Leseprobe zum Titel

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wbg Cox p. 1 / 3.2.2015
Gary Cox
Wie werde ich Philosoph?
wbg Cox p. 2 / 3.2.2015
wbg Cox p. 3 / 3.2.2015
Gary Cox
Wie werde ich Philosoph?
oder
Wie man fast sicher sein kann,
dass fast nichts sicher ist
Aus dem Englischen
von Nikolaus de Palézieux
wbg Cox p. 4 / 3.2.2015
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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© 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Einbandgestaltung: Harald Braun, Foto Design, Berlin
Lektorat: Andrea Graziano di Benedetto Cipolla
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3030-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3066-6
eBook (epub): 978-3-8062-3077-2
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Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Was ist Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Philosophie und Definition . . . . . . . . . . . . . . .
22
»Philosophie« definieren . . . . . . . . . . . . . . . .
24
. . . . . . .
29
Philosophie und Redefreiheit . . . . . . . . . . . . . .
37
Der Vater der westlichen Philosophie . . . . . . . . . .
41
Metaphysik und noch mehr Platon . . . . . . . . . . .
44
Erkenntnistheorie und noch mehr Platon . . . . . . . .
48
Die Philosophie vom richtigen Handeln . . . . . . . . .
51
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
.
67
. . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Halluzination und optische Illusion . . . . . . . . . . .
72
Erscheinung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . .
75
Solipsismus – gibt es etwas da draußen? . . . . . . . .
83
Der Vater der modernen Philosophie . . . . . . . . . .
90
Descartes und die Methode des Zweifels . . . . . . . .
97
Descartes, »Ich denke, also bin ich« und Gott . . . . . .
104
Descartes’ Verfall in den Solipsimus . . . . . . . . . . .
107
Diese Wolken zerstreuen
114
Philosophie und eiskalte, knallharte Logik
2. Wie man Philosoph wird – Phase 1: Alles anzweifeln
Richtig philosophieren
5
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Inhalt
.
117
Family Guy im Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
Eine dumme Frage stellen . . . . . . . . . . . . . . . .
120
Der Realismus des gesunden Menschenverstandes . . .
121
Der Wiener Kreis und der sachliche logische Positivismus
124
David Hume und der sachliche logische Positivismus . .
126
Das Verifikationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Geräusch ist das Bewusstsein von Geräusch . . . . . . .
132
Kant und der transzendentale Idealismus . . . . . . . .
134
Sartre oder das differenzierte und undifferenzierte Sein .
139
. . . . . . . . . . .
142
4. Wie man mit Philosophie seinen Lebensunterhalt
bestreitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Visuelle, musikalische und Internet-Medien . . . . . . . .
162
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
3. Wie man Philosoph wird – Phase 2: Die Baum-Frage
Uneindeutige Schlussfolgerungen
6
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Einführung
Warum haben Sie angefangen, dieses Buch zu lesen? Philosophen sollten zwar Vermutungen vermeiden, aber ich vermute,
dass Sie bereits ein wenig über Philosophie wissen und jetzt mehr
darüber wissen möchten. Zumindest aber ist Ihnen der Begriff
»Philosophie« schon einmal über den Weg gelaufen, und Sie wollen nun wissen, was er bedeutet. Vielleicht wissen Sie ja schon
eine ganze Menge über Philosophie – weil Sie sie auf der Universität oder im Gefängnis studiert haben –, doch Sie sind vielleicht der Meinung, dass über Philosophie Bescheid zu wissen
und ein Philosoph zu sein zwei verschiedene Dinge sind.
Philosophen – sofern man einer ist – sollten wirklich vermeiden, irgendetwas anzunehmen, doch bei dieser Gelegenheit werde ich, anstatt anzunehmen, dass Sie, der Leser, etwas über Philosophie wissen, was vermutlich zutrifft, mich zu der Annahme
zwingen, dass Sie absolut nichts darüber wissen. Sie leben schon,
wie lange auch immer, auf dieser Erde, Sie sind intelligent und
gebildet genug, um dieses Buch lesen zu können. Genauer gesagt: Sie wollen dieses Buch lesen; was schon für sich in einem
Zeitalter bemerkenswert ist, da doch Ignoranz als neue Intelligenz gilt. Dennoch sind Sinn und Bedeutung von Philosophie an
Ihnen bislang vorübergegangen wie ein Schiff in dunkler Nacht.
Sie haben von Psychologie und Soziologie gehört, sogar von Physiologie, Psychiatrie und Philatelie, doch die Philosophie wurde
dabei irgendwie übersehen, wie eine Stadt, die man nie besucht
hat, obwohl man weit gereist ist; wie der Besucher, der ausgerechnet während der fünf Minuten an Ihrer Tür klingelte, als
Sie unter der Dusche standen.
Philosophie steht im Ruf, kompliziert zu sein. Meist ist dieser
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Einführung
Ruf unbegründet, wenn es auch stimmt, dass sie auf dem höchsten Niveau sehr, sehr kompliziert werden kann. Philosophie kann
tatsächlich komplizierter werden als alles andere im Leben. Noch
komplizierter als Beziehungen, komplizierter als die Steuererklärung, komplizierter selbst als Kricket (wie beim Kricket enden
auch viele lange, titanische Kämpfe in der Philosophie mit einem
Unentschieden). Philosophie kann so kompliziert werden, dass
sie Raketentechnik aussehen lässt wie – nun ja – keine Raketentechnik. Auf fortgeschrittenem Niveau ist Philosophie definitiv
Raketentechnik, obwohl sie nicht das Geringste damit zu tun hat,
Vehikel zu entwerfen, die die Schwerkraft der Erde überwinden
oder winzige Messsonden per Fernsteuerung über eine Distanz
von rund 90–650 Millionen Kilometer auf dem Mars landen lassen können. Aber lassen Sie sich nicht von diesem Gerede über
Kompliziertheit abschrecken. Sie werden mit Erleichterung feststellen, dass Philosophieren auf einer grundlegenden Ebene tatsächlich unglaublich leicht ist. Und dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie das geht.
Philosophie besteht aus einem riesigen Gerüst von Argumenten, aus einem riesigen Netzwerk unterschiedlicher Standpunkte,
aus einem unüberschaubaren Gewirr heikler Themen, das immer
noch, nach Tausenden von Jahren, wächst und sich ausdehnt,
wie ein verwildertes Dornengestrüpp in einem schlecht gepflegten Garten. Man bräuchte viele Lebensspannen, um all das zu
lesen, was in der Philosophie geschrieben wurde, weshalb nicht
einmal die größten Philosophen alle Streitfragen kennen. Was ich
damit sagen möchte ist, dass man diese Streitfragen nicht unbedingt kennen muss, um philosophieren zu können! Philosophie
ist, wie manche große Philosophen gesagt haben, nicht so sehr
ein Korpus von Wissen als vielmehr eine Aktivität. Alles was Sie
also machen müssen, um zumindest auf einer grundlegenden
Ebene Philosoph zu sein, ist einfach nur, Philosophie zu betreiben, anfangen zu philosophieren. Es ist ein wenig wie Tennis spielen. Sie müssen nicht wie Roger Federer oder Rafael Nadal spie8
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Einführung
len können, um Tennis zu spielen. Sie spielen einfach auf Ihre
Weise Tennis, indem Sie den Schläger in die Hand nehmen und
ein paar Bälle über das Netz schlagen oder auch in das Netz
hinein.
