Islam (1/4) - Sunniten und das Ringen um die wahre Lehre

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WDR 5 Tiefenblick
Islam (1/4) - Sunniten und das Ringen um die wahre Lehre.
Zitator Koran:
„Trag vor im Namen deines Herrn, der alles erschaffen hat. Und den Menschen
aus einem klebrigen Tropfen erschuf. Trag vor, bei deinem Herrn, dem
glorreichsten, der den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was
er nicht wusste...“
Atmo: Zeltlager in der Wüste, Schritte
O-Ton Mohammed Bannounah:
We are now north and east of Riad. This area a lot of people they make camp
and tent, they come on weekend with families, with friends, to stay just a
weekend and be back to Riad, you know.
Übersetzer:
Wir sind jetzt nordöstlich von Riad. In dieser Gegend bauen viele Leute aus der
Stadt ihre kleinen Camps auf, stellen ihre Zelte hin, verbringen das
Wochenende hier mit der Familie oder mit ihren Freunden. Anschließend fahren
sie wieder nach Riad zurück.
Atmo-Schritte
Autor:
Mohammed Bannounah ist Offizier der saudischen Nationalgarde und zugleich
ein typischer Bewohner der saudischen Hauptstadt. Naht das Wochenende,
kehrt er seinem militärischen Bürojob den Rücken. Seine Freizeit verbringt er
am liebsten mit Freunden in der Wüste, mit Männern, die ihm gleichen: mit
Beamten, Verwaltungsangestellten, erfolgreichen Geschäftsleuten.
Atmo: Zeltlager in der Wüste, Begrüßung, Klirren, Auspacken der Kühlbox,
Handyklingeln…
Sie treffen sich bei Sonnenuntergang - ein paar Kilometer vor der Hauptstadt
des Königsreichs Saudi-Arabien. Zwischen den Dünen haben sie ihr kleines
Lager aufgeschlagen. Generatoren rattern unablässig und sorgen dafür, dass
es auch mitten im Wüstensand kalte Getränke und heißes Grillfleisch gibt.
Atmo: … Stimme Mohammed: “If you would like to wash your hands...”
- Wasser wird über Hände gegossen
Ein Bediensteter geht vorbei und schüttet allen aus einer hohen Messingkaraffe
Wasser über die Hände. Denn gegessen wird aus ein und derselben riesigen
Schüssel.
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Atmo: … Essen
Autor:
Smartphones klingeln unablässig, mobile Klimaanlagen surren – Mohammed
Bannounah und seine Freunde sind 24 Stunden vernetzt. Was nichts daran
ändert, dass sie sich an denselben Gebräuchen orientieren, wie die Menschen,
die hier 1400 Jahre früher lebten, zu der Zeit, als der Islam entstand.
Sprecher:
Mekka um das Jahr 600, eine pulsierende Stadt, gebaut aus Lehm, Holz und
Leinwand. Kreuzungspunkt zweier international wichtiger Handelswege: Der
Ost-West-Achse von Afrika nach Asien und der Nord-Süd-Achse vom
Persischen Golf Richtung Europa. Im Norden herrschen die Nachkommen des
Römischen Weltreichs, die christlichen Byzantiner, im Osten die Sassaniden,
die Dynastie der persischen Kaiser.
O-Ton Abu Zaid:
The Tribal society in the Arabic Peninsula was reaching its end. People were
literally killing each other. Tribes were fighting all over – for the grass, for the
water. So, tehey were going to finish eacht other.
Übersetzer:
Die Stammesgesellschaft auf der Arabischen Halbinsel war am Ende. Die Leute
waren im wahrsten Sinne des Wortes dabei, sich gegenseitig umzubringen.
Überall lagen die Stämme im Kampf, stritten um Weidegründe, um Wasser. Sie
waren drauf und dran, sich gegenseitig auszulöschen.
Sprecher:
Beide Großmächte unterhalten ihre Vasallen unter den Arabern und bezahlen
sie dafür, ihre jeweiligen strategischen Interessen wahrzunehmen. Die Araber
sind Polytheisten. Deshalb geht es in den Konflikten immer auch um den Ruhm
und die Vormacht der jeweiligen Gottheiten. Krieg ist auf der Arabischen
Halbinsel des 7. Jahrhunderts der Normalzustand.
O-Ton Abu Zaid:
The tribes invented what is called the sacred months. Sacred months was
intended to create a period of peace in order not for the population to perish.
