Sprachverständnis, Sprachentwicklung und Zweisprachigkeit – Zur Konzeption von HAVAS 5 Hans-Joachim Roth Gliederung 1. Zum Verständnis des HAVAS von Sprache 2. Linien der Sprachentwicklung 3. Sprachentwicklung unter den Bedingungen von Zweisprachigkeit 4. Zusammenfassung © Hans-Joachim Roth Sprache – ein vielschichtiges und kompliziertes Phänomen • keine einheitliche Definition vorhanden • große Unterschiedlichkeit der Verfahren zur Sprachstandsfeststellung • implizites Verständnis von „Sprache“ • Kritik seit den 80er Jahren: keine Offenlegung des leitenden Verständnisses von „Sprache“ • Notwendigkeit, das Konstrukt „Sprache“ zu definieren • Sprache und Sprachkompetenz lassen sich nicht umfassend „feststellen“ • Komplexität als Herausforderung © Hans-Joachim Roth ein umfassendes Verständnis von Sprache beim HAVAS • nicht einzelne grammatische Bereiche herausgreifen • kindliche Sprache: immer in kommunikative Zusammenhänge eingebunden – Bsp.: Stuhlkreis und Freispiel – Bsp.: Unterrichtssprache und Küchentisch • kommunikativer Zusammenhang bestimmt die Auswahl der sprachlichen Mittel • Einbeziehung der kommunikativen Situation als konstitutives Element © Hans-Joachim Roth Kindersprache • eine oder mehrere Sprachen in der Entwicklung • Kindheit als Lebensform, nicht unfertige Erwachsene • Kindersprache: – kein Durchgangsstadium zur Erwachsenennorm – keine defizitäre Vorstufe zum DUDEN • Eigengesetzlichkeit von Entwicklungsstadien und Grammatik • Ansatz an der Spezifik der Kindersprache © Hans-Joachim Roth Was können Kinder in der Sprache? • Ausgehen von den Kompetenzen • Bestimmung des Sprach‘stands‘ über Feststellung des Könnens in sprachlichen Teilbereichen • hohe Heterogenität: Bsp. Wortschatz: nur 20 % Überschneidung • Zurückstellung der Defizitperspektive • Suche nach der „Zone der näheren Entwicklung“: Übergangsstadien • „Wo kämpft das Kind?“ • Ansatz an Übergangsstadien: effektivere Förderung © Hans-Joachim Roth Zweisprachigkeit • konstitutive Rolle der Zweisprachigkeit für die Analyse des Sprachentwicklungsstands • Wechselwirkung der Sprachen im Erwerbsprozess • Stütze, Transfer, Interferenzen, Codeswitching • Erstsprache als Werkzeug des Erwerbs der Zweitsprache • Notwendigkeit des Wissens über beide Sprachen für Planung und Durchführung der Förderung © Hans-Joachim Roth Indikatoren • Notwendigkeit der Konzentration: nur Ausschnitte können erfasst werden • in der Forschung wie in der Praxis • Rückgriff auf Forschungsergebnisse: Indikatoren als trennscharfe Messwerkzeuge für Sprachentwicklung • Markierung der aktuellen Stufe im Erwerbsprozess • Profilanalyse • Ein Indikator reicht (leider) nicht! © Hans-Joachim Roth Was ist ein Indikator? Beispiel: das Verb im deutschen Satz • „Mama rufen“ – Fehlen der Vorsilbe /ge-/ beim Partizip – Fehlen des Hilfsverbs = unmarkiertes Verb in einem frühen Erwerbsstadium • „Mama hat geruft“ – Prinzip der Flexion vorhanden – Zweiteiligkeit des Prädikats – Fehlbildung zeigt Regelleitung (schwache Flexion) • Abstand: eine ganze Entwicklungsstufe • Inklusionsverhältnis: Perfekt schließt Beherrschung des Präsens ein © Hans-Joachim Roth Standardisierung und Kindgemäßheit • • • • • alle Lebenssituationen sind nicht zu erfassen Entscheidung für ausschnitthafte Situationen Sprechimpulse definieren das Feld der präsentierten Sprache Königsweg: Spontandaten in natürlichen Sprechsituationen Sprachstandserhebung in der pädagogischen Praxis: überschaubarer Zeit- und Ressourceneinsatz • Evaluation in FÖRMIG • Kindgemäßheit: Bilder als Sprechimpulse • offene und freie Gesprächsatmosphäre, keine Testsituation – zu freiem Sprechen anregen – ermuntern, nachfragen, strukturieren – nicht eingreifen, korrigieren und Vorgeben © Hans-Joachim Roth Indikatoren für das Deutsche Sprachhandeln | Pragmatik Aufgabenbew!ltigung sprachliche Strategien Sprachstrukturen | Syntax/Morphologie Formen des Verbs Stellung des Verbs © Hans-Joachim Roth Wortschatz | Lexikon Satzverbindungen Verben Formen und Stellung des Verbs 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. unmarkierte Verben im Infinitiv: Vogel fliegen finite Verben mit der Kopula „ist“: Der Vogel ist bunt finite Verben im Präsens: Der Vogel fliegt Modalverben und Infinitiv: Der Vogel will fliegen Trennung von Verb und Präfix: Der Vogel fliegt weg Perfekt: Der Vogel ist weggeflogen Inversion: Jetzt fliegt der Vogel weg Endstellung des Verbs im Nebensatz: Die Katze schreit, weil der Vogel weggeflogen ist 9. weitere Formen (Passiv, Futur, Konjunktiv usw.) © Hans-Joachim Roth Entwicklung der Verbstellung • 3. Lebensjahr - einfache Verben in der Zweitstellung, zusammengesetzte am Ende: • Hause spielen Mama • Mama Papa dann hause gehen • der Taxi fahren • ab 4. Lebensjahr: Flexionsendungen, Satzklammer: I: A: I: A: und was macht der Vogel[?] der macht hoch und runter und bums guck mal hier die Jungs - was machen die denn da[?] die macht [3 sec] macht ein Knie weg © Hans-Joachim Roth Spezifik des verbalen Wortschatzes kein Verb einfache Verben mit allgemeiner Bedeutung zweiteilige Verben mit spezifischer Bedeutung Ente (Mirko, kroat.-dt., 7 J) Flugzeug (Sina, ital.-dt., 6 J.) mhm - der Mensch - die sind zusammen am Seil und ein Flugzeug (Dino, ital.-dt., 6 J.) der das mit der Flugzeug ... mhh die guckt nur und macht mit der Flugzeug so (Franco, dt.-ital., 6 J.) die tut so ein Vogel runterhalten mit einer Schnur (Marcelino, dt.-span., 5 J.) und dann noch ein M!dchen - das h!ngt gerade ne M"we runter (Ra!l, dt.span., 5 J.) guckt aus dem Fenster [...] und h!ngt/geht Flugzeug runter ne[?] (Jan, dt., 5 J.) und da fliegt n Flugzeug - runter von dem M!dchen [...] das denkt sich jo wenn das Flugzeug schon bei ihr aufn Kopf fliegt - aber ich m"cht es runterlass/runterh!ngen lassen (Tanja, dt., 5 J.) © Hans-Joachim Roth Wortschatz in der Familiensprache Zum Beispiel Sina – im Deutschen nur ein einziges Verb: I: S: I: S: und was macht die Katze (?) deve cercare di acchiappare il Vogel gut und was macht der Vogel (?) fliegen Ihre italienische Aufnahme: I: Was macht die Katze? S: vuole cercare di acchiapparlo e di mangiarlo [sie will versuchen ihn zu fangen und zu fressen] © Hans-Joachim Roth Beispiele Satzverbindungen einfache Nennung Ente (Mirko, kroat.-dt., 7 J) ohne Verb Flugzeug (Sina, ital.-dt., 6 J.) einfacher mhm - der Mensch - die sind zusammen am Seil und ein Flugzeug (Dino, ital.-dt., 6 J.) Hauptsatz da guckt das M/ da guckt die Frau aus dem Fenster - die lasst den Flieger nach unten (Jussuf, dt.-arab., 5 J.) die tut so ein Vogel runterhalten mit einer Schnur (Marcelino, dt.span., 5 J.) Hauptsatz mit und dann noch ein M!dchen - das h!ngt gerade ne M"we runter herausgestelltem (Ra!l, dt.span., 5 J.) Subjekt einfacher Hauptsatz mit koordiniertem Pr!dikat (parataktisch) gereihte S!tze (hypotaktische) Satzgef"ge der das mit der Flugzeug ... mhh die guckt nur und macht mit der Flugzeug so (Franco, dt.-ital., 6 J.) guckt aus dem Fenster [...] und h!ngt/geht Flugzeug runter ne[?] (Jan, dt., 5 J.) der Vogel ist da oben im Bau/im Baum und die Katze kletterte auch hoch (Marcelino, dt.-span., 5 J.) und da fliegt n Flugzeug - runter von dem M!dchen [...] das denkt sich jo wenn das Flugzeug schon bei ihr aufn Kopf fliegt - aber ich m"cht es runterlass/runterh!ngen lassen (Tanja, dt., 5 J.) © Hans-Joachim Roth Zusammenfassung • Erfassung des sprachlichen Entwicklungsstandes als Grundlage für Förderentscheidungen • Evaluationsinstrument in FÖRMIG • Ansatz an der gesprochenen Kindersprache • Berücksichtigung repräsentativer Indikatoren • Berücksichtigung von Erwerbsstadien und Übergangsphänomenen • Sprechproben zu einem Bildimpuls „Katze und Vogel“ in beiden Sprachen • Aufzeichnung auf Tonträger © Hans-Joachim Roth