Aus den Fugen geraten Transzendenzverweise in Bachs Wohltemperiertem Klavier Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ich nicht will und was ich auch gar nicht kann, sind fachmusikalische Ausführungen zu einzelnen Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach. Ich bin Pfarrer und Musik bedeutet mir sehr viel. Ich habe selbst Kompositionslehre studiert, aber ich bin eben nicht Musiker, sondern Pfarrer geworden. Ich halte diese Vorbemerkung für wichtig, gewissermaßen als kritische Selbstbeschränkung. Daher also keine „fachmusikalischen Analysen“. Auch werde ich mich nicht an den Spekulationen einer vermuteten Zahlenmystik bei dem Thomaskantor beteiligen. Gehört habe ich zudem davon, dass die Unterscheidung Dur- / mollTonalität in den Zeiten Bachs ganz anders empfunden wurde als heute. Doch wie gesagt: ich bin kein Musikwissenschaftler und ich höre diese Musik mit meinen Ohren, das ist alles. Schließlich ist wohl auch immer wieder trefflich darüber gestritten worden, ob man dieses Werk überhaupt auf einem Klavier, noch dazu auf einem Flügel, spielen darf – an dieser Debatte beteilige ich mich nicht. Ich habe Herrn Professor Leslie – dem ich für diesen Abend sehr herzlich danke – gebeten dieses Konzert hier in der Kirche mit zu gestalten, weil mich diese Musik bewegt, sogar sehr bewegt. Bachs kontrapunktische Schöpfungen, seien sie aus dem Wohltemperierten Klavier, der Kunst der Fuge oder dem musikalischen Opfer, den großen Orgelwerken, um es auf die Instrumentalmusik zu begrenzten, haben mich ergriffen. Dabei will ich mich heute Abend auf drei Präludien und Fugen beschränken: cis-moll und h-moll aus dem 1. Band und b-moll aus dem 2. Band. Zunächst zu Präludium und Fuge in cis-moll: Bereits das Präludium ist etwas Besonderes. Man könnte meinen eine sich weit entfaltende, klagende Holzbläsermelodie aus den Passionen zu hören. Ist es Klage, ist es Trost? Fast scheint der Rahmen für ihre Entfaltung zu eng, als strebe sie hinaus über das, was mit hörbaren Tönen entfaltet werden kann. In melancholischer Schönheit fließt sie dahin und wenn ihr Ende naht, wendet Bach sie dreimal – „fragender Schluss“, so habe ich gelesen. (Hörbeispiel: Präl. cismoll, ab ca. T. 30). 2 In „absichtsvollem Halbdunkel“ setzt die fünfstimmige Fuge ein. Das erste der drei Themen ist die berühmte Figur, die auch als Kreuz gedeutet wurde und die eben den Initialen des Komponisten entspricht: b, a, c, h. Schumann hat ihnen eine großartige Orgelfuge gewidmet, die ich vorausgreifend hier erwähne, weil sie ebenfalls ein unerwartetes Ende nimmt. Die ruhige, fast statische Bewegung ermöglichst nahezu gläserne Durchsichtigkeit, zumal durch den Klang des Klaviers. Jedenfalls ist alles zu hören – und das Ergreifende ist die Schönheit, die uns in der Ehrlichkeit dieser Transparenz erreicht. Fließend löst sich aus dem entfalteten Aufbau dieses ersten Themas das zweite, das in seiner ausgedehnten Bewegung an das Präludium erinnert. Das markige, knappe dritte Thema lässt nicht lange auf sich warten. (Hörbeispiel: die drei Themen der cis-moll Fuge). Und in der genialen Kombination dieser drei Themen ereignet sich im folgenden vor allem eines: Steigerung, Verdichtung, Konzentration, Aufbau von Spannung bis an die Grenze des Vorstellbaren. Diese dramatische Verdichtung verleiht der cis-moll Fuge einen herausgehobenen Platz in dem unmessbaren absolut-musikalischen Reichtum der Schaffens Bachs. Auf dem äußersten Steigerungsgrad verschwindet die Musik wie in „einem dunklen Tor“, schrieb einst Adorno. „Die letzte Frage, die die Antwort ist, öffnet sich der Musik: das leise, archaische Dur des Endakkordes.