Schweizer Musikzeitung Nr. 3 / März 2007 5 Neue Lesarten zu Othmar Schoeck Am 8. März hat sich der Todestag des bedeutenden Schweizer Komponisten zum 50. Mal gejährt (SMZ) Über 400 Lieder hat Othmar Schoeck komponiert; dazu kommen acht Opern und einige wenige Kammermusikwerke und Konzerte. Das Gedenkjahr eröffnet zahlreiche Möglichkeiten, die Vielschichtigkeit seiner Werke zu entdecken. Zudem erinnert eine Wanderausstellung an die grossen Leistungen des Komponisten. Verena Naegele Als «letzter Liedmeister» oder gar als «letzter Romantiker» wird Othmar Schoeck in klischeehafter Vereinfachung gerne genannt; eine Bezeichnung, die allerdings zu kurz greift. Neben dem Liedlyriker gibt es auch noch den Operndramatiker, der nicht weniger als acht Werke der Gattung hinterlassen hat. Und auch wenn nur wenige Kammermusikwerke existieren, so hat Schoeck doch zwei gewichtige Violinsonaten, zwei Streichquartette, und dazu so bedeutende konzertante Werke wie das Violinkonzert oder das Hornkonzert komponiert. Gar keinen Sinn hatte Schoeck hingegen für das Pädagogische. Von ihm gibt es nur ganz wenige Klavierstücke, und auch die sind anspruchsvoll. Und wenn Schoeck für seine Chöre komponierte, nahm er weder technisch noch harmonisch Rücksicht auf die «Dilettanten». Natürlich bildet das über 400 Nummern umfassende Liedschaffen den Schwerpunkt von Schoecks über mehr als fünf Jahrzehnte sich erstreckendes Wirken, und zweifellos bildet eine an spätromantische Harmonik angelehnte Musiksprache das Rückgrat von Schoecks Kunst. Es kommt dazu, dass Schoeck sich stark dem deutschen Kulturkreis verbunden fühlte und er sich nicht scheute, die Opern Massimilla Doni (1937) und Schloss Dürande (1943) im Hitler-Deutschland uraufzuführen. Zunehmende Isolation nach dem Weltkrieg war die Folge, was sich einerseits auf Schoecks immer pessimistischere Musiksprache auswirkte, andererseits auch zum Verschwinden der Werke aus dem Konzertsaal beitrug. Doch war es gerade auch die ältere Rezeption um die Schweizer Schoeck-Freunde Hans Corrodi und Werner Vogel, die den retrospektiven Aspekt in Schoecks Œuvre betonten und die Modernität zu wenig gewichteten. Zudem hielt sich Schoeck fast ausschliesslich an herkömmliche Gattungen und Formschemata, sei es bei den Violinsonaten, den Opern wie dem Singspiel Erwin und Elmire, dem Musikdrama Venus oder den Klavierliedern. Das Bild des Traditionalisten hat denn auch massgeblich die Schoeck-Interpretation geprägt. Erst der britische Musikwissenschafter Chris Walton begann in seiner vieldiskutierten Schoeck-Biographie mit diversen Klischees aufzuräumen und betont: «Wer an der tonalen, spätromantischen Oberfläche kratzt, (...) der entdeckt darunter durchaus moderne Spuren. Othmar Schoeck mit der Sängerin Julia Moor (Tinti in Massimilla Doni) und Karl Schmid-Bloss, dem Direktor des Stadttheaters Zürich zwischen 1931 und 1947. Foto: Stadtarchiv Zürich Solche avantgardistischen Elemente sind integrale Bestandteile von Schoecks Musiksprache.» Werke wie das Notturno für Streichquartett und Stimme oder die Oper Penthesilea belegen mit Expressivität bei maximaler Durchhörbarkeit diese Einschätzung. Der 1886 in Brunnen geborene Othmar Schoeck gehörte zusammen mit Arthur Honegger und Frank Martin zur ersten bedeutenden Generation von Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts. Schoeck war das jüngste von vier Kindern des Kunstmalers Alfred Schoeck und der Hoteliertochter Agathe Fassbind in Brunnen. Eigentlich sollte Othmar in die Fusstapfen des Vaters treten, weshalb er zuerst