Sprecherin

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENSWERT
Psychologische Schlüsselbegriffe
Symbiose
Von Lisa Laurenz
Mittwoch, 29.11.2006, 08.30 Uhr, hr2
Sprecherin:
Zitator:
06-135
COPYRIGHT:
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1
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Musik 1.....(einblenden unter der 2. Sprecherzeile...ausblenden unter
1`25
“Die sind aber symbiotisch)
Sprecher (Zitator)
Sonja und Michael sind ein unzertrennliches Paar. Sie leben zusammen und
machen fast alles gemeinsam. Sie rufen sich mehrmals am Tag von der Arbeit
aus an, haben fast nur gemeinsame Freunde, gemeinsame Hobbies und
fahren stets gemeinsam in Urlaub. Als Sonja irgendwann den Wunsch äußert,
auch einmal alleine verreisen zu wollen, fällt Michael aus allen Wolken und
ist tief verletzt. Immer wenn Sonja mal etwas allein unternehmen will, ist er
verunsichert und fühlt sich alleine gelassen.
Sprecherin
“Die sind aber symbiotisch”, heißt es manchmal in der Umgangssprache,
wenn zwei Menschen den Eindruck erwecken, sie können nicht ohne einander
und sind völlig abhängig von einander. In diesem Zusammenhang ist das Wort
Symbiose eher negativ gemeint.
Symbiose, ein griechisches Wort, heißt wörtlich übersetzt: zusammen leben.
Gemeint ist das Zusammenleben zweier Lebewesen zum beiderseitigen Nutzen.
In der Biologie beschreibt Symbiose das Zusammenleben verschiedener Organismen,
die einen Nutzen voneinander haben. So sind fast alle Bäume, Sträucher und auf
Bestäubung angewiesene Samenpflanzen mit anderen Arten symbiotisch
vergesellschaftet. Ameisen zum Beispiel beschützen Blattläuse und erhalten dafür von
diesen ein Zuckerwasser.
Auch im menschlichen Leben gibt es natürliche Formen und Phasen der
Symbiose. Zum Beispiel die Schwangerschaft, wenn das Ungeborene in völliger
Einheit mit der Mutter heranwächst. Auch die Zeit des Stillens nach der Geburt
sei für Mutter und Kind eine wichtige symbiotische Erfahrung, erläutert Dorothee
Wienand-Kranz, Psychologin an der Hamburger Universität:
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Take 1
(Dorothee Wienand-Kranz)
0`39
Wenn Frauen beschließen und das auch können, ihre Kinder zu stillen, dann
sind die auch wirklich aufeinander angewiesen. Also das Saugen des Babys an
der Mutterbrust bewirkt, dass die Gebärmutter sich mehr zusammenzieht, also
besser heilt und das restliche Blut ausgeschieden wird. Das wissen glaube ich
nicht so viele. Also es ist nicht nur ein Nahrungsmittel fürs Baby,
es braucht die Nahrung ja, sondern auch für die Mutter, weil es die
nach-geburtliche Situation total verbessert. Es fördert die Bindung und das Kind
ist erst mal auch angewiesen auf diese Bindung. Und für die Mutter ist diese
Bindung nötig, damit sie sich auf das Kind einstellen kann.
Sprecherin
Ein Säugling ist relativ lange existentiell abhängig von der Mutter oder einer anderen
Bezugsperson. Erst ganz allmählich taucht das Baby in seiner Entwicklung aus der
symbiotischen Verschmelzung auf. Die Entwicklungspsychologin Margret Mahler
hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts als eine der ersten untersucht, wie sich
das Baby aus der frühen symbiotischen Beziehung zur Mutter löst. Sie stellte
fest, dass die sogenannte Loslösungs- und Individuationsphase nach dem fünften
Lebensmonat beginnt, so die Psychoanalytikerin Benigna Gerisch:
Take 2
(Benigna Gerisch) 0`55
Man geht idealtypisch in dem Entwurf von Margret Mahler davon aus, dass das
Kind im Alter von drei Jahren über entscheidende Entwicklungs- und
Ich-kompetenzen verfügt. Dazu gehört insbesondere die Fähigkeit, sich selbst
als Ich wahrzunehmen, die Umwelt als etwas von ihm Abgetrenntes und
Anderes wahrzunehmen, eben nicht mehr abgetrennt wie in der sog.
symbiotischen Phase. Das Kind kann inzwischen aushalten, dass es räumliche
und zeitliche Trennungsphasen gibt, wenn die Mutter z.B. zum Einkaufen muss
oder arbeiten geht. Das sind ganz zentrale Entwicklungserrungenschaften, weil
ein Säugling eben noch nicht diese innere Erfahrung hat, dass es so etwas gibt
wie Zusammensein und Trennung, dass jemand der weggeht, auch
wieder-kommt.
