Kinderbetreuung - Audiopaedagogik

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3. Oktober 2009
Kinderbetreuung
Im Folgenden geht es um die Eltern von Kindern mit Behinderung. Diese
Mütter und Väter sind durch Arzt- und Therapietermine für ihr Kind zeitlich
besonders eingeschränkt, lernen, wie sie ihren Sprössling am besten
fördern, stellen eigene Vorlieben zugunsten von dem Kind dienlichen
Freizeitaktivitäten zurück, müssen sich mit Behörden und Versicherungen
auseinandersetzen, mit Kindergärten und Schulen verhandeln und dabei
gegebenenfalls Unverständnis verkraften. Eine Mutter schilderte mir
kürzlich, wie sie und ihr Mann vom Arzt zur Schule, von der Schule zum
Arzt geschickt wurden. Jeweils machte die eine Instanz die Genehmigung
einer Induktionsanlage von der Befürwortung der anderen abhängig. Dazu
der ach so einfühlsame Kommentar: „Wissen Sie, Ihr Kind ist das teuerste
an unserer Schule.“
Sehr viel Nervenstärke und Organisationstalent wird solchen Eltern
abverlangt. Sie sind im Verhältnis zu Eltern mit Kindern ohne Handicap
mehr gefordert, haben weniger frei verfügbare Zeit, sind oft finanziell eher
eingeschränkt, weil manche Aufwendung privat zu entrichten und nur ein
kleineres Arbeitspensum möglich ist. Die Anforderungen sind erhöht,
geringer die Chancen auf Erholung und Freiräume – nicht für
Spektakuläres wie etwa eine Weltreise, sondern für eigene Arzt- oder
Friseurbesuche, für konzentrierte Rundgänge durch Gartencenter und
Möbelläden, für Kino und Theater, für berufliche Weiterbildungen.
Alle Eltern kleiner Kinder müssen für solche Freiräume kämpfen und
gönnen sie sich oft nicht, weil ihnen die Anstrengungen zu mühsam
scheinen. Ist die Gemeindeversammlung wirklich so wichtig, dass es
lohnt, sich vorher vielleicht ½ Tag lang um die Behütung des Kindes an
jenem Abend zu kümmern? Und sind wir dann tatsächlich sorgenfrei?
Derartige Fragen sind Eltern vertraut, zumal wenn nahe Verwandte weit
weg wohnen, die Nachbarn kaum bekannt sind oder ihre (flexiblen)
Arbeitszeiten im Weg stehen. Doch Eltern eines behinderten Kinds haben
es erfahrungsgemäss schwerer, Betreuung für ihr Kind zu finden. Scheu
und Bedenken, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, halten manche vom
Hütedienst ab, den sie bei vermeintlich problemlosen Kindern gern
übernehmen.
Angst vor möglichen Fehlern als Hürde, Hilfe zu leisten, ist selbst bei
professionellen Kräften zu beobachten, gar bei solchen, die sich durch Eid
zur Hilfe verpflichtet haben. Manfred Spitzer schildert in seinem Buch
Nervensachen. Geschichten vom Gehirn (Frankfurt am Main 2005, Seite
31) von einem Flug, bei dem erkundet wurde, ob ein Arzt an Bord sei.
„Eine größere Fluggesellschaft hat nicht nur etwa 2.000 Notfälle, sondern
auch etwa 20 Todesfälle in der Luft pro Jahr zu bewältigen.“ Spitzer erfuhr
vom versierten Flugpersonal, dass sich an Bord befindliche Ärzte oft nicht
melden würden. Sie „hätten ganz offensichtlich Angst davor, im Fall eines
ungünstigen Ausgangs ihrer Bemühungen ... vom Patienten oder dessen
Angehörigen verklagt zu werden.“ Zwar ist unterlassene Hilfeleistung
strafbar, aber sie lässt sich nur verfolgen, wenn der Fluggast als Mediziner
bekannt ist oder wird.
Eine fatale Entwicklung, übel für alle. An sie sollten wir denken, wenn der
Gesetzgeber erwägt, im privaten, nicht kommerziellen Bereich zu
Kinderbetreuung nur bei Nachweis von Kursen, Zertifikaten und
dergleichen zu berechtigen, um die Qualität zu heben. So tönte es kürzlich
bei der verworrenen, den Begriff Betreuung zu wenig klärenden
Auseinandersetzung
hierzulande.
