Barbara Leitner - Journalistin - Presse - Radio

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Hessischer Rundfunk
Redaktion: Christiane Knauf
Hörfunk - Bildungsprogramm
WISSENSWERT
WISSENsWERT
Bildung ist mehr als Wissen
Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff heute
Von Barbara Leitner
Sendung:
10.05.2003 (10:30 Uhr bis 11:00 Uhr, hr2)
Sprecherin:
Zitator:
Regie: Marlene Breuer
03 - 079
COPYRIGHT:
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Barbara Leitner - Journalistin - Presse - Radio - PR
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hr2- Wissenswert: Bildung ist mehr als Wissen (Teil 2)
Ich und Welt. Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff heute
Atmo 1: Lehrerin spricht – begrüßt zum Unterricht – sagt Thema –
Take 1- Evelyn
Von der ersten bis zur dritten Klasse hat mir die Schule überhaupt gar keinen Spaß
gemacht. Also, die Lehrer haben über ein Thema geredet. Dann war das fertig und
wenn man Fragen hatte, dann haben die dir die nicht beantwortet und die haben dir
auch nichts erklärt. Das Thema war abgeschlossen und da gab es keine weiteren
Fragen dazu.
Matthias
Mich nerven die Stunden, weil auch manchmal, wenn die Lehrer etwas erklären, mir
das ziemlich langweilig vorkommt.
Paul
Es ist mir manchmal echt zu viel, wenn ich da 80 Wörter lernen muss, nur so bei
Englisch, am nächsten Tag abgefragt. Das ist mir einfach zu viel Stress und unter
Stress kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht arbeiten. Und in der Schule gibt es nun
mal Stress. Z.B. der Notendrang, dass man nicht sitzen bleibt, dass man in den
Realschulkurs kommt, dass man die Schule auch abschließt, so was.
Atmo 1: Lehrerin spricht – begrüßt zum Unterricht – sagt Thema
Take 2- Band: Tenorth
Tatsächlich gibt es einen bestimmten Stil des Unterrichtens, eine Form, in der man
Unterweisung organisiert und Lernprozesse strukturiert, der kulturell spezifisch ist.
Sprecherin:
Heinz-Elmar Tenorth ist Erziehungswissenschaftler und Vizepräsident der Berliner
Humboldt-Universität.
Take 3- Band: Tenorth
Die Schulforscher sprechen auch von einem kulturellen Skript, sozusagen, einer
Regieanweisung, die im Kopf der Lehrer steckt und dann dominiert eben der
Frontalunterricht. Dann dominieren Aufgaben, die wenig Problemlösefähigkeit
anreizen. Dann dominieren bestimmte Formen der Lernorganisation, der
Strukturierung, der Beteilung der Lernenden selbst, die eher traditionell sind und
konservativ schematisch werden, die Eigenaktivität nicht anregen. Das ist ja in
manchem auch einfacher, wenn man so seinen Stiefel abziehen kann. Insofern ist das
schon eine bestimmte Form des Lehrerhabitus, die schwierig ist, ein bestimmter Stil,
der sich an deutschen Schulen traditionell breit macht.
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Sprecherin:
Es scheinen alte Bilder zu sein, die Lehrer - ausgebildet als Fachwissenschaftler abrufen: Man steht vorn und hält die Fäden in der Hand. Marionettengleich sollen sich
die Schüler in deren Rhythmus bewegen: auf die Fragen antworten; den gehörten Stoff
nachbeten; ihn Häppchenweise in Tests Rapportieren und ein Leben lang behalten.
Das ist eine Idee von Unterricht, die heute nicht mehr trägt, sagt Mascha
Kleinschmidt-Bräutigam, die Lehrerinnen und Lehrer forbildet.