Sie haben in Ihrem Leben gewiss schon sehr viel philosophiert, ohne es zu merken. In diesem Falle sind Sie bereits ein
Philosoph, ohne es zu wissen. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, woher das Universum kommt und ob es etwas nach dem
Tode gibt; wenn Sie Gewissheiten haben oder das Leben vollkommen bedeutungslos für Sie ist; wenn es gute Gründe dafür gibt,
warum Sie moralisch gut oder auch schlecht sein sollten, oder ob
Schönheit nur im Auge des Betrachters stattfindet, dann haben
Sie bereits philosophiert. Für mich besteht die große Ironie darin,
dass ich dieses Buch schreibe, um den Leuten zu erklären, wie sie
etwas werden können, das sie mit großer Sicherheit schon längst
sind! Ich predige den Bekehrten, ich trage Kohle nach Newcastle,
Öl nach Texas, oder kurz und gut: Eulen nach Athen. Vielleicht
also sollte der Titel dieses Buches eher lauten Wie man den Leuten sagt, wann sie philosophieren oder – was ein wenig anmaßend
klingen könnte – Wie man effektiver philosophiert.
Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Die schlichte
Wahrheit hinter der Angelegenheit ist die, dass der größte Teil
grundlegenden Philosophierens, wie es die Menschen an der
Bushaltestelle, in der Kneipe oder in ihrem Kopf betreiben, während sie schlaflos im Bett liegen, bereits von jemandem weit
gründlicher erledigt worden ist, der nichts anderes tat als sich
die gesamte Zeit seines unglücklichen Lebens mit diesem besonderen Stück Philosophie obsessiv zu beschäftigen. In manchen
Fällen beschäftigte derjenige sich in einem solchen Ausmaß mit
seinem philosophischen Problem, dass er kaum die Zeit fand, mit
dem Bus irgendwohin zu fahren, in die Kneipe zu gehen oder zu
schlafen. Ich wage diese Behauptung, weil ich Hunderte von begabten und auch nicht so begabten Anfängern aller Altersstufen
in Philosophie unterrichtet habe. Und nur selten kam einer mit
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wbg Cox p. 10 / 3.2.2015
Einführung
einem Argument, über das nicht jemand schon irgendwo und
irgendwann ein ganzes Buch oder gleich eine ganze Reihe von
Büchern geschrieben hatte.
Als Philosophielehrer habe ich gelernt, geduldig und zustimmend dazusitzen, während ein Philosophiestudent mir ein abgedroschenes Argument präsentiert, das in den großen, staubigen
Annalen der Philosophiegeschichte wirklich ad nauseam, bis zum
Erbrechen, vorgeführt wurde – als wäre sein oder ihr abgedroschenes Argument eine zutiefst originelle Einsicht. Natürlich ist
es für diesen Studenten, diese Studentin ein zutiefst originelles
Denken, das sehr ermutigt werden sollte, daher meine zustimmende Geduld. Weil es aber nicht sinnvoll ist, das Rad noch einmal zu erfinden und Philosophiekurse nicht weiterkämen, wenn
sie nichts anderes täten, als das Rad neu zu erfinden, bringe ich
am Ende seines Vortrages meinen Studenten zur Strecke, indem
ich ihn darauf hinweise, dass der große Philosoph Descartes,
oder wer auch immer das war, genau das, was immer es war,
schon vor Hunderten von Jahren gesagt hat und zudem viel ausführlicher. Tatsächlich ist der Student in aller Regel nicht allzu
niedergeschlagen, da es seinem Ego schmeichelt, wenn er merkt,
dass er genau so argumentiert hat wie der große Descartes. Es ist
ein wenig so, als würde man jemanden damit schmeicheln, dass
er soeben einen gerade so meisterhaften Rückhand-Volley gespielt hätte wie Roger Federer im Wimbledon-Finale 2009.
Niemand spielt mit der Absicht Tennis, immer schlechter zu
werden, sondern um immer besser zu werden, auch wenn man
weiß, dass man nie so gut sein wird wie Federer oder Nadal oder
auch Henman (der Gerechtigkeit halber sei gesagt: Henman war
jahrelang der beste englische Tennisspieler und zeitgleich die
Nummer vier in der Weltrangliste. Er war wirklich unverschämt
gut). Ein Philosoph sein zu wollen heißt meist also, sich darin
verbessern zu wollen, auch wenn man weiß, dass man nie so
gut darin werden wird wie David Hume oder Immanuel Kant –
zwei der größten Meister aller Zeiten in dem uralten Spiel, das
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wbg Cox p. 11 / 3.2.2015
Einführung
Philosophie heißt.Wenn man ein paar altbewährte Methoden des
uralten Philosophie-Spiels kennt, dazu einige Hauptpositionen
aus den Unmengen abgedroschener Streitgespräche sowie die
wichtigsten Argumentationslinien aus dem großen Gewebe unterschiedlichster Standpunkte, dann hilft das einem dabei, ein
effektiverer Philosoph zu werden: ein Philosoph, der seine Bälle
eher über das Netz als direkt ins Netz schlagen kann; der aufschlagen und den Aufschlag des Gegners erwidern kann; vielleicht sogar ein Philosoph, der zuweilen Spiel, Satz und Sieg gegen einen würdigen Gegner gewinnen kann, der selbst nicht
ungeübt ist.
Die Grundlagen der Philosophie sind relativ leicht zu erlernen, weshalb man das Philosophie-Spiel leicht auf recht bescheidenem Niveau spielen kann, was reicht, um daran Spaß zu haben
und genug ist, um sich mit fast jedem zu messen, der nicht gerade Oxbridge-Professor für Philosophie ist. Falls Sie es nicht wissen: Oxbridge ist eine frei erfundene Universität, die entweder
Oxford oder Cambridge oder beides ist. Es ist kein Ort irgendwo
zwischen Oxford und Cambridge – dieser Titel gebührt eher Milton Keynes oder Luton.
Ein wirklich großer Philosoph zu werden ist jedoch reichlich
schwierig. Vermutlich ist es noch schwerer als in Wimbledon zu
gewinnen. Platon, Aristoteles, Hume, Kant, Hegel, Mill, Kierkegaard, Wittgenstein, Sartre, de Beauvoir – diese großen Philosophen widmeten ihr gesamtes Leben der Philosophie, plagten
ihre ziemlich gescheiten Köpfe Tag für Tag, jahrein, jahraus,
Jahrzehnt um Jahrzehnt mit einem schweren Wälzer nach dem
anderen. Die großen Philosophen sind wie große Berge im riesigen Gebiet der Philosophie, während so einer wie ich, der beispielsweise Philosophie lehrt und ein paar Kommentare geschrieben hat (Bücher über große Philosophen), nur ein
Maulwurfshügel ist. Aber keine Sorge: Philosophen, große und
kleine, von Platons Everest bis hin zu Rab C. Nesbitts kleinem
Hügel, wissen, dass Größe relativ und es besser ist, ein kleiner
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wbg Cox p. 12 / 3.2.2015
Einführung
Erdwall innerhalb der Philosophie als ein ganzes Bergwerk an
Ignoranz zu sein. Wir werden auf unserem Weg einen Blick auf
einige der hervorstechenden Eigenschaften dieser gewaltigen
Philosophie-Berge werfen, auf einige wesentliche Ideen der großen Philosophen, die solch einen großen, einflussreichen Schatten auf das Denken und den Fortschritt der Menschheit geworfen haben.
