Christoph Flamm Igor Strawinsky Der Feuervogel · Petruschka · Le

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Christoph Flamm
Igor Strawinsky
Der Feuervogel · Petruschka · Le Sacre du printemps
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Christoph Flamm
Igor Strawinsky
Der Feuervogel • Petruschka • Le Sacre du printemps
Bärenreiter
Kassel · Basel · London · New York · Praha
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über www.dnb.de abrufbar.
© 2013 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG , Kassel
Umschlaggestaltung: www.takeoff-ks.de, christowzik + scheuch, kassel,
unter Verwendung eines Fotos des Pfalztheaters Kaiserslautern / Hans-Jürgen
Brehm-Seufert (»Der Feuervogel«; Sobir Utabaev als Kastschei stehend in der
Mitte; Choreografie von Stefano Giannetti, Kaiserslautern 2009)
Lektorat: Daniel Lettgen / Ilka Sührig
Korrektorat: Kara Rick, Eberbach
Innengestaltung: Dorothea Willerding
Satz: EDV + Grafik, Christina Eiling, Kaufungen
Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
isbn 978-3-7618-2191-6
www.baerenreiter.com

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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Hintergründe
Russisches Ballett vor Diaghilew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Sergej Diaghilew und die Entstehung der Ballets russes . . . . . . . . . . 12
Igor Strawinsky und die russischen Musiktraditionen . . . . . . . . . . . . 16
Der Feuervogel
Steckbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Szenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Der Stoff: Ein Patchwork aus Märchen und Musiktheater . . . . . . . . 23
Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Choreografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Musikalische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Petruschka
Steckbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Szenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Stoffquellen und -traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Choreografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Musikalische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

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Le Sacre du printemps
Steckbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Szenario . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Stoff und Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Choreografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Musikalische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Vorwort
Ein Jahrhundert nach ihren Uraufführungen ist die Faszination, die von
Strawinskys frühen Balletten ausgeht, ungebrochen. Der Komponist selbst
hat diese Werke später vorrangig als Konzertmusik betrachtet, das Inte­resse
der Forschung richtete sich dementsprechend lange Zeit hauptsächlich auf
den Notentext. Doch ihr Erfolg im Rahmen von Sergej Diaghilews Ballets
russes beruhte auf einer multimedialen Bühnensynthese: Er verdankte sich
dem »Gesamtkunstwerk«, in dem Strawinskys Partituren einen zwar zentralen, aber unlösbar auf die anderen Elemente bezogenen Teil darstellen.
Strawinskys Musik ist wohl nur dann wirklich zu begreifen, wenn sie als
Teil der Bühnenaktion, des zugrunde liegenden Sujets und der spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen gesehen wird. Durch das
mit aufwendigen Ausstellungen in Monaco, Moskau, Paris, London und
Canberra begangene Jubiläum der Ballets russes (1909–2009) sind jüngst
die vielschichtigen Kontexte dieser Werke nochmals deutlicher geworden,
denen sie ihre Entstehung wie ihr spezifisches Erscheinungsbild verdanken
und auf die sie selbst wiederum prägend ausgestrahlt haben, bis hin zu
Mode und Design. Strawinskys Beitrag zu den Balletten reicht einerseits
weit über rein musikalische Dimensionen hinaus, andererseits ist es kaum
zulässig, nur von »seinen« Balletten zu reden, weil diese im Teamwork
entstanden sind und mehrere Urheber haben.
Dieses Buch beschreibt die ursprüngliche Gestalt der Ballette so exakt
und umfassend wie möglich und skizziert dabei kultur- und geistesgeschichtliche, literarische, bildkünstlerische, choreografische und musikalische Aspekte. Die analytischen Hinweise zur Musik beschränken sich bei
einem solchen umfassenden Ansatz naturgemäß auf grundlegende Eigenschaften und einzelne Schlaglichter. Die Rezeption der Werke bleibt weitgehend ausgeklammert, nicht zuletzt da sie die Veränderungen späterer
Fassungen, Inszenierungen und Choreografien berücksichtigen müsste.