Take 4- Band: Kleinschmidt- Bräutigam
Es ist eben so, wenn wir heute in den Beruf gehen, dass wir uns auf unendlich viele
Situationen flexibeln einstellen müssen und immer das Gelernte, das Wissen, neu
einordnen, fokussieren, neu akzentuieren, zusammentragen müssen. Was uns
Schwierigkeiten macht ist, dass Schule ein Lernen produziert, das ganz offensichtlich
in Schule sich selbst genügt
Sprecherin:
Denn noch immer wird Schule – gewiss auch unbewusst – von einem statischen
Modell der Bevorratung von Wissen bestimmt. Bei der Bruchrechnung wird eine
Aufgabe nach der anderen nach ein- und demselben Schema geübt. Dennoch gelingt
es Schülern nicht, dahinter das Prinzip der Teilbarkeit der Welt zu entdecken. Das
Thema ist bereits abgehakt, ehe das Prinzip verstanden wurde. Wissen aber kann
man nicht wie Obst für den Winter einwecken: Die Früchte passgerecht in Gläsern
ablegen und nach Bedarf öffnen. Wissen ist träge. Es muss immer wieder
umgeschichtet und ergänzt werden. Das gleicht eher der Zubereitung eines
Rumtopfes als dem Einwecken: Mit Lust werden immer neue Früchte geerntet und
dem Kompott beigemischt, schon mal gekostet und serviert, mit weiteren Früchten
verfeinert, erneut verrührt...
Zitator Humboldt:
“Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der Fähigkeiten, und die Erwerbung
der Kenntnisse ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich
ist... Der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles
eigene Schaffen immer anschließen muss, theils jetzt wirklich zu sammeln, theils
künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellectuell-mechanischen Kräfte
auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit
dem Lernen des Lernens beschäftigt. ..
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Sprecherin:
Schreibt Wilhelm von Humboldt 1809 in seinem “Königsberger und litauischen
Schulplan”. Darin begründet er den klassischen Bildungsbegriff wie er gegenwärtig
Aktualität erlangt.
In der Zeit der Aufklärung und dem sogenannten “pädagogischen Jahrhundert” wendet
er sich der Frage zu, wie die nächste Generation in die Gesellschaft hineinwachsen
soll, was sie an Wissen und Fähigkeiten brauchen wird.
Take 5: Lohmann
Der Humboldtsche Bildungsbegriff ist damals nicht zu trennen von einer
Aufbruchstimmung.
Sprecherin:
Erklärt Ingrid Lohmann. Sie ist Professorin für Erziehungsgeschichte an der Universität
Hamburg.
In Frankreich hatte die bürgerliche Revolution gesiegt, der Adel abgedankt, eine
bürgerliche Demokratie war im Entstehen. In den deutschen Ländern formulierten die
aufstrebenden Schichten ihren Anspruch auf umfassende Bildung. Bis dahin lernten
Schüler an der Volkschule etwas Lesen und Schreiben und vor allem die Bibel kennen,
die Gymnasiasten mussten vor allem Latein pauken.
Take 6: Lohmann
Das Ganze machte also einen relativ unnützen Eindruck für ein Bürgertum was
bestrebt war im 18. Jahrhundert in der Aufklärungsbewegung generell in den
verschiedensten europäischen Ländern sich ökonomisch zu emanzipieren und aus
dem ideologischen Zusammenhang der Feudalgesellschaft herauszutreten und zu
neuen Ufern aufzubrechen.
Sprecherin:
Dabei ging es auch um Einflussnahme auf die politische Umgestaltung. Bisher hatten
die dank ihrer Herkunft mächtigen Adligen den gesellschaftlichen Lauf bestimmt.
Dagegen legten die Bürgerlichen nun ein anderes Gewicht in die Wagschale: Bildung.