Simply because they have three months in which commerce and business can
go on and stop fighting. And all the tribes respected this.
Übersetzer:
Die Stämme entwickelten daher die so genannten „heiligen Monate“, als eine
wiederkehrende Periode des Friedens, damit die Bevölkerung auf der Halbinsel
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nicht ausstarb. Während dreier Monate konnte man in Frieden Handel treiben,
das Kämpfen hörte auf. Und alle Stämme hielten sich daran.
Autor:
Nasr Hamid Abu Zaid. Ägypter. Und einer der führenden arabischen Religionswissenschaftler und Spezialist für die Frühzeit des Islam.
Sprecher:
Wenn einmal im Jahr die Waffen schweigen, verwandelt sich die Handelsstadt
Mekka in ein Pilgerzentrum. In einem würfelförmigen Bau, der Kaaba treffen
sich die Stammesführer zu politischen Palavern oder einfach, um alte
Beziehungen zu erneuern. Und es geht um Geschäfte, um An- und Verkauf, Imund Export, kurz: um Geld.
Autor:
Geschäftstüchtigkeit ist auch den Bewohnern des heutigen Saudi Arabien
durchaus nicht fremd.
Atmo: … Fußmarsch
Doch gerade deshalb, meint Mohammed Bannounah, ist es ein Segen, dass es
die Wüste noch gibt. Nach dem Essen schlägt er den Vorhang des Zeltes
zurück und beginnt querfeldein hinaus in die Dunkelheit zu marschieren.
O-Ton Mohammed:
A lot of Saudis now they have villas and they have buildings and they have
good jobs, they speak English, they play with computers and everything but in
desert life you feel, you re a prince, you are a king. You don’t think about
anything of this life. And it’s easy life. And your eyes can walk and see
everything. But inside the cities you can’t see anything. You can see inside
yourself in desert. You can learn a lot of things.
Übersetzer:
Viele Saudis wohnen heutzutage in ihren Villen oder in Hochhäusern, sie haben
gute Jobs, sprechen Englisch, spielen mit Computern, aber hier in der Wüste
fühlst du dich wie ein Prinz, wie ein König. Du denkst nicht über irgendwas im
Leben nach. Deine Augen schweifen über den Himmel, du kannst alles
erkennen. In der Stadt erkennst du nichts. In der Wüste blickst du in dich selbst
hinein. Und dadurch lernst du eine ganze Menge.
Autor:
So wie die gestressten Geschäftsleute aus Riad am Wochenende gern den
Alltag hinter sich lassen, entfloh Mitte des 6. Jahrhunderts auch Mohammed,
ein junger Kaufmann aus Mekka, dem Alltag. Jenseits der Handelskontore mit
ihrer Jagd nach Geld suchte er die Einsamkeit der Wüste, um sich zu sammeln.
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Meditieren würde man heute sagen. Und dabei wurde ihm die erste
Offenbarung zuteil:
Sprecher:
Die eines einzigen Gottes, der eine ganz andere neue Ordnung verheißt und
sich an Aspekten des Monotheismus orientiert, wie er durch Juden und Christen
bereits gelebt wird.
Autor:
Gott selbst sprach über Mohammed zu den Menschen – so der Glaube.
Zitator Koran:
„Trag vor im Namen deines Herrn, der alles erschaffen hat. Und den Menschen
aus einem klebrigen Tropfen erschuf. Trag vor, bei deinem Herrn, dem
glorreichsten, der den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was
er nicht wusste...“
Autor:
... lautet die erste Offenbarung. Zahlreiche neue Botschaften folgten. Aus ihnen
kristallisierten sich einige grundlegende Regeln heraus:
Sprecher:
Das Wort Islam bedeutet Unterwerfung, völlige Hingabe.
Unterwirf dich dem einen Gott und folge seiner Offenbarung.
Bete fünfmal am Tag.
Faste einmal im Jahr im heiligen Monat Ramadan und nimm von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder Essen noch Trinken zu dir.
Spende den Armen und Bedürftigen Zakat, die Armensteuer.
Autor:
Mohammads Offenbarungen vor 1400 Jahren bildeten die Grundlagen des
Islam, im damaligen Umfeld kamen sie einer Revolution gleich. Einer radikalen
geistig-moralischen Erneuerung.
O-Ton Abu Zaid:
Look to Christianity. In the context of the stagnation of the jewish community at
the time, it was a project to break through, to establish a new order. To get out
of the old stagnised order of religion and of society at the meantime. It applies
to Islam.
