Neue Erkenntnisse der Hirnforschung zum Lernen

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Neue Erkenntnisse der Hirnforschung zum Lernen
Dr. Manfred Spitzer (Psychiater, Hirnforscher, Professor an der Universität Ulm)
Lernen gehört zum Kerngeschäft eines Psychiaters. Er selbst kam in den Bildungsrat von
Baden-Württemberg und hat gesehen, dass die KollegInnen dort nichts vom Hirn wissen. Für
sie wollte er ein Handout schreiben, das dann ein gut verkauftes Buch wurde.
Schmerzen werden an einer bestimmten Stelle im Gehirn registriert und können dort
lokalisiert werden. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins zeigt sich im gleichen Bereich des
Gehirns. Dies wurde in Form eines virtuellen Ballspiels in der Gehirnmessröhre gemessen.
Jemand wurde zuerst in ein Spiel einbezogen, dann wieder nicht. Es war möglich zu sehen,
wo das Gehirn das Ausgeschlossensein registriert. An der gleichen Stelle im Gehirn lassen
sich Vereinsamung, Verlassenwerden und eben auch (körperlicher) Schmerz lokalisieren.
Schmerz ist ja kein Selbstzweck, sondern ein Signal. Das gilt für Körperliches wie auch für
Seelisches. Jemand in einer guten Gemeinschaft hält viele körperliche Schmerzen aus. Dieses
Zentrum ist auch für Fehler zuständig. Alle drei signalisieren dem Menschen: Wenn du so
weiter machst, bist du bald tot.
In der Wirtschaft denken alle an sich. Adam Smith sagte, dass das gut ist, denn so ist an jeden
gedacht. Wenn alle rationale Egoisten sind, dann funktioniert es – meint man. Eine
Untersuchung in einer Mensa hat ein anderes Ergebnis gebracht. € 10 werden vergeben. Der
Erste soll sagen, wie das Geld verteilt wird, der Zweite sagt, ob das OK ist. Wenn ja, dann
wird das Geld unter diesen beiden so aufgeteilt. John Nash
(Wirtschaftswissenschaftsnobelpreisträger) sagte folgendes Ergebnis vorher: 9,99 zu 0,01. Es
lagen aber 40% bei 5 zu 5. Bei den Inuit waren es 100%. (Spitzer: Die können nur gemeinsam
Fische fangen.) In vielen Fälle sagte der Erste 8 zu 2. In 80% dieser Fälle sagte der Zweite
nein. Dieses Phänomen kann die Wirtschaftswissenschaft nicht erklären. Wenn man nun den
Versuch mit Menschen macht, die sich nicht kennen, und den Zweiten währenddessen im
Scanner hat, dann kann man im Gehirn messen, dass unfaire Angebote zu Bauchweh führen,
und zwar 9 zu 1 zu mehr als 8 zu 2.
In Deutschland gibt es 16 Bildungssysteme in 16 Bundesländern, aber nicht 16
Blinddarmoperationsformen, weil man zweiteres für eine naturwissenschaftliche Frage hält.
Tatsächlich ist aber auch Lernen eine naturwissenschaftliche Frage.
Menschen haben ein Grundbedürfnis nach Fairness und nach Gemeinschaft. Ein
Affenexperiment hat Folgendes gezeigt: Ein Versuchstier lernt mit Plastikchips Gurken zu
kaufen. Wenn es sieht, dass ein anderer Affe für dasselbe Geld eine Banane bekommt, dann
ist er angefressen über diese Unfairness und kauft sich keine Gurke mehr. Wenn er bloß auf
einem Tisch daneben eine Banane sieht, führt das nicht zu dieser Reaktion. Also: Schon Affen
wollen Fairness.
Menschen lernen mit (positiven und negativen) Emotionen schnell, egal ob ich verliebt bin,
oder Schmerzen fühle. So müsste man das Rohrstäbchen eigentlich wieder einführen. Der
„Mandelkern“ im Gehirn reagiert sehr schnell auf Augenimpulse. So schaltet das Gehirn auf
Gefahr und Muskelaktivität, noch bevor eine Bedrohung als Schlange identifiziert ist. Angst
schließt Kreativität aus. Sie macht einen engen Fokus und führt zu schneller Reaktion. Wenn
jemand einen aktiven Mandelkern hat, dann kann er nicht kreativ denken. So ist es z.B. einem
Medizinstudenten nicht möglich, aus einzelnen Symptomen die richtige Krankheit aus vielen
zu erkennen, wenn sein „Mandelkern“ aktiv ist.