Maßstabsetzend für diese Werkeinführung wie für die StrawinskyForschung der letzten Zeit ist Richard Taruskins epochale Monografie
zur russischen Periode des Komponisten gewesen (Taruskin 1996). Das
Kapitel zu Petruschka stützt sich stark auf das von Andrew Wachtel edierte
interdisziplinäre Werkporträt (Wachtel 1998). Die jüngste, ebenfalls per­
Vorwort
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spektivenübergreifend angelegte Aufsatzsammlung zum Sacre du printemps
(Danuser / Zimmermann 2013) erschien nach Abfassung dieses Textes und
konnte nur noch punktuell zur Kenntnis genommen werden.
Die russischen Namen werden im Text nach ihrer deutschen oder im
Westen eingebürgerten Umschrift angeführt, nur in den bibliografischen
Angaben in der wissenschaftlichen Transliteration. Bei russischen Datierungen gibt das ältere Datum den julianischen Kalender an, der bis zur
Oktoberrevolution galt, das jüngere die Entsprechung in der gregoria­
nischen Zeitrechnung außerhalb Russlands.
Für eine noch weitergehende Beschäftigung mit Strawinskys russischen Balletten findet sich auf der Website des Bärenreiter-Verlags eine
Quellensammlung (»Digitales Kapitel«, zu finden im Shopbereich bei den
ergänzenden Materialien zu diesem Buch). Sie enthält sämtliche Szenentitel der Druckausgaben und alle überlieferten Szenarien jeweils in russischer und französischer Originalfassung sowie eine Zusammenstellung der
von Strawinsky nachweislich verarbeiteten Volkslieder oder anderer musikalischer Quellen – Dokumente, die teils gar nicht, teils an entlegener
Stelle (oder aus zweiter Hand) und in dieser Vollständigkeit noch niemals
publiziert wurden. Auf die einzelnen Elemente dieser Quellensammlung
wird im Buch an den entsprechenden Stellen mit dem Zeichen » Website« verwiesen.
Für großzügige Materialbesorgung und Unterstützung danke ich
Olesja Bobrik (Tschaikowsky-Konservatorium Moskau), für geistreiche
Kommentare und Gedankenaustausch Stefan König (Max-Reger-Institut
Karlsruhe) sowie für den unbürokratischen Zugang zu den Quellen Ulrich
Mosch (Paul Sacher Stiftung Basel). Ein ganz besonderer Dank geht an
Daniel Lettgen für sein ebenso akribisches wie scharfsinniges Lektorat, an
Kara Rick für die gründliche Korrektur sowie an Ilka Sührig im Bären­
reiter-Verlag für ihre geduldige Betreuung.
August 2013, Christoph Flamm
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Vorwort
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Hintergründe
Das sensationelle Aufsehen, das Strawinskys Ballette Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris erregten und das ihn weltberühmt machen sollte, verdankt sich nicht nur dem glücklichen Zusammenwirken aller an der Produktion beteiligten Künstler. Entscheidend war die Begegnung von russischer und französischer Ballettkultur. Damals trafen das für Tanztheater
empfänglichste Publikum, nämlich das französische, und die künstlerisch
höchststehende Ballettschule, nämlich die russische, aufeinander, und das
in der Welthauptstadt der Kultur, als die Paris um 1900 zweifellos bezeichnet werden durfte. Zudem war das allgemeine Interesse an russischer
Kunst gerade in Frankreich wohl größer als irgendwo sonst, nicht zuletzt
durch die Aktivitäten, mit denen Sergej Diaghilew schon vor der »Erfindung« der Ballets russes einen fruchtbaren Boden bereitet hatte.
Russisches Ballett vor Diaghilew
Das russische Ballett blickte 1910, im Jahr der Uraufführung des Feuer­
vogels, auf eine fast 200-jährige Tradition des Hoftanzes zurück.1 Es hatte
zwar die wesentlichen Anregungen aus dem Ausland empfangen, stand
aber organisatorisch von Anfang an auf eigenen Füßen und emanzipierte
sich im späteren 19. Jahrhundert völlig vom Westen. Institutionell verankert war es gemeinsam mit den kaiserlichen Opern- und Schauspieltruppen in der 1766 von Katharina der Großen gegründeten Direktion
der kaiserlichen Theater: ein ähnlich dem Hofstaat streng hierarchisch
gegliedertes und vom Kaiserhof subventioniertes System, das Künstlerkarrieren und -pensionen wie im Beamtenwesen organisierte. Dieses System
der kaiserlichen Theater ignorierte die gesellschaftlichen Entwicklungen
des 19. Jahrhunderts nahezu völlig; es bildete bis zur Revolution von 1917
eine zunehmend anachronistische Parallelgesellschaft mit letztlich auf das
18. Jahrhundert zurückgehenden Feudalstrukturen. Die Rollenverteilung
und Größe der Tänzergruppen etwa wurde – ähnlich wie in der Opera
seria­– entsprechend der Rangposition der Beteiligten disponiert. So
Russisches Ballett vor Diaghilew
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tanzte die Primadonna grundsätzlich allein. Die Choreografie war gleichsam ein Spiegel der monarchischen Herrschaftsverhältnisse im zaristischen
Russland.