Sprecherin
Das seien Erfahrungen, die ein Kind machen muss. Je gesicherter diese Entwicklung
verlaufen ist, umso eher sei das Kind später fähig, Zustände von Getrenntsein zu
ertragen. Fühlt es sich liebevoll beschützt, gehalten und geborgen, kann es sich
allmählich immer weiter von der Mutter wegbewegen und die Welt um sich herum
entdecken. Kann das Kind jedoch seinen natürlichen Impulsen selbständiger zu
werden nicht folgen, weil es noch zu sehr in der Mutterbindung drinsteckt, kann es zu
einer sogenannten symbiotischen Verklebung kommen:
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Take 3 (Wienand-Kranz)
0`27
Also die Verklebung, dass der Zeitpunkt, in dem das Kind nicht mehr so doll
angewiesen ist auf die Mutter, manchmal verpasst wird. Also wenn es anfängt
zu laufen, sich weiter weg zu bewegen, das ist ein erster Schritt. Und dass dann
hinzukriegen, dass die Mutter kapiert, was ist noch ihre Sorge, die angemessen
ist, das ist ihre Funktion und was ist übertriebenes Festhalten?
Sprecherin
Wenn kleine Kinder spüren, dass sie fähig sind, sich unabhängiger zu machen,
sei es wichtig, dass sie darin von ihren Eltern unterstützt werden. Kann ein Kind
sich nicht altersgemäß von der Mutter wegbewegen und lösen, hat das häufig Gründe,
die im Unbewussten der Mutter liegen können, meint die Psychologin Dorothee
Wienand-Kranz:
Take 4
(Wienand-Kranz)
0`32
Wenn zum Beispiel die Geburt sehr dramatisch verlaufen ist, das Kind oder
auch die Mutter in Lebensgefahr war und das nicht wirklich als Trauma
gewürdigt und verarbeitet wurde, dann ist die Mutter verständlicherweise immer
besorgt. Also bei jedem blauen Fleck wird es einfach übertrieben,
verständlicherweise übertrieben: Ob das jetzt nicht was Schlimmes ist? Also
diese Angst um das Kind, die vorhanden war bei der Gefahr, die löst sich
nicht auf. Das wäre für mich eine unglückliche Art von Symbiose.
Musik 2.............(einblenden unter Take 4 ab “die löst sich nicht auf....
0`33
steht kurz frei, dann ausblenden.)
Zitator
Hänschen klein, ging allein,
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut, steht ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr!
Da besinnt sich das Kind,
läuft nach Haus geschwind.
Autorin
Hänschen klein, eines unserer bekanntesten Kinderlieder, ist ein trauriges Beispiel für
eine unglückliche Form von Symbiose. Dorothee Wienand-Kranz beobachtet, dass
symbiotische Verklebungen zwischen Mutter und Kind häufiger sind als zwischen
Vater und Kind. Väter sind da pragmatischer und weniger besorgt,
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was unter anderem daran liegt, dass eine Mutter ihr Kind neun Monate in sich getragen
und auf die Welt gebracht hat.
Eine symbiotische Verklebung kann verschiedene Gründe haben. Beispielsweise
wenn sich die Mutter zu wenig unterstützt fühlt vom Vater des Kindes:
Take 5 (Wienand-Kranz)
1`11
Kann der Vater es aushalten, eine Weile vielleicht so was wie nur der
Ernährer oder einfach mehr im Hintergrund zu sein oder ist er eifersüchtig oder
beunruhigt, erst mal nur ganz harmlos gesagt, und unterstützt nicht diesen
Prozess der Ablösung, dann klammern Mütter noch mehr an ihren Kindern.