Wenn ich nun mit Angst unterrichte, dann wird das Gelernte zwar abgespeichert, ist aber mit
dieser Angst gekoppelt. Beim Abrufen wird dann die Angst wieder abgerufen und damit die
Kreativität gehemmt.
Ein Haus kann man nicht gegen die Physik bauen, aber auch nicht mit Physik alleine. Die
Gehirnforschung kann also nicht sagen, wie man am besten den Kraftbegriff in die Physik
einführt. Aber die Hirnforschung kann sagen, was unfaire Behandlung und Angst bewirken.
Es gibt also Fakten, und es sollte nicht um Ideologie gehen.
Fragen:
Wie reagieren die konservativen Bildungspolitiker auf Ihre Erkenntnisse?
Spitzer: Bei PISA hat mich am meisten vom Stuhl gehauen, dass Deutschland das Land mit
den stärksten sozialen Bildungsauswirkungen ist. Wir wissen also, dass es in Deutschland
nicht funktioniert. Aber es ist ein schwerfälliges System, das nur sehr langsam veränderbar
ist, auch nicht leicht von einem willigen Minister. Eine bessere Antwort habe ich nicht.
Die Fairnesswilligkeit des Menschen ist doch offensichtlich nicht gegeben zwischen Gruppen.
Spitzer: Ja, das funktioniert dann, wenn die Führer den Mitgliedern ihrer Gruppe einreden
können, dass die anderen keine Menschen sind und sogar getötet werden können. Wenn sich
Menschen nicht fair verhalten können, werden sie zu Egoisten. Wenn aber faires Verhalten
von den Randbedingungen her möglich ist, dann wird es gemacht.
Aber was fair und gerecht ist, bestimmt doch die Kultur/Gesellschaft.
Spitzer: Nicht unbedingt. Freilich, alles was in uns steckt, ist Produkt des Lernens in der
Kultur. Ich kann nicht unterscheiden zwischen mir und meinem Gehirn. Ich bin mein Gehirn.
Wenn ich ein Gehirn transplantiere, dann wacht der Spender, nicht der Empfänger auf. Aber
wenn wir das Hirn beim Lernen betrachten, dann sehen wir, wie es das macht, und können
etwas daraus für das Lernen lernen. Es gibt auch unterschiedliche Gehirnentwicklungen je
nach Kultur und Sprache.
Warum finden überall die Bildungsdiskussionen so inbrünstig, unsachlich und falsch statt?
Spitzer: Bildung ist eine Aufgabe des Staates. Früher sollten die Kinder gesellschaftlich
erwünschte Veränderungen durchmachen. Heute geht erst seit kurzem die Bildung von den
Kindern aus. Die Umstellung dauert, aber es wird sich hier auch ändern und so, wie der
Kindergarten vom Sozialministerium ins Bildungsministerium wanderte, wird auch die
Bildungsfrage wissenschaftlich behandelt werden.
Wann lernt man am besten eine Fremdsprache?
Spitzer: Mit null! Zweisprachig aufwachsen ist ein Vorteil. Aber das Lernen sollte mit Freude
erfolgen, also sollte man nicht mit jemandem Englisch lernen müssen, der es nicht kann oder
es selbst nicht mit Freude vermitteln kann.
Gibt es neue Erkenntnisse zum Buch von Frederic Vester?
Spitzer: Die Hirnforschung ist heute viel weiter. Seine Lerntypen gibt es nicht. Das Gehirn ist
ein Organ der Mustererkennung und der Musterentwicklung. Und da ist es wichtig, wie die
Entwicklung beginnt. Kinder sollen sich von Anfang an möglichst vielfältig ihre Welt
erschließen können, und keinesfalls nur mit einem Licht- und Klangteppich aus dem
Fernseher. Ganzmenschlich, vielfältig!
Wie kann man falsch vorgeprägte Menschen und PädagogInnen umlernen lassen und ist das
selbstbewusste Werkeschaffen (Herz, Hand, Kopf) hilfreich?
Spitzer: Zweiteres ist ganz klar. Zum Ersteren ist zu sagen, dass ich nichts vergessen kann.
Aber wenn ich es weiß, kann ich meinen Mandelkern mit dem Frontalhirn bewusst
ausschalten. Jedoch muss ich es immer wieder tun (Bsp. Hundephobie, aber die Abscheu vor
den Hunden bleibt bis zum Tod). Menschen, die negative Mathematikerfahrungen haben,
kommen aus der Mathematikabneigung nicht heraus.