Die Entkoppelung des Bühnentanzes von der Oper seit dem mittleren
18. Jahrhundert hatte zur Ausbildung eigener pantomimisch-dramatischer
Strukturen geführt, durch die sich das narrative Handlungsballett gegenüber Oper und Schauspiel als gleichwertiges Tanzdrama behauptete. Der
Musik aber kam nur eine untermalende Bedeutung zu. Sie wurde daher
lange Zeit von zweit- oder drittklassigen Musikern oder von den Tanzmeistern selbst entsprechend den Tanzrhythmen und Schrittfolgen in
schlichtem, improvisatorischem Stil geschrieben oder aber aus bekannten
Werken zusammengestellt. Der Anspruch stieg in den 1860er-Jahren unter
dem aus Frankreich gekommenen Choreografen Arthur Saint-Léon, der
mit seinem Märchenballett Das buckelige Pferdchen oder Die Zarenbraut
(1864) auch den Schöpfern des Feuervogels im Gedächtnis blieb. Die Musik für seine Ballette schrieben bereits spezialisierte Ballettkomponisten
wie in Frankreich Léo Delibes und in Russland Cesare Pugni und Ludwig
Minkus. Damals erstellte der Choreograf einen Zeitplan (»minutage«),
den die Musik Schritt für Schritt und somit Takt für Takt zu erfüllen
hatte, selbst Tschaikowsky und Glasunow erhielten noch solche detaillierten Szenarien. Für Komponisten wie Minkus war es daher üblich, bereits
vorgefertigte Tanzsätze den speziellen Bedürfnissen und Dimensionen
des jeweiligen Stückes anzupassen; es handelte sich tendenziell um eine
Musik »von der Stange«, die nur noch »konfektioniert« werden musste.
Beliebt war auch die bis heute übliche Spielart des Tanztheaters, für ein
Pastiche gänzlich auf vorhandene Musik zurückzugreifen, um zu ihr eine
(oft handlungslose) Folge von Tänzen zu choreografieren, so auch praktiziert in vielen Balletten der Ballets russes (Carnaval nach Schumann, Les
Sylphides­nach Chopin, Les Orientales nach diversen russischen Komponisten). Hier ließen sich Musiknummern einfach austauschen, wodurch Ballette nicht nur ein choreografisches, sondern auch musikalisches Update
erhalten konnten.
Eine grundsätzliche Änderung vollzog sich erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unter dem bedeutenden Choreografen Marius­
Petipa. In den mehr als 50 Jahren seines Wirkens in Petersburg (von 1848
bis 1903) baute er das kaiserliche Tanztheater zu seiner vollen Größe aus,
während in den anderen Ballettnationen das Interesse an dieser Kunstform immer stärker zurückging, was auch mit dem Siegeszug der Oper
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Hintergründe
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und der Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert zusammenhing. Petipa
kodifizierte die Tanzfiguren und Bewegungsformen; seine Verbindung von
italienischer Virtuosität und französischer Eleganz erschuf zugleich einen
neuen, russischen Stil, dessen akademische Rigorosität bewundert und
gefürchtet war. Vor allem aber entwickelte er mit Die Pharaonen­tochter
(1862) das Modell eines abendfüllenden Balletts, das sich nicht mehr mit
der älteren zweiaktigen Form begnügte, sondern zum Grand ballet in
meist vier Akten anwuchs.