Übersetzer:
Wenn Sie das Christentum betrachten – da ist das ähnlich abgelaufen. In einer
Zeit, da die jüdische Gemeinschaft stagnierte, entstand es als ein Projekt, das
darauf abzielte, eine neue Ordnung herzustellen, aus der alten stagnierenden
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Ordnung dieser Religion und dieser Gesellschaft herauszufinden. Und das
Gleiche gilt auch für den Islam.
Autor:
Heute ist es der Terror des so genannten islamischen Staates in Syrien und im
Irak, der den öffentlichen Blick auf den Islam prägt. Mitte der 1990er Jahre, als
ich Professor Abu Zaid traf, berichteten die Medien täglich über den Terror der
„Bewaffneten Islamischen Gruppe“, GIA, in Algerien. Kaum eine Woche verging
ohne Entführungen oder Enthauptungen - Morde verübt an Ausländern und
Andersgläubigen.
Das Gespräch mit dem ägyptischen Islamforscher eröffnete mir eine neue
Perspektive. Abu Zaid vermochte schlüssig darzulegen, weshalb seiner Ansicht
nach die Religion, die da im siebten Jahrhundert in der arabischen Wüste
entstand, nicht einen zivilisatorischen Rückschritt bedeutete, sondern im
Gegenteil eine der Quellen der Moderne war.
O-Ton Abu Zaid:
What is modernisation? Modernisation is a movement in order to establish a
new order in the social, political, economical and scientific level, intellectual
level. When the old order is going through a crisis, modernity comes here in
order to abolish the order and to establish a new order. This is a society which
was threatened to disappear because the tribal order was just reaching its final
crisis. So, here comes the Islam as a messag to etsablish a new order and you
could say: well, of course – it’s modernity.
Übersetzer:
Was ist Modernisierung? Nichts Anderes als eine Bewegung, die eine neue
Ordnung aufrichten will, sozial wirtschaftlich, wissenschaftlich. Wenn das
Althergebrachte in der Krise ist, erscheint die Modernität und stellt eine neue
Ordnung her.
Die arabische Gesellschaft war tatsächlich vom Aussterben bedroht. Die
Stammes-ordnung hatte das finale Stadium ihrer Krise erreicht. Der Islam kam
mit der Botschaft, eine neue Ordnung zu errichten. Und das können Sie gut und
gerne als Modernität bezeichnen.
Autor:
Die Siegelbewahrer der alten Ordnung waren in Mekka die Kora’isch, eine
mächtige Großfamilie. Mohammed gehörte einem verarmten Zweig dieser
Stadt-Aristokratie an. Die Kora’isch verwalteten das allen Stämmen
gemeinsame Heiligtum, die Kaaba.
Je lauter Mohammed als Prophet nun seinen Monotheismus verkündete, desto
empfindlicher störte das die Interessen der führenden Familie:
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Atmo: Koranrezitation – Sure 1
Sprecher:
Was, wenn der Prophet der neuen Religion die Jahrhunderte lang
gewachsenen Gebräuche abschafft – die Pilgerzeit, die Verehrung des KaabaHeiligtum oder die Rolle der Kora’isch als Hüter der Religion?
Die Mekkaner Elite macht mobil. Mohammed ist seines Lebens nicht mehr
sicher und nimmt eine Einladung der Stämme von Medina an. Dort schart er
eine wachsende Gemeinde von Muslimen um sich. Zwischen seinen
Anhängern und den Mekkanern kommt es zu Feldzügen. Doch am Ende setzt
sich der islamische Staat von Medina durch. Nicht nur durch militärische
Überlegenheit, sondern auch weil Mohammed die Schlüsselfiguren seiner
Heimatstadt davon überzeugen kann, dass ihre Interessen nicht gefährdet sind.
Autor:
Das Althergebrachte wurde also nicht ausgelöscht, sondern sollte neu gedeutet
werden.
Atmo: Koranrezitation – Sure 112
Sprecher:
In den Offenbarungen des Propheten erscheint die Kaaba als Zentrum eines
neuen Monotheismus: Als Haus, das der Gottsucher Abraham seinem Herrn
bereits errichtet hatte. Und auch die Pilgerzeit wird eingemeindet und als
Hadsch zu einem der fünf Grundpfeiler des Islam.
Autor:
Angesichts der Zugkraft dieser rasch anwachsenden neuen Religion, gaben die
Würdenträger der Kora’isch ihren Widerstand gegen den Monotheismus
schließlich auf und setzten sich sogar an die Spitze der neuen Bewegung.
