Hackinger, Graz 2009

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MIGRATION
+
KOMMUNIKATION
4. Grazer Psychiatrisch –Psychosomatische
Tagung
23.01.2009
Dr. Wiltrud Hackinger
AUFBRUCH
Migration = Wanderung
• Wechsel von einem Ort zum anderen, zwischen
Kulturen, von einer Gesellschaft in eine andere
und von einem Gesundheitssystem ins andere
• die dauerhafte Verlegung eines Wohnsitzes in
andere Länder, unabhängig von Motivation und
kulturellem Hintergrund
Moderne Völkerwanderungen
PUSH – Faktoren: Armut, Krieg, Krisen,
politische Situation
PULL – Faktoren:
wirtschaftlicher Anreiz
aus Ländern mit hoher Nachfrage
nach Arbeitskräften
Freiwillige Migration:
Biographisch motiviert, Studium, Heirat, Beruf
Unfreiwillige Migration:
Politische, ethnische, soziale, wirtschaftliche, religiöse Gründe
___________________________________________________
Legale MigrantInnen: positive Selektion; meist freiwillig
z.B. Gastarbeiter; Arbeitserlaubnis,
Versicherung, familiäre Stabilität.
Erfolgreiche Sozialisation, guter
Gesundheitszustand
Illegale MigrantInnen: illegaler Aufenthaltsstatus, keine Arbeit
kein familiärer Rückhalt, keine rechtliche
Sicherheit, kein Zugang zu medizin.
Versorgung, von Ausweisung bedroht
Phasen der Migration
•
•
•
•
•
•
I
II
III
IV
V
VI
Vorbereitungsphase
Migration
Phase der Überkompensation
Phase der Dekompensation
Phase der Trauer
Phase der generationsübergreifenden
Anpassungsprozesse
DAZWISCHEN
Jeden Tag
packe ich den Koffer
ein und dann wieder aus.
Morgens,
wenn ich aufwache,
plane ich die Rückkehr,
aber bis Mittag
gewöhne ich mich mehr
an Deutschland
Ich ändere mich
und bleibe doch gleich
und weiß nicht mehr,
wer ich bin.
Jeden Tag ist das Heimweh
unwiderstehlicher,
aber die neue Heimat
hält mich fest
Tag für Tag noch stärker.
Und jeden Tag fahre ich
zweitausend Kilometer
in einem imaginären Zug
hin und her,
unentschlossen zwischen
dem Kleiderschrank
und dem Koffer,
und dazwischen
ist meine Welt.
Alev Tekinay
Akkulturationsstress
• - führt zu sozialen und psychischen
Problemen, wenn die Anforderungen des
Migrations- und Integrationsprozesses
die individuellen Ressourcen
überschreiten.
• + führt bei Gelingen zu Steigerung von
Wohlbefinden und Gesundheit, sozialer
Kompetenz und Identitätsstärkung.
ZWISCHEN DEN
STÜHLEN
KULTUR
• Regeln, mit denen Menschen ihre Welt
interpretieren, wonach sie ihr Handeln
ausrichten
• Komplex der überlieferten Erfahrungen,
Vorstellungen, Werte, Annahmen, Grundsätze,
Verhaltensnormen und Einstellungen
• Dynamischer Prozess, sozioökonomisches
Produkt, abhängig von Zeit + Geographie
Sozialisation + Enkulturation =
Lebenslanger Prozess
Erlernen der sozial relevanten Normen, Werte,
Einstellungen und Verhaltensweisen, die ein Leben
in der Gemeinschaft ermöglichen, in die man
hineingeboren ist.
Akkulturation = sekundäre Enkulturation
Eine Sozialisation in einer Kultur ist bereits
abgeschlossen.
Anpassungsmöglichkeiten an das
Aufnahmeland
Identifikation mit Kultur
des Herkunftslandes
Ablehnung der Kultur
des Herkunftslandes
Identifikation mit Kultur
des Gastlandes
INTEGRATION ASSIMILATION
Ablehnung der Kultur
des Gastlandes
SEPARATION
ISOLATION
Segregation
Marginalisation
Strategien von Migrationsfamilien
• Känguru – Beutel:
• Behütung des Kindes
• Abschirmung vom bösen Gastland
• Kuckucks – Strategie:
• Entwertung des eigenen Stiles
• Kind wird an Sozialisationsinstanzen
des Gastlandes abgegeben
• Chamäleon – Strategie:
• Bikulturelle Orientierung
• Innerhalb der Familie heimische Kultur
• Nach außen Förderung der Anpassung des Kindes
Maslow‘sches Metamodell der Bedürfnisse
Integrität
Transzendenz
Achtung
Zugehörigkeit
Sicherheit
Physiol.
Bedürfnisse
Auswirkungen der Akkulturation auf die
Identität
•
•
•
•
•
•
•
Sprachliche Kommunikationsschwierigkeiten
Anpassungsschwierigkeiten
Verschlechterung des sozialen Status
Intrafamiliäre Konflikte, veränderte Rollen
Verlust an Autorität, Würde, Stolz
Verunsicherung
Störung des ICH - Gefühls
SPRACHLOS
Heimat ist der Ort,
wo ich mich nicht
erklären muss.
