historischen Fakten widersprechend das Schicksal der Juden mit anderen Verfolgten und
Benachteiligten verglichen oder gleichgesetzt wurde) - wenn also nicht, dann macht das
Stück wenig Sinn. Dann wäre vor dem Stück zu warnen, wie es die Wiener Illustrierte Kronen-Zeitung wirklich tat, weil - so war dort in der Ausgabe vom 31. März 1962 zu lesen Gegner von Vorurteilen und ihre schrecklichen Konsequenzen Andorra nicht brauchen würden, und weil jene, die zu bessern oder zu überzeugen wären, mit dem Stück nichts anfangen könnten. Wäre diese Warnung berechtigt, könnte sich ein Jugendtheater Andorra gar
nicht leisten.
René Döring spielt den Andri überzeugend als einen jungen Mann, der nur anfangs des ersten Bildes verspielt und unbekümmert wirkt, dann - immer mehr in die innere Isolation getrieben - hart und auch gegenüber der geliebten Barblin ungerecht ist (das Wort passt nicht
recht, aber ich weiß kein besseres). Anne Rathsfeld als Barblin hat die widersprüchlichste
Figur im Stück auszufüllen. Im ersten Bild weißelt sie, vom Pater gelobt, brav das Haus und
lässt offen, ob sie die Anmache des Soldaten Peider als, wenn auch etwas groben, Flirt
hinnimmt oder die ganze Fiesheit bereits durchschaut. Ist die Nacht mit Peider durchaus als
ein Resultat der einer Neunzehnjährigen durch Neugier und Enttäuschung zustehenden
Verwirrung der Gefühle zu verstehen, so neigt die Senftenberger Inszenierung zur "Ehrenrettung" der Barblin, indem sie doch mehr eine Vergewaltigung suggeriert. Auch in dieser
"Nebensache" (wie Frisch es nennt) folgt Woesner dem Autor. Anne Rathsfeld meistert den
Wandel von einer quirlig-vergnügten zu einer im Wahnsinn wissenden Barblin. Sie sieht
jetzt, nach dem Tod von Andri, das Schwarze hinter der weißen Tünche: "Ich weißle, ich
weißle, auf dass wir ein weißes Andorra haben, ihr Mörder, ein schneeweißes Andorra, ich
weißle euch alle - alle."
Heinz Klevenow überzeugt als Lehrer Can, der sich nostalgisch an seine frühere Aufmüpfigkeit gegenüber Vorurteilen und Obrigkeit erinnert. Verbal ist noch Aufruhr geblieben,
dem Wirt beugt er sich allerdings - nur noch hohle Phrasen entgegensetzend - sehr schnell,
als der ein unverschämt hohes Lehrgeld für Andri fordert. Can flüchtet in Trunkenheit und
kehrt sein Scheitern zur moralischen Überlegenheit, für andere unerträglich jähzornig und
selbst für Andri kaum noch des Mitleids wert. Sybille Böversen hat mit der Rolle der Mutter
eine dramaturgisch wenig auffällige, aber bei genauer Betrachtung beeindruckende Figur
zu gestalten. Deshalb ist es wahrscheinlich gar nicht so einfach, die hervorragende Leistung der Böversen (neben der dramaturgisch dominanten Rolle der Señora etwa) angemessen zu bemerken. Die Mutter kann sich einen solchen Ausstieg aus dem Leben wie ihr
Mann nicht leisten. Nicht verbale Attacken gegen alle Welt bestimmen ihr Tun, sondern in
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überlegter und überlegener Selbstverständlichkeit sorgt sie sich um die Kinder - um Barblin
und Andri. Sie ist die eigentlich moralisch Überlegene.
Petra Keil spielt den wortlosen Idioten, und sie hat die undankbare Rolle der Señora übernommen, die zwar notwendig ist, um die Handlung voranzubringen (als Beweis dafür, dass
Andri kein Jude, sondern der gemeinsame Sohn dieser Schwarzen und des Lehrers ist), als
Persönlichkeit aber wenig vorweisen muss.