Wo also befinden wir uns gerade? Selbst wenn Sie bis jetzt
noch nie etwas von Philosophie gehört haben und noch nicht
wissen, was der Begriff Philosophie bedeutet, ist es dennoch sehr
wahrscheinlich, dass Sie schon sehr oft in Ihrem Leben philosophiert haben, ohne dass Sie wussten, dass das, was sie da taten,
philosophieren genannt wird und dass die Gesamtsumme des bisher angewachsenen und noch weiter anwachsenden Philosophierens der Menschheit eben Philosophie heißt. Falls Sie überhaupt
nur ein kleines bisschen philosophiert oder keine überlegte Entscheidung getroffen haben, etwas so scheinbar Sinnloses und
potentiell Verstörendes zu vermeiden, dann sind Sie bereits Philosoph. Und wenn Sie bereits Philosoph sind, dann folgt daraus,
dass man Ihnen nicht sagen muss, wie man Philosoph wird. Oder
können Sie jemandem, der längst Fahrrad fährt, erklären, wie
man Fahrrad fährt?
Nun, das hängt davon ab, was man unter Fahrradfahren versteht. Übrigens: Die Aussage »es hängt davon ab, was man darunter versteht« ist zentral für die Tätigkeit des Philosophierens.
Jeder, der wirklich weiß, was es heißt, Fahrrad zu fahren – der
siebenfache Tour-de-France-Gewinner Lance Armstrong zum
Beispiel – wird Ihnen erzählen, dass es Fahrradfahren und Fahrradfahren gibt. Einerseits gibt es das Aufrechtbleiben und Vorankommen und Anhalten, ohne herunter zu fallen; andererseits
aber gibt es die Haltung des Fahrers, den effizienten Gebrauch
der Gänge, die Trittfrequenz, die Kurventechnik, das kontrollierte Bremsen, den »Ausreißer«, das Schließen des Shirts mit beiden
Händen unmittelbar vor der Abfahrt und tausend weitere Kniffe,
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wbg Cox p. 13 / 3.2.2015
Einführung
die man benutzen kann – all das bedeutet, wirklich zu wissen,
was es heißt, Fahrrad zu fahren.
Deshalb sollte dieses Buch vielleicht nicht einfach heißen
Wie werde ich Philosoph? – auch wenn dies offenkundig der einprägsamste Titel ist, an dem festzuhalten die Marketing-Leute
und ich beschlossen haben –, sondern Wie werde ich wirklich
ein Philosoph? oder Wie werde ich ein besserer Philosoph?. In
einem bestimmten Sinn sind all die genannten Alternativ-Titel,
die ich ziemlich ausdauernd immer wieder vorbringe, die Untertitel dieses kleinen Buchs. Sie waren aber zu langweilig oder zu
lang für den Titel und sogar für den Rückendeckel.
Ich bin kein Lance Armstrong, bin aber gleichwohl in meinem Leben viel Fahrrad gefahren. Ich bin kein Aristoteles, habe
gleichwohl während meines Lebens eine Menge Philosophie betrieben; großenteils deshalb, weil ich irgendwie zu dem Entschluss gekommen bin, mein täglich Brot damit verdienen zu
wollen. Das hat mir immerhin ein leicht undichtes Dach über
dem Kopf beschert, aber ich versichere Ihnen, dass man mit
weitaus weniger substantiellen Dingen viel mehr Geld verdienen
kann. Daher glaube ich, Ihnen ein paar Hinweise geben zu können, wie Sie Ihr Philosophie-Fahrrad ein bisschen schneller fahren können, ohne sich darauf wund zu sitzen oder von der Straße abzukommen und in und die häufigsten Gräben zu stürzen.
Am Ende dieser Einführung ist es mir wichtig zu betonen,
dass es Vor- und Nachteile hat, ein Philosoph zu sein. Geübte
Philosophen denken, schreiben und argumentieren meist schlüssiger als normale Menschen. Sie haben die Kunst des systematischen Denkens und Sprechens erlernt. Das ist sehr vorteilhaft,
wenn es darum geht, genau die Jobs zu kriegen, die am sichersten, interessantesten und am besten bezahlt sind. Die Forschung
hat erwiesen, dass Menschen mit philosophischer Ausbildung –
weit entfernt davon, zu den Aussteigern zu gehören – sich meist
gescheit anstellen, wenn es um die Ausbildung als Lehrer, Anwalt, Arzt, Computerspezialist, Marketing-Fachmann, Journalist
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wbg Cox p. 14 / 3.2.2015
Einführung
und sogar Klempner geht. Und zwar deshalb, weil Menschen, die
Philosophie studieren, damit die Grundprinzipien allen Wissens
studieren. Philosophie zu studieren verleiht einem Menschen Fähigkeiten, die sich hervorragend in anderen Bereichen anwenden
lassen. Wenn Sie es beispielsweise schaffen, den berüchtigt komplizierten deutschen Philosophen Martin Heidegger zu lesen,
werden Sie die Erläuterungen zu Ihrer nächsten Steuererklärung
lesen wie einen Text von Enid Blyton. Im letzten Kapitel werde
ich auf das Thema der beruflichen Vorteile des Philosophiestudiums zurückkommen.
Natürlich kann die Fähigkeit, schlüssig zu denken und zu
argumentieren, beleidigend auf kopf- oder gedankenlose Menschen wirken, deren Köpfe verstaubt sind. Wenn der Philosoph
sie damit einfängt, dass er die Ungereimtheiten und Verwirrungen ihrer absurden Standpunkte vorführt, werden sie ihn als Besserwisser bezeichnen und vermutlich seinen Niedergang herbeiführen wollen. Genau das passierte dem antiken griechischen
Philosophen Sokrates. Er demütigte öffentlich so viele mächtige
Athener, als er ihnen demonstrierte, wie strohdumm sie waren,
dass sie ihn am Ende zwangen, sich selbst zu vergiften und den
Schierlingsbecher zu trinken.
Heute aber und in unserer Zeit ist es eher unwahrscheinlich,
wie schlaumeierisch Sie auch sein mögen, dass Sie den Schierlingsbecher auszutrinken gezwungen werden. Dank unserer
Massenmedienkultur gibt es nämlich Besserwisser wie Sand am
Meer. Wenn der durchschnittliche großmäulige, starrsinnige
Fernsehmoderator noch nicht gezwungen wurde, den Schierlingsbecher zu trinken, brauchen Sie sich vermutlich keine Sorgen machen. Weiß überhaupt noch jemand, wie man einen
Schierlingsbecher anrührt?