Wenn die Mutter alleinerziehend ist, vielleicht verlassen wurde oder aber sich
entschieden hat, das Kind alleine zu erziehen und da einfach besorgter ist, weil
sie sich nicht austauschen kann. Wenn es der Mutter nicht gut geht, ganz
deutlich als Trost auf körperlicher Ebene. Kleine Kinder sind einfach knuddelig
und es tut so gut, ein Kind zu haben, das noch so un-reflektiert und ohne
Bedingungen die Mutter liebt, egal wie sie ist. Es ist für das Kind ganz klar: es ist
meine Mutter, es ist wirklich aus Liebe zur Mutter. Und wenn jemand ein
angekackstes Selbstwertgefühl hat, ist das wunderbar, so ein Kind um sich zu
haben und wenigstens von einem Menschen Bestätigung zu bekommen. Das
ist sicherlich eine große Gefahr für eine Symbiose, für ne ungesunde Symbiose.
Autorin
Damit ein Kind seelisch wachsen und über sich hinauswachsen kann, ist es
notwendig, sich von der symbiotischen Beziehung mit den Eltern zu lösen.
In der modernen Psychoanalyse wird dabei dem Vater eine bedeutsame Rolle
zugewiesen, denn er verkörpert für das Kind eine Person jenseits der Mutter. Der
Vater hilft dem Kind aus der frühen Symbiose mit der Mutter heraus, indem er für das
Kind das verheißungsvolle Vorbild einer Existenz ist, die von der Mutter unabhängig
ist. Gelingt dieser notwendige Ablösungsprozess, fühlt man sich als junger Mensch
irgendwann freier und selbstbestimmter, man lebt sein Leben und schaut nicht mehr
ständig zurück. Aber manchmal gelingt es offenbar nicht sich richtig loszulösen, betont
Dorothee Wienand-Kranz.
Take 6 (Wienand-Kranz)
0`49
(( Wenn jemand noch mit dreißig oder älter gegen seine Eltern oder seine
Mutter rebelliert und sie schuldig macht für irgendwelche falschen
Entscheidungen vor dreißig, zwanzig oder fünfzehn Jahren, das finde ich nicht
befreit. )) Da will man noch etwas von den Eltern, was eigentlich schon eigene
Aufgabe ist, es zu lösen. Das wäre eine Verklebung, in Abgrenzung und in Wut,
was in der Pubertät passiert. Wenn das ab 20 immer noch so ist und der
Mensch noch nicht sagen kann: so ist jetzt mein Leben und ich gestalte es jetzt
für mich, ist was nicht gelöst. Im anderen Fall genauso, also die Eltern zu
verherrlichen und nicht reflektiert auf das Leben geguckt zu haben.
5
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Musik 3.... (direkt dran, nach ca. 20 Sek. ausblenden)
0`21
Autorin
Wer als Erwachsener immer noch an einen Elternteil symbiotisch gebunden ist,
kann sein Leben nicht eigenständig gestalten. Es fällt einem dann schwer, aus
sich selbst heraus zu handeln und Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen.
Man neigt dann eher dazu, sich anzupassen, mit dem Strom zu schwimmen und
sich an dem zu orientieren, was andere vorgeben. Der Hirnforscher Gerald Hüther
meint:
Take 7 (Gerald Hüther)
Wenn man so sehr in Bindungen klebt, würde man einen gesunden
Menschen daran erkennen, dass der das Bedürfnis hat, auch mal raus zu
kommen. Wenn das jemand mal nicht mehr hat und immer noch in diesen
Verbindungen kleben bleibt und sogar darauf verzichtet, über sich hinaus
zu wachsen, daran kann man sogar krank werden.
Autorin
Die moderne Bindungsforschung hat gezeigt: besonders Menschen mit traumatischen
Kindheitserfahrungen können sich nur schwer von ihren Eltern
lösen und bleiben oft auf tragische Weise gebunden. Die Analytikerin Benigna Gerisch
erklärt, warum das so ist:
Take 8 (Benigna Gerisch)
0`42
Je schwerer traumatisiert, umso klebriger, symbiotischer und ungetrennter
bleibt man in seinem späteren Handeln und Wünschen und Wollen. Und je
sicherer gebunden, umso größer die Fähigkeit, Frustration, Trennung und
Kränkung zu ertragen. Das Dramatische und Tragische und Katastrophale
ist, dass diese Kinder eben auch gerade an sehr grausame Elternfiguren
gebunden bleiben und dass das nicht der Alltagslogik folgt nach dem Motto: sei
doch froh, dass du die Eltern los bist, dass sie verstorben sind oder dich
rausgeschmissen haben, die waren doch sowieso schrecklich.