“ In ihrer höchsten Vollendung gerät die Musik selbst gewissermaßen aus den Fugen. Von dem „leibhaften Zugriff der Wahrheit in das Kunstwerk“ ist in diesem Zusammenhang geredet worden. Doch wie kann in Worte gefasst werden, was hier geschieht? Zurück: „Transzendenzverweise“, so unser Untertitel. Gewiss, Bach war ein gebildeter und wohl auch ein überzeugter, also frommer Lutheraner. Religion und Musik war ihm noch ungeschieden. Doch vermag ich nicht direkte Bezüge zu benennen, ich will es auch gar nicht. Ergriffen hat sie mich doch, diese cis-moll Fuge. Gibt es da nicht „Entsprachen“, „Verwandtschaften“ zu Erfahrungen wenigstens mit dem „Erhabenen“?, um mit Rudolf Otto zu fragen. Und wenn ich schon bei Rudolf Otto bin: religiöse Gefühle dürften solchen Gefühlen des Erhabenen vorausliegen. Daher könnte mit der cis-moll Fuge etwas zum Klingen und Schwingen kommen, was wir mit dem Heiligen verbinden können. Vielfältig sind dabei mögliche Bezüge: die Dramatik der Steigerung, die Verdichtung, die eigentlich nicht aufgelöst wird, sondern verschwindet, sich abwendet – oder: es dabei belässt, im Verklingen ihren Frieden findet. Das 3 Gegeneinander der drei Themen kann auch als Widerspruch gedeutet werden. Ein Widerspruch, der sich steigert bis hin zur Antinomie, die selbst keiner Auflösung fähig ist – einer Auflösung vielleicht auch gar nicht bedarf: das zugleich des Bedeutenden, das gut so ist. Präludium und Fuge in h-moll hat Bach ebenso bewusst an den Schluss seines ersten Bandes des Wohltemperierten Klaviers gesetzt, wie das berühmte C-Dur Präludium an den Anfang. 1722 war ein zweiter Band, der dann 1744 erschien, noch nicht geplant. Äußerlich ist dieser Abschluss bereits durch die Tempovorschriften herausgehoben. Doch auch der zeitliche Umfang, das harmonische und melodische Material weisen diesem Werk eine Sonderstellung zu, die diese Komposition denen ebenfalls in h-moll stehenden großen Orgelpräludium und Fuge sowie der 1. Fuge des Kyries in der h-moll Messe ebenbürtig erscheinen lassen. Auf die Entsprechung zu Letzterem komme ich noch mal zurück. Auch hier nimmt das Präludium eine Sonderstellung ein: der in ruhigen Auf- und Abwärtsbewegungen fließende Bass beteiligt sich im Unterschied etwa zu Kompositionen von Corelli an der thematischen Arbeit. Über ihm ziehen die beiden Oberstimmen in dichter Imitation dahin. Vor allem im zweiten zu wiederholenden Teil beeindruckt die Weite der Linie. Nachdem wenige Takte nach Beginn dieses zweiten Teiles das diatonische Zwischenthema der Fuge zitiert wird, entfernt sich diese Linie bis hin zu dem leuchtenden Ausruf des „b’s“ im Sopran, kehrt zurück zum warmen h-moll, um sich langsam aufschwingend immer weiter von ihm zu entfernen, bis hin zu jenen drei Achteln des Soprans: c, h, ais. Der Abspann mündet in eine Coda, die auf geniale Weise das Tor öffnet zu dem Wunderbau der chromatischen Fuge: das mehrmals gewendete Ende wird vom chromatisch steigenden Bass sozusagen erzwungen. (Hörbeispiel: Präl. hmoll, ca. ab T. 41). Das Hauptthema der Fuge ist verwandt mit dem bereits erwähnten Thema der 1. Kyriefuge der großen Messe in h-moll. Während jedoch dort das Motiv aufsteigend drängt, erleben wir diese Figur in unserer Fuge asketischer, strenger – jemand hat gesagt: wie ein Seufzermotiv. (Vergleichendes Hörbeispiel a) Thema „Kyrie I“ h-moll Messe, b) Thema h-moll Fuge) Dieses Thema ist von mehreren „Trabanten“ umgeben: der Kontrapunkt, dessen Viertel in rücksichtsloser