Petipas Monumentalballette eröffneten auch musikalisch neue Per­
spektiven. Eine »Sinfonisierung« der Ballettmusik erfolgte durch Tschai­
kowsky. Angeregt von Delibes Coppélia (1870) und Sylvia (1876), legte er
1877 mit Schwanensee und ganz besonders 1890 mit Dornröschen sowie­
1892 mit Der Nussknacker durchkomponierte Partituren vor, die eine neue
Ära der Ballettmusik in Russland einläuteten und in Petipas Choreo­
grafien klassischen Status erlangten. Personen und Situationen wurden
hier weitaus raffinierter und vielgestaltiger, visionärer und emotionaler
vom Orchester gezeichnet als zuvor, sinfonische Verfahren wie die leitmotivische Charakterisierung einzelner Figuren eingesetzt und somit die
kleinteilige Nummernstruktur musikalisch in etwas Größeres überführt.
Es war eine allgemeine ästhetische Kehrtwende: die Abkehr von der Oper,
die seit jeher als höchste Kunstform gegolten und von Glinka bis RimskiKorsakow das Höchstmaß kompositorischer Aufmerksamkeit erhalten
hatte. Genau in diesem Sinne bedeutete das Ballett für Strawinsky eine
befreiende Alternative zur Oper.
Somit befand sich das russische Ballett um 1900 als abendfüllendes
Tanztheater mit großen sinfonischen Partituren namhafter Komponisten
und brillant ausgeführten akademischen Choreografien an der Weltspitze.
1903/04 zählte das kaiserliche Ballett 122 weibliche und 92 männliche
Tänzer nebst Schülern und Studenten der Ballettschule. Die kaiserlichen
Theater gaben in der Saison 1891/92 in Petersburg 120 Opern- und 41 Ballettaufführungen (in Moskau 124 Opern und 48 Ballette); 1910/11 waren
es sogar 167 zu 49 (in Moskau 180 zu 51) Aufführungen.2 Die Ballettorchester waren groß besetzt. Doch können die imposanten Zahlen nicht
über eine tiefe Sinnkrise hinwegtäuschen. Nachdem 1882 das kaiserliche
Monopol auf Ballettaufführungen gefallen war, forderten andere Truppen
mit meist leichterer Kost die Hofballette auch künstlerisch heraus. Doch
war es neben dem konservierenden Einfluss von Petipas jahrzehntelanger
Alleinherrschaft wohl gerade die starke Bindung des russischen BalletRussisches Ballett vor Diaghilew
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tes an traditionell gewachsene und zunehmend ritualisierte hierarchische
Theaterstrukturen, die ästhetische Neuerungen behinderte.
An diesem Punkt mussten Diaghilews Ballets russes ansetzen. Die damals repräsentativsten und berühmtesten Ballette von Alexander Glasunow
in Petipas Choreografie bildeten den Endpunkt der großen akademischen
Balletttraditionen Russlands. In Raymonda (1898) etwa wechseln Auftrittsszenen, große Soli (mit sogenannten Variationen), mimische Szenen und
Gruppentänze einander ab wie in der Nummernoper Arie, Duett, Rezitativ und Ensemble oder Chor. Im letzten Akt stehen, entsprechend der
unterschiedlichen Herkunft der Figuren, Nationaltänze mit wechselndem
Lokalkolorit – auch das war eine ebenso fest verankerte wie stereotype
Konvention des Grand ballet, die in sowjetischer Zeit in den farbigen Balletten von Glière und Khatschaturian weiterleben sollte. Selbst Fürst Peter
Lieven, ehemaliger Beamter in der Direktion der kaiserlichen Theater, gestand, der pittoresk-verworrenen Handlung nicht folgen zu können: »Sie
hat alles, außer einen Sinn.«3 Während das alte kaiserliche Theater diese in
ehrwürdiger Tradition erstarrte Sinnlosigkeit noch bis zum Ausbruch von
Weltkrieg und Revolution zelebrierte, arbeitete eine junge Generation von
Künstlern längst an der Befreiung des Tanztheaters. Die Wurzeln dieser
Bewegung lagen in Russland, doch ihre Früchte wurden in Paris geerntet.
Sergej Diaghilew und die Entstehung der
Ballets russes
Die innovativen Ansätze von Diaghilews Ballets russes betrafen praktisch
alle Ebenen des Tanztheaters. Die bislang untergeordnete Bedeutung
männlicher Tänzer wurde aufgewertet und übertraf schließlich sogar die
der weiblichen Hauptrollen. Wazlaw Nijinski war das epochale Sinnbild
für die maskuline – aber auch androgyne – Transformation des Balletts.
