Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Pschologische Schlüsselbegriffe: Was ist “schizophren”? Von Lisa Laurenz Donnerstag, 14.06.2007, 08.30 Uhr, hr2 Sprecherin: Sprecher: 07-049 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit 1 Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Sprecherin “Der ist ja völlig schizophren!” Das sagt man manchmal, wenn einem das Verhalten eines Menschen höchst merkwürdig, widersprüchlich oder doppelbödig erscheint. Eigentlich kommt Begriff schizophren aus der Wissenschaft, er hat aber inzwischen seinen Weg in die Alltagssprache gefunden und wird dort eher abwertend verwendet. Unabhängig davon ist die Schizophrenie eine ernste psychische Erkrankung: Erzähler “Marie ist 16 Jahre alt und hat sich gerade verliebt. Mitten in ihrer ersten Liebeserfahrung scheint sie plötzlich den Verstand zu verlieren: sie klagt über magische Einflüsse ihres Geliebten auf ihre Gedanken, sie hört Stimmen von der Zimmerdecke und sieht sich den Einflüsterungen des Teufels ausgeliefert. Ihrer Freundin wirft sie vor, in ihren Gedanken zu lesen. Eltern und Freunde sind tief beunruhigt über diese befremdlichen Veränderungen in ihrem Wesen. Schließlich stellt sich heraus, sie hat eine schizophrene Psychose”: Take 1 (Thomas Bock) In einer schizophrenen Psychose verändert sich das Wahrnehmen und das Denken. Die Wahrnehmungen werden eigensinnig und das Denken wird sprunghaft. Eigensinnig heißt ganz konkret: die Sinne gehen eigene Wege, man hört Dinge die andere nicht hören können, man sieht Dinge, die andere nicht sehen können und das Denken ist nicht ganz so folge-richtig wie üblich, sondern sehr sprunghaft, manchmal auch sehr kreativ. Schizophrene Psychosen sind so unterschiedlich wie Träume. Vom Erleben her sind sie auch sehr ähnlich wie Träume, mit dem wichtigen Unterschied, dass man im Traum durch den Schlaf geschützt ist und in der Psychose nicht. Sprecherin Die Schizophrenie ist eine Form der Psychose. Und Psychose ist ein Ober-begriff dafür, dass jemand aus inneren Gründen gezwungen ist, in seinem Erleben aus der Realität auszusteigen. Das erklärt Thomas Bock, Diplom Psychologe und Leiter der Sozialpsychiatrischen Ambulanz an der Hamburger Universitätsklinik: 2 Take 2 (Thomas Bock) Dieses aus der Realität aussteigen ist, wenn Sie so wollen, ein Schutz-mechanismus: ich schütze mich vor etwas, was ich nicht aushalten kann. Die Gefahr ist, dass das aussteigen nicht so einfach rückgängig zu machen ist. Man braucht Hilfe, um wieder zurückzukehren, um wieder einzusteigen in die Realität. Insofern signalisiert das schon ein Stück Behandlungsbedürftigkeit. Sprecherin Der Begriff Schizophrenie wurde vor hundert Jahren von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt und wird häufig mit “Bewusstseinsspaltung” gleichgesetzt: Take 3 (Klaus Dörner) Das Wort schizophren ist ein Kunstbegriff, verrückt sein, wahnsinnig sein, wähnen dass etwas ist was nicht ist. Da steckt ja dieses Spalten drin, was es eigentlich im Erleben der Betroffenen nicht gibt. Schon dass sie innere und äußere Wirklichkeit nicht zur Deckung bringen, weil es so schmerzhaft ist. Das hat es immer gegeben. Natürlich haben die Menschen dafür Worte gefunden: Diese Begriffe wie verrückt, wahnsinnig oder das französische aliené, sich fremd sein, sich entfremden. Das ist was bei uns verrückt meint. Auch das deutsche Wort `verrückt` ist eigentlich nichts anderes: da ist jemand und irgendwie ist er von dem Ort, wo er an sich zu sein hat, ein Stück weit verrückt. Sprecherin Professor Klaus Dörner ist Psychiater und Mitautor des Buches `Irren ist menschlich`. Was wir schizophren nennen, das gibt es seit Menschen-gedenken, in allen Kulturen etwa gleich häufig, nämlich bei etwa einem Prozent der