Sprecher:
In dem Paradigma eines islamischen Staates erkennen sie ein ideales Mittel für
ihr Projekt: die arabische Halbinsel zu unterwerfen.
Autor:
Und genau darin lag das Problem, meint Abu Zaid. Ein Problem, das der Islam
bis heute nicht losgeworden ist.
O-Ton Abu Zaid:
Islam as to start with, you could speak about modernity but as long as the state
is proclaiming religion, religion is used against its essential values. It’s used by
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the authority to legitimize the actions of the authorities against the people. In
reaction, people will try to use religion in order to protest against the authority.
In both cases, religion is used.
Übersetzer:
An seinem Anfang lässt sich der Islam also als ein Modernismus beschreiben.
Aber sobald der Staat sich zum Sachwalter der Religion macht, wird die
Religion instrumentalisiert, und zwar entgegen ihren grundlegenden Werten.
Die Religion gerät zum bloßen Mittel, um die Handlungen des Staates zu
rechtfertigen. Die Folge ist, dass sich dann wiederum die Bevölkerung der
Religion bedient, um gegen den Staat zu protestieren. In beiden Fällen dient die
Religion lediglich als Mittel zum Zweck.
Autor:
Macht und Protest - der Dualismus setzte schon bald nach dem Tod
Mohammeds ein, als es um seine Nachfolge ging. Und immer dann, wenn - in
den folgenden Jahrzehnten nach dem Tod eines Chalifa - die Frage nach der
Führung erneut anstand. Der bedeutendste Konflikt entzündete sich an der
Person Alis, des Schwiegersohns des Propheten. Die Mekkaner Elite der
Kora’isch betrachtete Ali nicht als einen der ihren und ermordete ihn.
Atmo: Muharram Trauerzug
Sprecher:
Alis Söhne schwingen sich zu Wortführern einer Protestbewegung auf, der
Sch’iat Ali, der Partei Alis. In der Schlacht von Kerbela fügt die Armee der
Kora’isch den Schiiten eine vernichtende Niederlage zu.
Autor:
Bis heute befinden sich die Schiiten, die Anhänger Alis in einer
Minderheitenposition und betrachten sich weltweit als latent Unterdrückte und
Zukurzgekommene.
Atmo: Muharram, Trauerzug
Aus der Trauer über das verlorene Kalifat und den Tod der Söhne Alis
entwickelten sich Rituale der Selbstkasteiung. Denkschulen entstanden, die im
Staat und der Staatsmacht nicht die Sachwalter göttlicher Gerechtigkeit sehen,
sondern im Gegenteil: die Sachwalter der ungöttlichen irdischen
Ungerechtigkeit.
Unter den siegreichen Kalifen aus der Linie der Kora’isch hingegen verwandelt
sich der islamische Staat in eine Art Erbmonarchie.
Atmo: Zelt, Wüste
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O-Ton Mohammed:
Abdallah Bin Abdel Aziz. That his picture. Do you see him? Yes. We love him,
yeah.
Übersetzer:
Das ist Abdallah Bin Abdel Aziz. Siehst du sein Bild? Wir lieben ihn.
Autor:
In der saudischen Hauptstadt Riad zieht Mohammed Bannounah, Offizier in der
saudischen Nationalgarde, ein Foto des Herrschers aus der Tasche.
O-Ton Mohammed:
You can visit him in his office. Any citizen in Saudi Arabia can visit him in his
office or in his palace. And if you have any problem or like that you can write
your problem and talk with him. He meets the people, anyone. He opens the
doors. Really. You can meet him any time.
Übersetzer:
Du kannst ihn in seinem Büro besuchen. Jeder saudische Bürger kann ihn da
oder auch in seinem Palast besuchen. Und wenn du ein Problem oder so was
hast, kannst Du ihm schreiben und dann darüber mit ihm sprechen. Er öffnet
seine Türen. Wirklich! Du kannst ihn treffen, jederzeit!
Autor:
Wer es heute in Saudi Arabien, dem Ursprungsland des Islam, zu etwas
bringen will, muss sich irgendwie mit der Königsdynastie vernetzen. Egal was
man braucht, eine Wohnung, ein Haus, einen Kredit, ein neues Auto… oder
auch bei persönlichen Problemen, Sorgen, Streit mit den Nachbarn,
Vorgesetzten oder Untergebenen... im Zweifelsfall einfach zum Führer gehen
und ihn demütig um Hilfe bitten.