In Frankreich war gerade die Enzyklopädie von D’Alembert und Diderot erschienen,
die das Wissen der Menschheit erfasste. Gleichzeitig beschrieb Rousseau, wie gut
gebildete, selbstbewusste Bürger mit gleichen Rechten einen sozialen Staat
begründeten. Bildung wurde damit erstmals gesellschaftspolitisch relevant -und daran
knüpfte Humboldt an:
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Take 7: Lohmann
Humboldt hat eigentlich im Sinn eine Revolutionierung der ökonomischen Verhältnisse
der feudalen Gesellschaft über die politische Sphäre. Das heißt, das Zentrale bei ihm
ist eigentlich, im Unterricht die künftigen Erwachsenen, also die Absolventen des
allgemeinen öffentlichen Bildungssystems in die Lage zu versetzen, sich aktiv an der
neu zu gestaltenden politischen Sphäre zu beteiligen, d.h. überall dort wo sie agieren
als Bürger im Sinne von Bourgois gleichzeitig auch als Citoyens zu agieren, die die
Gesellschaft von der politischen Seite her umstrukturieren. Und dabei enthält der
Bourgeois eigentlich die Komponente des bürgerlich nützlichen Erwerbstätigen, über
sein Vermögen frei verfügenden Individuums - man hatte ja schon das Beispiel der
industriellen Revolution in England vor Augen -, also der Bürger, der in der Lage ist
dieses alles subjektiv in sich aufzunehmen und auf eine neue Weise – und dafür
braucht er auch eine neue Gesellschaft - umzusetzen in ökonomisch nützliche
Tätigkeit. Und der Citoyen auf der anderen Seite ist die Komponente des Bürgers, der
sich darüber im klaren ist, dass wenn er mit seiner wirtschaftenden Tätigkeit
sozusagen egoistisch voranschreitet ohne links und rechts zu gucken und auf die
sozialen Folgen zu blicken, dass das unter Umständen den ökonomischen neuen
Zusammenhang den er haben will sprengen kann D.h. er muss auf der anderen
Seiten sich mit den anderen Wirtschaftsbürgern zusammentun und Regularien treffen,
die dafür Sorge tragen, dass die bürgerliche Gesellschaft funktioniert, dass sie auch
einen sozialen Zusammenhalt hat, dass ein rechtlicher Rahmen geschaffen wird, in
dem man agiert und der auch verbindlich gemacht wird und dass die eigentlich auch
die sozialen Folgen des bürgerlichen, kapitalistischen Wirtschaftens nicht den
Rahmen sprengen, sondern dass man sozusagen Gemeinsinn und den Blick aufs
Gemeinwohl nicht aus den Augen verliert, sondern beides miteinander in Beziehung
setzt.
Sprecherin:
Um diesen wissenden und politisch mitverantwortlichen Bürger zu erziehen, entwarf
Wilhelm von Humboldt im Rahmen der Reformen von Stein und Hardenberg seine
Idee von einem gut durchdachten und aufeinander aufbauenden Erziehungs- und
Schulwesen – vom Elementarunterricht bis zur Universität.
Take 8: Lohmann
Das Neue bei Humboldt und anderen bildungstheoretischen Denkern der Zeit war
eigentlich, dass man sich Gedanken darüber gemacht hat, wie kann man diese Fülle
von objektiv vorhandenen Kenntnissen und Wissensbeständen subjektiveren, also
individuelle aneigbar machen und damit dem auch Rechnung tragen, dass diese
Wissensbestände dynamisch sein müssen. Sie sollen flexibel anwendbar sein. Es soll
nicht eine eins zu eins Abbildung von irgendwo vorgearbeiteten Wissens-beständen
sein, sondern es muss ja gerade, weil eine neue Gesellschaft geschaffen werden soll,
auch eine neue Ökonomie, eine neue politische Struktur, muss es so übermittelt
werden, dass der einzelne in der Lage ist, Neues damit zu schaffen, flexibel damit
umzugehen, weiter zu lernen usw .
