- Akademie der Diözese Rottenburg

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Bosnisch, türkisch, deutsch oder …
Hohenheim, 15.–16.11.2013
Kerim Kudo: Erwiderung auf Jorgen Nielsen
Erwiderung auf Jorgen Nielsen:
The Emerging Space of European Islam:
Germany, Balkans and Turkey
Kerim Kudo, Universität Duisburg-Essen, Fachbereich Europapolitik
Herr Prof. Nielsen hat in seinem Beitrag viele wichtige Aspekte der Wechselwirkung zwischen Islam
und Europa angesprochen. Ich werde versuchen, auf die aus meiner Sicht wichtigsten Aspekte einzugehen. Dabei werde ich mein besonderes Augenmerk auf die Lage der muslimischen Bevölkerung in
Südosteuropa richten.
1.
Nationalstaatsbildungsprozess in Südosteuropa
Der erste Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht sich auf Ihre Sicht der Entstehung der Nationalstaaten in Südosteuropa und die Stellung der dortigen muslimischen Bevölkerung. Zu Recht verweisen Sie sowohl auf die Vielfalt des dortigen muslimischen Lebens als auch auf die unterschiedlichen
Exklusionsstrategien. Während Albaner und Türken – über Sprache und Religion diskriminiert –
meist als „fünfte Kolonne“ angesehen werden, exkludiert man Pomaken und Bosniaken allein über
die Religion.
Im Fall der Bosniaken sind zwei unterschiedliche Exklusionsstrategien zu beobachten: Einerseits werden sie als islamisierte Serben betrachtet (Kosovo-Mythos) oder andererseits als Türken, womit sie
dann doch der „fünfte Kolonne“ zuzuordnen sind. Ungeachtet ihres Widerspruchs, sind es Exklusionsstrategien, die ihre destruktiven Wirkungen mit variierender Intensität bis zum heutigen Tage
entfalten. Ihre „diskursive Kraft“ im europäischen Kontext hängt im großen Maße von verschiedenen
Ereignissen ab.
2.
Bedeutung von Ereignissen, die narrativ den Islam zum neuen Feindbild
des Westens machten
Sie sind der Auffassung, dass für die Entstehung des Feindbildes „Islam“ das Ende der bipolaren
Weltteilung eine viel größere Rolle spielte als die Geschehnisse des 11. Septembers 2001 und Sie gehen
davon aus, dass dieses Bild schnell auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens übernommen wurde.
In diesem Punkt würde ich Ihnen widersprechen. Ich vertrete die Auffassung, dass der 11. September
für die muslimische Bevölkerung in Südosteuropa eine viel größere Rolle spielte als das Ende des OstWest Gegensatzes. Denn erst nach dem 11. September 2001 konnte die Bollwerk-Mythen (in denen
besonders das serbische Volk als eine Vorhut gegenüber dem Islam, der Europa bedroht, dargestellt
wird) teilweise in den westeuropäischen Öffentlichkeiten verankert werden. 1
1 Ausführlicher zu der Konstruktion der Bollwerk-Mythen in Bezug auf den Islam in Südosteuropa siehe: Kalsto, Pal (Hrsg.):
Myths and Boundaries in South-Eastern Europe, London 2005.
http://downloads.akademie-rs.de/interreligioeser-dialog/131115_kudo_erwiderung.pdf
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Deutlich sichtbar wird das an der zunehmenden Wirkmacht des Narrativs vom Islam als neuem
Feindbild in Südosteuropa, besonders in Bosnien-Herzegowina. Belege dafür sind die zahlreichen
Publikationen, die nach dem 11. September 2001 in den euro-atlantischen Staaten entstanden sind. 2
In den 1990er Jahren versuchten vor allem serbische Intellektuelle das Feindbild Islam in den Öffentlichkeiten europäischer Staaten zu verankern. Das schlug damals zunächst fehl, da die Verbrechen an
bosnischen Muslimen täglich in den Medien westeuropäischer Staaten präsent waren. Große Bedeutung hatten auch Stimmen jüdischer Intellektueller, die größtenteils selbst Überlebende des Holocausts waren und sich für ein Ende der Verbrechen an bosnischen Muslimen einsetzten.
