Sprecherin

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENSWERT
Pschologische Schlüsselbegriffe:
Was ist “neurotisch”?
Von Lisa Laurenz
Dienstag, 12.06.2007, 08.30 Uhr, hr2
Sprecherin:
Sprecher:
07-047
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des Hessischen Rundfunks.
Erzähler
“In den letzten Wochen ist es ihr zweimal passiert, dass sie nachts mit Herzrasen aufgewacht
ist und das bedrohliche Gefühl hatte, etwas Schlimmes könnte geschehen. Sie hatte fürchterliche
Angst, die Kontrolle zu verlieren, ja sogar zu sterben. Der Arzt konnte jedoch keine organischen
Ursachen feststellen und meinte, das Herzrasen und die Todesängste seien wohl seelischen
Ursprungs.”
Sprecherin
In der psychologischen Fachsprache werden scheinbar sinnlose Angstzustände und körperliche
Beschwerden ohne organische Ursachen als neurotische oder seelische Störung bezeichnet.
Umgangssprachlich ist der Begriff neurotisch oft eher abwertend gemeint. Doch es gehört offenbar
zum Wesen des Menschen, dass er bisweilen neurotisch reagiert:
Take 1
(Zarbock)
Jeder kennt mal ne Panikattacke, jeder kennt eine depressive Phase, jeder kennt auch
mal zwanghafte Sorgen, man grübelt und kommt nicht richtig los. Jeder kennt auch mal
süchtige Entgleisungen, dass man mal über eine Zeit zuviel trinkt oder raucht. Jeder kennt
auch psychosomatische Schmerzen, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Magenbrennen
auch unter Stress-situationen.
Sprecherin
Gerhard Zarbock ist Diplom-Psychologe und Leiter des Instituts für Verhaltens-therapieausbildung
in Hamburg. Er beschreibt die Grundzüge des neurotischen
Verhaltens so:
Take 2
(Zarbock)
Es ist ein Verhalten, unter dem derjenige leidet in der Regel, was
situations-unangemessen ist und was der Mensch, der an einer neurotischen Störung
leidet, auch weiß ist: das ist nicht normal, ich würde mich gerne anders verhalten können,
aber ich kann es nicht. Das ist ein Kennzeichen der Neurose. Bei einigen Menschen,
die dann neurotische Störungen entwickeln, setzt sich das fest. Und bei den anderen
verliert sich das wieder, weil entweder die Belastung nicht so stark ist oder sie
Hilfsmöglichkeiten in sich oder aus dem Umfeld haben, so dass sich diese neurotischen
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Gestörtheiten nicht chronifizieren hinein in festsitzende neurotische oder psychische
Störungen, die man dann am besten mit Hilfe einer Fachfrau oder eines Fachmannes
wieder beheben kann.
Sprecherin
Der Begriff Neurose ist über 200 Jahre alt. Er leitet sich ab vom griechischen neuro für Nerv.
Der schottische Arzt William Cullen prägte 1776 den Begriff Neurose als Oberbegriff für alle
nervösen und psychischen Erkrankungen. Im 18. und 19. Jahrhundert ging man noch davon aus,
dass Geistes- und Gemütserkrankungen mit noch unbekannten krankhaften Prozessen im
Nervensystem zu tun haben.
Heute weiß man, es sind nicht die Nerven: sondern ein Mensch reagiert neurotisch, weil er
bestimmte Lebensereignisse nicht richtig verarbeitet hat. Eine Erkenntnis, zu der Sigmund Freud
entscheidend beigetragen hat:
Take 3
(Michael Schödlbauer)
Da kann man schon sagen, dass Freud jemand war, der den Begriff zwar aufgenommen
aber auch radikal umgeprägt hat, indem er erst mal davon ausgegangen ist, dass alle
diese neurotischen Erkrankungen letztlich psychisch sind, auch wenn sie sich an Organen
zeigen dann vielleicht, vom Erscheinungsbild her.