Ideen
und
Konzepte
von
BildungspolitikerInnen und Sozialfachleuten spiegelten sich allenfalls
verschwommen wider. Die Heftigkeit der Diskussion erstaunt nicht, denn
„in der Schweiz werden ... ca. 50% der Vorschulkinder von Grosseltern
und nahen Verwandten betreut.“ * Gemäss befürchteten oder
fehlinterpretierten Neuerungen würde sich zwangsläufig der Kreis derer,
die Kinder betreuen möchten und dürfen, einschränken und die Situation
gerade von Eltern mit behinderten Kindern nochmals verschlechtern. Nach
meinen Erfahrungen braucht es keine Gesetzesänderung, um Menschen
abzuhalten oder zu belangen, die nach allgemeiner Auffassung wegen
ihres Verhaltens (Alkohol, Drogen ...), ihres Charakters (unzuverlässig,
gewalttätig ...) oder ihrer Wohnverhältnisse (unhygienisch, mit
Kampfhund ...) ungeeignet sind. Jedoch, ich vermag nicht repräsentativ
zu urteilen und bin überzeugt, dass beispielsweise in der Sozialarbeit
Tätige heikle Erlebnisse berichten könnten.
Ob Heranwachsende und Erwachsene sich zutrauen, auf Kinder eine
Zeitlang zumindest aufzupassen, hängt auch vom Selbstvertrauen ab.
Filmkomödien spielen mit der Gegenüberstellung: Einerseits der
Kinderwelt entrückte, ziemlich ahnungslose, ein wenig trottelige,
vorzugsweise
männliche
Figuren
und andererseits Kinder,
die
vorübergehend normalerweise unbekannte Freiheiten geniessen – u. a. bei
der Kleidung, beim Essen und Zubettgehen. Zur Freude des Publikums
geht vieles schief, aber nichts gravierend, und alle sind glücklich. In der
Wirklichkeit sind mehr Menschen von ernsthaftem Gemüt anzutreffen.
Teilweise laufen sie Gefahr, sich von der riesigen Menge an
Ratgeberliteratur, an belehrenden Artikeln und von Vorträgen erdrücken
zu lassen. Ihre Zunahme kann einschüchtern, zum Eindruck extremer
Risiken und zu Unsicherheit, letztlich zu Handlungsunfähigkeit führen.
Dabei können neue Erkenntnisse und ihre Publikation so fruchtbar sein.
„Wir wissen ... heute über die Entwicklung des Sprachverstehens beim
Kleinkind, über die Sprache bei taubstumm Geborenen, über die
Sprachstörungen bei Krankheiten (wie Schlaganfall oder Morbus
Alzheimer) oder über die Leseschwäche bei Jugendlichen viel mehr als
noch vor zehn Jahren“, schreibt Spitzer in seinem obgenannten Buch
(Seite 274). Dieses neue Wissen hat über die Forscher die Fachleute in
Medizin und Therapie erreicht und wird mehr und mehr verankert, auch
durch den Auftritt von dem wissenschaftlich tätigen Psychiater
Spitzer
selbst
beim
Forum
zum
150-Jahr-Jubiläum
der
Sprachheilschule St. Gallen am 18. November 2009.
Sich aktuelles Wissen anzueignen und es in die eigene Praxis umzusetzen,
gehört zur Kompetenz von ExpertInnen, die von ihnen Beratene,
Vorgesetzte und Behörden erwarten dürfen, ja müssen (vgl. den
Bewertungsbogen auf dieser Website). Selbstredend besteht ein
bedeutender Unterschied zur Gärtnerin und zum Buchhalter, zur
Managerin und zum Wirt, die als Mutter oder Vater, Tante oder Onkel
solche Ansprüche zu erfüllen nicht den Ehrgeiz haben sollten. Wenn sie
sich interessieren und gelegentlich mit der Materie befassen, ist dies
wunderbar. Der Tag hat auch für sie nicht mehr als 24 Stunden! Ständige
Überforderung und folglich früher oder später Demotivation wären
schädlich. Mut – auch zur Lücke - , der Austausch mit der Fachkraft,
Freude und Vertrauen helfen Erwachsenen und Kindern.
Braucht also frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung nicht stärker
professionalisiert zu werden? Unsere Parteien antworten im Hinblick auf
Elternverantwortung und auf Chancengerechtigkeit unterschiedlich, teils
einzelne
Kriterien
und
Ziele
wie
Elternberatung,
medizinische
Untersuchungen, Integrations- und Sprachförderung heraushebend.
Internationale Studien und Vergleiche legen umfangreicheres Wirken
pädagogisch oder sonderpädagogisch Geschulter für 0- bis 4-Jährige nahe.
Die Bildungsdirektion vom Kanton Zürich lancierte im September 2009 die
„Initiative Frühe Förderung“ und strebt hiermit dankenswerterweise eine
breite Diskussion an. Mag es gelingen, Ängste durch Aufklärung
auszuräumen und mit dem Begriff Betreuung allgemeinverständlich und
elternfreundlich umzugehen. Die bestehenden, freiwilligen Angebote für
sonderpädagogische Massnahmen (heilpädagogische Früherziehung,
Audiopädagogik, Logopädie) sind unumstritten.
©Susi Ungricht Rex
* Frühe Förderung. Hintergrundbericht zur familienunterstützenden und
familienergänzenden frühen Förderung im Kanton Zürich, herausgegeben
von der Bildungsdirektion Kanton Zürich im September 2009. Seite 51
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