Oft ecken Philosophen bei den Menschen mit ihrer hoch entwickelten Fähigkeit an, einen Nerv zu treffen oder eine unbequeme Wahrheit bloßzulegen. Doch meist schaffen sie es, der
Exekution zu entgehen, weil sie in ihrer unendlichen Weisheit
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wbg Cox p. 15 / 3.2.2015
Einführung
spüren, dass der Klügere besser nachgibt. Mit anderen Worten,
sie setzen sich in eine andere Stadt, in ein anderes Land ab, womit sie der Liste ihrer Errungenschaften auch noch das Exil hinzufügen. Oft fliehen sie nach Holland, wo Geist verändernde Ideen sowie Geist verändernde Substanzen immer schon durch die
liberalen Behörden toleriert wurden. Auch Sokrates hätte offenkundig aus dem alten Athen fliehen können, doch er war entschlossen, zum Märtyrer zu werden und bestand darauf, dass
der Tod keinen Schrecken für ihn darstellte. Als man ihn zum
Tode verurteilte, sagte er nur:
Er [der Tod] ist nämlich eines von beiden; entweder wie ein
Nichtsein, so daß der Tote auch keine Wahrnehmung mehr
von irgendeiner Sache hat; oder dann ist er, wie die Überlieferung sagt, ein Übergang oder eine Übersiedlung der Seele von
dieser Stätte an eine andere. Wenn nun gar keine Empfindung
mehr vorhanden und wenn der Tod wie ein Schlaf ist, wo der
Schlafende nicht einmal träumt, dann wäre er wohl ein wunderbarer Gewinn. (Platon, Apologie, 40 d)
Eine viel unmittelbarere Bedrohung für den Philosophen als der
Tod ist das Abgleiten in den Nihilismus. Nihilismus ist der Glaube
an nichts, bis zum Punkt der Verzweiflung. Das Studium der Philosophie kann einen, wie schon Sokrates, zur Schlussfolgerung
verleiten, dass es höhere Mächte und andere Dimensionen gibt,
die dem Leben ihren letzten Sinn geben. Andererseits kann es
auch dazu führen, dass man dem Begriff »letzter Sinn« keine
Bedeutung mehr abgewinnen kann. Es besteht immer die Gefahr,
dass man zu dem vernichtenden Schluss gelangt, das Leben wäre
letztlich so bedeutungslos und sinnlos, dass es durch und durch
absurd ist; nicht nur in Teilen absurd – Briefmarkensammeln,
amüsante Klingeltöne, Seifenopern, eine Krawatte tragen,
Schnurrbärte –, sondern absurd in seiner Ganzheit.
Tatsächlich aber muss der Entschluss, das Leben wäre durch
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wbg Cox p. 16 / 3.2.2015
Einführung
und durch sinnlos, nicht zur Verzweiflung führen. Viele Philosophen, die die Position der nihilistischen Philosophie eingenommen haben, dass nämlich das Leben vollständig absurd wäre, haben sich eilends aus den Klauen der Niederlage befreit und
sieghaft verkündet, dass da das Leben als Ganzes vollständig absurd wäre und in sich keine Bedeutung hätte, dann jedes individuelle Leben genau die Bedeutung hätte, das die betreffende
Person ihm verleihe. Diese antinihilistische Position, eingenommen etwa von existentialistischen Philosophen wie Friedrich
Nietzsche oder Jean-Paul Sartre, gilt nicht nur als positiv, sondern auf persönlicher Ebene sogar als in hohem Maße Kraft verleihend. Nicht zuletzt schafft es sämtlichen unterdrückerischen
religiösen Ballast aus dem Weg und macht einen Menschen zum
Herrn oder zur Herrin des eigenen Schicksals.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer entschied, dass Gott
nicht existiere. »Gott ist tot«, wie Nietzsche es später ausdrückte,
heißt, dass für intelligente Menschen die Idee Gottes als Erklärung dafür, wie die Dinge sind, überholt ist. Das führte Schopenhauer zu dem verzweifelten Schluss, dass das Leben, das Universum und alles darin bedeutungslos sein müssen, wenn da kein
Gott sei, der ihm Bedeutung gäbe. Soweit gelangte er philosophisch, als er tief in das eintauchte, was man heute als Schopenhauerianischen Nihilismus kennt. Ganz anders als seine Bücher
blieb er selbst allerdings ein recht heiterer Geselle, war ein liebevoller Vater für seine Kinder und spielte jeden Morgen auf seiner
Flöte. Wie auch immer, sein Nachfolger Nietzsche kam daher und
meinte wortreich: Keine Sorge, diese Sache mit »Gott ist tot« ist
schließlich kein Grund zur Verzweiflung. Tatsächlich sollte sie
eher ein Grund zum Feiern sein, weil sie nämlich bedeutet, dass
es keinen Chef gibt; dass der Weg vorwärts frei und unbegrenzt
ist; dass wir frei sind, sämtliche Bedeutungen und Werte im Universum selbst zu schaffen und somit selbst zu Göttern werden. In
seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft […] schreibt Nietzsche:
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wbg Cox p. 17 / 3.2.2015
Einführung
In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns
bei der Nachricht, dass der »alte Gott todt« ist, wie von einer
neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über
von Dankbarkeit, erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er
nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen,
auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden
ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da,
vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«. (Die fröhliche Wissenschaft, S. 343)
Dies ist zwar eine gewagte, aufwühlende und rebellische Aussage Nietzsches, doch man kann kaum anders, als mit der guten
alten Weisheit zu sympathisieren, es gäbe keine Atheisten mehr
in einem Schützengraben, wenn erst die Kugeln losgingen. Natürlich beweist das nicht, dass Gott existiert, sondern dass es
trotz allem, was Nietzsche sagt, trotz seines verwegenen Atheismus extreme Situationen gibt, wo das Bedürfnis, an irgend
einen Gott zu glauben, sehr überwältigend ist; es sei denn natürlich, man wäre selbst zum Gott geworden. So viele lebenslang
Ungläubige, ergriffen von Schmerz und Furcht vor dem Unbekannten, beten mit ihrem letzten Atemhauch. Fangen sie plötzlich an, wirklich zu glauben, oder gehen sie nur auf Nummer
sicher, indem sie ein paar demütige, flehende Worte in Gottes
Ohr wispern, falls er schließlich doch existierte? Auf diese Frage
weiß ich keine Antwort, und sollte ich sie je finden, werde ich
vermutlich eher damit beschäftigt sein, mit meinem letzten
Atemzug zu beten, als sie jedermann mitzuteilen. Was ich aber
sagen kann: Diese Menschen möchten definitiv glauben. Lässt
man das beiseite, sollte ein wahrer Philosoph, Theist oder Atheist, stets zu vermeiden versuchen, Dinge nur deshalb zu glauben,
weil sie seine Ängste lindern oder sein Begehren befriedigen.
Stets sollte er kompromisslos die Wahrheit suchen, um ihrer
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wbg Cox p. 18 / 3.2.2015
Einführung
selbst willen, als höchsten Preis – als was auch immer sich diese
Wahrheit entpuppt.
Ist Philosophie eine nüchterne, sachliche, kompromisslose
Suche nach der Wahrheit, dann muss man, um Philosoph zu sein,
dorthin gehen, wohin einen die Suche führt, nicht dahin, wohin
die sanftere, sentimentale Seite gerne gehen würde. Einst schrieb
der Dichter John Keats:
»Muss jeder Reiz nicht enden, / Rührt dran Philosophie mit
kalten Händen? / Einst stand am Himmel hoch der Regenbogen, / Nun kennen wir dies Webstück, Katalogen / Fiel er
anheim mit ganz gemeinen Dingen, / Philosophie stutzt selbst
der Engel Schwingen, / Mysterien rechnet sie in Regeln aus, /
Macht geisterleer die Luft, der Gnomen Haus, / Zerstöret
jeden Reiz, bis ihr gelingt, / Dass Lamia zu leeren Schatten
sinkt.« (Lamia, Teil II, deutsch von Marie Gothein)
Vielleicht wird der große Dichter, der auch ein wenig Philosoph
war, hier von seinen Gedanken entführt – wie es Dichtern zuweilen ergeht – als er sagt, wie sehr die Philosophie dazu neigt,
dem Leben einen Dämpfer aufzudrücken, indem sie allen Zauber
daraus entfernt. Schließlich ist doch manche Philosophie ebenso
gut darin wie die Dichtung, wenn es darum geht, angesichts der
erhabenen Schönheit und furchtgebietenden Fülle des Universums ein Gefühl von Ehrfurcht und Staunen wachzurufen. Dennoch muss ich zugeben, dass Keats recht hat, und nicht zuletzt
deshalb, weil Philosophie den Geheimnissen ja auf den Grund
gehen, die Luft von Trugbildern und Verwirrungen reinigen und
alle törichten Kobolde aus der Höhle des Unwissens hinein ins
klare Licht der Vernunft führen will.