Sprecherin
Sigmund Freud ging noch davon aus, dass sich unterdrückte sexuelle Triebkräfte einen anderen
Weg bahnen und sich beispielsweise über die Angst ausdrücken, an einem Herztod zu sterben.
Heute weiß man, dass auch andere Gemütsregungen sich auf Organe niederschlagen und
körperliche Beschwerden verursachen können, zum Beispiel besonders unterdrückte Aggressionen.
Neurotische Symptome werden gedeutet als eine unmittelbare Folge eines unbewussten seelischen
Konfliktes oder als ein symbolischer Ausdruck dieses Konfliktes, erklärt Michael Schödlbauer, er
ist Tiefenpsychologe in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Hamburger Uniklinik:
Take 4
(Schödlbauer)
Im klassischen Sinn, den man auch heute noch damit verbindet, kann man sagen, dass
die eigentliche Neurose die Konfliktneurose ist. D.h. dass davon ausgegangen wird, dass
das psychische oder organische Symptom, das kann eine spezifische Ängstlichkeit oder
Phobie sein oder Angstanfälle oder andere Dinge, z.B. Magenbeschwerden, dass die
Ausdruck sind eines innerpsychi-schen Konfliktes sind, der sehr unterschiedlich
beschrieben oder zusammen-gesetzt sein kann.
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Sprecherin
In der psychologischen Wissenschaft wird der Begriff Neurose heute kaum noch verwendet. Die
unter dem Wort Neurose zusammengefassten Symptome erwiesen sich als zu unübersichtlich.
Heute spricht man von seelischer oder psychischer Störung. Und man unterscheidet zwischen
verschiedenen Störungen: z.B. Angststörungen, Zwangsstörungen oder Persönlichkeitsstörungen.
Je nach Therapieschule wird die neurotische Störung anders erklärt, so der Verhaltenstherapeut
Gerhard Zarbock:
Take
5
(Zarbock)
Die Verhaltenstherapie erklärt eine Neurose als Verhalten oder
Angewohn-heiten, die unter ungünstigen Bedingungen gelernt wurden und
daher auch mit entsprechender Hilfestellung, gestützt durch eine hilfreiche und
positive Beziehung zum Therapeuten oder Therapeutin verlernt werden
können.
Sprecherin
Die Psychoanalyse sieht in der Neurose einen Konflikt zwischen dem Ich und dem Es oder dem
Ich und dem Über-Ich. Eine Erkenntnis, die auf Sigmund Freud zurück geht und auch heute
noch gültig ist, so der Tiefenpsychologe Michael Schödlbauer:
Take 6 (Schödlbauer)
Man kann sagen, dass es einerseits Triebregungen gibt, die in irgendeiner
Weise mit dem Ich und seinen Werten und Vorstellungen nicht vereinbar ist,
so dass auch schon die Regung gar nicht zum Bewusstsein kommen kann.
Das heißt, dass ein Konflikt entsteht zwischen dem Ich und seinen Idealen
letztlich und dem was es als zu sich gehörig erleben kann und verdrängten
Regungen, die im sog. Es zum Tragen kommen oder auch im Über-Ich. Da
wäre die Zwangsneurose ein typisches Beispiel. (Stimme leicht oben)
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Zwangsneurotiker leiden unter Gedanken oder Handlungen, die sie ständig wie unter
Zwang wiederholen müssen. Sie müssen zum Beispiel andauernd kontrollieren, ob
Türen oder Fenster auch wirklich verschlossen sind. Menschen mit einer
Zwangsneurose werden beherrscht von dem Gefühl, alles unter Kontrolle haben zu
müssen.
Nach psychoanalytischer Auffassung hat das neurotische Symptom die Aufgabe,
Angst abzuwehren. Das geschieht durch einen Kunstgriff: Denn die Neurose stellt
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den Versuch dar, einen seelischen Konflikt durch einen Kompromiss zu lösen.