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Prinz Turki Bin Sultan Bin Abdelaziz:
We always go with our islamic religion – what is legal to discuss and what is not
legal to discuss…
Übersetzer:
In Saudi Arabien richten wir uns ohne Kompromisse nach unserer islamischen
Religion und achten strikt darauf, was sich diskutieren lässt und was nicht.
Autor:
Im heutigen Saudi Arabien hat die Deutungshoheit über den Islam nicht mehr
der Stamm der Kora’isch und auch nicht die Omayaden, einer ihrer
Familienclans, sondern die Familie al Saud.
In dieser Familienhierarchie steht Prinz Turki Bin Sultan weit oben; er ist ein
Enkel von König Abdelaziz, jenes Stammesführers, der die Herrscherdynastie
der Saud im frühen 20. Jahrhundert begründet hat. Jemand wie Prinz Turki
kann Türen öffnen oder verschließen. Und er kann sagen, was die Religion
erlaubt und was sie verbietet.
Prinz Turki Bin Sultan Bin Abdelaziz:
But for us, I mean… if you really got deep into Islam, there is many things that
help the country and help the nation. So we all have a great respect for this.
Übersetzer:
Viele Aspekte des Islam haben bei der Entwicklung unseres Landes eine Rolle
gespielt. Der Islam hat unsere Nation zu dem gemacht, was sie heute ist. Und
deshalb haben wir dafür den tiefsten Respekt.
Autor:
Wo aber steht geschrieben, was diskutiert werden darf und was nicht? Nach
dem Tod Mohammeds ist der Islam zunächst noch eine Mischung aus mündlich
Tradiertem und vereinzelt schriftlich niedergelegten Quellen.
Sprecher:
Kalif Othman, der dritte Prophetennachfolger, ordnet an, Klarheit in die religiöse
Überlieferung zu bringen. Er lässt eine verbindliche Textsammlung erstellen:
den Koran. Hinzu kommt bald darauf eine weitere Quelle: die Hadithe – die
Aussprüche und Handlungsweisen des Propheten.
Je deutlicher der rasch wachsende islamische Staat an Kontur gewinnt, desto
mehr bedarf es auch eines neuen Rechts. Auf der Grundlage von Koran und
Hadithen, entsteht die Scharia: der Weg.
In den einzelnen Regionen des inzwischen angewachsenen islamischen
Reiches formulieren unterschiedliche islamische Gelehrte Antworten auf die
wichtigsten Rechtsfragen des Alltags. Antworten, die wiederum zu neuen
Quellen werden.
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Atmo: Koranrezitation – Sure 99
Autor:
Unter den wachsamen Augen der Herrscher kristallisiert sich die Sunna heraus,
eine Art kleinster gemeinsamer Nenner. Eine allgemein geteilte und
verbindliche Meinung darüber, wie sich ein Muslim verhalten soll, wenn er dem
Beispiel der Urgemeinde von Medina folgen will.
Ebenso alt wie die Festlegung des Überlieferten, ist allerdings der Vorwurf, die
Auftraggeber, also die Kalifen, seien nicht unvoreingenommen vorgegangen.
Sie hätten mithilfe willfähriger Korangelehrter eine pseudoreligiöse Tradition
begründet. Eine vernunftfeindliche Tradition, die den Gläubigen vor allem
Unterwerfung und Gehorsam abverlangt. Nicht nur Gehorsam gegen Gott,
sondern gegenüber der quasi-göttlichen Autorität des Kalifen als Staatsführer,
Armeechef und Oberstem Richter.
Als kritischer Gegenentwurf dazu entwickelt sich im Zusammenhang der Sunna
bereits sehr früh ein Rationalismus. Islamische Denker greifen auf die Quellen
der griechischen Philosophie zurück und stellen dem Paradigma von Einheit
und Gehorsam ein anderes gegenüber: das der Vernunft.
O-Ton Abu Zaid:
Here comes the Mutazilites and try to intruduce a fresh understanding of
religion. A metaphorical explanation of demystification of the text, learning from
the greek, they introduced a new modernism within islamic thougth; come the
philosophy.
Übersetzer:
Die Bewegung der Mutaziliten versuchte, ein frisches, metaphorisch orientiertes
Verständnis der Religion zu etablieren. Den Text zu entmystifizieren. Indem sie
von den Griechen lernten, führten sie eine neue Modernität in den Islam ein.
Die Philosophie tritt auf.