Das neue Bewusstsein um männliche Körperlichkeit führte auch zu einer
Dynamisierung des Bühnentanzes. Eine nicht zu unterschätzende Rolle
spielte dabei die Homosexualität Diaghilews, dessen junge Stars wie Nijinski und später Leonid Massine zugleich seine Liebhaber waren. Strawinsky bezeichnete Diaghilews Entourage als »eine Art von homosexueller
Schweizer Garde«.4
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Hintergründe
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Der Feuervogel
Steckbrief
Titel
Жаръ-Птица
Сказка-балетъ въ двухъ картинахъ
Составилъ по русской народной сказкѣ Михаилъ Фокинъ
Музыка Игоря Стравинскаго
L’Oiseau de feu
Conte dansé en deux tableaux
Composé d’après le conte
national russe par M. Fokin
Musique de Igor Strawinsky
(Der Feuervogel. Tanz-Märchen in zwei Bildern. Zusammengestellt nach
dem russischen Volksmärchen von Michail Fokin. Musik von Igor Strawinsky.)
Personen L’oiseau de feu (Der Feuervogel). Ivan Tsarévitch (Iwan Zarewitsch). Kastchei l’immortel (Der unsterbliche Kastschei). La belle
Tsarévna (Die schöne Zarewna). Les princesses enchantées (Die [12] verzauberten Prinzessinnen). Adolescents ([6] Jünglinge). Kikimoras ([6] Kikimoras). Suite de Kastchei (Kastscheis Gefolge [7]). Indiennes ([6] Inderinnen). Les Bolibochki (Die [6] Boliboschki). Femmes de Kastchei
(Kastscheis [12] Frauen). Les monstres à deux têtes (Die [2] Monster mit
zwei Köpfen). Chevaliers pétrifiés ([11] Versteinerte Ritter).1
Orchesterbesetzung 2 Piccoloflöten (II auch Flöte III ). 3 Flöten (III  =
Piccoloflöte II ). 3 Oboen. Englischhorn. Kleine Klarinette in D (= Klarinette III ). 3 Klarinetten in A (III auch Kleine Klarinette in D). Bassklarinette in B. 3 Fagotte (III auch Kontrafagott II ). 2 Kontrafagotte (II  =
Fagott III ). 4 Hörner in F. 3 Trompeten in A. 3 Posaunen. Tuba. Pauken.
Triangel. Schellentrommel (Tambour de Basque). Becken. Große Trommel. Tamtam. Glockenspiel. Xylophon. Celesta. Klavier. 3 Harfen. 16 Vio­
linen I. 16 Violinen II . 14 Violen. 8 Violoncelli. 6 Kontrabässe. Auf der
Bühne: 3 Trompeten in A, 2 Tenortuben in B, 2 Basstuben in F.
Steckbrief
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Komposition und Veröffentlichung Komponiert November 1909 bis
18. Mai 1910. Autografe Partitur datiert 1. (14.) April bis 5. (18.) Mai 1910
(Conservatoire de Musique, Genf ).2 Autografe Fassung für Klavier zu zwei
Händen datiert 21. März (3. April) 1910 (Pierpont Morgan Library, New
York). Erstdruck: Moskau, Jurgenson, 1911 (Partitur und Klavierauszug vom
Komponisten, Widmung: À André Rimsky-Korsakow), 1912 (Stimmen).
Orchestersuiten »Suite 1911«: UA Sankt Petersburg, 23. Oktober (5. No-
vember) 1910; Erstdruck: Moskau, Jurgenson, 1912 (Partitur und Stimmen). Suite 1919 (für reduziertes Orchester): UA Genf, 12. April 1919; Erstdruck: London, Chester, 1920. Suite 1945 (für reduziertes Orchester): UA
New York, 24. Oktober 1945; Erstdruck: New York, Leeds Music Corporation, 1946.
Uraufführung Paris, Opéra, 25. Juni 1910. Dirigent: Gabriel Pierné.