Sigmund Freud erkannte, dass das neurotische Symptom eine Kompromissbildung
ist zwischen Wunsch und Abwehr:
Take 7
(Schödlbauer)
Das ist schon mit das Spannendste bei den Neurosen, dass die Neurose
deswegen so hartnäckig ist gegenüber Behandlung, weil sie eigentlich so ein
gelungener Kompromiss ist. D.h. es wird sowohl den Anteilen im Es, den zu
verdrängenden und verpönten Regungen Ausdruck verliehen, als auch die
Anteile, die das Ganze in Schach halten wollen, die es zurückhalten wollen,
die finden darin Ausdruck. Und da dieser Kompromiss nach zwei Seiten
diesen beiden beteiligten Parteien wenn man so will so gut gelungen ist, kann
man es fast als die glücklichste Lösung, die ein bestimmtes psychisches
System immer zu einen bestimmten Zeitpunkt wählen kann, ansehen.
Sprecherin
Das neurotische Symptom ist letztlich ein misslungener Heilungsversuch. Doch es
ermöglicht dem Betroffenen, mit seinen inneren Konflikten mehr oder weniger gut zu
leben, wenn auch oft um einen hohen Preis. Alfred Adler, der Begründer der
Individualpsychologie, beschreibt die Neurose als irrtümliche Antwort auf das, was
das Leben an Anforderungen stellt:
Zitator
“Jede Neurose kann als ein Versuch verstanden werden, sich aus einem Gefühl
der Minderwertigkeit zu befreien, um ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen.
Der Weg der Neurose führt nicht auf die Linie der sozialen Aktivität, zielt nicht
auf die Lösung der angegebenen Lebensfragen, er mündet vielmehr in den kleinen
Kreis der Familie und erzielt Isolation.”
Sprecherin
In seiner Neurosenlehre aus dem Jahr 1913 schreibt Alfred Adler weiter:
Zitator
“Der Wirklichkeit zum großen Teile abgewandt, führt der Nervöse ein Leben in
Einbildung und Fantasie und bedient sich einer Anzahl von Kunstgriffen, die es
ihm ermöglichen, realen Forderungen auszuweichen und eine ideale Situation
anzustreben, die ihn einer Leistung für die Gemeinschaft und der
Verantwortlich-keit entzieht. Diese Enthebungen und die Privilegien der
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Erkrankung, des Leidens, bietet ihm den Ersatz für das ursprüngliche, riskante Ziel
der realen Überlegen-heit.”
Sprecherin
Die neurotische Störung ist meist nicht in einem aktuellen Konflikt begründet.
Sie wird oft durch eine stressige oder krisenhafte Lebenssituation ausgelöst.
Ihre Wurzeln liegen meist in der Kindheit.
Take 8
(Zarbock)
Wenn jemand kommt, fragen wir konkret: was ist die aktuelle Lebenssituation, wann
aufgetreten, warum sind gerade zu dem Zeitpunkt die Ängste, die Zwänge, die
Depressionen aufgetreten und wie hat sich das beim Erstauftritt verbunden, was jemand
als Mensch mitgebracht hat aus der Lebensge-schichte an Empfindlichkeiten und auf
welche Belastung oder Traumatisie-rungen er gestoßen ist. Und als Ergebnis sehen wir
oft eine Krise mit dem Resultat der Entwicklung einer psychischen Störung oder wenn
Sie so wollen, einer neurotischen Störung.
Sprecherin
Wenn jemand unter ungünstigen Lebensumständen aufgewachsen ist, dann stellt
sich für den Therapeuten oder die Therapeutin die Frage: wie hat der Klient oder
die Klientin das verarbeitet?:
Take 9
Zarbock)
Das kann dann so was sein, dass jemand ein schlechtes Selbstwertgefühl
hat, nicht gelernt hat, sich mit Gleichaltrigen einzufügen oder
durchzu-setzen, dass jemand sehr erregbar ist und keine Chance hatte zu
lernen, diese Erregbarkeit wieder einzuregeln, sondern auf einem hohen
inneren Spannungsniveau praktisch chronisch ist. (Stimme leicht oben)
Sprecherin
.... weiß der Hamburger Verhaltenstherapeut Gerhard Zarbock.
