Schülermaterial Das Machtgefüge der Verfassungsorgane

Werbung
Zentralabitur 2011
Politik-Wirtschaft
Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Thema
Das Machtgefüge der Verfassungsorgane
Aufgabenstellung:
1. Geben Sie wieder, warum nach Wefings Auffassung das Bundesverfassungsgericht so
populär ist.
2. Erläutern Sie die im Text beschriebene Popularität des Bundesverfassungsgerichts im
Vergleich zu der Popularität der anderen Verfassungsorgane sowie zu der der Parteien und
Verbände.
3. Vergleichen Sie ausgehend vom Text die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen
Entscheidungsprozess der Bundesrepublik Deutschland mit der Rolle des Sicherheitsrats im
Entscheidungsprozess der UNO.
4. Beurteilen Sie das im Text beschriebene Bild vom Bundesverfassungsgericht.
Niedersächsisches Kultusministerium
1 von 4
Zentralabitur 2011
Politik-Wirtschaft
Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Material
Heinrich Wefing: Ein deutsches Geheimnis – Wie das Bundesverfassungsgericht die Republik
mitregiert (…)
(…) Die Verfassungsbeschwerde, die schärfste juristische Waffe des Bürgers im Ringen mit
dem Staat, ist eine relativ neue Erfindung. Viele Rechtsstaaten, auch alte Demokratien,
kennen nichts Vergleichbares. In Deutschland wurde sie 1951 eingeführt, zwei Jahre nach
Gründung der Republik, im Grundgesetz steht die Verfassungsbeschwerde erst seit 1968,
5
seit den Notstandsgesetzen. Und die Deutschen lieben sie. Über 6000-mal sind sie im
vergangenen Jahr »nach Karlsruhe« gegangen, Tendenz ständig steigend. Dabei werden
die allermeisten Verfassungsbeschwerden abgelehnt, ohne Begründung, Widerspruch
zwecklos. Kaum drei Prozent haben Erfolg. Aber erst die Verfassungsbeschwerde hat das
Grundgesetz lebendig gemacht. Und das Bundesverfassungsgericht populär.
10
Kein anderes Staatsorgan genießt derart viel Vertrauen in der Bevölkerung. Jedes Mal, wenn
die Karlsruher »der Politik« in die Parade fahren, finden sie Beifall bei Bürgern und Medien,
ganz gleich, ob sie das Rauchverbot aufheben, die Onlineüberwachung stoppen oder die
Pendlerpauschale wieder einführen. In aller Welt wird das Gericht bewundert, viele der
jungen Demokratien in Osteuropa, die sich gerade erst als Rechtsstaaten bezeichnen
15
können, haben ihre Verfassungsgerichte nach Karlsruher Vorbild organisiert. Nicht umsonst
hat der ehemalige Präsident der Universität Stanford, Gerhard Casper, einmal gesagt, die
Bundesrepublik solle nicht »Bonner« oder »Berliner Republik« heißen, sondern »Karlsruher
Republik«.
Umso kurioser, dass fast nichts über dieses Gericht bekannt ist. Trotz aller Popularität ist es
20
ein Rätsel. Ein deutsches Geheimnis, verborgen hinter Glas. Nach außen gibt sich das
Bundesverfassungsgericht ganz offen, zugänglich, transparent. Es sitzt in fünf flachen
Würfeln aus Glas, Stahl und Aluminium, unter alten Bäumen, gleich neben dem Karlsruher
Schloss. Ein Haus wie die alte Bundesrepublik, ohne Säulen oder Stacheldraht, bescheiden
und bürgernah. Das Haus ist ein Versprechen. Es sagt: Tritt ein, Bürger! Es sagt: Schluss mit
25
Angst und Demut vor der Obrigkeit! Es sagt: Der Staat ist für die Menschen da, nicht
umgekehrt. (…)
Öffentlich gibt es aus Politikermund nur Lob und Respekt für die Arbeit der Karlsruher. Aber
im kleinen Kreis, bitte nicht zitieren! wird gern auch mal gepestet. Adenauer tobte, als die
Richter ihm untersagten, ein bundeseigenes »Deutschlandfernsehen« zu gründen. Aus dem
30
Kabinett von Willy Brandt dröhnte es 20 Jahre später, man werde sich von den
»Arschlöchern in Karlsruhe« nicht die Ostpolitik kaputt machen lassen. Und Innenminister
Wolfgang Schäuble bemerkte angesichts detaillierter Vorgaben des Gerichts zur Anti-TerrorNiedersächsisches Kultusministerium
2 von 4
Zentralabitur 2011
Politik-Wirtschaft
Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Politik letztens spitz, wer Gesetze machen wolle, der solle sich doch ins Parlament wählen
lassen.