Choreografie: Michail Fokin. Bühnenbild: Alexander Golowin. Kostüme: Alexander Golowin und Leonid Bakst (Feuervogel, Zarewna). Der
Feuervogel: Tamara Karsawina. Schöne Zarewna: Vera Fokina. Iwan Zare­
witsch: Michail Fokin. Kastschei: Alexis Bulgakow.
Szenentitel Introduction (Introduktion). [1] I. TABLEAU : Le jardin
enchanté de Kastchei (1. BILD : Kastscheis verzauberter Garten). [3] Apparition de l’oiseau de feu poursuivi par Ivan Tsarévitch (Erscheinen des
Feuervogels, verfolgt von Iwan Zarewitsch). [14] Danse de l’oiseau de feu
(Tanz des Feuervogels). [22] Capture de l’oiseau de feu par Ivan Tsarévitch (Fang des Feuervogels durch Iwan Zarewitsch. [29] Supplications de
l’oiseau de feu (Flehen des Feuervogels). [48] Apparition des treize princesses enchantées (Erscheinen der 13 verzauberten Prinzessinnen). [55] Jeu
des princesses avec les pommes d’or. Scherzo (Spiel der Prinzessinnen mit
den goldenen Äpfeln. Scherzo). [71] Brusque apparition d’Ivan Tsarévitch
(Plötzliches Erscheinen des Iwan Zarewitsch). [75] Corovod. Ronde des
princesses (Chorowod. Reigen der Prinzessinnen). [89] Lever du jour
(Tagesanbruch). [97] Ivan Tsarévitch pénètre dans le palais de Kastchei
(Iwan Zarewitsch dringt in Kastscheis Palast ein). [98] Carillon féerique,
apparition des monstres-gardiens de Kastchei et capture d’Ivan Tsarévitch
(Feenhaftes Glockenläuten, Erscheinen von Kastscheis Monster-Wachen
und Gefangennahme des Iwan Zarewitsch). [106] Arrivé de Kastchei
l’immortel (Ankunft des unsterblichen Kastschei). [110] Dialogue de Kas20
Der Feuervogel
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tchei avec Ivan Tsarévitch (Kastscheis Gespräch mit Iwan Zarewitsch).
[115] Intercession des princesses (Fürsprache der Prinzessinnen). [119] Apparition de l’oiseau de feu (Erscheinen des Feuervogels). [126] Danse de la
suite de Kastchei enchantée par l’oiseau de feu (Tanz des vom Feuervogel
verzauberten Gefolges Kastscheis). [133] Danse infernale de tous les sujets de Kastchei (Höllentanz aller Untertanen Kastscheis). [183] Berceuse.
L’oiseau de feu (Wiegenlied. Feuervogel). [188] Réveil de Kastchei (Kastscheis Erwachen). [193] Mort de Kastchei. Profondes ténèbres (Kastscheis
Tod. Völlige Dunkelheit). [197] II . TABLEAU . Disparition du palais et
des sortilèges de Kastchei, animation des chevaliers pétrifiés. Allégresse
générale (2. BILD : Verschwinden des Palastes und der Verzauberungen
Kastscheis, Belebung der versteinerten Ritter. Allgemeiner Jubel).3
Szenario
Orchestervorspiel mit fantastischer, spukhafter Atmosphäre. [1] Vorhang
auf. 1. BILD : Kastscheis verzauberter Garten. Im Hintergrund steht auf
einem Berg das Schloss des bösen Zauberers, davor liegt, durch Zaun
und Gittertor getrennt, sein von einer Steinmauer umgebener Garten mit
einem Apfelbaum, der goldene Äpfel trägt. [2] Der Schwarze Reiter der
Nacht reitet auf einem Rappen vorüber, die Nacht bricht an. [3-2] Nur
die goldenen Äpfel am Baum leuchten. [3] Der Feuervogel erscheint hell
strahlend und fliegt im Garten umher. [6] Iwan Zarewitsch, der den Vogel
verfolgt, streckt den Kopf über die Mauer und stößt beim Darüberklettern
auf schreckliche Fratzen. Es sind die Feinde Kastscheis, die dieser in Stein
verwandelt hat. Im Garten befindet sich eine ganze Mauer aus versteinerten Rittern, die ihre von Kastschei entführten Bräute hatten befreien wollen. [12] Iwan ist in den Garten gelangt. [14] Der Feuervogel tanzt und betört ihn. Statt den Vogel abzuschießen, möchte ihn Iwan lebendig fangen.
