Manfred Spitzer: Gibt es eine Neurobiologie der Werte

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Manfred Spitzer: Gibt es eine Neurobiologie der Werte?
Aus: Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg 2002
Katharina Schmidt
Manfred Spitzer wagt sich mit seinem 2002 erschienenen Buch „Lernen.
Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ auf ein Gebiet vor, dass bis heute gar nicht
erst diskutiert wurde und zum anderen noch „in den Kinderschuhen steckt“.
Er geht im Kapitel 18 des Buches der Frage nach: Gibt es eine Neurobiologie der
Werte? Und wenn ja: Was hätte dies für Konsequenzen für unsere Erziehung und
Bildung? Er versucht eine Brücke zu schlagen zwischen den Ergebnissen der
Hirnforschung oder den Einsichten der Neurobiologie und der Diskussion über Werte in
unserer Gesellschaft. Er kommt dabei auf erstaunliche Ergebnisse, die auch für die
Demokratiepädagogik eine Rolle spielen.
Manfred Spitzer wurde 1958 geborenen. Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie an der Universität zu Freiburg. Später ließ er
sich dort auch zum Psychiater weiterbilden und erlangte die Habilitation für das Fach Psychiatrie (1989). Zwei Gastprofessuren an der
Harvard-Universität und ein weiterer Forschungsaufenthalt am Institut for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon prägten
seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. Seit 1997 hat er den neu eingerichteten
Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Ulm inne und leitet die seit 1998 bestehende Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm. Im Jahre
2004 gründete er das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) an der Universität Ulm.
Gehirnforschung - Werte im Gehirn
Das Gehirn besitzt einen modularen Aufbau. Die einzelnen Module sind flexibel und beziehen
sich in einer gewissen Weise aufeinander, um dadurch eine höhere Leistung zu erbringen.
Bestimmte Aspekte bezüglich der Außenwelt werden überwiegend in ganz bestimmten
Modulen verschlüsselt oder anders gesagt, codiert. Das trifft auch für das Bewerten von
Dingen, Situationen oder Menschen zu. Diese Bewertungen werden im Frontalhirn
repräsentiert.
Im orbitofrontalen Kortex sind Gut und Schlecht und Gut und Böse repräsentiert. Im frontalen
Kortex hingegen sind Regeln gespeichert, je abstrakter und komplexer, desto weiter vorn.
Sind diese hochstufigen Repräsentationen aktiv, so beeinflussen sie sowohl Input
(Wahrnehmung) als auch Output (Verhalten).
Angst erzeugende und unangenehme Reize werden schnell vom Mandelkern erkannt. Von
dort aus werden auch Veränderungen im Verhalten angeleitet, beispielsweise Fluchtverhalten
in Gefahrensituationen. Stellt sich hingegen ein Ding oder Ereignis besser daraus als erwartet,
dann signalisiert dies wiederum das hierfür eigens vorhandene Belohnungssystem.
Das Frontalhirn ist beim Kind noch nicht vollständig entwickelt, insbesondere in der Mitte
und unten (d.h. der mediale und orbitofrontale Kortex). Hier wird vor allem die Statistik des
Mandelkerns und des Belohnungssystem, anders gesagt, die Bewertungsgeschichte einer
Person, gespeichert.
Der frontale Kortex ist das kortikale Arial, dessen Verbindungsfasern zu anderen Arealen im
Laufe des Lebens als letzte mit Myelin ummantelt werden. Diese Myelinisierung der Fasern
zum und vom frontalen Kortex ist erst zur Zeit der Pubertät oder teilweise sogar noch später
abgeschlossen. Damit geht dieser Teil des Gehirns als letzter online, d.h. wird in die
Produktion von Output (Verhalten) bei entsprechendem Input (Wahrnehmung) zusätzlich
gleichsam eingeschleift.
Aber was bedeutet das jetzt genau?