35
Papier1 sieht das demonstrativ gelassen. Es sei »durchaus im Rahmen des Normalen, dass
die eine Entscheidung auf Wohlgefallen in der Politik stößt und eine andere weniger. Mehr
kann ich dazu nicht sagen. Ich kommentiere nicht Kommentare zu Entscheidungen.«
Andere sind da weniger wortkarg. In juristischen Bibliotheken gibt es tonnenweise Bücher
über das eigentümliche Verhältnis zwischen Gericht und Politik. Und tatsächlich: Dass acht
40
Richter aushebeln können, was die gewählten Vertreter des Volkes in Bundestag und
Bundesrat mit Mehrheit beschlossen haben, das ist demokratietheoretisch starker Tobak.
Das »Problem der Verfügungsgewalt von Gerichten gegenüber staatlichen Organen« führe
»in die Tiefe der Staatsauffassung hinein«, hat der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der
wichtigsten Autoren des Grundgesetzes, bereits 1948 vorhergesagt. Skeptisch fügte er
45
hinzu, es handele sich dabei wohl um »ein unlösbares Problem«.
Doch da irrte Carlo Schmid. Nicht nur haben sich die Bürger der Bundesrepublik daran
gewöhnt, dass das Verfassungsgericht meist das letzte Wort gegenüber Parlament und
Regierung hat. Mehr noch: Gerade dieser Umstand trägt enorm zur Beliebtheit des Gerichts
bei. Anders gesagt: Karlsruhes Popularität hat auch mit einer verbreiteten Abneigung gegen
50
die Mühsal des demokratischen Entscheidungsprozesses zu tun. Hans-Jürgen Papier macht
das durchaus nicht froh. Es stimme ihn »schon nachdenklich«, sagt Papier, wie wenig
angesehen »das Politische in der Demokratie« in Deutschland sei. Die verbreitete
Abneigung gegen den politischen Streit, gegen die Auseinandersetzung zwischen den
Parteien, »ist für eine vitale Staatsstruktur nicht eben förderlich«.
55
Er spricht von einer Sehnsucht »nach dem Distanzierten, nach dem Neutralen, nach den
Entscheidungen, die jenseits der politischen Interessen gefunden werden«. Das Gericht
verkörpert diese Sehnsucht perfekt. Zwar werden auch seine Richter streng nach
Parteiproporz ausgewählt, in einem Hinterzimmergefinger, neben dem die Papstwahl in Rom
geradezu durchsichtig wirkt. Aber als Institution schwebt Karlsruhe über dem Berliner
60
Schlachtfeld. Lobbyisten haben dort keinen Einfluss, es gibt keine taktischen Hakeleien,
keine Schaumschlägerei, nur langes Schweigen – und irgendwann ein Urteil. Endgültig,
apodiktisch2, meistens überzeugend. Wahrscheinlich würden die Deutschen insgeheim am
liebsten von genau so einem Rat der Weisen regiert werden.
Willkommen in der Karlsruher Republik.
1
2
Hans-Jürgen Papier war bis März 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
apodiktisch (lat.): unwiderleglich, unumstößlich, keinen Widerspruch duldend
Niedersächsisches Kultusministerium
3 von 4
Zentralabitur 2011
Politik-Wirtschaft
Aufgabe II
eA
Schülermaterial
Bearbeitungszeit: 300 min
Quelle: Ein deutsches Geheimnis. Wie das Bundesverfassungsgericht die Republik mitregiert – und womöglich
den EU-Vertrag kippt. Aus: DIE ZEIT Nr. 27, 25.06.2009.
Hilfsmittel
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Niedersächsische Verfassung ohne ergänzende Kommentare
Niedersächsisches Kultusministerium
4 von 4
Herunterladen