Härte scharfe Dissonanzen erklingen lässt; ein merkwürdig gebrochenes 4 Überleitungsmotiv, das auch in der Umkehrung verwendet wird und jenes diatonische Zwischenspiel, ein Zitat aus der italienischen Musik, das wir bereits im zweiten Teil des Präludiums hörten, und das in der Fuge wie eine „Insel der Seligen“ – oder sollten wir sagen „der Erlösten“? – wirkt. (Hörbeispiele h-moll Fuge: ab T. 4 beide Stimmen, T. 4 Sopran, Takt 17 Sopran auf 3.) „Langsam seufzend“, so habe ich gelesen, „zieht diese Fuge mit herben, ja schmerzverzerrten Zügen auf endlos scheinenden Pfaden, die sich mitunter zu verlieren scheinen, an uns vorüber.“ Sie wirke wie eine „Dornenkrone“, die Bach seinem Werk, dem Wohltemperierten Klavier 1, aufgesetzt habe. Mag sein, dass wir die Schärfe der Dissonanz heute nicht mehr so schmerzlich erleben, wie dies in früheren Zeiten der Fall war und mag auch sein, dass zu Bachs Zeiten das Empfinden ebenfalls anders war – Arnold Schönberg jedenfalls hat in diesem Zusammenhang von der „Auflösung der Tonalität“ gesprochen. Andere deuteten dieses Werk als Ausdruck von „Kraft“ und „Gegenkraft“, die sich beide einer höheren Ordnung, einem hinter oder über ihnen liegendem Gesetz verpflichtet wissen. Und schließlich gibt es auch noch die Deutung, dass Bach mit diesem Werk Diatonik und Chromatik miteinander versöhnt. Alles Deutungen, zu denen Entsprechungen und Verwandtschaften zu Gefühlen beschrieben werden können, die wir als religiöse Gefühle beschreiben können. Diesmal allerdings ließen sich „Schmerzens-“ und „Versöhnungsmotiv“ betreffend, um nur diese beiden zu benennen, Entsprechungen zur christlichen Religion, insbesondere zu dessen protestantischer Deutung, herstellen. Da der Protestantismus genuin „Jesusreligion“ ist, kommt dem leidenden Gottesknecht eine besondere Bedeutung zu. Diese Bedeutung thematisiert auf eigene Weise die Sehnsucht nach Erlösung, die Bitte um Versöhnung. Doch dazu überlasse ich Sie diesem Präludium und Fuge in h-moll. Mit dem Präludium und vor allem mit der Fuge in b-moll erreicht Bach den Gipfel seiner eigenen kontrapunktischen Kunst und seiner gedanklichen Strenge. Die Schönheit des Präludiums, das wie eine verkappte Fuge gearbeitet ist, erschließt sich, wenn man das mit dem Alt, dann dem Sopran und schließlich im Bass entfaltete Hauptthema in seiner ganzen ungewöhnlichen Ausdehnung auf sich wirken lässt. Die drei Stimmen geben dieses Thema gewissermaßen aneinander weiter, zunächst in moll, dann in Dur und wieder in moll. Ungefähr nach der Hälfte des Präludiums gerät der zweite Teil des Hauptthemas im Alt mit 5 dem Sopran in dissonanten Konflikt. Ein Verweis auf die in dieser Schönheit auch schlummernde Schwere, ja auf die schmerzliche Gebärde, die in der Fuge dann zum Zuge kommt. (Hörbeispiele: a) Präl. b-moll, Eröffnung: Thema, ab T. 1 ff., b) ca. ab T. 43). Die Fuge gehört nach Meinung der Experten wohl zum Spätwerk Bachs und ist – wie gesagt – ein Wunder sowohl kontrapunktischer Kunst als auch gedanklicher Strenge. Man wird sie als die großartigste Fuge des Wohltemperierten Klaviers betrachten können. Bei Hermann Keller habe ich gelesen, dass diese b-moll Fuge so groß an Ausdruckskraft ist, „das kein Instrument, am wenigsten das Cembalo, ihr klanglich gerecht werden könnte“. Eigentlich erfordert sie ein Orchester. Diese Fuge stellt äußerste Ansprüche, sowohl an Interpreten als auch an Hörer. Ihre Kraft geht von ihrem Hauptthema aus, das sich in zwei Halben schwer und mühsam vom Grundton zur Sekunde erhebt. Pausen wie Atempausen – als müsste neue Kraft