Philosophie zu studieren und ein Philosoph zu werden ist
kein neutraler Vorgang. Es wird das eigene Denken und Lebensgefühl verändern, womöglich zum Besseren, womöglich auch
nicht. Es kann einem den Glauben an etwas Höheres geben oder
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wbg Cox p. 19 / 3.2.2015
Einführung
auch jeglichen Glauben zerstören. Ich weiß nicht, wie es Ihnen
ergehen wird. Jedenfalls habe ich Sie gewarnt. Und jetzt lesen Sie
weiter, wenn Sie sich trauen.
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wbg Cox p. 72 / 3.2.2015
Wie man Philosoph wird
Kerze gegen die Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen des
Colleges.
Manchmal muss man, um richtig zu philosophieren, sich von
Büchern abwenden und einfach nur denken. Man muss alles andere vergessen und mit den eigenen grauen Zellen intim werden.
Wie Nietzsche es sagt: »Zum Denker werden – Wie kann Jemand
zum Denker werden, wenn er nicht zumindest den dritten Theil des
Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt?«
(Menschliches, Allzumenschliches II, Abt. 2: Der Wanderer und
sein Schatten, S. 324). Was Nietzsche zu erwähnen unterlässt, ist,
dass es oft nützlich ist, sich ein paar Notizen zu machen, während man denkt. »Schreiben ist denken«, pflegte mein alter Professor zu sagen. Also werde ich nicht weiter schwadronieren,
nicht weiter Nietzsche zitieren, und Sie legen dieses Buch beiseite und ich treffe Sie in ungefähr zwanzig Minuten am Anfang des
nächsten Absatzes wieder, wenn Sie so viele Gründe wie möglich
aufgeführt haben, um dann die Existenz jedes Objekts zu bezweifeln, das anzuzweifeln sie sich entschieden haben …
Na, wie war das für Sie? Hat es Ihnen wehgetan, Philosophie
zu betreiben anstatt nur ein Buch darüber zu lesen, oder war es
ein Vergnügen, Ihre Nervenzellen auf Trab zu bringen?
Über all die Jahre sind meine geliebten Philosophiestudenten
mit merkwürdigen und wundervollen Gründen gekommen, um
die Existenz der Wasserflasche, des Kerzenleuchters oder was
auch immer anzuzweifeln. Hier sind ein paar davon. Wie sind
deren Gründe im Vergleich mit Ihren?
Halluzination und optische Illusion
Einer der Gründe, den meine Philosophiestudenten gerne angeben, um die Existenz dessen anzuzweifeln, was da vor ihnen
ist, ist die Halluzination. Eine Halluzination ist die irrtümliche
Wahrnehmung eines Objekts, wenn keines da ist. Der Ausdruck
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wbg Cox p. 73 / 3.2.2015
Phase 1: Alles anzweifeln
»Halluzination« verweist eher auf die Erfahrung des Halluzinierens als auf das, was halluziniert wird. Ein Mensch sieht keine
Halluzinationen, weil es bei der Halluzination darum geht, dass
nichts da ist. Ein Mensch hat Halluzinationen, oder genauer: Er
halluziniert. Jemand halluziniert, weil sein Geist irgendwie verwirrt ist. Was er zu sehen (oder zu hören) phantasiert, ist eine
subjektive Projektion in die Welt hinein. Nicht die Welt spielt
ihm einen Streich, sondern sein eigener Geist tut das. Man kann
alles halluzinieren, eine Wasserflasche oder einen Kerzenleuchter oder merkwürdigere und faszinierendere Objekte. Wenn die
Geschichten, die wir hören, glaubhaft sind, halluzinieren die
Menschen gerne unheimliche Dinge wie Spinnen oder Skorpione
oder bizarre Dinge wie Kobolde. Es scheint, dass die geistige Unordnung, die die Menschen halluzinieren lässt, aus den tiefsten
Tiefen des Unbewussten Bilder hervorholt.
In Angst und Schrecken in Las Vegas, einem Roman von Hunter S. Thompson, halluziniert die Hauptfigur Duke, wie seine tote
Großmutter an seinem Bein hochkrabbelt, ein Messer zwischen
den Zähnen – bizarr und erschreckend! »Halluzinationen sind
schon schlimm genug«, sagt Duke. »Aber nach einer Weile lernst
du mit Sachen wie dem Anblick der toten Großmutter fertigzuwerden, die mit einem Messer zwischen den Zähnen dein Bein
hochgekrabbelt kommt. Die meisten Acid-Liebhaber kommen
mit sowas zurecht.« (Angst und Schrecken in Las Vegas, S. 46)
Duke hat einen starken Cocktail halluzinogener Drogen genommen, einschließlich LSD und Meskalin, und meist hören wir von
durch Drogen bewirkten Halluzinationen in Exzessen von Rockstars und sogenannter radical writers.
In Lucy in the Sky with Diamonds (LSD) singen die Beatles
von einem Mädchen, das Kaleidoskopartige Augen hat und von
Taxen aus Zeitungspapier, die am Ufer auftauchen und darauf
warten, einen mitzunehmen. Bizarrerweise hat John Lennon,
Bandmitglied und Verfasser des Songs, immer abgestritten, dass
der Song von Drogen handle. Doch für jeden, der sogar weniger
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Wie man Philosoph wird
Drogen genommen hat als Lennon, ist es offensichtlich, dass das
Lied von Drogen handelt, wie auch Bandmitglied und Co-Autor
des Songs Paul McCartney 1994 bestätigte.
Auch der französische existentialistische Philosoph JeanPaul Sartre hatte sich unter experimentellen Bedingungen 1935
Meskalin gespritzt. Er wollte eine echte halluzinatorische Erfahrung haben, damit er in einem Buch, das er in Arbeit hatte, über
Phantasie schreiben konnte. Wie er in diesem Buch Das Imaginäre berichtet, konnte er drei kleine parallele Wolken halluzinieren,
die vor ihm in dem Krankenhauszimmer schwebten, in dem er
saß. Alles eher banal, verglichen mit Kaleidoskopaugen, psychodelischen Zeitungstaxen oder albtraumhaften, ins Messer beißenden alten Damen. Doch es war genügend Material – oder
sollte ich eher sagen: Nichtmaterial –, damit Sartre seine Analyse
vornehmen konnte. Er bekam die Resultate, die er wollte, auch
wenn der Rest der Erfahrung ein durch und durch schlechter Trip
war, der ihn noch jahrelang verfolgte.
Es ist also möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass ein
Objekt, das vor Ihnen erscheint, nicht wirklich da ist. Es ist möglich, dass der Bleistift, die Tasse oder der King Kong-Schlüsselanhänger oder das Taxi nicht existieren, dass sie bloße Projektionen eines durch Drogen, Alkohol, Fieber, geistige Unordnung,
Hypnose oder alles zusammen verwirrten Geistes sind!