[22] Als der Feuervogel an den goldenen Äpfeln pickt, will ihn Iwan ergreifen. [27] Er packt ihn, der Feuervogel schlägt verzweifelt mit den Flügeln,
[29] dann bittet er Iwan mit betörendem Schmachten, ihn freizulassen.
[41] Iwan hat Mitleid, er bekommt vom Feuervogel eine Feder geschenkt.
[42] Der Feuervogel macht ihm die Bedeutung der Feder als Talisman
klar und [43] fliegt davon. [45] Iwan steckt die Feder ein und will über die
Mauer mit ihren steinernen Fratzen [46] zurückklettern, da [48] treten
Szenario
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zwölf schöne Prinzessinnen und die Schöne Zarewna aus dem Schloss,
um heimlich bei Mondenschein im Garten umherzutollen. [53] Sie pflücken goldene Äpfel vom Baum und [55] werfen sie spielend einander zu.
(Der Apfel der Schönen Zarewna fliegt ins Gebüsch, sie sucht ihn.) [71]
Plötzlich erscheint Iwan, (er reicht der Zarewna den Apfel,) [71+7] die Prinzessinnen erschrecken. Da Iwan schön und höflich ist, gewinnen ihn die
Prinzessinnen lieb und erlauben ihm, [75] an ihrem Reigentanz teilzunehmen. [89] Der Weiße Reiter des Tages galoppiert auf einem Schimmel
rasch vorüber. [90] Der Tag bricht an. [92] Die Prinzessinnen laufen zum
Schloss zurück, der Zarewitsch ihnen nach. [95] Die Schöne Zarewna hält
ihn zurück, warnt ihn und schließt das Tor hinter sich. [97] Aber Iwan
liebt sie und will ihr furchtlos folgen. [98] Als er mit seinem Schwert
das Tor durchschlägt, wird ein dröhnendes Glockengeläute ausgelöst. Das
Zarenreich erwacht, aus dem Schloss laufen Kastscheis Knechte herbei, es
sind monströse Ungeheuer. [104] Sie fangen Iwan, er wehrt und schüttelt
sich, wird aber überwältigt. [106] Der unsterbliche Kastschei erscheint.
[110] Er verhört Iwan. Dieser nimmt ruhig den Hut ab, [112] dann spuckt
er vor Kastschei aus. Die Monster winseln und knurren. [113] Iwan wird
an die Wand gestellt. [115] Die Prinzessinnen und die Zarewna kommen
herbeigelaufen und bitten Kastschei, Iwan zu begnadigen. [116] Aber sie
ernten nur Spott. [117] Kastschei versucht dreimal, Iwan in Stein zu verwandeln, doch da erinnert sich dieser an die Feder und [118] schwenkt sie
in der Luft. [119] Der Feuervogel kommt zu Hilfe und blendet alle mit
seinem Glanz. [126] Er bringt nach und nach die Ungeheuer dazu, sich
im Tanz zu drehen. Auf dem Höhepunkt der Verzauberung durch den
Feuervogel [133] bricht der gemeinsame Höllentanz aller Diener Kastscheis
los. [150] Selbst die Prinzessinnen tanzen. Der Feuervogel gebietet nicht
eher Einhalt, bis [182] alle erschöpft zu Boden fallen. [183] Dann schwebt
er über ihnen, als singe er ein Wiegenlied; alle schlafen ein. [185?] Iwan
nimmt die schlafende Zarewna in seine Arme und will sie davontragen,
da führt ihn der Feuervogel zu einer Baumhöhle mit einer Schatulle darin:
In ihr liegt ein Ei, in dem die Seele des Kastschei verborgen ist. [188] Kastschei erwacht. [190] Iwan nimmt das Ei und drückt es, Kastschei krümmt
sich; [191] er lässt es von einer Hand in die andere gleiten, Kastschei fliegt
von einer Seite zur anderen; [193] er zerschmettert das Ei auf dem Boden,
Kastschei stirbt und löst sich in nichts auf. [193+4] Völlige Dunkelheit.
[194] Das Zarenreich verschwindet. [197] 2. BILD : Die Silhouette einer
Stadt steigt auf dem Hügel empor, an der Stelle des Schlosses steht eine
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Der Feuervogel
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