Wenn wir Dingen oder Personen begegnen, geschieht es gleichzeitig, dass wir das Gegenüber
einerseits als Fakt wahrnehmen und gleichzeitig das selbige bewerten. Fälschlicherweise
denken die meisten Menschen, dass diese zwei Prozesse hintereinander ablaufen. Das
geschieht aber erst im Nachhinein, wenn wir Erlebtes reflektieren, analysieren und
kategorisieren.
Wichtig zu wissen ist, dass alle einzeln vorgenommenen Bewertungen im Gehirn
abgespeichert werden. Das bedeutet konkret: Das Kleinkind produziert zunächst Verhalten
und dazu gleichzeitig eine Bewertung. Daraufhin werden diese ersten einfachen
Repräsentationen von Handlungsfolgen gespeichert, die für zukünftige Handlungen relevant
werden. Jede Handlung und Bewertung, die dann erfolgt, baut auf die schon vorhandenen
„Erinnerungen“ auf. Mit der Zunahme an Erfahrungen werden dann auf diese Strukturen
immer komplexere Strukturen aufgebaut. So entstehen im Laufe der Zeit zusätzlich zu den
Systemen der unmittelbaren Belohnung und Bestrafung bei Kindern (d.h. ich mache etwas
oder eben auch nicht, weil ich dafür belohnt bzw. bestraft werde) Repräsentationen von Zielen
und Handlungen, Kontexten und Begleitumständen, Zuneigungen und Abneigungen (vor
allem in Bezug auf andere Menschen). Am Ende steht der Erwachsene, der von alleine fast
alles richtig macht, d. h. moralisch richtig handeln kann. Kurz gesagt heißt das: der Mensch
benötigt eine lange Zeit zum Erlernen sozial kompetenten moralisch richtigen Handelns. Aus
neurobiologischer Sicht ist das Gehirn sogar darauf angelegt, Werte erst spät zu erlernen, da
die Myelinisierung, wie schon erwähnt erst so spät stattfindet.
Je besser im frontalen Kortex Kontexte und frühere Bewertungen repräsentiert sind, desto
eher ist es möglich, dass Handlungen nicht durch Lust und Unlust oder durch äußere
Belohnung und Bestrafung, sondern durch Erfahrung geleitet werden.
Entwicklung der Moral und Ethik beim Menschen
Spitzer sieht Moral einerseits als etwas wie Menschen sich verhalten (bringen sich meist nicht
um, sind meist ehrlich, Eltern lieben meist ihre Kinder) und andererseits beschreibt er sie, wie
Menschen sich verhalten sollten.
Unter wertgeleitete Handeln versteht er eine Situation, in der kurzfristige Bedürfnisse hinten
angestellt werden und dafür langfristige Ziele verfolgt werden, beispielsweise der Verzicht
auf die Zigarette nach dem Essen, der Gesundheit oder einem langem Leben zuliebe.
Im Zuge der Globalisierung (vielfältige Welt und Lebensweisen) wird Handeln immer
komplizierter. Wer beispielsweise über Treibhausgase nachdenkt, dem geht es wahrscheinlich
nicht „nur“ um globale Gerechtigkeit, sondern vor allem auch um Gerechtigkeit gegenüber
Menschen, die noch gar nicht geboren sind.
Moralisches Handeln, sich in einer komplexen Lebensgemeinschaft zurechtfinden und
vielleicht ein erfülltes und glückendes Leben aus der Beliebtheit und Winzigkeit der eigenen
Existenz in dieser komplexen Welt zu destillieren, gehört zu den schwierigsten Leistungen,
die wir Menschen erbringen. Aus diesem Grunde erscheint es Spitzer wichtig, sich über die
Prinzipien unseres Handels, über deren geschichtliche Wurzeln, aber auch deren biologische
Grundlagen klar zu werden. Zu diesem Fundament gehören die Neurobiologie der Funktion
moralischer Urteile sowie die Entwicklung moralischen Handelns und deren Bedingungen.