Mit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 änderte sich die Situation schlagartig. Die anschließende Entwicklung verleitete besonders serbische Intellektuelle dazu, einen rekonstruktiven Eingriff
in die Geschichte vorzunehmen und die Kriegsjahre 1992-1995 neu zu interpretieren. Der 11. September dient bis heute als ein diskursives Mittel, das die verübten Verbrechen an den bosnischen Muslimen/Bosniaken zu relativieren versucht.
3.
Pluralisierung der islamischen Szene in Südosteuropa nach dem Kommunismus
Eine Pluralisierung des Islams in Südosteuropa, speziell in Bosnien-Herzegowina, ist eine Entwicklung die man nicht leugnen kann. Hauptursache für die Pluralisierung war der Krieg gegen BosnienHerzegowina. Die Institution der Islamischen Gemeinschaft blieb aber weiterhin dominant.
Dennoch wage ich die Behauptung aufzustellen, dass bis vor kurzem keine wesentlichen Veränderungen im Verhältnis von Politik zu Islam sichtbar waren. Ich sage „bis vor kurzem“, da es neuerdings (vor ca. einem Jahr) einen Führungswechsel in der Institution der Islamischen Gemeinschaft
gegeben hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war - auch nach dem Zerfall des Kommunismus - die Kontrolle
der Politik über die Islamische Gemeinschaft unverkennbar. Im Fall Bosnien-Herzegowinas wurde die
Kontrollfunktion der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, durch die der Partei der Demokratischen
Aktion (SDA, Stranka Demokratske Akcije) ersetzt. Diese Entwicklung vollzog sich bis 2003, seit dem
können wir wechselnde Allianzen zwischen der Islamischen Gemeinschaft und führenden bosniakischen Parteien beobachten.
Zusammenfassend möchte ich feststellen:
Die Institutionen der Islamischen Gemeinschaft bilden noch immer eindeutig die dominante und repräsentativste Form des islamischen Lebens in Südosteuropa. Wenn man also aus den islamischen
Gesellschaften in Südosteuropa einen Islam mit Modellcharakter für den europäischen Kontinent
herleiten will, dann kann das derzeit nur auf der Grundlage der Islamischen Gemeinschaft geschehen.
Die wirklichen Probleme einer eventuellen Übertragung der islamischen Tradition in die westeuropäischen Staaten stehen nicht im Zusammenhang mit der sichtbaren Pluralisierung des islamischen Lebens. Salafitische und wahabbitische Bewegungen sind dabei nicht als maßgebend anzusehen, wobei
ihre in Zukunft mögliche Auswirkung auf die bosniakische Gesellschaft nicht unterschätzt werden
sollte. Diese Gefahr sehen jedenfalls bekannte bosniakische Intellektuelle islamwissenschaftlichtheologischer Ausrichtung wie Rešid Hafizović, Adnan Silajdžić und Esad Duraković.
Die Übertragung eines südosteuropäischen „Modell-Islams“ könnten vor allem folgende Probleme
erschweren:
2 Als Beispiele gelten hierfür folgende Publikationen: Oschlies, Wolf: Bosnien: Europäischer Stützpunkt des Osama bin Laden
(SWP-Aktuell 19), Berlin, Oktober 2001; Deliso, Christopher: The Coming Balkan Caliphate. The Threat of Radical Islam to Europe
and the West, London 2007; Schindler, John R.: Unholy Terror: Bosnia, al Qa`ida, and the Rise of Global Jihad, Zenith Press 2008.
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Kerim Kudo: Erwiderung auf Jorgen Nielsen
1.
der Einfluss politischer Parteien auf die Islamische Gemeinschaft
2.
die enge Anbindung des Islams an ethno-nationale Identitäten
Zum Abschluss möchte ich Herr Prof. Nielsen nochmals für seinen Vortrag danken und sowohl an ihn
als auch an das Plenum folgende Grundsatzfragen richten:
Bedarf die Zukunft Europas einer Klärung der religiösen Identität seiner Bürger und, wenn ja, warum
spielt dabei die religiöse Identität der Muslime eine so entscheidende Rolle?
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