Manchmal können wir zu der Annahme verführt werden,
dass Dinge vorhanden seien, auch wenn sie nicht da sind. Aber
nicht durch Halluzinationen, sondern etwa durch verschiedene
Lichttricks. Wenn ich etwa die Fata Morgana eines Sees in der
Entfernung sehe, ist das keine Halluzination. Ich werde nicht von
meinem Geist getäuscht und nehme an, dass etwas vorhanden
ist, was nicht da ist, sondern ich werde durch bestimmte, äußere,
objektive Bedingungen von Licht und Hitze getäuscht. Wie die
meisten Menschen von ihren Reisen oder aus Wüstenfilmen und
Dokumentationen wissen, ist der scheinbare See nur ein Hitzeschleier, heiße und staubige Luft, die am Horizont schimmert.
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Phase 1: Alles anzweifeln
Es ist möglich, dass alles, was ich für wirklich und präsent
halte, nur eine optische Illusion ist, hervorgerufen durch Lichtspiele, durch den Rauch eines Zauberers, Spiegel oder eine Holographie. Vielleicht ist es unwahrscheinlich, dass das Telefon auf
meinem Schreibtisch nur eine optische Illusion ist. Schließlich
sieht es so solide aus, so sicher über seine eigene Existenz, und
ich meine, mich daran zu erinnern, es früher auch benutzt zu
haben. Dennoch ist es möglich und gewiss nicht über den philosophischen Zweifel erhaben, dass es eine optische Illusion sein
könnte. Es ist grundsätzlich möglich, seine Existenz aufgrund
dieser anscheinend verrückten Gründe bezweifeln, zumindest
zu philosophischen Zwecken.
Alles dieses Reden über Halluzinieren und optische Täuschungen will darauf hinaus, dass die Dinge in ihrer Umwelt
nicht real sein könnten. Ich habe Sie gebeten, sich darauf zu konzentrieren, die Wirklichkeit dieses oder jenes Dings in Zweifel zu
ziehen, aber nicht gleich alles, um die Übung ein wenig einfacher
zu gestalten. Was aber ist, wenn alles, was Sie umgibt, ganz und
gar nicht wirklich ist?
Erscheinung und Wirklichkeit
Was ist, wenn Sie tatsächlich ein körperloses Hirn sind, das in
einem Gefäß mit einer Nährlösung irgendwo auf einem Regal in
einem Kellerlabor auf einem Planeten in einer weit entfernten
Galaxie steht? Ich weiß zwar nicht, warum es eine weit entfernte
Galaxie sein muss; Sie könnten auch ein Gehirn in einem Gefäß in
einem Labor eine Meile von dem Punkt entfernt sein, an dem Sie
gerade zu sein glauben. Die Nährlösung hält das Gehirn, das Sie
sind, am Leben, und eine Gruppe verrückter Wissenschaftler, die
an einem heimtückischen Regierungsprojekt arbeitet, pumpt
mithilfe einer Reihe von Elektroden, die in Ihre äußere Hirnrinde
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Wie man Philosoph wird
eingestöpselt sind, Ihr offenkundiges Gewahrsein der Welt in Sie
hinein.
Es ist eine sehr komplexe Angelegenheit, Sie wahrnehmen zu
lassen, dass Sie in einer Bibliothek sitzen und dieses Buch lesen
oder an einem heißen Sommertag auf einer Blumenwiese im Park
liegen, wo Sie doch nur ein eingelegtes Organ sind, weshalb die
Wissenschaftler einen Supercomputer haben, der sich um den
entsprechenden Input kümmert. Mit Sicherheit ist es ein ausgezeichnetes Programm, das eine PS3 oder eine X-Box vor Scham
erröten lassen würde. Tatsächlich sind sie nur ein winziger Bestandteil dieses Programms. Es kümmert sich nicht nur um das,
was Sie zu sehen, sondern auch um das, was Sie zu hören, riechen, fühlen und zu berühren glauben. Es vermag Sie zu überzeugen, dass Sie einen Körper haben, der zu komplizierten Bewegungen fähig ist; einen Körper, der heiß und kalt spürt,
Hunger und Durst, Vergnügen und Schmerz. Diese virtuelle Realität, die all dies erschafft, ist genauso gut wie die Wirklichkeit,
sogar besser, so viel Sie wissen, außer dass es eben nicht die
Wirklichkeit ist. Vielleicht haben Sie nie die Wirklichkeit erfahren, nur ganz kurz, als Sie noch jung waren, um sich heute daran
zu erinnern – ehe das Gehirn, das Sie jetzt sind, aus dem Körper,
aus dem Schädel, den Sie hatten, entfernt wurde; so wie eine
Walnuss aus ihrer Schale befreit wird.
Befänden wir uns auf einem anderen philosophischen Kurs,
könnten wir eine Menge ethischer Fragen über die grässliche Art
und Weise aufwerfen, in der man Sie behandelt und Ihre grundlegenden Menschenrechte missachtet hat, doch unser philosophischer Kurs ist im Moment streng erkenntnistheoretisch.
Das Szenario mit dem Gehirn in dem Behälter ist heute schon
recht alt; genauso alt wie der Ausdruck »alter Hut«, um etwas
Altmodisches oder Abgelegtes zu beschreiben. Jüngere Philosophen – also alle unter 40 – nennen es »das Matrix-Szenario« anstatt »das Szenario mit dem Gehirn in der Schüssel«, um Zweifel
zu erläutern. Das Matrix-Szenario ist dem von mir beschriebenen
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Phase 1: Alles anzweifeln
ähnlich. Doch anstatt ein Gehirn in der Schüssel zu ersinnen, das
eine Computergenerierte virtuelle oder simulierte Realität erfährt, treten dort Legionen menschlicher Körper in Gefäßen auf,
die eine Computergenerierte virtuelle oder simulierte Realität erfahren. Falls Sie es noch nicht wissen, weil Sie vielleicht auf der
dunklen Seite des Mondes leben oder eine tiefe Aversion gegenüber Science-Fiction hegen – The Matrix ist ein erstklassiger
Science-Fiction-Actionfilm, der 1999 herauskam; Regie und
Drehbuch stammen von Larry und Andy Wachowski, in den
Hauptrollen traten Keanu Reeves, Laurence Fishburne und Carrie-Anne Moss auf.
Der Film und seine beiden Fortsetzungen haben unter
Science-Fiction-Fans, Cyberpunks, Hackern, Gothic-Fans, Kiffern und Philosophielehrern Kultstatus erlangt. Philosophielehrer lieben diesen Film, weil er ihnen hilft, verschiedene komplexe
philosophische Themen durch eine zugängliche, aufregende, dabei gleichwohl durchdachte Illustration dieser Themen den Studenten nahezubringen. Und sie lieben diesen Film auch, weil die
Vorführung der DVD mit der ungekürzten Fassung, dem sogenannten Director’s Cut, ihnen eine Reihe recht angenehmer
Freitagnachmittags-Lehrstunden beschert.
Der Film zeigt eine Welt, in der die Menschen empfindungsfähige Maschinen mit künstlicher Intelligenz geschaffen haben.