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Sprecherin:
Für Humboldt waren Einsichten immer nur die Grundlage, um zu weiteren
Erkenntnissen zu gelangen, sein Wissen neu zu erfinden, es zu verändern und so sein
eigenes Weltbild zu konstruieren. In seiner Bildungsauffassung verknüpfen sich stets
die erkennende und die lernende Tätigkeit. Sprache ist dabei das vermittelnde
Medium:
Take 9: Lohmann
Sprache wird sozusagen als ein System aufgefasst damals, das die objektiv
vorhanden Wissensbestände subjektiv organisierbar macht oder wenn man es so will,
dass Individuum soll in die Lage versetzt werden, sein Wissen auf den Begriff zu
bringen, und auf den Begriff zu bringen heißt eben nicht nur schlichtweg
reproduzieren, was der Lehrer oder der Pfarrer oder sonstwer einem vorgesetzt hat,
sondern es in die eigenen Zusammenhänge neu einzubringen, also selber praktisch
Subjekt des angeeigneten Wissens zu sein und nicht nur Träger von weiter zu
tragenden Wissensbeständen, mit denen man aber selber nichts macht, als sie
rezepthaft anzuwenden.
Sprecherin:
Beispielsweise ist in der Schule von Bäumen die Rede. Ein Kind denkt an den
Apfelbaum im Garten, ein anderes an die Fichte, die zu Weihnachten geschmückt
wird, das nächste an die Pinien in Italien. Alle drei können Gemeinsamkeiten erkennen
und darüber reden; z.B. dass ein Baum Wurzeln, Stamm und Äste hat. Doch zugleich
geht ihre Neugier ganz verschiedene Wege und sind sie in der Lage unzählige viele
neue Verknüpfungen mit dem Wort Baum herzustellen. Und genau darauf kam es
Humboldt mit seiner klassischen Bildungsauffassung an: Die Schüler sollen sich nicht
mit vorgeprägten Meinungen über die Welt zufrieden geben und nur eine begrenzte
Vorstellung von einzelnen Begriffen gewinnen. Vielmehr sollten sie angeregt werden,
selbsttätig zu eigenen Einsichten hinter einem Begriff zu gelangen, entsprechend
ihrem erweiterten Wissen zu handeln und selbständig sich weiter Wissen anzueignen.
Doch das verlangte eine besondere Qualität von Schule.
Humboldt spricht im Königsberger und Litauischen Schulplan von der notwendigen
Einheit des Unterrichts ...
Zitator Humboldt:
... der in der Wahl der Lehrgegenstände, in der Methode und der Behandlung der
Schüler von dem Augenblick an, wo das Kind die ersten Elemente gefasst hat, bis zu
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der Zeit wo der Schulunterricht aufhört in einen ununterbrochenen Zusammenhang
stehen muss...
Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht, so wird er durch
den Schulunterricht entbehrlich. Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr
Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der
Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.
Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei anderen gelernt hat, dass er nun für sich selbst
zu lernen im Stande ist.
Take 10: Tenorth
Das ist aktuell, wenn man beschreiben will, was Schule tun kann in einer Gesellschaft,
in der das Wissen sich rasch verändert, in der es nicht mehr darum gehen kann, nur
Kenntnisse zu erwerben, in der man nicht in festen Techniken sich eingewöhnen
muss, dann lernte man nicht nur Wissen, wird man nicht nur abgerichtet und füllt man
nicht was ein, sondern da lernt man das Lernen selbst und die Fähigkeit, mit
Problemen kognitiv umzugehen und die Problemlösungen im Modus des Lernens zu
machen. Das ist Humboldt, ein ganz klassischer Humboldttext, kann man so zitieren
und niemand weiß, dass er nicht von der UNESCO ist, sondern 200 Jahre alt.