geschöpft werden um weitergehen zu können – unterbrechen das Thema. Nach den schwer lastenden Halben, Pause, gehende Viertel, Pause, fließende Achtel. Oder sind diese Pausen das schweigende Innehalten geistversunkender Reflexion? (Hörbeispiel: Thema b-moll Fuge). Der zweite Kontrapunkt enthält drei Viertel, die wie Schläge anmuten. Sie erinnern an die Kantate „Du schlägst sie, aber sie fühlen es nicht“. (Hörbeispiel: etwa T. 13). Der Aufbau und die Durchführung dieser Fuge sind von so komplexer Gestalt, dass sie sich nicht einmal beim Lesen des Notentextes, geschweige denn beim ersten Hören unmittelbar und rasch erschließen. Engführungen, Umkehrung ..., das große Arsenal kontrapunktischer Meisterstücke wird in dieser Fuge aufgebaut. (eventuell einige Hörbeispiele bmoll Fuge T. 33 ff., T. 80 ff, T.96 ff.) Bemerkenswert erscheint mir die Tatsache, dass Bach in den Engführungen Intervalle wählt, in denen das Thema gewissermaßen seinen harmonischen Sinn verliert, ohne einen neuen zu erhalten. Damit unterstreicht Bach die lineare Perspektive des Themas. Die Fuge hinterlässt so den Eindruck eines Übermaßes an Schwere, an schmerzlicher Gebärde, die durch die kontrapunktische Genialität und gedankliche Strenge freilich objektiviert wird. Busoni hat dem alten Bach vorgerechnet, dass er über die ausgeführten kontrapunktischen Varianten hinaus 14 weitere Kombinationsmöglichkeiten gehabt hätte. Ich glaube, dass Bach sie nicht nur aus Zeitgesichtspunkten ausgespart hat. Bereits die vorliegende Fassung kann bei den ersten Hörerlebnissen nicht erfasst werden. 6 „Was kein Ohr je gehört und kein Auge je gesehen hat“, so hat es der Apostel Paulus einmal formuliert. Ich kann mir vorstellen, dass Bach diese Formulierung kannte: hören, dass es etwas gibt, das unsere Sinne übersteigt. Hat Bach die Musik nicht letztlich auf diesen einsamen Gipfel geführt? Innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung mit den Mitteln der sinnlichen Wahrnehmung das darzustellen, was nicht mehr wahrnehmbar ist, das ist paradox: dem Hören in seiner höchsten Ausrucksgestalt, nämlich dem ästhetischen Hören, der Musik, das Unhörbare auch noch zum „klingen“ bringen – ein Paradoxon, das allemal würdig ist in dem Umfeld von Erfahrungen mit dem Heiligen beheimatet zu sein. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, bedenken, wie ich ebenfalls gehört habe, das Bach für ein Präludium und eine Fuge im Durchschnitt zwei Tage gearbeitet – unvorstellbar! Das ist wirklich ein Wunder, was uns da geschenkt wurde. Wenn Sie mit den Transzendenzverweisen aus dem Wohltemperierten Klavier nichts anfangen können, dann können Sie wenigstens dem Komponisten den gebührenden Respekt erweisen. Die cis-moll Fuge als komplexe gewaltige Steigerung, deren letzte Frage die Antwort ist und in der in höchster Vollendung der Musik die Musik selbst aus den Fugen zu geraten scheint – das leise archaische Dur des Endakkordes. „Kraft“ und „Gegenkraft“ der h-moll Fuge, die in der strengen Geistigkeit der Kontrapunktik gebunden sind, Schmerz, Erlösung und Versöhnung als „Dornenkrone“ des 1. Bandes. Und die b-moll Fuge die in vollendeter Musik mit schmerzlicher Gebärde zum Ausdruck bringt, dass da etwas ist, was kein Ohr je gehört hat. Können sich da nicht Tore öffnen? Natürlich kann ich es auch dabei bewenden lassen, dass ich diese Musik unglaublich schön finde, dass sie mich ergreift. So habe ich ja auch angefangen. Damit überlasse ich Sie der Musik, jetzt: Präludium und Fuge in bmoll – soll sie, die Musik, das letzte „Wort“ haben. Gerson Raabe