Diese empfindungsfähigen Maschinen, die insgesamt klüger,
besser organisiert und weniger anfällig für Erschöpfung sind, haben den Planeten übernommen. Die Industrie hat den Himmel
versengt, die Sonne blockiert, die Benutzung der Sonne als Energiequelle verhindert. Da sie über kein Moralvermögen verfügen,
haben die Maschinen beschlossen, die Menschen als bloße Mittel
zu benutzen. Sie züchten sie auf riesigen Farmen – wegen der
elektro-chemischen Energie, die ihre Körper produzieren. Jeder
menschliche Körper oder jede Batterie lagert in einem Regal oder
Gefäß mit Nährlösung und ist durch Schläuche und Drähte mit
dem Energienetz verbunden. Die Nährlösung ist eine Suppe aus
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Wie man Philosoph wird
verflüssigten Toten – alles sehr effizient und autark. Keine andere Batterie sieht so aus oder hält so lange, doch die Kehrseite
dieses Masterplans besteht darin, dass man die Menschen nicht
einfach im Koma halten kann. Ihre Gehirne müssen stimuliert
werden, sonst vergehen die Körper.
Um dieses Problem zu lösen, haben die empfindungsfähigen
Maschinen die Matrix erschaffen, eine riesige computergenerierte Realität, die in jedem Detail dem späten 20. Jahrhundert
gleicht, dem Stand der menschlichen Zivilisation, bevor die Maschinen die Macht übernahmen. Jedes menschliche Gehirn ist am
Hinterkopf über eine tiefe, einpolige Buchse mit der Matrix verbunden. Zuerst spielte die Matrix den angeschlossenen Menschen eine perfekte Welt vor, doch das funktionierte nicht. Die
Menschen konnten nicht durch vollständiges Glück und vollständige Erfüllung getäuscht werden. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen oder was sie damit anfangen sollten, weshalb sie
immer wieder erfwachten und ihrer schrecklichen körperlichen
Situation gewahr wurden. Daher erschufen die empfindungsfähigen Maschinen eine herausfordernde Matrix, eine simulierte
Welt, die durch bekanntes, alltägliches menschliches Elend und
Leid bestimmt war, was viel besser funktionierte.
Einige wenige Menschen sind den Maschinen ausgewichen
oder entkommen, und sie befreien andere, von denen sie glauben, dass sie ihrer rebellischen Sache am meisten dienlich sein
könnten, aus den Gefäßen. Es ist ein Riesenschock für diese befreiten Menschen, wenn sie entdecken, dass sie näher am Jahre
2199 als an 1999 dran sind und dass die Welt des späten 20. Jahrhunderts mit ihren Gebäuden, Autos, saftigen Steaks und Nachtclubs gar nicht real und nur eine Matrix ist, am Laufen gehalten
von den mitleidlosen Maschinen, die die Menschen als Energieträger gezüchtet haben. Es überrascht nicht, dass manche Menschen diesen Schock nie überwinden; sie wollen alles vergessen
und sofort wieder mit der Matrix verbunden werden. Sie sind
wie die Menschen in Platons Höhlengleichnis, das wir früher be78
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Phase 1: Alles anzweifeln
trachtet haben. Das Licht der Wirklichkeit und Wahrheit überwältigt und erschreckt sie, und sie wollen nichts mehr, als in
Unwirklichkeit und glückselige Unwissenheit zurück zu kriechen.
Woody Allen, der sehr philosophisch gesonnene Komödiant,
schrieb einst: »Cloquet hasste die Wirklichkeit, war sich aber klar
darüber, dass sie noch immer der einzige Ort war, wo man ein
anständiges Steak bekam.« (Nebenwirkungen, S. 13) Nun ja, in
der Welt laut Matrix ist die Matrix der einzige Ort, an dem man
ein gutes Steak kriegt, und sei es auch ein per Mikrochips serviertes Cyber-Steak. Andererseits schmecken, wie zumindest
eine der Hauptfiguren sagt, ein echtes Steak und ein perfekt simuliertes genau gleich. Und wenn sie das nicht tun und Sie noch
nie ein echtes Steak hatten – wie können Sie dann den Unterschied feststellen? Natürlich gibt es keine Steaks oder Kartoffelchips oder sonst einen annehmbaren Fraß außerhalb der Matrix,
nur einen grauen, geschmacklosen Proteinschleim. Und wirklich,
in »der Wüste der Wirklichkeit« außerhalb der Matrix, auf einem
von der Sonne ausgedörrten Planeten, der von bösartigen Maschinen beherrscht wird, gibt es nicht viel Angenehmes außer
der temperamentvollen Trinity (Carrie-Anne Moss). Morpheus
(Laurence Fishburne) sagt zu Neo (Keanu Reeves), als er ihm
die Wahl zwischen der roten Pille, die ihm die Wahrheit über
seine Situation enthüllen wird, und der blauen Pille, die ihm
den unreflektierten Glauben an die Scheinwelt der Matrix verleiht: »Denk dran, ich biete dir nur die Wahrheit, nichts sonst.«
Wie sehr ähnelt das Studium der Philosophie doch dem Einnehmen der roten Pille.
The Matrix wirft noch viel mehr philosophische Fragen auf
als solche, die sich um die Existenz und Natur der äußeren Welt
drehen; es sind Fragen zur menschlichen Evolution, künstlichen
Intelligenz, den Glauben an sich selbst, Wahrheit, Freiheit, Moral, Hoffnung, Verzweiflung und Schicksal, so dass es mich ganz
durcheinanderbringt. Das erste Mal sah ich diesen ausgezeichne79
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Wie man Philosoph wird
ten Film am Ende einer Party, als ohnehin schon ein gewisses
Maß an Bewusstseinsbildung eingesetzt hatte. Aber ich glaube,
der Film hätte mich sowieso umgehauen. Wenn Sie ihn noch
nicht gesehen haben, holen Sie das bitte nach. Vielleicht wollen
Sie dann sogar eines oder mehrere der Bücher lesen, die über The
Matrix und Philosophie geschrieben wurden, etwa Zwischen Illusion und Wirklichkeit. Wachowskis Matrix als filmische Auseinandersetzung mit der digitalen Welt von Christof Wolf oder Matrix –
Die Ambivalenz des Realen. Die Inszenierung von Wirklichkeit und
Illusion im erkenntnistheoretischen und kunsthistorischen Kontext
von Veit M. Etzold. Dies sind nur ein paar der erhältlichen Buchtitel eines regelrechten Matrix-Marktes.Wenn Sie sie alle gelesen
haben, können Sie vielleicht selbst einen weiteren Titel verfassen. Es gibt immer Platz für mehr.
Doch meine Studenten zitieren gerne noch ein weiteres Szenario, wenn sie das Zweifel-Spiel spielen; gemeint ist Red Dwarf.
Back to Reality. Wieder gilt: Wenn Sie auf der dunklen Seite des
Mondes leben oder Science-Fiction wie die Pest meiden, haben
Sie wohl noch nichts von der Red Dwarf-Science-Fiction-Fernsehkomödie gehört, die von Rob Grant und Doug Naylor geschrieben wurde. Sie zeigt vier Weltraumreisende: Lister, den
letzten Menschen, Rimmer, einen Hologramm-Menschen, Cat,
eine humanoide Katze, und Kryten, einen Diener-Roboter. Diese
gestörten, dabei aber besonders einfallsreichen Sonderlinge sind
im Weltraum verloren, und zwar an Bord des sechs Meilen langen, fünf Meilen hohen und vier Meilen breiten Bergbauraumschiffs »Red Dwarf«. Für diejenigen unter Ihnen, die keine Astronomen sind: Ein Red Dwarf, ein Roter Zwerg, ist ein relativ
kleiner, relativ kalter, am unteren Ende der Größenskala angesiedelter Massenstern.