Sprecherin:
Sagt Heinz-Elmar Tenorth von der Berliner Humboldt-Universität. Humboldts Idee
erlebt heute eine Renaissance in internationalen bildungspolitischen Dokumenten. Da
wirkt es geradezu verstörend, dass in Deutschland sein Ansatz in Vergessenheit zu
geraten droht. Mascha Kleinschmidt-Bräutigam, die in der Lehrerfortbildung arbeitet,
meint:
Take 11 - Band: Kleinschmidt- Bräutigam
Die Ergebnisse von PISA und TIMMS haben uns allesamt mit der Nase drauf gestutzt,
dass das Lernen bei uns an der Schule offensichtlich, zu wenig nachhaltig ist, d.h. zu
wenig langandauernd und zu wenig transferierbares Können ist, auf fremde, neue
andere Situationen übertragbares Wissen. Ein ganz simples Beispiel. Die Lehrerin
stellt fest, dass Kinder ein ganz bestimmtes Rechtschreibeproblem haben. Sie entwirft
dazu ein Trainingsprogramm, eine Unterrichtseinheit. Sie macht einen Test bevor sie
diese Lernsequenzen angeht und sie macht einen Test nach diesen Lernsequenzen
und sie kann in der Regel zufrieden sein, weil der Lernzuwachs ist evident. Das
Problem ist nur, ob das auch noch trägt, wenn das Kind ein halbes Jahr oder vier
Wochen später einen Text schreibt und ein Wort vorkommt, mit diesem
Rechtschreibphänomen, ob es dann immer noch weiß, wie es das Wort schreiben
muss. Und da haben wir inzwischen begründete Zweifel, ob das, was in der Schule
gelernt wird, so trägt, wenn es in andere Zusammenhänge gebracht wird, wenn es in
neuen Situationen abgefordert wird. Wir vermitteln zu viel Wissen, was statisch ist und
zu wenig Können. Der Begriff Kompetenzen, der jetzt überall Einzug hält, der steht
dafür, das wir dafür Sorge tragen müssen, dass Kinder etwas lernen, was in Zukunft
auch immer noch abfragbar, realisierbar, umsetzbar, zum Tun geeignet ist.
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Sprecherin:
Nicht eingepauktes Faktenwissen, sondern Kompetenzen, so sind sich die
Bildungsexperten einig, sind der Schlüssel, um den Anforderungen des 21.
Jahrhunderts gerecht zu werden.
Bereits heute geht man davon aus, dass sich 70 bis 80 Prozent des wirtschaftlichen
Wachstums auf neues oder erweitertes Wissen zurückführen lässt. Wissen wird
immer mehr zur entscheidenden Ressource der Zukunft.
Gleichzeitig explodiert unser Wissen förmlich. In den Bibliotheken werden täglich
Tausend neue Titel mit bisher unbekannten Wissen der Menschheit zugänglich
gemacht. Im Internet verdoppelt sich alle drei Monate der wissenschaftliche Teil der
Informationen. Und so wie mit der Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhundert
bisherige Vorstellungen von den Atomen und deren Bewegungen umgeschrieben
wurden, sind die Wissenschaftler gegenwärtig dabei, die Geschichte der Gene und
unseres Lebens neu zu schreiben.
Zugleich nimmt unser Nicht-Wissen über die Zukunft weiter zu. Was soll und kann
Schule angesichts dieser Wissensflut vermitteln? Heinz-Elmar Tenorth:
Take 12 - Tenorth
Die Schule hat nicht die Funktion, das Wissen der Gesellschaft abzubilden, sondern
die Schule hat immer die Funktion, wahlfähig zu werden, den Umgang mit dem Wissen
zu kultivieren, Distanz zu erzeugen, die Methode der Bewertung von Information, von
Problemen zu lehren. Schule ist Kultivierung des Lernens, nicht voll stopfen mit
Wissen und dann war die Schule immer sehr lernfähig. Themen hat sie immer
aufgenommen.
Lütgert
Ich denke, die heute wichtige Frage ist, welche Hilfe kann Schule Kindern und
Jugendliche geben, die komplizierte und komplexe Welt, die auf sie einstürzt, besser
zu verstehen...
