Interview Spitzer

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Smartphone, Facebook, Twitter & Co.
Steuern wir auf eine digitale Demenz zu?
Wo er auftritt, füllt er Säle. Man hängt an seinen Lippen. Er spricht offenbar vielen aus
der Seele. Andere halten ihn für einen Spinner, Fundamentalisten, Leugner jeglicher
Modernität. Die Rede ist von dem Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer.
Der Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität
Ulm ist Psychiater und behandelt Erwachsene. Mit Kindern und Jugendlichen hat er
keine praktische Erfahrung. Weshalb er sich um die Internetnutzung unseres
Nachwuchses kümmert? Er ist Vater von sechs Kindern, und die will er davor bewahren,
in „digitale Demenz“ zu verfallen: “Ich habe Kinder und möchte nicht, dass sie mir in
zwanzig Jahren vorhalten: Papa, du wusstest das alles - und warum hast du dann nichts
getan?” Und Spitzer weiss es. Darüber hat er ein Buch geschrieben. Und mit dieser
Botschaft reist er auch durchs Land und seine Medien. Dr. Magda Antonic und Werner
Waldmann besuchten Manfred Spitzer in seiner Klinik in Ulm.
Wie haben die digitalen Medien unser Leben verändert?
Prof. Spitzer: Zunächst einmal sind sie ein ganz großer Teil
unseres Alltags geworden. In Deutschland konsumieren Jugendliche
täglich 7,5 Stunden lang Medien, wenn man alles zusammenzählt:
Computer, Fernseher, Playstation, Smartphone, Bildschirme,
Lautsprecher etc. Das heißt, die heutigen Jugendlichen haben
doppelt so viel Medienkonsum wie für den gesamten Schulstoff
zusammengenommen, wenn man von 35 Stunden Schule pro Woche
ausgeht; denn eine Schulstunde dauert ja nur 45 Minuten. Wir
haben also einen extrem hohen Medienkonsum. Meine schlichte These
ist, dass das nicht ohne Auswirkungen bleiben kann, denn unser
Gehirn beschäftigt sich mit allem und jedem, und sobald man
denkt, wahrnimmt und handelt, fühlt und ändert sich auch unser
Gehirn.
Pädagogen reden beim Mediengebrauch ja sehr viel mit. Haben die
von dieser Forschung überhaupt eine Ahnung?
Prof. Spitzer: In aller Regel gar keine. Das ist ja das Problem:
Wenn man vom Gehirn nichts versteht, macht man sich auch nicht
klar, wie schädlich die Auswirkungen von überhöhtem Medienkonsum
sind. Deshalb gibt es auch so viele Medienpädagogen, die das
alles ganz toll finden und sagen: Am besten noch mehr
Mediennutzung, noch früher in der Kindheit – obwohl wir Daten aus
guten wissenschaftlichen Studien haben, die zeigen, dass dieser
Medienkonsum wirklich große Schäden anrichtet und überhaupt
nichts nützt.
Aber mit den Interessen der Industrie ist diese Erkenntnis wohl
nicht vereinbar?
Prof. Spitzer: Davon muss man ausgehen. Die weltweit reichsten
Firmen (Google, Apple, Microsoft und so weiter) wollen noch
reicher werden und versuchen die digitale Technik daher nun auch
massiv in die Bildungsinstitutionen hineinzudrücken – mit dem
Argument des pädagogischen Fortschritts und dem Appell: Wir
müssen den Kindern unbedingt was Gutes tun. Dabei zeigen die
vorliegenden Studien und Daten, dass Informationstechnik dem
Lernen eher abträglich ist; und auch die empirische pädagogische
Forschung beweist: Ein Computer in der Schule hat keine
Auswirkung auf die Noten, und ein Computer zu Hause macht die
Noten bei einem 15-Jährigen sogar schlechter. Die Daten sprechen
also keineswegs dafür, dass wir jetzt ganz schnell für alle
Schüler Internet und Computer anschaffen müssen; sie deuten eher
darauf hin, dass wir das sein lassen sollten.
Werden wir durch Medienkonsum und Internet zu bequem zum
Mitdenken?
Prof. Spitzer: Auf jeden Fall. Man weiß mittlerweile aus guten
Studien, dass das Gehirn in vielerlei Hinsicht mit seinen
Aufgaben wächst, aber eben nicht mehr wächst oder sich
zurückbildet, wenn es entlastet wird. Deshalb bringen digitale
Medien, die uns ja geistige Arbeit abnehmen, auch große Risiken
und Nebenwirkungen mit sich.
Der exzessive Medienkonsum stört also die geistige Entwicklung.
Warum sieht die Gesellschaft dieses Problem nicht?