Die sehr populären (ursprünglichen) acht Red Dwarf-Staffeln
liefen zwischen 1988 und 1999 auf BBC und werden gegenwärtig
spät nachts auf kleineren digitalen Kanälen ständig wiederholt.
Auch sie sind es wert, dass Sie sie ansehen, wenn es Ihnen nichts
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Phase 1: Alles anzweifeln
ausmacht, dass die Witze und deren Tiefgang ständig von Werbung unterbrochen werden. Vielleicht besorgt man sich besser
die DVDs. Jeder Philosophielehrer, der seine Freitagnachmittagsseminare möglichst stressfrei halten möchte, hat die komplette
Sammlung zu Hause.
Abgesehen davon, dass Red Dwarf zum Brüllen komisch ist
und einige superbe Sprüche bereithält, lotet diese Serie einen
weiten Bereich philosophischer Themen aus. Die Vielfalt seiner
philosophischen Themen ist bestimmt genauso breit gefächert
die The Matrix, das es höchstwahrscheinlich beeinflusst hat.
Wenn Sie sich die Folge Back to Reality ansehen wollen: Es ist
die sechste und letzte Folge der fünften Staffel von Red Dwarf.
Über weite Strecken hat die Folge Back to Reality das gleiche
Thema des »unsanften Erwachens« wie The Matrix. Vier der
Hauptfiguren entkommen gleichzeitig aus der totalen Versenkung einer Computersimulation in eine raue und feindliche Realität. Lister, Rimmer, Cat und Kryten entdecken schockiert, dass
ihr leidlich angenehmes, abenteuerliches Leben als absonderliche
Crew des Raumschiffes Red Dwarf eine bloße Illusion war. Die
Welt, in der sie sich jetzt wiederfinden, ist ein öder, totalitärer
Staat. Das Spiel ist aus, die Existenz als Weltraumreisende, die sie
definiert hat, ist vergangen, und ohne diesen Hintergrund wissen sie nicht mehr, wer sie sind.
Ein jeder fällt in Verzweiflung und verliert den Lebenswillen,
nachdem er entdeckt hat, dass er genau die Art von Mensch ist,
die er verachtet. Rimmer, früher so pingelig und aufgeblasen,
findet, dass er ein schlampiger Alkoholiker und Aussteiger ist,
der seinen Eltern für sein Versagen nicht länger die Schuld zuschieben kann. Lister, der stolz darauf war, ein guter Mensch und
moralisch tapfer zu sein, entdeckt, dass er ein mörderischer Geschützführer im totalitären Staat ist. Kryten bricht bald aus der
ursprünglichen Anweisung seiner mechanoiden Existenz aus, als
er einen Mann umbringt, während Cat seine kühle Ausstrahlung,
sein Aussehen und sein Gespür für Kleidung verliert.
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Wie man Philosoph wird
Sie wollen gerade Selbstmord begehen, als der Computer an
Bord von Red Dwarf sie aus ihrem kollektiven Albtraum zurück
in die Realität holt. Es stellt sich heraus, dass sie sich nur vorgestellt haben, aus einem Computerspiel auszubrechen und in
einen trostlosen totalitären Staat einzutauchen. Es war alles nur
eine Halluzination, bewirkt durch die halluzinogene, Verzweiflung bewirkende, giftige Tinte eines gigantischen Verzweiflungs-Tintenfisches.
Diese klassische Red Dwarf-Episode stellt unsere Sicherheit
bezüglich dessen in Frage, was real ist. Sie lässt uns glauben, dass
das, was wir für real hielten, nur eine Simulation oder ein Traum
war, um dann zu enthüllen, dass das Aufwachen tatsächlich ein
Einschlafen war. Die Red Dwarf-Crew ist verständlicherweise erleichtert, dass sie am Ende doch die Red Dwarf-Crew ist. Aber
wie können sie das mit Sicherheit wissen? Vielleicht sind sie ja
nicht diese Crew.Vielleicht sind vier Individuen in einer Zimmerflucht der künstlichen Realität und werden zu der Annahme verleitet, dass sie nicht mehr die Red Dwarf-Crew sind.
Viele Philosophen sagen, man könne nicht mit Sicherheit
wissen, dass die Welt, in der man sich wähnt, kein Traum ist.
Und wenn es plötzlich so scheint, als würde man aus dem Traum
erwachen, kann man tatsächlich nicht mit Sicherheit wissen, ob
man nicht eingeschlafen ist. Vielleicht träumen Sie das alles,
während Sie in einer Realität umher schweben, die Sie nie erfahren haben. Sind Sie jetzt verwirrt? Ich fange schon selbst an,
mich zu verwirren und mir zugleich ein verwirrendes Gefühl der
Irrealität zu bescheren. Doch es geht darum, dass man nie absolut sicher sein kann, was real ist. Der Ausdruck »Realität« wird so
verschwommen, dass man sich unmöglich mehr daran festhalten
oder wissen kann, worauf er sich wirklich bezieht.
Die Buddhisten benennen das alles recht poetisch, indem sie
sagen, es wäre sehr wohl möglich, dass man in diesem Augenblick ein Schmetterling ist, der träumt, ein Mensch zu sein. Wenn
man aber plötzlich aufwacht und spürt, wie man an einem Som82
wbg Cox p. 83 / 3.2.2015
Phase 1: Alles anzweifeln
mermorgen um die Kohlköpfe flattert und versucht, nicht von
Vögeln gefressen zu werden, wie soll man dann wissen, dass
man nicht wirklich ein Mensch ist, der plötzlich zu träumen angefangen hat, er wäre ein Schmetterling? Vielleicht haben Sie die
Möglichkeit bemerkt, dass Sie ein Schmetterling sind, der
träumt, er wäre ein Mensch oder etwas Ähnliches (für unsere
Zweifel-Übung). Vergessen Sie diese Zweifel-Übung nicht. Sie
führen sie immer noch aus, während Sie dasitzen und dieses
Buch lesen, oder während Sie die Kohlköpfe umflattern und sich
vorstellen, Sie läsen dieses Buch.
Solipsismus – gibt es etwas da draußen?
Bis hierhin lag der Fokus auf bestimmten Dingen, die da zu sein
scheinen und nicht da sind; und er lag auf der Welt, die da zu sein
scheint und dabei ganz anders ist als die Welt, die da ist. Mit
anderen Worten, alle Zweifel, die wir bisher betrachtet haben,
unterstellen, dass es eine irgendwie geartete äußere Welt gebe;
dass da draußen etwas sei, irgendeine Wirklichkeit außerhalb
unseres Geistes, auch wenn man, wie das Gehirn im Behälter
oder die große Mehrheit der Menschen in Matrix, die sich nie
von den Steckern befreien können, keine Berührung mit dieser
verborgenen Wirklichkeit hat und auch nie haben wird. Aber
vielleicht gibt es ja auch keine Wirklichkeit da draußen.Vielleicht
ist ja sogar gar nichts außerhalb Ihres Gehirnes! Ich meine nicht
eine unendliche Leere des Raumes, ich meine absolut gar nichts,
nichts, nada, nothing, rien du tout, null. (Man kann sich das
Nichts nur schwer vorstellen; vielleicht, weil es da nichts zum
Vorstellen gibt.) Vielleicht sind Sie ja nicht einmal ein Gehirn in
der Schüssel oder ein Kleinhirn in einem Eimer.Vielleicht sind Sie
nur ein unphysikalischer, entkörperlichter Geist, der träumt, dass
die Welt existiere.
Das läuft natürlich darauf hinaus, zu behaupten, Ihr Geist
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