J.G.Herder
Wir können die Welt nicht anders erleben
als über die Beschreibungen, die wir im
Laufe unserer Sozialisation darüber
erworben haben –
„Landkarten“, die uns eine Orientierung in
der Welt bieten, die wir aber nicht mit der
Welt verwechseln dürfen.
A.v.Schlippe
SPRACHE
• Ausdruck bestimmter Möglichkeiten
menschlicher Denkformen, die nur innerhalb der
Sprachregeln nachvollziehbar ist.
• Verständigungssystem, durch Konventionen
festgelegte Zeichen
• Instrument, das „Wirklichkeit“ erzeugt
• Kulturelles Konstrukt, das historischen, sozialen,
ethnischen, politischen Einflüssen unterliegt
„Sprachwandel“
Sprachverlust durch Migration
• Muttersprache fehlt zum Beschreiben von
Befindlichkeit
• Ausdrucksweise und Verhalten ändern
sich
• Unbewusstes Unterdrücken von Gefühlen
und Symptomen
• Regression auf präverbale Konfliktmuster
und frühkindliche Verarbeitungsmuster
• Angriff auf die Identität
HILFLOS
Die Sprache der Krankheit
• Erleben von Krankheit bedingt durch soziale
und kulturelle Werte
• Krankheitskonzepte basieren auf
Menschenbildern
• Gesundheit und Krankheit sind
Anpassungsleistungen in biologischer,
psychischer, sozialer, kultureller Dimension.
Krankheit ist eine Form der Kommunikation,
die Sprache der Organe, durch welche sich
Natur, Gesellschaft und Kultur gleichzeitig äußern.
Der individuelle Körper ist Austragungsort von
sozialen Wahrheiten und Widersprüchen,
Ort von persönlichem und sozialem Widerstand,
Kampf und Kreativität.
Scheger-Hughes 1982
Kulturelle Krankheitskonzepte I
• Westlich – rationales Denken
– Zweiteilung von Körper und Seele
– Körper ist Sitz des Selbst
– Gesellschaft besteht aus Ähnlichen „Selbsts“
in unterschiedlichen sozialen Rollen
– Ort der Psychopathologie ist der Körper,
damit auch Ansatzpunkt von
Interventionsmöglichkeiten
– Schuldgesellschaft
Kulturelle Krankheitskonzepte II
• Östlich – ganzheitliches Denken
– Traditionelle Gesellschaften – die
Gemeinschaft ist die zentrale Einheit, Familie
als „gemeinsamer Körper“
– Gemeinschaft Ort der Psychopathologie
– Körperliche Störung drückt Disharmonie der
sozialen Ordnung aus
– Magische Vorstellungen unter Einbeziehung
von Göttern und Geistern
– Schamgesellschaft
Der Körper
ist der Übersetzer
der Seele
ins Sichtbare.
Ch.Morgenstern
Körpersprache
• Leid wird in vielen Kulturen elementar und
körperlich erlebt
• Ausdruck in „Organchiffren“
• Ersatz der fehlenden Sprachkenntnisse
• Schafft innere Entlastung
• Vergrößert die Hilflosigkeit
• Häufige Missverständnisse
Organsprache
• Herz – Sitz der Emotionen, heftige Affekte
„mein Herz brennt, wird eng“
• Leber – Verlust, Trauer, Unglück, Leid
„meine Leber brennt, fällt“
• Galle – Angst, Erschrecken
„meine Gallenblase ist geplatzt“
• Kopf – Durchdrehen, Verrücktwerden
„ich habe den Kopf erkältet, gegessen“
Somatisierung I
• Somatische Symptome sind häufig ein
kulturelles Krankheitsprodukt und kommen
in allen kulturellen Gesellschaften und
Gruppierungen vor.
• Weltweit ist sie die am meisten
vorkommende klinische Ausdrucksform
seelischer Belastung.
Somatisierung II
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•
•
•
•
•
•
Sprachliche Isolierung
Fehlende Bewältigungsstrategien
Mangelnde soziale Unterstützung
Identitätskrisen
↓
Innere Entlastung
Vergrößerung der Hilflosigkeit
aber auch
↓
Sekundärer Krankheitsgewinn
Veränderung der sozialen Rolle
Ausdruck von Widerstand
Somatisierung III
• Somatisierungen werden als soziales
Kunstprodukt der gegenseitigen
Rollenerwartungen von ÄrztInnen und
PatientInnen gewertet!
• „Ein türkischer Arzt erklärt mir meine Krankheit,
ein deutscher Arzt will sie von mir wissen…!“
• Folgen:
–
–
–
–
Fixierung auf die Beschwerden
Chronifizierung
Fehlbehandlungen
Hohe Folgekosten
Einverständnis im Missverständnis
Brucks 2003
• Patient:
• Arzt:
Somatisierung sozialer Probleme
Medikalisierung sozialerProbleme
Kopfschmerzen, nichts hat
bisher geholfen!