Malunterricht bei Hermann Gattiker und Ernst Würtenberger erhielt. Zahlreiche, wenig bekannte Aquarelle, Öl- und Bleistiftskizzen zeugen vom zeichnerischen Talent Schoecks, der sich zudem bis weit in die Zwanzigerjahre hinein auf Postkarten an Freunde und in Gästebucheintragungen mit Karikaturen präsentierte. Erste Erfolge 1905 begann Schoeck dann ein Musikstudium am Konservatorium Zürich bei Friedrich Hegar, Carl Attenhofer und Lothar Kempter, das er von 1907 bis 1908 bei Max Reger in Leipzig abschloss. Anschliessend kehrte er nach Zürich zurück, wo er bis zu seinem Tod 1957 wohnte. Einen ersten grossen Erfolg errang Schoeck kurz nach seiner Rückkehr aus Leipzig beim Tonkünstlerfest in Baden, wo seine Serenade op. 1 und die Ouvertü- re zu William Ratcliff von Heine aufgeführt wurden. Wichtige Impulse vermittelte ihm in dieser Zeit die junge ungarische Geigerin Stefi Geyer, der er die D-Dur-Violinsonate op. 16 widmete, ein Meisterwerk mit liedhafter Melodik und an Brahms anknüpfender variativer Verdichtung. Im Rahmen des Zyklus «Connaissez-vous Schoeck» wird das Werk am 18. März von Thomas Wicky in Riehen gespielt. Geyer, welche das heftige Liebeswerben von Schoeck nicht erwiderte, inspirierte ihn zu seinem Violinkonzert op. 21 «Quasi una fantasia», in welchem er seinen Liebesschmerz zu verarbeiten suchte. In seinem Exemplar des Klavierauszuges sind über einigen Passagen veritable Liebeserklärungen in Worten notiert. Insgesamt besticht das konventionell dreisätzige Werk durch die Unmittelbarkeit des Ausdrucks und das über weite Strecken lyrische Monologisieren des Soloinstrumentes. 1909 wurde Schoeck dann Dirigent des Männerchors Aussersihl Zürich und 1911 zusätzlich Leiter des Lehrergesangsvereins Zürich. Zwar mochte der Komponist und Musiker das konservative Männerchorwesen nicht, musste sich aber vorerst als Chordirigent seinen Lebensunterhalt verdienen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte für Schoeck grosse finanzielle Einbussen zur Folge, die 1916 durch ein Stipendium des Winterthurer Mäzens und Klarinettisten Werner Reinhart (1884–1951) gemildert wurden. 1917 wurde Schoeck zudem als Kapellmeister des Konzertvereins St. Gallen berufen, wo er bis 1944 blieb, als er während eines Konzerts mit Herzinfarkt zusammenbrach. 6 Revue Musicale Suisse N° 3 / Mars 2007 Veranstaltungen zum Gedenkjahr Wanderausstellung: «Othmar Schoeck – Komponieren und Leben in der Schweiz», Stadthaus Winterthur mit einem Vernissagekonzert (8. März – 2. Mai); Tonhalle St. Gallen (9. Mai – 8. Juni); Brunnen, Galerie am Leewasser (17. Juni – 22. Juli); Tonhalle Zürich (September). Konzerte: Tonhalle St. Gallen, 24. Mai, 19.30 Uhr, Sinfonieorchester St. Gallen, Leitung: Jiři Kout, Schoeck: Sommernacht op. 58, dazu Werke von Alban Berg, Igor Strawinsky und Richard Strauss; Brunnen SZ, 17. Juni 19.30 Uhr, Anne-Florence Marbot, Sopran, Hans-Jürg Rickenbach, Tenor, Hansjürg Kuhn, Klavier, Schoeck: Wandsbecker Liederbuch op. 52 und diverse Lieder; Tonhalle Zürich, 1. September 19.30 Uhr, Bettina Boller, Violine, Walter Prossnitz, Klavier, Schoeck: Violinsonaten op. 16 und op. 46, dazu Werke von Schumann und Schönberg. Siehe auch: www.othmar-schoeck.ch Werner Reinhart unterstützte den Komponisten über Jahrzehnte und ermöglichte ihm finanziell ein mehr oder weniger sorgenfreies Leben. 