Allein die sonore Stimme von Hansdieter Neumann als Pater sorgt für eine innere Spannung, der man sich nicht entziehen kann. Schaurig in der letzten Szene sein zur wahnsinnigen Barblin zweimal hintereinander gesprochene Satz "Ich bin der Pater Benedikt". Das
kann in Senftenberg vielleicht nur Neumann. Jüngere Kolleginnen und Kollegen haben Mühe, (stimmlich) neben ihm zu bestehen. Holger Richter trifft den geschwätzigen, aus verletzter Eitelkeit antisemitischen, Arzt sehr genau. Torsten Traue spielt den ängstlich auf Geschäft und Angepaßtsein bedachten Wirt. Als derjenige, der ja immerhin als Mörder der
Señora in Frage kommt, wirkt er etwas zu harmlos in der Szene, in der er den Lehrer nötigt,
für Andri ein viel zu hohes Lehrgeld zu zahlen. Ausgezeichnet Benno Rutnowski, der den
Soldaten geil und zynisch ohne jeden intellektuellen Anspruch gibt. Vielleicht eine Sekunde
lang lässt er im ersten Bild den Zuschauern die Chance, im Soldaten Peider einen zwar
protzenden aber im Grunde hinter der rauen Schale hilflosen Jungen zu sehen.
Insgesamt ist es eine ausgezeichnete Ensembleleistung. Nur die von Frisch angestrebte
ungeheure symbolische Kraft der Szene mit dem Judenschauer wird durch gewolltes oder
ungewolltes "Verlaufen" der in schwarze Tücher gehüllten Akteure etwas geschmälert, wo
doch exakt eingeübte an absurdes Theater erinnernde Theatralik hier angebracht gewesen
wäre.
Das schlichte Bühnenbild, von den Akteuren selbst nach jedem Bild umgebaut, lässt nichts
davon ahnen, dass Max Frisch eine Fassung von Andorra auf dem sonnigen Ibiza schrieb.
Sicher wäre eine grell-weiße Bühnendekoration vorstellbar gewesen. Die metaphorische
Wirkung des Weißelns wäre dann sicher noch verstärkt worden. Doch dann wäre auch die
Distanz zwischen Zuschauern und Schauspielern deutlich hergestellt. So aber haben sich
Ingo Woesner und Gerhart Lampa (Bühne und Kostüme) für einen fließenden Übergang
von "Zuschauerraum" und Bühne entschieden und in Kauf genommen, dass die von Barblin
geweißelte Wand auch hinterher schwarz bleibt. Das ist zu akzeptieren und - diese Bemerkung erspart vielleicht weiteres Nachdenken über tiefsinnige Bedeutung - kostengünstig.
Vielleicht hat sogar letzterer Gesichtspunkt darüber entschieden, ob Andorra in Senftenberg
möglich ist oder ob nicht.
Das Publikum in Senftenberg, fast ausschließlich Leute unter zwanzig, verlässt nachdenklich die Vorstellung, innerlich aufgewühlt, so scheint mir. Niemand hat das Bedürfnis,
sich lauthals zu äußern. Eine Schülerin teilt ihrer Freundin lediglich mit, sie hoffe, dass im
Deutschunterricht keine Inhaltsangabe gefragt ist und alles zerredet wird. Was will Theater
mehr?
Nehmen wir auf den harten Bänken Platz. Wir gehören dort hin, um eigene Betroffenheit
und die anderer aushalten zu lernen, um gegen Dumpfheit gewappnet zu sein, um zu lernen, dass sich hinter dem Modell des geweißelten Andorra tiefstes Schwarz verbergen
kann. Die belehrende Inszenierung des Senftenberger Theaters, die alle, die die Vorstellung
betreten haben, nicht mehr aus dem Betroffensein entlässt, entmündigt nicht die Zuschauer, sie macht wach für notwendigen Widerspruch außerhalb des Theaters.
Veröffentlicht in: UTOPIE kreativ. Berlin Heft 52/Februar 1995. S. 60-64
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