Der Autor vergleicht in seinem Buch das Erlernen der Werte immer wieder mit dem Erlernen
einer Grammatik einer Sprache. Er behauptet beispielsweise: Man kann nicht über Grammatik
mit Kindern reden, wenn sie noch nicht einmal sprechen können. Genauso verhält es sich
auch mit den Werten: Man kann nicht Ethik (im strengen Sinne als Reflexion über die
Prinzipien moralischen Handelns) in der Unterstufe unterrichten, wenn man noch gar nicht
moralisch handeln kann. Man kann sich aber sehr wohl im Kindergarten über Raufen
unterhalten und über gute und böse Menschen reden.
Das heißt im Umkehrschluss für Manfred Spitzer keinesfalls, dass Erziehung und Bildung bis
zur Pubertät wertfrei sein soll. Ganz im Gegenteil: Kinder brauchen eine richtige Umgebung
zum Probehandeln auf allen Ebenen des Miteinander, die richtigen Vorbilder, um über
Modellernen ihr Handeln auszurichten und genügend Freiräume um ausprobieren zu können.
Ein Kind muss im Austausch und Umgang mit Gleichaltrigen Verantwortung übernehmen
lernen, Vertrauen ausbilden können, Interessen abwägen, Konflikte aushalten und sie
vielleicht manchmal lösen können. Meist passiert dieses in den Gruppen Gleichaltriger von
ganz alleine, sie brauchen nur permanente Beispiele. Dabei gilt: Lehrjahre sollten auch
Wanderjahre sein.
Der Verfasser des Buches sieht Parallelen zwischen der Varianz an Erfahrungen im Kindesund Jugendalter und der späteren Toleranzfähigkeit. Es liegt für ihn nahe, dass ein Mensch,
der in seiner Kindheit und Jugend viel Unterschiedliches gesehen hat, auch später tolerant
sein wird. Durch die unterschiedlichsten Erfahrungen, besonders die in der
Auseinandersetzung mit anderen Menschen und durch das damit verbundene ständige
Bewerten, werden Räume für Repräsentationen eröffnet. Je differenzierter diese Räume
angelegt sind (und dies geschieht noch bis nach der Pubertät), desto eher ist der Erwachsene
später zur Bewertung komplexer Sachverhalte in der Lage. Monoton erfahrene Inhalte in der
Kindheit und Jugend und dessen einseitige Bewertung verhindern später differenziertes
Verhalten. In Anlehnung an eine alte Volksweisheit formuliert Spitzer folgenden Satz: Fürs
Hänschen die Varianz bringt Toleranz beim Hans.
Konsequenzen für Erziehung und Bildung
Oder anders gefragt: Was machen wir mit diesem Wissen über die Beziehungen zwischen der
Gehirnforschung und einer Werteerziehung?
Seit einiger Zeit wird in Deutschland der Ruf von allen Seiten nach einer Werteerziehung in
der Schule immer lauter. Manfred Spitzer stellt fest, dass es eine Werteerziehung genauso
wenig geben kann, wie eine eigene Esserziehung, Lauferziehung oder Sprecherziehung.
Erziehung bedeutet für ihn: ein Handeln in und unter bestimmten Situationen und damit das
Vorleben von Bewertungen und das abwägende Entscheiden. Eine Ethikerziehung kann es
nicht geben, weil wir moralisches Handeln dadurch erlernen, indem wir es tun. Und das
erfolgt immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten und mit den verschiedensten
Menschen – eben die vorher schon als absolut wichtig erwähnte Varianz erleben. Abwägen,
Bewerten und Werten finden vor allem in Gemeinschaft statt. Hartmut von Henting (2001,
S.69, 162) zählt in seinem Buch Werte im Alter von 12 bis 15 Jahren auf. Darunter befinden
sich u. a. Leben, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Wahrheit, Weisheit, Liebe,
Gesundheit, Achtung und Schönheit. Die meisten dieser Werte ergeben erst in einer
Gemeinschaft einen Sinn. Sie können sogar nur innerhalb einer Gemeinschaft erfahren und
thematisiert werden. Durch Feststellen und Predigen von Werten durch Eltern oder Lehrer
wird kein Kind erzogen. Das „Spiel“ mit den Werten, gemeint ist das Ausprobieren, ist
ausschlaggebend für das spätere moralische Handeln.