O-Ton Hans Küng:
Und in der Zeit kam es eben zu dieser rationalen Theologie, weil in der
Begegnung mit der griechischen Philosophie auch viele Muslime den Eindruck
hatten, man muss die Vernünftigkeit des Islam darstellen, von der Physik bis
zum Gottesverständnis.
Autor:
Der katholische Theologe Hans Küng ist überzeugt, dass der Islam dadurch die
Fundamente auch für die westliche Moderne gelegt hat.
O-Ton Hans Küng:
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Die Vernünftigkeit hat da eine ganz neue Rolle gespielt und hat zu einer
richtigen Blüte einer rationalen Theologie geführt, längst bevor das im
Christentum in der Scholastik geschah Das Spannende daran ist, dass im
Christentum große Denker wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin diese
Impulse, die Averroes gegeben hat, in der Vermittlung des großen griechischen
Philosophen Aristoteles, dass sie die aufgenommen haben.
Autor:
Gelehrte wie der arabische Philosoph und Arzt Ibn Ruschd, in Europa als
Averroes bekannt, versuchten im 12. Jahrhundert die Religion mit dem
wissenschaftlichen Erbe der Griechen in Harmonie zu setzen.
Schließlich liegt die Essenz der Botschaft ja in einem Gott, der unvorstellbar ist
und keine menschlichen Eigenschaften besitzt – für Averroes also der Inbegriff
der metaphysischen Weisheit, und das, was Plato als „Logos“ bezeichnet hatte.
Um diesen Gott zu beschreiben, interpretierten also die Rationalisten
koranische Begriffe wie Gottes Thron, Gottes Angesicht symbolisch.
Doch war ihnen nur eine kurze Blütezeit beschieden.
O-Ton Hans Küng:
Die arabische Philosophie hat eine ganz große Zeit gehabt in Spanien. Aber
dort ist mit Ibn Ruschd, mit Averroes, wie wir ihn lateinisch nennen, der letzte
große arabische Philosoph dann verbannt worden und da hat sich gezeigt: es
ist aus. Es haben damals die Traditionalisten gewonnen, die Gottesgelehrten,
die den Koran wörtlich nehmen wollten, wollten nicht, dass man das rational
versteht, dass man versucht, das auf vernünftige Weise zu interpretieren, sie
fanden, das wird den Islam untergraben. Und seither ist der Islam
zurückgeblieben. Insofern fängt die Stagnation schon sehr früh an und der
Islam hat das nicht mehr hergekriegt
Autor:
Das islamische Recht, die Scharia gilt im Sunnitentum als abgeschlossen und
unantastbar.
Sprecher:
Seit dem 12. Jahrhundert tritt anstelle von Diskussion und neuen Ideen im
sunnitischen Islam nun vollends das Paradigma der Einheit. Nicht diskutieren
oder kritisieren oder nach Neuerungen suchen, sondern sich dem unterwerfen,
worauf sich alle einigen können und was in der islamischen Überlieferung fest
geschrieben ist.
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Autor:
Zugleich wird alles als Irrweg abgetan, was in Mohammeds Urgemeinde von
Medina vermeintlich keine Rolle spielte: Wie Philosophie und Wissenschaften
aller Art.
Sprecher:
Bid’a, das Wort für Neuerung gerät beinahe zum Schimpfwort. Es trägt den
Vorwurf der Abweichung in sich vom einzig möglichen Weg, vom gesegneten
Leben, wie es der Prophet in seiner Urgemeinde vorgeschrieben hatte.
Autor:
Seit den 1980er Jahren verbreiten die am Golf geschulten sunnitischen Korangelehrten weltweit einen Islam der Tabus und Denkverbote.
Atmo: Krankenhaus, Schublade wird aufgezogen
Autor:
King Saud Hospital in Riad, Saudi Arabien.
Im Sektionssaal zieht ein Professor eine Schublade auf. Es erscheint eine Art
Mumie, ein menschlicher Körper, ohne Haut. Muskeln und Knochen liegen
offen.
O-Ton Professor:
Dr Gunter, he came her about two times. He brings bodies. Every year about
forty bodies. To our department. He shipped by air. I show you. It is very difficult
ot get it… about religion, you know what I mean. But in Germany it’s very easy.
You can get this by telephone.
Übersetzer:
Sehen Sie? Dr. Gunther ist zweimal hergekommen. Er bringt uns die Leichen.