Neues Medikament, das
wird helfen!
Er sollte sich Mühe mit mir geben,
mich untersuchen, mit mir
sprechen. Aber er weiß soviel,
vielleicht helfen wenigstens die
Medikamente!
Sie ist überfordert durch Beruf,
Familie, als Ausländerin. Sie
hat keine
Introspektionsfähigkeit. Wie
soll ich mit ihr reden?
• Psychische und psychosomatische Krankheiten
entstehen immer an den Grenzlinien der
Begegnungen,
als Folge traumatischer Erfahrungen
in der Auseinandersetzung mit Familie,
Freunden,
der Kultur, Institutionen,
also dem Fremden.
• Krankheit ist also auch ein Scheitern aller
Anpassungsbemühungen, sich in einer fremden
Gesellschaft erfolgreich zu orientieren.
ANGEKOMMEN!?
ANGENOMMEN!?
„Verstehen ist eine Reise in das Land des
anderen!“
F.H.Daglarea
• Integration ist auch Verpflichtung und Aufgabe
des aufnehmenden Landes
• Die Kultur des Gastlandes verändert sich
ebenfalls und befindet sich in einem
Integrationsprozess.
• „Kulturelle Globalisierung“ – das Fremde zum
Eigenen machen
• Welche Werte werden übernommen und wer
bestimmt sie in der globalisierten Welt?
Inter-/Transkulturelle Kompetenz
• = Fähigkeit, angemessen und erfolgreich in
einer fremden Umgebung oder mit Angehörigen
anderer Kulturen zu kommunizieren
Rommel
• = Fähigkeit, individuelle Lebenswelten in der
besonderen Situation und in unterschiedlichen
Kontexten zu erfassen und entsprechende,
angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten
Domenig 2001
Erfolgreicher Kommunikationszyklus =
Fähigkeit, Übereinstimmung herzustellen
Durch
• Affinität (Zuneigung zum Gesprächspartner)
• Realität (das Weltbild und die Wirklichkeit des
anderen verstehen)
• Kommunikation (Austausch von Ideen mit der
Absicht, die „Verdopplung“ der Gedanken zu
erreichen)
Holler
Interkulturell kompetente Kommunikation
= Reflexion der eigenen Kultur,
Kulturgebundenheit
= kompetenter Umgang mit kultureller
Unterschiedlichkeit und Herstellung einer
Kooperation
= Wahrnehmung der unterschiedlichen
Lebenszusammenhänge (früher + jetzt)
= kulturelles Wissen reflektieren, nicht
stereotypisieren
Interkulturelle Kommunikation I
≠ Herkunft aus bestimmter Region,
kulturellem Umfeld
≠ Beherrschung von Fremdsprachen
≠ Umfangreiches Wissen über andere
Kulturen
Interkulturelle Kommunikation II
• Vermeidung von „Kulturalisieren“
• Vermeidung von „Ethnoromantizismus“
• Vermeidung von „Problemtrance“
• Vermeidung von “Kulturtrance“
„Fallen“ der interkulturellen
Kommunikation
• Divergente Erwartungen
• Kognitive Dissonanz
• Machtasymmetrien
(Misstrauen, Überempfindlichkeit, Rückzugstendenzen,
Aggressivität)
• Stereotypisierung von Minderheiten
• Übergeneralisierungen
Migrationsspezifische Anamnese
Statt kulturspezifischer Interpretation
* Mitdenken des soziokulturellen
Hintergrundes der PatientInnen UND der
BehandlerInnen
* Berücksichtigung der biographischen und
sozialen Gesundheits- und Krankheitsaspekte
– Herkunftsgeschichte
- Migrationsgeschichte
- Integrationsgeschichte
Kommunikation als
Differenzierungsprozess
• Konzepte von Personen
– Individualistisch
– Kollektivistisch
• Bedeutung von Namen
• Umgang mit Zeit
DOLMETSCHEN
• = ÜBER - SETZEN
Gesundheitssystem
• „gate keeper“
Oder
• „Fremdenführer“
Oder
• „Brückenbauer“
Interkultureller Dialog
• „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“
M.Buber
• „In einen Dialog treten bedeutet, den anderen
erkennen und anerkennen
und sich selbst zu erkennen geben;
auf Gewalt zu verzichten,
zu einem Gleichen sprechen….
Der Dialog ist die Schule der Menschlichkeit.“
Dimitre Dinev
Voraussetzungen für interkulturellen Dialog
• Fremdes anerkennen, auch wenn es nicht
verstehbar ist
• Stabiles Selbstbewusstsein und
Selbstwertgefühl
• Selbstreflexion des eigenen Tun und Erlebens
• „Bildung“ = Bewusstseins- und
Persönlichkeitsentwicklung und nicht
angehäuftes Wissen
Jenseits von richtig und falsch
liegt ein Ort
Dort treffen wir uns
Rumi
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