Der neurotische Mensch tendiert dazu, sich anzuspannen, auch da, wo er sich
eigentlich gefahrlos entspannen könnte. Er versucht seine Angst in Schach zu
halten, indem er bestimmte Situationen bewusst oder unbewusst vermeidet. Er
geht Konflikten aus dem Weg, nimmt sich zurück, unterdrückt seine Wut und seine
Lebendigkeit oder entwickelt zwanghafte Gedanken. Tiefenpsychologe Michael
Schödlbauer:
Take
10
(Schödlbauer)
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Aber man muss auch ein Stück diese Leistung, die eigentlich das Symptom darstellt, diese
Kompromissleistung als solche auch erst einmal würdigen. Spinnenangst beispielsweise
oder soziale Ängste, es kann eine sehr große psychische Leistung sein, dass diese
ursprünglich frei flottierenden Ängste
in irgendeiner Weise gebunden werden. Das ist ein sehr großer Schutz-mechanismus,
der es erlaubt, die Ängste in irgendeiner Weise handhabbar
zu machen. In dem Moment, wo ich mich vor einer Spinne fürchte, hab ich bestimmte
Zonen, in denen ich mich weitgehend angstfrei halten kann, so dass eigentlich diese
Bindung an das Objekt etwas sehr Positives ist.
Sprecherin
Ob jemand behandlungsbedürftig ist, hängt davon ab, wie sehr er oder sie oder das Umfeld
unter der Störung leidet. Die Psychoanalyse ist die von Sigmund Freud entwickelte Methode,
um neurotische Störungen zu behandeln. Im Unterschied zur Verhaltenstherapie schauen
Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen weniger auf die Symptome. Es geht ihnen vor allem
darum, die hinter dem Symptom liegenden Konflikte im therapeutischen Prozess erfahrbar zu
machen. Dabei hilft das Phänomen der sog. Übertragungsneurose:
Take 11
(Schödlbauer)
Das meint, dass sich alle auch frühkindlichen Konflikte, alle Wünsche und alle Gefühle
des Beschränktwerdens in der Beziehung mit dem Therapeuten aktualisieren. Dass die
Neurose ein neues Objekt findet, das ist der Therapeut, an dem sich all diese Dinge
abspielen, so dass es dann möglich ist, sie auch im Hier und Jetzt der therapeutischen
Situation bearbeiten zu können.
Sprecherin
Neurotische Störungen lassen sich heute genauer erkennen und diagnostizieren. Sie lassen sich
deshalb auch effektiver behandeln als noch vor 10 oder 20 Jahren. Ob jemand mehr von einer
Verhaltenstherapie profitiert oder mehr von einer Psychoanalyse oder einer tiefenpsychologischen
Behandlung, das hängt von den persönlichen Wünschen und Erwartungen ab, aber auch von
der Störung, meint der Verhaltenstherapeut Gerhard Zarbock:
Take 12
(Zarbock)
Es gibt viele Störungen, da können wir sehr zielgerichtet mit sehr klaren
Schritten etwas tun. Platzangst gehört dazu, Zwangsstörungen gehören dazu,
viele Formen der Depressionen gehören dazu. D. h. wir können sehr klare
Angebote machen, Schritte aufweisen, dass jemand sozusagen, wenn er
diese Schritte geht, auch mit relativ großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen
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kann, dass es ihm besser geht. Manchmal kann man eine deutliche
Entspannung dadurch erreichen, dass man entdeckt, man muss und kann
nicht immer gegen sich selber kämpfen. Man kann auch akzeptieren, wie man
geworden ist. Und diese Seite zu akzeptieren führt zu einer Annahme, einer
Entspannung und zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität.
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