Prof. Spitzer: Teile der Gesellschaft sehen das durchaus. Die
Suchtbeauftragte der Bundesregierung spricht von einer halben
Millionen internet- und computersüchtiger junger Menschen in
Deutschland. Viele Mütter sehen, dass ihre Söhne nicht mehr davon
wegkommen. Sie merken auch, dass die jungen Leute gar nicht mehr
ohne Handy auf Klassenfahrten gehen wollen. Es ist ganz schwer
durchzusetzen, dass sie einmal aufs Handy verzichten, weil sie
dann „auf Entzug“ kommen und es absolut nicht aushalten, ohne
diese Medien zu sein. Und genau das ist das Wesen der Sucht. Wer
anfängt zu zittern und zu schwitzen, wenn man ihm sagt: Du
konsumierst jetzt mal drei Tage lang keine Medien, bei dem liegt
tatsächlich eine Sucht vor.
Ist das bei Mädchen anders?
Prof. Spitzer: Jungen sind stärker davon betroffen, denn bei den
meisten Aktivitäten, die man käuflich erwerben kann, geht es um
die so genannten Killerspiele, um Aggressivität und deren
Ausleben im Medium – und dafür sind Jungs empfänglicher, denn
Testosteron macht aggressiv.
Wie würde ein akzeptabler Medienkonsum Ihrer Meinung nach
aussehen?
Prof. Spitzer: Das ist schwer zu sagen. Es ist wie mit dem
Fernsehkonsum: Da weiß man nur, dass mehr als drei Stunden
schlechter sind als zwei bis drei Stunden, und die sind wiederum
schädlicher als ein bis zwei Stunden. Aber um wie viel schlechter
dieser Konsum wiederum im Vergleich zu weniger als einer Stunde
ist, kann man ganz schlecht sagen. Wenn ich wissen will, wie
schädlich Rauchen ist, vergleiche ich Raucher mit Nichtrauchern;
aber wenn ich herausfinden möchte, wie schädlich Fernsehen ist,
kann ich Fernseher nicht mit Nichtfernsehern vergleichen, weil
heute nahezu alle Menschen einen Fernseher haben.
Wann laufen wir Gefahr, dass die virtuelle Realität zur
wirklichen Realität wird?
Prof. Spitzer: Das wird dann zur Gefahr, wenn ich mich nur noch
in die virtuelle Realität flüchte und diese mein Leben viel mehr
ausmacht und bestimmt als die wirkliche Realität. Wenn mein
Zeitbudget in virtuellen Welten die Zeit, die ich in der realen
Welt verbringe, weit übersteigt, dann stimmt etwas nicht.
Machen die Medien uns nicht auch leicht- und schnellgläubig?
Prof. Spitzer: Dazu kenne ich keine Daten. Man weiß aber, dass
sie ein bisschen oberflächlich machen und Vorurteile schüren. Man
wird also weniger kritikfähig; und das hat natürlich auch etwas
mit Leichtgläubigkeit zu tun.
Wenn ich viel fernsehe, lese ich ja auch nicht mehr gern, weil
das im Vergleich zum passiven Fernsehkonsum zu anstrengend ist.
Prof. Spitzer: Das stimmt. Man rezipiert dann halt eher passiv,
statt aktiv zu produzieren. Beim Lesen ist die geistige Aktivität
eine wichtige Komponente, weil man die Realität des gelesenen
Textes anhand dieser doch sehr verarmten Kringel und Symbole
unserer Schrift ja erst mal selber erzeugen muss.
Führen soziale Netzwerke zu mehr oder intensiveren Kontakten,
oder können sie auch in die soziale Isolation führen?
Prof. Spitzer: Studien zeigen, dass eher Letzteres der Fall ist.
Diese Kontakte sind ja nicht sehr intensiv. Das Gehirn wächst,
wie gesagt, mit seinen Aufgaben; das gilt auch für soziale
Aufgaben, und wenn man online unterwegs ist, fehlt ja die Mimik,
Gestik und Sprachmelodie unseres Gesprächspartners und vieles
andere mehr. Daher hat man im Internet nicht den Input, den man
braucht, um soziale Kompetenz zu erlernen und das soziale Gehirn
zum Wachsen zu bringen. Dazu braucht man sein Gegenüber wirklich
„face to face“.
Wie lernt man besser: im Dialog oder durch einseitige
Medienrezeption?
Prof. Spitzer: Ganz klar: live! Es gibt interessante Studien, bei
denen man drei jungen Leuten einen Film zeigt, und sie können
hinterher entweder darüber reden oder chatten. Zwei Wochen später
fragt man jeden einzelnen noch einmal, worum es in dem Film ging,
und stellt fest, dass diejenigen, die sich live darüber
unterhalten durften, den Inhalt besser behalten haben als die
„Chatter“.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass online mehr gelogen wird als im
persönlichen Austausch. Bleibt so auch soziales Empfinden und
Handeln auf der Strecke?
