Kinder & Familie Meldungen Steckbrief Manfred Spitzer Geboren: 1958 Ausbildung: Studium der Fächer Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg; Promotion in Medizin und Philosophie; Diplom in Psychologie Beruf: Arzt Ausgewählte berufliche Stationen: 1983-1989 Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie; Habilitation 1990-1997 Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg Interview 1994 Visiting Full Professor für klinische Psychologie an der Harvard University (USA) Seit 1997 Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm Seit 1998 Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm 2004 Gründung des Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) an der Universität Ulm Seit 2004 Sendung „Geist & Gehirn“ (BR-alpha) „Bildschirmmedien schaden dem Gehirn“ Prof. Manfred Spitzer ist leitender ärztlicher Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. ÖKO-TEST: TV-Sendungen, Internetportale und Lernsoftware für Kleinkinder – macht das in diesem Alter überhaupt Sinn? Spitzer: Ganz kleine Kinder, etwa bis zum zweiten oder dritten Geburtstag, können von Bildschirmmedien gar nichts lernen. Völlig unabhängig vom Inhalt gilt hier, dass die Form digitaler Medien ungeeignet ist, den Kindern das zu geben, was sie brauchen: Input über alle Sinne, der zudem ganz genau zusammenpasst. Wir lernen Sprache, indem wir uns einem Menschen zuwenden, ihm auf die Lippen schauen und zugleich einen Millisekunden genau hierzu passenden akustischen Wahrnehmungsinput bekommen. Dieser Input kommt genau von dem gleichen Ort, an dem interessante Bewegungen stattfinden, was dem die Muttersprache lernenden Säugling hilft, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. ÖKO-TEST: Wie wirkt sich der Umgang mit digitalen Medien auf das kindliche Gehirn aus? Spitzer: Das Gehirn kleiner Kinder befindet sich noch in Entwicklung, es entwickelt sich vom Einfachen zum Komplizierten hin, denn durch automatisch ablaufende biologische Prozesse wird dafür gesorgt, dass Gehirnareale die zunehmend komplexere Informationsstrukturen verarbeiten können, nach und nach zugeschaltet werden. Diese komplexeren Gehirnareale – man könnte auch sagen, die Bereiche des Gehirns, mit denen wir denken – erhalten ihren Input nicht von der Außenwelt, sondern von den einfacheren Gehirnarealen, die für die Sinne und für die Bewegung zuständig sind. Daraus folgt etwa, dass Fingerspiele im Kindergarten spätere mathematische Begabung fördern, dass viel Sprachinput im Kindergarten späteres Lesen erleichtern. Es folgt aber auch, dass Bildschirmmedien im Kindergartenalter Lernprozesse aktiv behindern können. Denn wer sich die Welt per Mausklick aneignet, der lernt sie nur sehr oberflächlich. ÖKO-TEST: Gerade von Software-Herstellern wird aber der PC als Lernmedium für Kinder regelrecht angepriesen... Spitzer: Den Versprechungen der Marktschreier muss man unbedingt widerstehen: Baby Einstein- DVD´s machen Kinder nachgewiesenermaßen dümmer, nicht schlauer. Auch wenn „Sprachgenie“ darauf steht, sorgen diese Medien für eine ungünstigere Sprachentwicklung, wie entsprechende Untersuchungen gezeigt haben. Ich kenne andererseits eine Mutter, die mir erzählt hat, dass ihr 13-jähriger Sohn an einer Konsole Französisch lernt. Er hat die Konsole nur zum Französisch lernen bekommen und ist seither in diesem Schulfach besser geworden. Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass es viele solcher Fälle gibt, man muss sich darüber im Klaren sein, dass digitale Medien Bildungsprozesse ungünstig beeinflussen. Wer das Gegenteil behauptet, trägt die Beweislast und muss entsprechende Studien vorlegen. Solche gibt es praktisch nicht. ÖKO-TEST: Was halten Sie dann vom Computer als Lernmedium in der Schule? Spitzer: Aus meiner Sicht ist der Einsatz von Computern in der Grundschule nicht sinnvoll und selbst in der Sekundarstufe 1 möglicherweise eher schädlich als günstig. Wer mit den Medien umgeht, der braucht vor allem eines: Vorwissen. Dieses bekommt er definitionsgemäß nicht aus den Medien, sondern er muss es schon haben, um mit den Medien umgehen zu können. Es geht hier nicht um den Internetführerschein oder um Medienkompetenz, sondern um Weltwissen, das es einem erlaubt, beispielsweise beim Suchen im weltumspannenden Netz die Spreu vom Weizen zu trennen. ÖKO-TEST: Warum ist es so schwer, Kindern einen verantwortungsbewussten Umgang mit den Medien beizubringen? Spitzer: Verantwortungsbewusst kann jemand nur dann handeln, wenn er über funktionierende entsprechende Gehirnareale verfügt, in denen verantwortliches Handeln hervorgebracht wird. Man stärkt Kinder nicht dadurch, dass man ihnen immer wieder Versuchungen vorführt, denen sie erliegen. Kleine Kinder sollten nicht ständig mit Süßem konfrontiert werden, denn sie sind von der Evolution darauf programmiert, dies zu essen – wer es vor 100.000 Jahren nicht tat, starb bei der nächsten Hungersnot, konnte seine Gene also nicht an uns weitergeben. ÖKO-TEST: Häufig heißt es aber, wer als Kind nicht mit dem Computer umgehen kann, hat später schlechtere Karten. Spitzer: Ganz gewiss nicht. Wer eine ganz normale Erziehung – ohne Fernsehen, Internet und PC – durchlaufen hat, viel über die Welt weiß und an allen Verführungen vorbei auf gesunde Weise erwachsen geworden ist, der verfügt über die Ressourcen, um mit den Medien verantwortungsvoll umzugehen. Wer frühzeitig an die Medien herangeführt wird, der wird nicht intelligenter oder verantwortungsbewusster, sondern dick, dumm, dumpf und gewalttätig. Dies zeigen Dutzende von seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen. Links zu Manfred Spitzer Weitere Links zum Thema: ¡ Manfred Spitzer auf der Website der Universität Ulm mit ¡ Beiträge/Meinungen von weiteren Medienexperten zu einer Liste seiner Publikationen http://www.uniklinik-ulm.de/struktur/kliniken/psychiatrie-undpsychotherapie/klinik-fuer-psychiatrie-und-psychotherapie-iiiulm/home/personen/prof-dr-dr-manfred-spitzer.html ¡ Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm http://www.znl-ulm.de/ Chancen und Risiken moderner Medien http://www.medienbewusst.de ¡ Medienführerschein an bayerischen Schulen http://www.bayern.de/Medienfuehrerschein-Bayern-.2253/ index.htm ¡ Die Zentralstelle der Länder für Jugendschutz gibt Tipps zum Umgang mit den Medien im Internet und bewertet regelmäßig Jugendchats und Webseiten für Kinder http://www.jugendschutz.net http://www.klick-tipps.net/