1924 widmete Schoeck seinem Winterthurer Förderer als Dank seine Liederfolge nach Gedichten von Gottfried Keller Gaselen op. 38. Reinhart war es auch, der sich unermüdlich um Aufführungsmöglichkeiten von Schoeck-Werken in Deutschland bemühte. So wurden von den insgesamt acht vollendeten musikdramatischen Werken nicht weniger als fünf in Halle, Dresden und Berlin uraufgeführt. Die Uraufführung von Das Schloss Dürande 1943, das Reinhart im nationalsozialistischen Berlin durchsetzte, wurde jedoch zum Desaster. In der Schweiz hagelte es für Schoeck harsche Kritiken, was nach dem Weltkrieg eine zunehmende Vereinsamung und Verbitterung zur Folge hatte. Den Anfang der deutschen Uraufführungen machte 1921 in Halle Das Wandbild, eine dramatische Szene und Pantomime auf einen Text von Komponistenfreund Ferruccio Busoni. Erlebte die dreiaktige, spätromantische Venus ihre Uraufführung 1922 noch im heimatlichen Zürich, so wurde Penthesilea 1927 an der Sächsischen Staatsoper in Dresden uraufgeführt. Unter dem Eindruck von Werken Schönbergs, Bergs und Hindemiths hatte Schoeck in dieser Zeit mit einer dissonanteren Schreibweise zu experimentieren begonnen, wovon Penthesilea eindrückliches Zeugnis ablegt. Wie ein vorüberrauschender Sturmwind Das Ausnahmewerk steht inhaltlich und stilistisch zwischen den expressionistischen StraussOpern Salome und Elektra sowie dem Wozzeck von Alban Berg. Im Kampf zwischen Griechen und Amazonen verliebt sich Achilles in Penthesilea und lässt sie nach deren Besiegung im Glauben, den Kampf gewonnen zu haben. Bei einem neuerlichen Kampf zerfleischt Penthesilea im Wahn den waffenlosen Achill. Schoeck kompri- miert die kleistsche Vorlage in seiner Vertonung auf diese tragische «Urfeindschaft der Geschlechter». «Das Stück muss vorüberrauschen wie ein Sturmwind, dass der Hörer überhaupt nicht zum Aufatmen kommt und erst am Schluss aus der Spannung entlassen wird», meinte Schoeck zu seinem Meisterwerk. Diese Prämisse hat Penthesilea, deren bitonale Schockwirkungen diejenigen von Strauss fast noch überflügeln, durchgehend erfüllt; ja, das lyrisch-beruhigende Liebesduett zwischen Penthesilea und Achilles wurde gar erst nach der Uraufführung in Dresden von Schoeck dazukomponiert. Trotzdem ist Penthesilea, in der die «Hörner brüllen wie die Uristiere», so der Musikkritiker Willi Schuh, eine expressionistische Klangekstase, ein faszinierender «SchoeckSchock» geblieben, der in jüngster Zeit zu mehreren interessanten Neuinszenierungen führte. Das Theater Basel wird das Werk im September 2007 unter Leitung von Mario Venzago neu herausbringen. Venzago hat zudem bei Claves erstmals das umfangreiche gross besetzte Chorschaffen eingespielt. Zum Besten, was Schoeck komponiert hat, sind zahlreiche Lieder zu zählen. Zyklen wie die Elegie für Kammerorchester nach Gedichten von Eichendorff und Lenau (1922/23), Lebendig begraben nach der Gedichtfolge von Gottfried Keller für tiefe Stimme und Orchester (1926) und das Notturno für Streichquartett und eine Singstimme nach Texten von Lenau und Keller (1932) gehören zum Persönlichsten und Prägnantesten, was an Liedvertonung des 20. Jahrhunderts in Europa entstanden ist. Auch die späten Zyklen wie die kurz nach dem Weltkrieg uraufgeführten Unter Sternen nach Keller und Das stille Leuchten nach C. F. Meyer oder der Mörike-Liederkreis Das holde Bescheiden für mittlere Stimme und Orchester müssen in diesem Zusammenhang genannt werden, obwohl gerade letzteres die romantische Ästhetik nicht verleugnet. Nach dem Muster von Hugo Wolf gestaltete Schoeck ein veritables Liederbuch mit 40 MörikeLiedern, das er «Meiner lieben Frau», der Sängerin Hilde Bartscher widmete, die den Zyklus auch uraufführte. Seinem Freund Hans Corrodi vertraute er resigniert an, er