Prof. Spitzer: Dass online mehr gelogen wird, ist durch
Untersuchungen belegt. Ich war vor kurzem auf einer Tagung der
Polizei zum Thema Internetkriminalität, und was ich da gehört
habe, hat mich sehr erstaunt. Nirgends gibt es mehr Kriminalität
als im virtuellen Raum. Dass man im Internet Sozialverhalten
lernen kann, ist ein Irrtum.
Aber es ist ja bequem für die Eltern, ihre Kinder vor dem
Bildschirm zu „parken“.
Prof. Spitzer: Genau das sagen die Eltern laut Ergebnissen einer
großen amerikanischen Studie tatsächlich, wenn man sie fragt,
warum ihre Kinder vor dem Fernseher sitzen: „Das ist doch bequem,
dann kann ich einkaufen fahren oder...“ Der von den Eltern
genannte Hauptgrund für die Mediennutzung bei Kindern ist, dass
sie dann mal ruhiggestellt sind und die Eltern eine Zeitlang
machen können, was sie wollen.
Wenn Jugendliche zu exzessiv vor dem Fernseher oder dem Computer
sitzen, geht das ja bis in die Nacht hinein oder auch die ganze
Nacht durch – und das am liebsten ständig. Hat diese
selbstverordnete Schlafrestriktion keine negativen Konsequenzen?
Prof. Spitzer: Doch. Hier ist die Wissenschaft in letzter Zeit zu
interessanten Erkenntnissen gekommen: Schlafmangel macht nicht
nur müde und unkonzentriert, sondern führt zu einer
prädiabetischen Stoffwechsellage und begünstigt damit die
Entwicklung einer Zuckerkrankheit. Das ist mittlerweile eindeutig
erwiesen, und deshalb kann ich nur sagen: Bitte jede Nacht für
gesunden Schlaf sorgen! Das ist das A und O für unsere
körperliche und geistige Funktionsfähigkeit.
Was hat Schlaf mit Gedächtnis zu tun?
Prof. Spitzer: Sehr viel. Wir wissen heute, dass während des
Schlafs Zellen in der Gehirnrinde und auch weiter unten im Gehirn
synchronisiert werden. Durch diese Synchronisation können sie
Informationen untereinander austauschen. Man weiß inzwischen
auch, dass im Schlaf Erinnerungen verfestigt und so „abgelegt“
werden, dass man sie hinterher wiederfindet.
Wenn Jugendliche sich erst mal an diesen ungesunden Tagesablauf
gewöhnt haben, dass sie ungern schlafen und lieber fernsehen –
gibt sich das nach der Pubertät von selbst wieder?
Prof. Spitzer: Nicht automatisch. Das ist ein großes Problem.
Unsere heutigen Internet- und Computersüchtigen befinden sich ja
nicht in der Pubertät oder kurz danach, sondern sind Mitte bis
Ende Zwanzig. So lange dauert es oft, bis das Suchtverhalten so
manifest wird, dass die Leute selber merken: Das geht so nicht
weiter! 18 Stunden am Tag World of Warcraft, mit Kehrrichteimer
neben dem Stuhl, damit man nicht mehr auf die Toilette muss, Job
verloren, Wohnung gekündigt, alles vermüllt. Ich habe solche
Menschen schon gesehen, die waren erst Ende Zwanzig. Das ist
schon verheerend.
Wie therapiert man so etwas?
Prof. Spitzer: Ich habe solche Patienten hier schon auf der
geschlossenen Abteilung gehabt, weil es anders gar nicht ging. Da
braucht man ein Team von Psychologen und Sozialarbeitern; ein
Arzt sollte auch dabei sein, um akute Exzesse zu dämpfen. Die
Sozialarbeiter und Psychologen haben die Aufgabe, Zuversicht für
ein ganz normales Leben aufzubauen, das bei diesen Patienten
einfach nicht mehr klappt.
Und wie sieht die Behandlung konkret aus?
Prof. Spitzer: Man isoliert die Patienten erst mal, damit sie dem
Druck, weiter zu spielen, nicht mehr nachgeben können. Außerdem
schafft man Alternativen, und zum Teil gibt man tatsächlich auch
Medikamente, um zu verhindern, dass ihre Computer- und
Internetsucht immer wieder durchbricht. Das ist alles nicht so
einfach. Ich hoffe sehr, dass wir bald noch mehr Medikamente
bekommen, die zurzeit noch erforscht werden. Irgendwann wird es
sicherlich mehr Therapieoptionen geben. Computersucht, Spieloder Internetsucht ist eine Sucht wie jede andere auch; man
spricht dabei von `nicht stoffgebundenen Süchten´.
Erkennen die Kostenträger die Therapie für diese Sucht an?
Prof. Spitzer: Bislang ist das noch ganz schwierig: Es gibt viel
zu wenige Therapieeinrichtungen, und die Kostenträger haben das
auch noch nicht allgemein akzeptiert. Es gibt noch keine Diagnose
im klassischen Sinn dafür, und wo die fehlt, gibt es auch kein
Geld für die Behandlung.
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