Jedes Jahr liefert er unserer Abteilung vierzig Leichen, per Flugzeug. Ich zeige
Ihnen welche. Die sind bei uns schwer zu bekommen. Der Religion wegen. In
Deutschland bekommt man sie ganz einfach, ein Anruf genügt.
Autor:
In Saudi Arabien - so verdeutlicht der Professor – sind Leichen für die Anatomie
Mangelware. Um Medizinstudenten adäquat auszubilden, ist die Kenntnis des
menschlichen Körpers zwingend. Der Professor muss die Leichen aus einem
anderen Land beschaffen. Der Deutsche Gunther von Hagens liefert sie.
O-Ton Professor:
In our relegion it is very difficult to give bodies for studies. Haram, it’s called. In
our religion. But in Europe this is normal. You see what I mean. Here, nobody
gives you the bodies when you died. You can’t ask him: please, we nee this.
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For a student. You see what I mean? There is no body allowed. All these
bodies is German. (Lacht schallend) All this is German. Came from… Germany.
You can see this technique, it’s calles plastination. Dr Gunther did this one. It’s
a human, fantastic, you see? He brings to us about twelve bodies, six male and
six female.
Übersetzer:
In unserer Religion ist es sehr schwierig, Leichen zu Studienzwecken zu
spenden. Das ist haram. Aber in Europa ist das normal. Hier stellt Ihnen keiner
seinen Körper zur Verfügung. In Saudi Arabien kann man einfach keinen
fragen: bitte können Sie mir Ihre Leiche geben, wir brauchen sie für Studenten.
Alle diese Leichen sind Deutsche! (lacht schallend) Alles Deutsche! Sie
kommen aus Deutschland. Sehen Sie diese Technik? Sie heißt Plastination.
Diesen hier hat Dr. Gunther persönlich plastiniert. Ein echter Mensch!
Fantastisch! Er hat uns neulich zwölf Leichen geliefert, sechs Männer, sechs
Frauen.
Autor:
Konsum technischer Errungenschaften aus dem Ausland – ja. Freiheit der
Wissenschaften, geistige Moderne im eigenen Land – nein. So lautet das
unausgesprochene Credo der finanzstarken sunnitischen Führungsmächte am
Golf.
Bei dem Koranwissenschaftler Abu Zaid findet sich eine ganz andere Vision von
Moderne. Er interpretiert den Koran in der Tradition der Rationalisten. Mit all
dem Handwerkszeug, das die Geschichts-, Sprachwissenschaft und
Erkenntniskritik den Religionswissenschaftlern seit dem 19. Jahrhundert zur
Verfügung stellt. Der Mensch ist für Abu Zaid nicht nur eine willenlose Hülle,
kein Wesen, das ins sichere Verderben läuft, sobald es sich durch die
Möglichkeit eigenen Denkens verführen lässt. Das spezifisch Menschliche
nimmt in seiner Sichtweise neben dem Göttlichen sogar einen wichtigen Platz
ein.
O-Ton Abu Zaid:
Divinity of the Quoran is related to the speaker, God. So if we look to the
speaker, to the sender, it’s divine. But if we look to the language - because God
spoke in language… God did not speak his own divine language, God used our
human, natural non-divine language - it’s our invention. If God spoke his
language, supposedly, who’ll understand? So, God spoke to us through our
own linguistice system, through our own code. Our own code is impregnant with
our culture. With our notions, with our understanding. In the context, we can
understand it. But we have also to be aware of its own linguistic dynamics which
reveals its very specific message. So, here in the Quoran, if study it thoroughly,
we can see the culture, the conceptions and we can see also by analyzing
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metaphores, by analyzing allegories, by analyzing the semantic level on all its
apparent and hidden structure the essential message of the Quoran.
Übersetzer:
Die Göttlichkeit des Korans bezieht sich auf den Absender, auf Gott. Wenn wir
ihn betrachten, ist er göttlich. Wenn wir die Sprache betrachten – denn Gott hat
in Sprache gesprochen, er bediente sich nicht seines eigenen göttlichen Idioms,
er benutzte unsere menschliche, naturgemäße, nichtgöttliche Sprache. Sie ist
unsere Erfindung. Hätte Gott seine eigene Sprache gesprochen – wer hätte ihn
verstanden?
Wenn wir den Koran sorgfältig studieren, erhalten wir Aufschluss über seine
Kultur, seine Konzepte und wenn wir Metaphern analysieren, Allegorien, die
semantische Ebene in all ihren offenliegenden und verborgenen Strukturen,
können wir auch die Essenz der koranischen Botschaft erkennen.