Sprecherin:
Unterstreicht der Erziehungswissenschaftler Will Lütgert von der Universität Jena.
Take 13: Lütgert
... und gibt sie ihnen Hilfsmittel, ich würde sogar sagen, Werkzeuge in die Hand, zu
einem solchen besseren Verständnis.
Tenorth
In diesem Feld muss der Lehrer, die Lehrerin diejenige werden, der Themen attraktiv
macht, die zu Problemen hinführt, die zeigt, wie man sie kognitiv löst, wie man sie
fachlich strukturiert, systematisch bearbeitet, die Fähigkeit erwirbt, nachfolgende
Probleme selbständig neu zu strukturieren, also auch das Wissen selbständig
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anzuwenden, den Transfer zu leisten, das muss der Lehrer, muss die Lehrerin, muss
den Lernprozess in Schulen organisieren und das tut er nicht genug.
Sprecherin:
Die Schüler sollen lernen, sich selbst Aufgaben zu stellen und sich Wissen
anzueignen; sie sollen verschiedene Methoden kennen, mit denen man sich dem Ziel
nähern kann, und wissen, wie man das Ergebnis präsentiert; sie sollen mit dem
Internet ebenso souverän umgehen können wie mit Büchern, Zeitungen und dem
Angebot des Fernsehens; sie sollen Informationen bewerten können und sie sollen in
der Lage sein, sich neue Horizonte zu erschließen, sich mit anderen auszutauschen,
gemeinsam auch Durststrecken zu überwinden und immer wieder neugierig zu
bleiben. Das alles verlangt allerdings eine andere Art von Unterricht.
Take 14: Lütgert
Ich will das deutlich machen am Beispiel eines Englischunterrichts. Ich habe Unterricht
erlebt, das war klassisches Fremdsprachenpauken, Vokabeltraining,
Grammatiklernen und entsprechende Texte lesen übersetzen und interpretieren. Dann
ist eine Lehrerin gekommen, die einen sehr viel stärker kommunikations-orientierten
Unterricht eingeführt hat und gewissermaßen Sprache vermittelt hat als ein Medium,
das hilft, bestimmte Welten, die Schülern und Schülerinnen bisher verschlossen
waren, einfach aufzuschließen. Sie hat das dann ganz einfach gemacht, in dem sie mit
ihnen z.B. Fernsehsendungen der BBC angesehen hat, die für die Schüler zunächst
einmal sprachlich so kompliziert waren, dass sie das gar nicht aufschließen konnten.
Und das Ziel war, diese Sendungen zu verstehen, mit den Inhalten, die den Schülern
auch verständlich waren, allerdings gar nichts, was im Lehrplan eigentlich vorkam. Für
die Schüler war es wichtig, wir wollen das verstehen. Wir wollen mitbekommen, was da
über die Welt vermittelt wird, so dass da ein Lernen stattgefunden hat, das zunächst
einmal das Verstehen von Fernseh-sendungen ermöglicht hat. Darüber sind dann
Bedürfnisse entstanden, mit anderen zu kommunizieren. Und dann haben sich
Kommunikationssituationen mit dänischen Klassen ergeben, so dass man denen
geschrieben hat, dass man zu denen hingefahren ist. All diese Formen von
Erfahrungen haben auf einmal deutlich gemacht: Wenn wir über diese Sprache
verfügen, dann können wir etwas: Dann verfügen wir über Werkzeuge, über die wir
bisher nicht verfügt haben. Damit hat man auch Schülerinnen und Schüler interessiert,
die nicht auf einem gymnasialen Bildungsgang waren.
Sprecherin:
In solch einem Unterricht erhalten die Schüler Gestaltungskompetenz. Bildung wird als
die Fähigkeit verstanden, nach vorne zu denken und zukünftige Entwicklungen aktiv
zu gestalten.