Die Aufgabe für uns Erwachsene besteht nach Manfred Spitzer darin, für viele, richtige und
verschiedenste Beispiele zu sorgen. Wir müssen mit jungen Menschen sprechen und
umgehen; sie auf der anderen Seite aber auch handeln und sprechen lassen. Manfred Spitzer
sagt ganz klar: das Elternhaus ist der wichtigste Ort, an dem Kinder und Jugendliche all das
erfahren und lernen sollen. Später kommt die Schule hinzu und anschließend sollte die
Bedeutung der Peergroup für den jungen Menschen nicht verkannt werden
Fazit
Die Ergebnisse der Gehirnforschung zeigen, dass der Mensch sehr lange zum Erlernen sozial
kompetentem und moralisch richtigem Handeln braucht. Es hat sich aber auch gezeigt, dass
der Mensch nicht nicht lernen kann, d. h. alle Erlebnisse und deren gleichzeitige Bewertung
werden abgespeichert und beeinflussen die spätere Wahrnehmung und das darauf folgende
Verhalten. Auf der anderen Seite zeigt es aber auch, dass es sich lohnt, Kindern schon früh
eine Vielfalt an Lernangeboten zu bieten.
Die Erkenntnisse dieser Untersuchungen bestärken die Demokratiepädagogik darin, für das
Leben und Einüben des Lebens in einer Gemeinschaft einzutreten. Die Schulzeit ist dafür
prädestiniert. Nach Spitzer kann es keinen Ethikunterricht in der traditionellen Art und Weise
des Frontalunterrichts geben. Vielleicht bietet die Demokratiepädagogik andere Perspektiven,
wie Kinder trotzdem die Möglichkeit erhalten, das Fundament für ein moralisch richtiges
Handeln zu legen.
Das Buch ist ein Beleg dafür, dass die Entwicklung der Moral durch das praktische Tun, also
durch Handeln maßgeblich beeinflusst wird. Für John Dewey (Begründer der
Demokratiepädagogik) ist Erziehung ebenfalls ein permanenter „Prozess der Erneuerung,
Vertiefung und Mehrung von Erfahrungen bei der Lösung praktischer Probleme“
(Himmelmann 2005, S. 47) – des Handelns also. Also: Lassen wir unsere Kinder handeln! Die
Demokratiepädagogik räumt Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit ein, sich zu
beteiligen, sich auszuprobieren und so wichtige Erfahrungen zu machen. In
Kinderparlamenten beispielsweise lernen Kinder miteinander zu reden, sich mit anderen
Meinungen auseinander zu setzen, Ergebnisse durch ihr Dazutun zu erzielen usw. Das könnte
später eventuell das Wahlverhalten oder das Politikinteresse beeinflussen.
Manfred Spitzer hat außerdem festgestellt: Je besser im frontalen Kortex Kontexte und
frühere Bewertungen repräsentiert sind, desto eher ist es möglich, dass Handlungen nicht
durch Lust und Unlust oder durch äußere Belohnung und Bestrafung, sondern durch
Erfahrung geleitet werden. Das gilt vielleicht auch für das Leben in der Gemeinschaft. Das
Wissen darum verdeutlicht folgendes: Das Leben in einer Gemeinschaft ist schwierig, ständig
muss man sich mit anderen Interessen und Ansichten auseinandersetzen. Schwierigkeit
bereitet bekanntlich eher Unlust als Lust. Nicht das den Kindern, aufgrund des Mangels an
Erfahrungen, die Lust an der Gemeinschaft und das Wirken in ihr im Erwachsenenalter fehlt.
Literatur
Henting von, H.: Ach die Werte. Weinheim 2001
Himmelmann, Gerhard: Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 2. überarb.
Auflage. Schwalbach/Ts. 2005
Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. S. 339-559. Heidelberg 2002
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