Ist es sinnvoll, dass Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache ihre Muttersprache in der
Schule lernen?
Spitzer: Die Meinung, dass die Kinder zuerst z.B. Türkisch lernen sollen, ist falsch. Richtig
ist, sie sollen (in Kindergarten/Schule) möglichst früh und gut Deutsch lernen. Denn Deutsch
brauchen sie hier! Daher so früh wie möglich. Nicht mit Zwang, aber mit Argumenten und
dem Aufzeigen der Wirkungen. Die Spanier, die in den USA nicht von Anfang an Englisch
lernen mussten, sondern in der Schule Spanisch reden konnten, sind heute unten durch.
Ich habe als Lehrer nun dauernd mit Menschen zu tun, die leistungsfrustriert sind. Wie bringe
ich denen wieder die Freude am Lernen?
Spitzer: Mit positiven Emotionen an die Einsichtsfähigkeit appellieren, damit sie mit dem
Frontalhirn agieren.
KollegInnen investieren Stunden, um herauszufinden, welcher Lerntyp jemand ist, und jetzt
gibt’s keine.
Spitzer: Empirische Forschung ist gefragt - die gab es nicht, als Lerntypen eingeteilt wurden.
Homogene Klassen als Ideal?
Spitzer: Aber was bedeutet das für die SchülerInnen und die LehrerInnen, a) in der
Einteilungsphase b) während des Unterrichts? Der Lehrer meint, er hat die falschen Schüler,
macht eh guten Unterricht. Während ein finnischer Lehrer weiß, er hat diese Kinder jetzt acht
Jahre und hat genau diesen etwas beizubringen.
Spitzer: Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Man kann nicht die Kinder um ein
Uhr heimschicken, wenn die Eltern nicht zu Hause sind, denn dann sitzen die sinnlos vor dem
Bildschirm. Tatsächlich brauchen sie Tätigkeiten, die alle Sinne anregen. Und zum
Lernzeitpunkt: Am Nachmittag gibt es ein emotionales Hoch bei den Kindern, das ist eine
gute Lernzeit. Nach dem Lernen gibt es einen Konsolidierungsprozess. Dieser wird aber von
emotionalen Ereignissen gestört, z.B. wenn man am Nachmittag vor dem Computer sitzt.
In ihrem Buch „Die geheimen Spielregeln der Macht“ sagt Christine Bauer-Jelinek kurz
zusammengefasst, dass die Gutmenschen draufzahlen. Die Autorin meint damit, dass die
anderen die Gutmenschen ausnützen. Ist das so?
Spitzer: 70% vertrauen darauf, dass der andere auch so reagiert wie ich, und ich vertraue ihm.
Darauf beruhen das Zusammenleben und die Wirtschaft. Sonst möchte ich hier nicht mehr
leben.
Was raten Sie als Hirnforscher der Vorarlberger Gesamtschulgruppe? Welche Fehler soll sie
nicht machen?
Spitzer: Es gibt kein Patentrezept, aber: Sachlich argumentieren, auf die Angstmache der
anderen nicht unsachlich reagieren. Die Wahrheit setzt sich durch, auch wenn’s manchmal
lang dauert.
Macht das viele Wissen übers Gehirn nicht Angst?
Spitzer: Es kann zwar ausgenutzt werden, aber auf Dauer wird sich mehr Wissen positiv
auswirken.
Kann das Mandelkernproblem auch schon auftreten, wenn ich gar nicht selbst die
Erfahrungen gemacht habe? Reicht es, dass die anderen sagen, Mathematik ist entsetzlich,
Latein ist ein Killerfach, Chemie versteht keiner, nie mehr Schule?
Spitzer: Emotionen muss man schon selbst machen. Aber Lernen kann man auch durch immer
wieder wiederholen. Und das macht z.B. die Werbung. England hat kürzlich die
Nahrungsmittelwerbung für Kinder verboten. Das muss nachgemacht werden. Schlechtes für
Kinder gehört verboten. Schulfächer haben einen unterschiedlichen Ruf, aber da gibt es auch
Moden. Doch es entscheidet auf Dauer der Lehrer, wie die Kinder den Unterricht / das Fach
erleben.
ORF Vorarlberg berichtete am Do.4.10. in Vorarlberg heute (19 h) relativ ausführlich von
diesem Referat Manfred Spitzers (vor dem ÖLI-UG/Kreidekreis-Transparent), und brachte
auch Interviews mit ZuhörerInnen.
Spitzer-Referate gibt’s z.B. auf http://www.br-online.de/alpha/geistundgehirn/
zum Herunterladen.
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