Bevölkerung: Take 4 (Dörner) So, als ob die Natur oder Gott oder wer auch immer sich gesagt haben: ein Prozent die so merkwürdig schizophren sind, das können die übrigen ganz gut ab, damit sie nicht einschlafen, vor Langeweile. Und umgekehrt braucht ein Prozent der Bevölkerung auch die tragfähigen Schultern von den anderen, um einigermaßen auch leben zu können. Sprecherin Dass der Ausdruck schizophren in unserer Umgangssprache oft als Schimpfwort verwendet wird, mag daran liegen, dass viele sich so wenig 3 darunter vorstellen können. Das Wissen über Schizophrenie speist sich häufig aus Vorurteilen und falschen Informationen. Es gibt nicht die Schizophrenie. Die Störung zeigt sich bei jedem anders. Zu den Kernsymptomen gehören jedenfalls Ich-Störungen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Warum jemand schizophren wird, das weiß man nicht genau. Man kennt aber einige Ursachen, erklärt der Hamburger Psychologe Thomas Bock: Take 5 (Bock) Es kann sein, dass man Dinge erlebt, die die eigenen Grenzen sprengen, eine schwere Traumatisierung, irgendeine Katastrophe, die man gar nicht fassen kann. Dasselbe gilt für extreme Isolation, da fängt jeder noch so stabile Mensch über kurz oder lang an zu spinnen. Bei Menschen, die dünnhäutiger sind, reichen geringere Krisen oder geringere Isolation, um sie aus den Fugen zu bringen oder um sie zu zwingen, aus der Realität auszusteigen. Ich gehe davon aus, dass alle Menschen im Leben stabile und weniger stabile Phasen haben, also dass wir im Leben Krisen durchlaufen, in denen wir uns neu verorten müssen. Solche Krisen sind die Pubertät, die Loslösung vom Elternhaus, der Abschluss einer Ausbildung. Sich zu verlieben ist auch eine Krise, man geht nicht mehr als Nomade durch die Welt, sondern man bindet sich an einen Menschen; die Geburt eines Kindes, Trennung vom Partner, Verlust der Arbeit. Also durchs ganze Leben kann man solche Phasen durchdeklinieren, in denen Menschen, die sehr dünnhäutig sind, aus welchem Grund auch immer, eher psychotisch werden können. Sprecherin In einer akuten schizophren Psychose haben Menschen das Gefühl, sich aufzulösen, das eigene Ich geht verloren, man fühlt sich verfolgt, man erlebt sich als vergiftet, man hört Stimmen oder fühlt sich von einer Gottheit in Anspruch genommen. Der Ausbruch dieser Erkrankung hat für alle Beteiligten etwas Erschreckendes hat, besonders für den Betroffenen selbst, Klaus Dörner: Take 6 (Klaus Dörner) Das weiß man von Menschen, die schizophren werden, denen rutscht so der Boden unter den Füßen weg, dass sie wirklich den Eindruck haben, sie schwirren im Nichts, im Weltall, im Meer und haben panische Ängste. Und lieber als in so einem Meer von unbenennbarer Angst zu schwimmen, ist es schon besser, ich hab etwas Konkretes, eine konkrete Idee, eine konkrete Wahrnehmung, daran kann ich mich festhalten und einen Teil der Angst abbinden, wenn auch um einen hohen Preis, nämlich den Preis dessen, dass sie mich jetzt nicht mehr 4 ganz vollnehmen und sagen: der spinnt oder mich in eine psychiatrische Klinik stecken, aber das ist immer noch besser als das Andere. Sprecherin In traditionellen Kulturen werden solche seelischen Ausnahmezustände meist weniger stigmatisiert als bei uns. Da wird das Stimmenhören zum Beispiel als eine spirituelle Leistung angesehen und religiös interpretiert, was für Betroffene sehr entlastend sein kann. Medizinmänner in Afrika beispielsweise behandeln die Schizophrenie von der gefühlsmäßigen Seite her. Studien zeigen, dass die Schizophrenie in einfachen Kulturen oft besser verläuft, auch weil die Familiensysteme dort noch besser funktionieren. Thomas Bock hält es für wichtig, immer auch nach der emotionalen Bedeutung der Symptome zu fragen: Take 7 (Bock) Die Gefahr