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Take 15: Metzner
Das kann man auch an verschiedenen Themen machen. Aber ich halte es für ein ganz
wichtiges Thema, dass sie sich mit dieser Globalisierung und den Folgen der
Begrenztheit der Ressourcen auseinandersetzen. Ich denke, sie müssen sich mit der
Zukunft des Arbeitsmarktes auseinandersetzen, mit der Zukunft der Mobilität, mit der
interkulturellen Gesellschaft und deren Möglichkeiten und Probleme. Das sind
Themen, die unbedingt in der Schule behandelt werden müssen ...
Sprecherin:
Meint Hilla Metzner, Lehrerin und Projektleiterin im “Projekt 21” der
Bund-Länder-Kommission. Vor vier Jahren initiierte diese Kommission ein Modell, um
neue Bildungsziele und –inhalte zu beschreiben, neue Lernformen zu entwickeln, zu
erproben und in die schulische Praxis zu überführen. Bundesweit beteiligen sich 180
Schulen an dem Programm. Dort ist man sich heute einig, dass Bildung für eine
nachhaltige Entwicklung vor allem fächerübergreifendes Lernen und aktive Teilnahme
in innovativen Strukturen verlangt.
Take 16: Metzner
Wir möchten, dass Bildung etwas ist, wo man sich Kompetenzen selbständig aneignet
und dazu gehört auch ein gegenseitiges Prozess von Lehrende und Lernenden, die
solche Rahmenbedingungen schaffen, dass sich junge Menschen als Erfahrende aber
auch als Gestaltende empfinden und erfahren und nicht nur ein Fach sehen, sondern
auch zwischen den Fächern Gemeinsamkeiten entdecken, lebenszugewandt, d.h.
Gesetzmäßigkeit auch dort entdecken, die sie wirklich in ihrem Leben anwenden
könne und möglichst auch schon in der Schule dazu Möglichkeiten bekommen durch
Partizipation, durch Öffnung der Schule, durch Kooperation mit anderen Gruppen,
keineswegs nur mit der Wirtschaft, sondern mit NGOs mit anderen Gruppen, sich in
der Gesellschaft sich schon als Handelnde auszuprobieren.
Sprecherin:
Wenn Schüler im Unterricht reale Probleme ihres Alltags oder ihrer Kommune lösen
oder zum Beispiel in Schülerfirmen tätig sind, werden sie befähigt, sich flexibel in einer
offenen, unsicheren Welt zu bewegen. Zukunft kann man nicht wirklich wissen. Will
Schule dem Rechnung tragen, braucht sie keine starren Lehrpläne, sondern allenfalls
national verbindliche Bildungsstandards.
Take 17: Metzner
Man kann z.b. sagen in der siebenten Klasse können Schüler der Lage sein, bestimme
Fachbegriffe zu sortieren oder zu zweit eine Aufgabe zu lösen oder bestimme Inhalte
von Texten wiederzugeben oder selbständig zu arbeiten. In der achten oder neunten
Klasse kann sich das ausweiten auch auf eine Teamkompetenz, da müssen die
Schüler in der Lage sein, zu dritt oder zu viert zusammen ein kleines Thema
selbständig anzueignen oder einen Text zusammen zu erarbeiten und den anderen
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vorzustellen. Und es gehört eben nicht nur das traditionelle Wissen dazu, sondern er
muss auch mit dem Wissen arbeiten könne, darüber verfügen können, es
zusammenfügen können, mit anderen darüber kommunizieren können, es zur
Diskussion stellen, mit anderen in Frage stellen und auch überlegen, was mache ich
mit dem Wissen, wie handele ich.