Autor:
Das gilt in größerem Maße für die Scharia. Denn sie, so Abu Zaid, ist von
mittelalterlichen Gelehrten entwickelt worden, also durchaus kein göttliches und
kein unabänderliches Recht. Viele ihrer Aspekte, so meint er, lassen sich auf
die heutige Zeit nicht mehr anwenden oder widersprechen sogar der
eigentlichen Botschaft des Islam.
Als Abu Zaid Anfang der 1990er Jahre solche Thesen veröffentlichte, brach
über ihn ein Sturm der Entrüstung herein.
Atmo: Predigt und Sprechchor in der Moschee
„Bid’a“, lautete der Vorwurf – „Neuerung“ – Entfernung von der offiziellen
Lehrmeinung, wie sie bis heute die islamischen Gelehrten zwischen Jakarta
und Rabat vertreten.
Vor 900 Jahren musste sich der Rationalist Ibn Ruschd mit ähnlichen Vorwürfen
auseinandersetzen. Doch während der Andalusier nur verbannt, seine Schriften
lediglich verbrannt wurden, durfte er seinen Lebensabend friedlich in
Marrakesch verbringen. Abu Zaid hingegen traf im Ägypten des 20.
Jahrhunderts ein weitaus härteres Schicksal. Als ich ihm im Mai 1996
gegenübersaß, wirkte er wie ein Gejagter.
Ein konservativer Scheich hatte ihn durch ein Rechtsgutachten und eine
Verurteilung von der Kanzel einer Moschee herab quasi zum Vogelfreien
erklärt.
O-Ton Abu Zaid:
An apostate, according to the Islamic Sharia should be executed. And if the
government does not carry on this religious duty, then any individual can do it
and he or she should not be punished.
Übersetzer:
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© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
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Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben
(z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Gemäß der Scharia sollte ein Glaubensabtrünniger hingerichtet werden. Und
wenn die Regierung dieser religiösen Pflicht nicht nachkommt, kann jedes
Individuum das tun. Und der oder die Betreffende sollte nicht strafrechtlich
verfolgt werden.
Autor:
Das allerdings, so schilderte er mir, sei seinen Gegnern immer noch nicht
genug gewesen. Sie wollten, dass er qua Gesetz zum Ungläubigen erklärt wird.
Da es dafür im ägyptischen Strafrecht keine Handhabe gab, wählten sie den
Umweg über das Familienrecht.
Atmo: Protest
O-Ton Abu Zaid:
They went to the family court and asked for annuling of my marriage. Why?
Because no one could just go to the court and say: this is an apostate. Because
there is nothing in the code to for the court to verdict someone being an
apostate. So, they wanted to get it in an indirect way, asking the court to annulle
the marriage.
Übersetzer:
Sie zogen vors Familiengericht und beantragten, dass meine Ehe annulliert
würde.
Warum? Niemand kann einfach vor Gericht gehen und sagen, dass ein anderer
ein Glaubensabtrünniger ist. Das ist im Strafrecht nicht vorgesehen. Direkt ließ
sich also nichts machen. Deshalb beantragten sie vor dem Familiengericht
meine Scheidung.
Autor:
So war aus der Diskussion über Islam und Reform eine Schlammschlacht über
Abu Zaids Privatleben geworden. Um weiter lehren, leben und mit seiner Frau
verheiratet sein zu können, ging Professor Abu Zaid ins niederländische Exil.
Als er 2010 nach Ägypten zurückkehrte, tat er das ohne die Aussicht, jemals
wieder in Kairo, im Zentrum des Sunnitentums unterrichten zu können. Kurz
nach seiner Ankunft starb
er im Juli 2010 an den Folgen einer Erkrankung.
Musik
Absage:
Islam - Sunniten und das Ringen um die wahre Lehre.
Ein Feature von Marc Thörner.
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Es sprachen:
Tilo Werner
Gerhard Mohr
Daniel Berger
Guido Lambrecht
Andreas Potulski
und Wolfgang Rüter
Technische Realisation: Benedikt Bitzenhofer und Jeanette Wirtz Fabian
Regieassistenz: Ellen Versteegen
Regie: Philippe Brühl
Redaktion: Dorothea Runge
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2015.
Am kommenden Sonntag hören Sie: Islam - Schiiten und das Trauma der
verlorenen Gerechtigkeit. Download und Manuskript der Sendung finden Sie
unter wdr 5 de und im WDR-Featuredepot.
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