ist groß, dass die Psychiatrie im Umgang mit Schizophrenen nicht wahrnimmt, welche Bedeutung auch die Gefühle haben, welche Bedeutung die Halluzinationen haben, welche Bedeutung die Stimmen haben. In dem Moment, wo wir nicht nach Bedeutung fragen, fangen wir als Therapeuten an abzuspalten und da ist eher die Gefahr, dass man die Abspaltung betreibt oder zumindest verstärkt, statt bei der Integration zu helfen. Sprecherin Die Gefühle und Wahrnehmungen bei Schizophrenen können eine große Bandbreite haben. Von Angst und Panik über Euphorie bis hin zu dem Gefühl, sich mit der ganzen Welt verbunden zu fühlen: Take 8 (Bock) Es gibt Menschen, die mit Psychosen durchaus auch angenehme Gefühle verbinden. Auch in Psychosen artikulieren sich Wünsche und Ängste. Wenn jemand zum Beispiel paranoid wird, also Verfolgungs-wahn entwickelt, dann ist das einerseits bedrohlich, beängstigend für alle Beteiligten und gleichzeitig ist es auch ein Gefühl: ich bin bedeutend für drei Geheimdienste, ich bin zumindest etwas wert auf der Welt, ich bin kein Nichts, das in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Take 9 (Dörner) Es gibt kluge Leute, die sagen: das ist deswegen so, weil jemand, der in einer schizophrenen Innenwelt lebt, weil der auch zu den Menschen gehört, denen es an Bedeutung für andere mangelt – also ein an Bedeutung-für-andere-Mangelsyndrom hat und damit zumindest eine Ersatzform gefunden hat, wie ich dann überhaupt integriert vorkomme 5 unter ihnen und womit ich ihre Aufmerksamkeit errege und damit auch ihre Beachtung. Es sind ja die skurrilsten und abseitigsten Ideen, die da einspringen und die bringen es, die bringen die Aufmerksamkeit. Sprecherin Der Psychiater Klaus Dörner. Schizophrene Störungen entstehen meist im Jugendalter, zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr, im höheren Alter nur gelegentlich. Die Erkrankung trifft Jugendliche in einer Entwicklungsphase, die viele wichtige Veränderungen mit sich bringt. Da geht es darum, eine Balance zu finden zwischen Autonomie und Bindung, zwischen Anpassung und Widerstand. Warum dabei der eine schizophren wird und der andere nicht, das weiß man nicht so genau, so der Psychologe Thomas Bock: Take 10 (Thomas Bock) Die Hauptursache ist die Tatsache, dass wir Menschen sind, das ist eine wichtige Voraussetzung, psychotisch zu werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass Menschen unterschiedlich veranlagt sind, dass es dünnhäutige und dickfällige Menschen gibt von der ganzen genetischen Anlage, wobei sich diese Dünnhäutigkeit gar nicht trennen lässt: was ist Anlage, was ist frühe Entwicklung, was ist frühe destabilisierende oder stabilisierende Entwicklung. Da bildet sich ja beides ab und dann kommen bei Psycho-sen immer noch auch akute Lebenskrisen, akute Auslöser, akute Selbst-zweifel und Konflikte hinzu. Sprecherin Im Jugendalter erkranken Mädchen und Jungen gleich häufig an der Schizophrenie. Ab dem 20. Lebensjahr sind es mehr junge Männer. Frauen erkranken erst wieder häufiger nach den Wechseljahren, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass dann der Schutz durch die Östrogene wegfällt. Aber wie kündigt sich eine schizophrene Psychose an? Meistens durch gesteigerte Wahrnehmungen: man nimmt Farben und Konturen intensiver wahr und das Denken wird sprunghafter. Der Laie weiß oft nicht, dass solche Erlebnisse erste ernste Anzeichen einer tiefgreifenden seelischen Krise sind. Wer so etwas zum ersten Mal erlebt, wagt meist kaum darüber zu sprechen, weil das innere Erleben so völlig aus dem Rahmen fällt. Freunde und Angehörige, denen sie es schließlich doch zu erzählen wagen, versuchen oft, 6 sie zu beruhigen mit der Bemerkung, dass das doch alles nur Blödsinn sei. Eine weitere Auseinandersetzung