Atmo 2: Schule
Sprecherin:
Wilhelm von Humboldt entwickelte seine Bildungsidee in einer Krisenzeit. Die
französische Nationalarmee hatte die preußischen Heere restlos zerschlagen. Grund
dafür war nicht nur deren militärische Schwäche. Die Soldaten waren auch rechtlose,
ungebildete und unmotivierte Untertanen, die von den in Frankreich verkündeten
Bürger- und Menschenrechten nicht mal zu träumen wagten. So galt die Niederlage
des preußischen Heeres zugleich als eine Niederlage des ganzen Systems. Bürger,
Intellektuelle und Staatsbeamte wie Humboldt drängten auf die politisch-kulturelle
Neugestaltung der gesamten Gesellschaft, einschließlich des Bildungswesens.
Zitator Humboldt:
Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, jeder überhaupt
eine vollständige, nur da, wo sie noch zu weiterer Entwicklung fortschreiten könnte...
keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmählichen Entwicklung selbst
suchen, die meisten endlich hätten, auch indem sie die Schule verliessen, noch einen
Übergang vom blossen Unterricht zu der Ausführung in den SpecialAnstalten..
Take 18 -: Tenorth
Fasse dein Leben als Lernprozess auf und gehe mit Problemen kognitiv um und nicht
mit Gewalt. Das ist die Grundidee, die in dem Bildungsbegriff steckt und das ist höchst
erfolgreich. Vereinfacht gesagt, wir alle haben in der Schule gelernt und haben das
verinnerlicht durch die Mechanismen unserer Kultur, dass wir unseren Lebenslauf als
einen Lernprozess interpretieren. Wir sind lernende Wesen durch 200 Jahre
Bildungsgeschichte geworden, so selbstverständlich, dass wir uns gar nichts anderes
mehr denken können.
Zitator Humboldt:
Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände
nach der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu
bestimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er am meisten und
bestens auf das Gemüth zurückwirkt, so muss eine ziemliche Gleichheit
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herauskommen. Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem
Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten”
Take 19 Tenorth
Man muss sich das überlegen. Preußen hatte 1806 im Grunde sein gesamtes
Territorium verloren und die saßen da in Ostpreußen um Königsberg herum und der
Rest war weg. Brandenburg und Sachsen und die linksrheinischen Gebiete,
Westfalen, alles war weg. Da war Bildung solch ein Medium. Eine solche kollektive
Situation haben wir auch. Ich würde Bedingungen von Arbeitslosigkeit, solche
Indikatoren von Strukturkrisen, die wir haben, ins Feld führen und sagen, dass da nur
eine ganz andere, intensivere Anstrengung in Bildung ein Weg sein kann. Das ist nicht
der einzige, man muss auch bei der Arbeitsmarktpolitik was machen. Es geht nicht
alles über das Lernen.
Sprecherin:
Dazu braucht Schule dringend mehr öffentlicher Unterstützung und Wertschätzung,
mehr Gestaltungsspielraum für eigene Ideen und eine enge Zusammenarbeit mit
Eltern, Kommunen und Unternehmen. Die Schüler warten nur darauf.
Take 20: Schüler
- Wenn ich Direktor wäre, ich würde meine Schule ganz ummodeln. Versuchen soviel
wie möglich Projektwochen machen an meiner Schule, Projekte, die Themen total
aufarbeiten, neu darstellen, dass man ein Video drüber dreht, eine Kassette aufnimmt
oder eine schöne Leinwand gestaltet – in den Projekten dann.
- Wenn ich jetzt die Schule der Zukunft bauen würde, da würde ich erst mal den
Schülern auch mehr Freiheit bieten, dass sie nicht nur was von dem Lehrer in den Kopf
geklopft kriegen, sondern ich würde ihnen auch die Möglichkeit geben, selbständig zu
arbeiten und ihre Meinung dazu zu äußern.
- Wenn so ein Klima herrscht, wenn Schulen auch die Möglichkeit haben, selbst neue
Konzepte zu entwickeln und auszuprobieren, wenn möglichst viel Gestaltungskraft an
Schule selbst wieder möglich ist, dann kann Lernen so funktionieren, dass Schüler und
Lehrer etwas davon haben und nicht frustriert aus Stunden gehen, sondern mit einem
guten Gefühl.
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