schreibe seine Mörike-Lieder ganz allein für sich selbst: «Es hat ja keinen Sinn mehr – von Mörike will niemand etwas wissen.» Besonderes Gewicht bei den Liederzyklen gebührt sicherlich dem Notturno, das nur schon mit seiner aussergewöhnlichen Besetzung für Streichquartett und Stimme aufhorchen lässt und an Schönbergs frühes Streichquartett fisMoll op. 10 erinnert. Im Melodrama Ode an Napoleon op. 41 hat sich Schönberg später noch einmal mit dieser Besetzung auseinandergesetzt. Schoeck selber hat das Notturno in den Umkreis der Zweiten Wiener Schule gebracht, wie aus den Aufzeichnungen von Werner Vogel hervorgeht. Zudem verweist auch die Verwendung einer Chaconne im Schlussstück darauf, hat doch Alban Berg mit alten Tänzen wie der Chaconne, die mit der Passacaglia verwandt ist, experimentiert. Der fünfteilige, rund 45-minütige von Pessimismus und Depression geprägte Zyklus Notturno besticht durch die Ausgewogenheit der Form und den hohen Ausdrucksgehalt. Durch das Aufbrechen der harmonischen zugunsten einer polyphonen Lesart und eines dynamischeren Zugriffs haben Interpreten wie das Carmina Quartett und Mathias Goerne jüngst gezeigt, wie aufregend vielschichtig Schoeck sein kann. Das Carmina-Quartett spielt das Notturno übrigens am 10. Mai beim Musikpodium in Zürich. Insgesamt vermitteln Schoecks Musikalisierungen den Gedichten eine intensive Leuchtkraft und lyrische Verdichtung. Hermann Hesse, ein enger Freund Schoecks, hat einmal zu den Liedern geschrieben: «In Schoecks Vertonungen ist nirgends das leisestete Missverständnis des Textes, nirgends fehlt das zarteste Gefühl für die Nuancen, und überall ist mit fast erschreckender Sicherheit der Finger auf das Zentrum gelegt, auf jenen Punkt, wo um ein Wort oder um die Schwingung zwischen zwei Worten sich das Erlebnis des Gedichts gesammelt hat. Gerade dieses Erfühlen der Keimzelle in jedem Gedicht war mir stets das sicherste Kennzeichen für Schoecks Genialität.» Es lohnt sich, die Werke Schoecks einer neuen, an Erkenntnissen der jüngeren Zeit geschärften LesÚ art zu unterziehen. Redécouvrir Othmar Schoeck Le compositeur Othmar Schoeck est décédé il y a tout juste cinquante ans le 8 mars. Auteur de plus de 400 lieds, on le considère parfois comme le dernier maître du genre, voire comme le dernier romantique. Mais il ne faut pas oublier qu’il a aussi écrit 8 opéras, ainsi que quelques concertos et œuvres de musique de chambre. Othmar Schoeck était proche de la scène musicale allemande, et son image s’est ternie du fait que deux de ses opéras ont été créés en Allemagne durant la période nazie. On lui a aussi collé une étiquette de compositeur traditionaliste et cantonné à un ou deux genres. C’est le musicologue anglais Chris Walton qui a fait table rase de ces clichés et a en quelque sorte réhabilité le compositeur après des années d’oubli. Formé au Conservatoire de Zurich, puis à Leipzig – avec Max Reger –, Schoeck a passé la majeure partie de sa vie à Zurich. Il dirigea des chœurs, fut maître de chapelle à la « Konzertverein » de Saint-Gall, et consacra le reste de son temps à la composition. Son ami Hermann Hesse admirait chez Schoeck la capacité de retranscrire en musique la plus petite nuance du texte. L’un de ses chefs-d’œuvre est le cycle de lieds Notturno, une pièce teintée de pessimisme et de dépression, qui rappelle le quatuor op. 10 de Schönberg. Ecrit pour quatuor à cordes et voix, Notturno sera interprété par le Carmina-Quartett le 10 mai prochain au Musikpodium de Zurich. Résumé et traduction : Jean-Damien Humair