136 Herzwirksame Pharmaka Herzglykoside Aus verschiedenen Pflanzen lassen sich zuckerhaltige Verbindungen (Glykoside) mit einem Steroidring gewinnen (Strukturformeln A), die die Kontraktionskraft von Herzmuskulatur steigern: herzwirksame Glykoside (kurz Herzglykoside), Cardiosteroide oder „Digitalis“. Wird die kraftsteigernde, „therapeutische“ Dosis nur wenig überschritten, kommt es zu Vergiftungserscheinungen: Arrhythmie und Kontraktur (B). Die geringe therapeutische Breite erklärt sich aus der Wirkungsweise. Herzglykoside (HG) binden sich von außen an die Na/K-ATPasen der Herzmuskelzellen und hemmen deren Enzymaktivität. Die ATPasen bewahren die transmembranalen Konzentrationsgradienten für K+ und Na+, das negative Ruhemembranpotential und die normale elektrische Erregbarkeit der Zellmembran. Wird ein Teil der Na/KATPasen von HG besetzt und gehemmt, können die unbesetzten Enzyme durch Steigerung ihrer Aktivität den Na+- und K+Transport aufrechterhalten. Mit der teilweisen Inaktivierung der Na/K-ATPasen steigt gleichzeitig die systolisch freigesetzte Ca2+Menge („Kopplungs-Ca2+“) und damit die Kontraktionskraft. Der mit der partiellen Hemmung der Na/K-ATPase verbundene intrazelluläre Na+Anstieg um wenige mM kann nicht die alleinige Ursache für die Zunahme des Kopplungs-Ca+ sein, denn sonst müsste jede Beeinträchtigung der Zellfunktion, die immer mit einer Zunahme der intrazellulären Na+Konzentration einhergeht, positiv inotrop wirken. Es gibt experimentelle Hinweise darauf, dass der Ca2+-Einstrom während des Aktionspotentials unter dem Einfluss der HG erhöht ist. Die hohe Affinität der Herzglykoside zur Na/K-ATPase ist übrigens nur in dem Augenblick vorhanden, in dem dieses Enzym einen Transport-Zyklus durchläuft. Ruhende ATPasen sind keine Bindungspartner. Die Ödemausschwemmung (Gewichtsverlust) und die Senkung der Herzfrequenz sind einfache, aber entscheidende Kriterien zur Beurteilung der optimalen Dosierung. Sind zu viele Na/K-ATPasen blockiert, ent- gleist die K+- und Na+-Homöostase, das Membranpotential sinkt, Arrhythmien treten auf. Die intrazelluläre Überflutung mit Ca2+ verhindert die Erschlaffung während der Diastole: Kontraktur. Ebenfalls auf der Bindung an Na/K- ATPasen beruhen die Wirkungen der HG im ZNS (C). Durch Erregung des N. vagus nehmen Herzfrequenz und Geschwindigkeit der atrioventrikulären (AV) Überleitung ab. Bei einem herzinsuffizienten Patienten trägt auch die Verbesserung der Kreislauf-Situation zur Herzfrequenz-Reduktion bei. Eine Erregung der Area postrema führt zu Übelkeit und Erbrechen. Farbsehstörungen lassen sich nachweisen. Als Indikationen für HG ergeben sich: 1. chronische Herzmuskelinsuffizienz 2. Vorhof-Flimmern, -Flattern; auf Grund der Hemmwirkung auf die AVÜberleitung sinkt die Folgefrequenz der Herzkammern, so verbessert sich die Pumpfunktion (D). Vergiftungssymptome sind: 1. Herzarrhythmien, u. U. lebensbedrohlich, z. B. Sinusbradykardie, AV-Block, ventrikuläre Extrasystolie, Kammernflimmern. 2. ZNS-Störungen. Charakteristisch: „Gelbsehen“; daneben z. B. Müdigkeit, Verwirrtheit, Halluzinationen. 3. Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe. 4. Niere: Salz- und Wasser-Verlust; hiervon zu trennen ist die bei therapeutischer Dosis auftretende Ausschwemmung von Ödemflüssigkeit, die sich beim Herzinsuffizienten wegen der Stauung vor dem Herzen eingelagert hatte. Medikamentöse Therapie der Vergiftung: Zufuhr von K+, das u. a. die HG-Bindung vermindert. Gabe eines Antiarrhythmikum wie Phenytoin oder Lidocain (S. 138). Orale Zufuhr von Colestyramin (S. 162) zwecks Bindung und Resorptionshemmung des im Darm befindlichen Digitoxin (enterohepatischer Kreislauf). Die entscheidende Maßnahme ist die Injektion von Antikörper(Fab-)Fragmenten, die Digitoxin und Digoxin binden und somit inaktivieren. Vorteile der Fragmente gegenüber kompletten Antikörpern sind raschere Penetration ins Gewebe, renale Eliminierbarkeit, geringere Antigenität. Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag 137 Herzglykoside A. Herzwirksame Glycoside enterale Resorption O Digoxin O HO t 1 2 : 2–3 Tage CH3 H3C CH3 O O bessere Steuerbarkeit verlängert bei eingeschränkter Nierenfunktion ~80% OH HO OH Elimination 3 O O Digitoxin t 1 2 : 5–7 Tage CH3 H3C CH3 O O 3 100% 14 OH HO OH langsames Abklingen einer Intoxikation unabhängig von der Nierenfunktion 3 B. Therapeutische und toxische Herzglykosid-Wirkung Kontraktion Arrhythmie Na+ „therapeutische“ Na/K-ATPase Dosis Herzglykosid HG KopplungsCa2+ HG Na+ Na+ Na+ K+ „toxische“ Ca2+ Ca2+ K+ K+ K+ HG Herzmuskelzelle HG Zeit Kontraktur C. Herzglykosid-Wirkung im ZNS Störung des Farbsehens HG D. Herzglykosid-Wirkung bei Vorhofflimmern „kreisende Erregung“ beim Vorhofflimmern Herzglykosid Erregung des N. vagus: Herzfrequenz Area postrema: Übelkeit, Erbrechen Abnahme der Folgefrequenz der Ventrikel Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag 138 Herzwirksame Pharmaka Wirkstoffe zur Behandlung von Herzarrhythmien Der elektrische Impuls für die Kontraktion, das fortgeleitete Aktionspotential (S. 138), wird von den Schrittmacherzellen des Sinusknotens ausgesandt und breitet sich im Herzgewebe über Vorhöfe, Atrioventrikular(AV)-Knoten und die sich anschließenden Teile des Erregungsleitungssystems auf die Herzkammern aus (A). Unregelmäßigkeiten des Herzschlags können die Pumpfunktion des Herzens gefährlich beeinträchtigen. I. Wirkstoffe zur gezielten Beeinflussung von Sinus- bzw. -AV-Knoten. Bei einigen Arrhythmieformen können Pharmaka verwandt werden, welche die Funktion von Sinus- und AV-Knoten recht gezielt zu fördern (grüner Pfeil) bzw. zu hemmen (roter Pfeil) vermögen. Sinusbradykardie. Die zu geringe Impulsfrequenz des Sinusknoten (쏝 60 Schläge/ min) ist durch Parasympatholytika steigerbar. Das quartäre Ipratropium besitzt gegenüber Atropin den Vorzug der fehlenden ZNS-Gängigkeit (S. 110). Sympathomimetika wirken ebenfalls positiv chronotrop; ihr Nachteil ist, allgemein die Erregbarkeit des Myokard zu erhöhen, sodass andere Myokardzellen in Vorhof oder Ventrikel zusätzlich Impulse aussenden können (Neigung zur Extrasystolie). Bei Herzstillstand kann durch Gabe von Adrenalin, beigebracht als intrabronchiale Instillation oder intrakardiale Injektion jeweils kombiniert mit Herzmassage, versucht werden, erneut Herzaktionen auszulösen. Sinustachykardie (Frequenz in Ruhe 쏜 100 Schläge/min). β-Blocker verhindern den Sympathikus-Einfluss und senken die Herzfrequenz. Insbesondere ist Sotalol zu nennen, weil es eine gute antiarrhythmische Wirkung besitzt. Vorhofflattern oder -flimmern. Eine zu hohe Folgefrequenz der Herzkammern kann durch Verapamil (Vorsicht negativ inotropEffekt) oder Herzglykoside herabgesetzt werden. Sie hemmen die Fähigkeit des AV-Knotens zur Impuls-Überleitung, sodass weniger Impulse die Ventrikel erreichen. II. Unspezifische Beeinflussung von Erregungsbildung und -fortleitung. Bei manchen Arrhythmieformen werden zur Therapie bzw. Prophylaxe Antiarrhythmika vom lokalanästhetischen Na-Kanal blockierenden Typ verwandt. Diese Substanzen blockieren den Na-Kanal, der für die schnelle Depolarisation von Nerven- und Muskelgewebe verantwortlich ist: Die Auslösung eines Aktionspotentials wird erschwert und die Erregungsleitung verlangsamt. Dieser Effekt wird sich