damit findet dann häufig nicht statt. Dadurch geht oft viel kostbare Zeit verloren: Take 11 (Thomas Bock) Wichtig ist gerade am Anfang, wie bei der ersten Erkrankung die Hilfe aussieht. Da ist es wichtig, schnell die Familie einzubeziehen, schnell, am besten auch vor Ort tätig zu werden, ambulant möglichst die Krise aufzufangen, um die Stigmatisierung und die Krankenhaus-unterbringung möglichst zu vermeiden. Da gibt es gute Erfolge. Sprecherin Ambulante Krisenhilfe, die auch die Familie einbezieht, gibt es nach Meinung des Schizophrenie-Experte Thomas Bock in Deutschland noch viel zu wenig. In Skandinavien, England oder Australien mache man gute Erfahrungen damit. Thomas Bock hält die ambulante Betreuung in der Tagesklinik für eine wichtige Säule in der Therapie. Dadurch ergeben sich kürzere Aufenthaltszeiten im Krankenhaus, weniger Stigmatisierung, weniger Rückfälle und mehr Lebensqualität: Take 12 (Bock) Ich denke, man kann viel begleiten an diesen Krisen und damit auch ihre Dramatik verringen, dass man rechtzeitig gegensteuert. Allgemein kann man sagen, dass es um eine Hilfe auf drei Ebenen geht: einerseits der somatischen Eigendynamik entgegenzuwirken, also das was sich im Stoffwechsel verändert, was dann immer sensibler macht für neue Krisen, aber auch der psychischen Eigendynamik, der Selbstentwertung entgegenzuwirken. Und dann der sozialen Dynamik in Familie und Umfeld entgegenzuwirken und in Krisen u.U. auch medikamentöse Hilfe. Sprecherin Für ein Drittel der Betroffenen bleibt die Schizophrenie ein einmaliges Ereignis, so dass sie danach auch keine Medikamente mehr brauchen. Bei einem weiteren Drittel kann es in Krisensituationen zu Rückfällen kommen. Ansonsten können schizophren erkrankte Menschen jedoch ein relativ normales Leben führen. Nur bei einem Drittel gibt es bleibende Beeinträchtigungen, so dass diese Menschen eine mehr oder weniger intensive Betreuung brauchen. Bei der Therapie waren in den letzten Jahren große Fortschritte zu beobachten. 7 Viel ist gewonnen, wenn es gelingt, einen schizophrenen Schub frühzeitig zu erkennen und mit der Erkrankung zu leben. Dabei können auch verhaltenstherapeutische Ansätze hilfreich sein: Take 13 (Gerhard Zarbock) Die Verhaltenstherapie kann helfen, damit umzugehen und das Wiederauftreten der Erkrankung abzuschwächen oder zu verhindern. Einmal indem der Mensch lernt: aha, jetzt geht es wieder los, was kann ich tun? Und dann, bevor es gänzlich umkippt in ein sehr fremdes Erleben, dass er dann sagen kann: jetzt muss ich medikamentös etwas tun oder aber manchen Menschen gelingt es auch, durch Veränderung in der Lebensführung sich wieder herunterzukühlen. Das wäre eine Möglichkeit. Sprecherin ... meint der Diplom-Psychologe und Verhaltenstherapeut Gerhard Zarbock: Take 14 (Zarbock) Die zweite Möglichkeit ist, dass man auch an diesen Wahnvorstellungen, wo sich die Menschen ja sehr sehr schämen dafür, wenn sie aus diesem Schub wieder heraus sind, dass man dort auch mit kognitiver Therapie arbeitet, d.h. dass man die Inhalte der Wahnvorstellungen auch diskutiert, entkräftet und schaut, wie weit sind Reste davon noch vorhanden, wenn der akute Schub abgeklungen ist. Und man hat festgestellt, dass die Lebensqualität und auch die Rückfälligkeit deutlich verbessert wird. ... und der Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz der Hamburger Uniklinik, Thomas Bock ergänzt: Take 15 (Bock) Wenn jemand ein dünnhäutiger Mensch ist, dann bleibt er u.U. auch ein dünnhäutiger Mensch, was ja in sich auch ein Wert ist. Ist gut, dass nicht alle Menschen dickfällig und trampelig sind, sondern dass es auch dünn-häutige Menschen sind. Insofern muss man mit ihnen auch leben und müssen diese Menschen auch mit ihrem Leben leben lernen. 8