Autorin
Das Gegenteil ist der Fall. Denn wenn das grundlegende Bedürfnis nach Schutz
und Sicherheit nicht erfüllt ist, richtet der Mensch seine gesamte psychische
Aktivität darauf aus, die ersehnte Nähe dennoch herzustellen. Anpassung
und Abhängigkeit sind die Folgen.
Der Begriff `Symbiose` wird heute in der Psychotherapie und Psychoanalyse
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kaum noch verwendet wird. Man spricht eher davon, dass ein Mensch Trennung
und Getrenntsein nicht ertragen kann und wie ein Kind mehr oder weniger existentiell
angewiesen bleibt auf einen anderen Menschen. Auch eine Partnerschaft wird unter
diesen Bedingungen eher symbiotisch erlebt:
Take 9
(Wienand-Kranz)
Man kennt ja dieses, dass man sich genauso jemand wie den Elternteil wählt
oder genau das Gegenteil, beides ist nicht frei. Da kann es passieren, dass die
Symbiose eher nicht gesehen wird dadurch, dass der eine stark wirkt und dem
anderen hilft. Da könnte man denken: der Starke ist ja frei und unab-hängig.
Wenn man genauer hinschaut, braucht der Starke, um sich stark zu fühlen, den
Schwachen. Das wäre eine symbiotische Geschichte, dieses einander
brauchen.
(Gerisch)
Patienten mit dieser Tendenz sich zu verstricken oder symbiotisch verklebt
zu bleiben, sind weder sie in der Lage, Trennungen zu ertragen über Zeit
und Raum und sie sind auch nicht in der Lage, im Zusammensein zu
akzeptieren, dass der Andere nicht gleich ist und vor allem nicht dazu da
ist, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, wie eine Mutter das tut.
Autorin
Grenzen aufzulösen und zu verschmelzen - bereiten so einem Menschen
mehr Angst als Vergnügen. Viele leiden irgendwann so sehr darunter, dass sie
therapeutische Hilfe aufsuchen beobachtet, die Psychologin Dorothee
Wienand-Kranz:
Take 10 (Wienand-Kranz)
0`38
Wichtig ist, dass ein Mensch das fühlt, dass er irgendwie noch gebunden
ist oder noch Fesseln um ihn rum sind. Was aus meiner Erfahrung, aus der
Gesprächspsychotherapie und der Körpertherapie für mich ein guter Weg ist,
die Person in ihrem Sosein zu versuchen zu verstehen und dabei zu helfen
auseinander zu dividieren, was sind die Werte meiner Eltern, wo traue ich mich
nicht, meine eigenen Gefühle wirklich anzugucken, aus Angst, es könnte sein,
dass ich auch wütend bin auf die Eltern, also sehr zu fokussieren auf die innere
Welt. (Stimme etwas oben)
Sprecherin
Es gehe nicht darum, noch einmal mit den eigenen Eltern abzurechnen, sondern
die verletzten Gefühle, die so lange zurückgehalten wurden, zu fühlen und zu
integrieren. Das ist innere Arbeit und die ist offenbar nötig, um ein gesundes
Maß von Nähe und Distanz, von Autonomie und Zugehörigkeit entwickeln zu können,
Gerald Hüther:
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Take 11 (Hüther)
Es scheint im menschlichen Leben so zu sein, dass wir ein inneres
Bedürfnis haben, immer wieder die Balance zwischen diesen beiden
Grundkräften herzustellen, dieser einen Grundkraft Geborgenheit,
Sicherheit und Verbundenheit und der anderen Grundkraft nach über
uns Hinauswachsen und Hinausgehen aus uns selbst.
Musik 4... (direkt dran, nach 8 Sek. unterlegen..... am Ende kurz hochziehen)
Zitator
“Liebt einander, doch macht die Liebe nicht zur Fessel. Schafft eher daraus ein
webendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen. Lasst Raum zwischen
eurem Beisammensein. Lasst Wind und Himmel tanzen zwischen euch. Gebt einander
eure Herzen, doch nicht in des anderen Verwahr. Steht beieinander,
doch nicht zu nahe... denn Eichbaum und Zypressen wachsen nicht im gegenseitigen
Schatten.”
(Khalil Gibran)
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