bei manchen Arrhythmieformen günstig auswirken, kann jedoch auch selbst arrhythmogen wirken. Die Antiarrhythmika vom Na-Kanal-blockierenden Typ sind leider in zweifacher Hinsicht nicht spezifisch genug: 1) Auch andere Ionenkanäle wie die K- und die Ca-Kanäle des Herzmuskels werden beeinträchtigt (abnorme QTZeit-Verlängerung) und 2) die Wirkung ist nicht auf Herzmuskelgewebe beschränkt, sondern betrifft auch Nervengewebe und Hirnzellen. Nebenwirkungen am Herzen sind arrhythmogene Effekte sowie Senkung von Frequenz, AV-Überleitung, Kraft. Die zentralnervösen Nebenwirkungen machen sich durch Schwindel, Benommenheit, Verwirrtheit, motorische Störungen usw. bemerkbar. Ein Teil der Antiarrhythmika wird im Organismus schnell durch Spaltung abgebaut (s. Pfeile in B); diese Substanzen sind für eine orale Therapie nicht brauchbar, sondern müssen intravenös zugeführt werden (z. B. Lidocain). Unabhängig davon, welche Ursache einem Vorhofflimmern zu Grunde liegt, kann sich im Vorhof ein Thrombus bilden, denn das Blut stagniert in den Herzohren. Von diesem Thrombus kann sich ein Embolus ablösen und dieser wird dann bevorzugt in den Hirnkreislauf gelangen: Schlaganfall! Es ist daher unbedingt notwendig, bei Vorhofflimmern eine gerinnungshemmende Behandlung durchzuführen. Sofort wirksam sind Heparin-Präparate, dann kann übergegangen werden auf die Vit.K-Antagonisten, z. B. Phenprocoumon. Diese Therapie muss beibehalten werden, so lange Episoden von Vorhofflimmern auftreten. Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag 139 Wirkstoffe zur Behandlung von Herzarrhythmien A. Erregungsbildung und -fortleitung im Herzen Sinusknoten Parasympatholytika Vorhof β-Sympathomimetika AV-Knoten His-Bündel β-Blocker TawaraSchenkel Verapamil PurkinjeFasern Herzglykoside Ventrikel Vagus-Erregung B. Antiarrhythmika vom Na-Kanal-blockierenden Typ Hauptwirkung antiarrhythmischer Effekt Antiarrhythmika vom lokalanästhetischen (Na-Kanal-blockierenden) Typ: Hemmung von Erregungsbildung und -fortleitung Procain O H2 N C C 2H5 O + CH2 CH2 NH C 2H5 Procainamid O Nebenwirkungen H2 N C CH3 ZNS-Störungen N H C 2H5 N H C 2H5 O C C 2H5 CH2 NH CH3 Arrhythmie Kardiodepression CH3 Lidocain + C 2H5 CH3 O + CH2 NH CH2 H CH2 CH CH3 Mexiletin + NH H Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag 140 Herzwirksame Pharmaka Elektrophysiologische Wirkungen der Antiarrhythmika vom Na-Kanalblockierenden Typ Aktionspotential und Ionenströme. Mittels einer intrazellulären Mikroelektrode ist die elektrische Spannung (das Potential) über der Zellmembran einer Herzmuskelzelle messbar. Bei einer elektrischen Erregung verändert sich das Membranpotential charakteristisch: Aktionspotential (AP). Ursache sind phasenhaft ablaufende Ionenströme. Während der raschen Depolarisation (Phase 0) herrscht kurzfristig ein Na+-Einstrom durch die Membran. Anschließend wird die Depolarisation durch einen zeitweiligen Einstrom von Ca2+- (sowie auch Na+-)Ionen aufrechterhalten (Phase 2, Plateau des AP). Ein K+-Ausstrom sorgt für die Rückkehr des Membranpotentials (Phase 3, Repolarisation) auf den Ruhewert (Phase 4). Die Geschwindigkeit, mit der die Depolarisation vonstatten geht, bestimmt, mit welcher Geschwindigkeit das Aktionspotential über die miteinander verbundenen Herzmuskelzellen entlangläuft. Die transmembranalen Ionenströme erfolgen durch Porenproteine: Na-, Ca-, K-Kanäle. In (A) ist symbolisiert, wie sich der Funktionszustand der Na-Kanäle im Verlauf eines Aktionspotentials phasenhaft verändert. Na-Kanal-blockierende Antiarrhythmika vermindern die Neigung der Na-Kanalproteine, sich auf eine elektrische Erregung hin zu öffnen („Membranstabilisierung“). Dies kann zur Folge haben (A, unten): a) Die Depolarisationsgeschwindigkeit sinkt und damit auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Erregung im Myokard. Eine „falsche“ Erregungsausbreitung wird erschwert. b) Eine Depolarisation bleibt gänzlich aus. Eine pathologische Erregungsbildung, z. B. in der Randzone eines Infarktes, wird unterdrückt. c) Die Zeitdauer bis zur Auslösbarkeit einer erneuten Depolarisation, die Refraktärperiode, nimmt zu. Eine Verlängerung des Aktionspotentials (s. u.) trägt zur Zunahme der Refraktärperiode bei. Als Folge wird eine vorzeitige Erregung mit der Gefahr eines Flimmerns verhindert. Wirkungsmechanismus. Die Na-Kanal-blockierenden Antiarrhythmika sind wie die meisten Lokalanästhetika kationische amphiphile Moleküle (S. 204; außer Phenytoin, S. 192). Die möglichen molekularen Mechanismen ihrer Hemmwirkung auf die Na-Kanal-Funktion sind auf S. 204 ausführlicher erläutert. Die geringe strukturelle Spezifität spiegelt sich in einer geringen Spezifität der Wirkungen wider: Nicht nur das Na-KanalProtein, sondern auch Ca-Kanal-Proteine und K-Kanal-Proteine können in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Dementsprechend beeinflussen die kationisch amphiphilen Antiarrhythmika nicht nur die Depolarisations-, sondern auch die Repolarisationsphase. Je nach Substanz kann die Aktionspotentialdauer zunehmen (Klasse IA), abnehmen (Klasse IB) oder gleich bleiben (Klasse IC). Antiarrhythmika dieser Art sind: IA: Chinidin, Procainamid, Ajmalin, Disopyramid; IB: Lidocain, Mexiletin, Tocainid; IC: Flecainid, Propafenon. K-Kanal-blockierende Antiarrhythmika. Einer Klasse III zugeordnet werden die Wirkstoffe Amiodaron sowie der β-Blocker Sotalol, die bei geringerem Effekt auf die Depolarisationsgeschwindigkeit eine auffällige Verlängerung des AP hervorrufen. Angemerkt sei, dass man unter Klasse-IIAntiarrhythmika die β-Blocker versteht und unter Klasse IV die Ca-Antagonisten Verapamil und Diltiazem. Therapeutische Anwendung. Wegen der geringen therapeutischen Breite werden Antiarrhythmika nur angewandt, wenn Rhythmusstörungen so ausgeprägt sind, dass die Pumpfunktion des Herzens leidet, oder wenn andere Komplikationen drohen. Eine Kombination von Antiarrhythmika ist nicht zu empfehlen (z. B. Chinidin plus Verapamil). Einige Substanzen, z. B. Amiodaron, sind Spezialfällen vorbehalten. Diese Jodhaltige Substanz hat ungewöhnliche Eigenschaften: die Eliminationshalbwertzeit beträgt 50−70 Tage, Amiodaron wird je nach Ladungszustand an apolare und polare Lipide gebunden, im Gewebe gespeichert (Cornea-Trübung, Lungen-Fibrose) und interferiert mit der Schilddrüsen-Funktion. Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag Antiarrhythmika vom Na-Kanal-blockierenden Typ 141 A. Wirkungen der Antiarrhythmika vom Na-Kanal-blockierenden Typ Membranpotential [mV] Aktionspotential (AP) 1 2 0 Depolarisationsgeschwindigkeit 0 3 4 -80 Refraktärzeit 250 Zeit [ms] 0 Herzmuskelzelle Na+ Ca2+(+Na+) Phase 0 Phasen 1,2 K+ Phase 3 Phase 4 „schneller langsamer Ca2+-Einstrom Na+-Einstrom“ Ionenströme während eines Aktionspotentials Na+ Na-Kanäle geschlossen, Öffnung möglich („ruhend“, „aktivierbar“) geschlossen, Öffnung nicht möglich („inaktiviert“) Zustände des Na-Kanals während eines Aktionspotentials offen („aktiviert“) Hemmung der Na-Kanal-Öffnung Antiarrhythmika vom Na-Kanal-blockierenden Typ Unerregbarkeit Reiz Depolarisationsgeschwindigkeit Unterdrückung der AP-Auslösung Verlängerung der Refraktärperiode = Dauer der Unerregbarkeit Lüllmann/Mohr/Hein, Taschenatlas der Pharmakologie (ISBN 3-13-707705-2) 쏘 2004 Georg Thieme Verlag