Musiktheater - Historisches Lexikon der Schweiz

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04/04/2016 |
Musiktheater
Als Verbindung von Musik und szen. Darstellung umfasst M. im weiten Sinn v.a. Oper, Operette und deren
Vorläufer sowie das experimentelle M. des 20. Jh., Ballettmusik (Ballett und Tanz), Musical und Musik für
Festspiele.
1 - Musiktheater bis ins 18. Jahrhundert
Vorläufer des M.s waren die ma. Geistlichen Spiele und das M. an Klöstern und Jesuitenschulen (v.a. am
Kloster Einsiedeln, ab 1578 am Jesuitengymnasium in Luzern und ab 1646 in Solothurn). Fehlendes fürstl.
Mäzenatentum und strenge Sittenregeln in den ref. Gebieten behinderten jedoch die Entwicklung des M.s in
der Schweiz. In der kath. Kurstadt Baden, die als erste schweiz. Stadt ab 1675 einen eigenen Theatersaal
besass, boten Wandertruppen u.a. Theater mit Bühnenmusik oder kantatenartiger Zwischenaktmusik,
Singspiele und eigentliches M. dar. In Luzern, wo 1740 das Jesuitentheater zum Obrigkeitl. Comödienhaus
geworden war, entstanden Ende des 18. Jh. Opern, Operetten, Singspiele, Opernpantomimen und
Bühnenmusiken (u.a. 1781 die komische Dialektoper "Die Engelberger Talhochzeit" von Franz Joseph Leonti
Meyer von Schauensee). Auch in anderen deutschsprachigen Städten wurden häufig Marionettentheater und
Musiktheateraufführungen bewilligt. Es gibt auch Hinweise darauf, dass durchreisende Truppen in
geschlossenen Gesellschaften in Privat- und Zunfthäusern Teile aus Opern und Singspielen konzertant
aufführten.
Die Städte in der franz. Schweiz eröffneten erst nach 1760 eigene Theater. Genf, ab dem 17. Jh. oft
Schauplatz von Wandertruppen mit M., erlebte die erste dokumentierte Opernaufführung 1766 im Théâtre de
Rosimond (1768 abgebrannt), Neuenburg im selben Jahr im Bâtiment de Musique. Bedeutend für die
Entwicklung der französischsprachigen Opéra comique und des Melodramas war Jean-Jacques Rousseau mit
seinem Singspiel "Le Devin du village" (1752).
Noch wenig erforscht ist die Geschichte des M.s im Tessin und dessen Beziehungen zu den ital.
Nachbarstädten. Im 17. und 18. Jh. sind bewilligungspflichtige Opernaufführungen in Privathäusern für
Bellinzona und Lugano (dort auch im Collegio di Sant'Antonio) dokumentiert, für das 18. und 19. Jh. in Locarno
in der Sala grande comunale im Palazzo governativo.
Autorin/Autor: Dorothea Baumann
2 - Das 19. und 20. Jahrhundert
Seit der Helvetik sind in der ref. Deutschschweiz zunehmend Opernaufführungen dokumentiert, so in Bern ab
1799 und in St. Gallen ab 1803 (1805 Eröffnung des Aktientheaters). Von den 1830er Jahren an entstanden
auch in den anderen Städten feste Theater mit regelmässigen Musiktheateraufführungen. Das 1891 erbaute
neue Stadttheater in Zürich wurde als erstes Haus ab 1926 ein reines Operntheater (seit 1964 Opernhaus). In
Genf setzte sich die Tradition des M.s aus dem 18. Jh. fort, in Lausanne gab es nach deutschsprachigen
Aufführungen zwischen 1830-65 und ab 1871 im Théâtre municipal (seit 1983 Opéra de Lausanne) feste
Opernspielpläne, seit 1954 finden Operngastspiele und Ballettaufführungen auch im Théâtre de Beaulieu statt
(1987-2007 durch Maurice Béjart). In der ital. Schweiz wurden auf den Bühnen von Lugano im ganzen 19. Jh.
Opernaufführungen gezeigt, das 1846-47 erbaute Teatro Sociale in Bellinzona bot 1876 erstmals eine ganze
Opernsaison. In Brissago wurde 1999 eine Stiftung mit Museum und Festwochen zu Ehren des ital.
Opernkomponisten Ruggero Leoncavallo gegründet, der 1904-14 dort lebte.
Das Repertoire war in der 1. Hälfte des 19. Jh. von der Opéra comique eines François Adrien Boieldieu,
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Etienne Nicolas Méhul und Daniel-François-Esprit Auber oder von den Opern von Carl Maria von Weber
geprägt. Erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. setzten sich die Opern von Wolfgang Amadeus Mozart und die ital.
Opern durch. Von Zürich aus, wo Richard Wagner 1853 selbst erstmals Auszüge aus dem "Ring der
Nibelungen" vorgelesen hatte, eroberten dessen Opern nach und nach die Musiktheaterbühnen der Schweiz.
Für viele Schweizer Theater stellte damals die Besetzung der Opern ein grosses Problem dar; sie griffen daher
oft auf die grossen Laienchöre der jeweiligen Stadt zurück. Umgekehrt wagten sich aber auch Gesangvereine
und Laientheater an die Aufführung von Opern, legten allerdings das musikal. Schwergewicht auf die Chöre
und überliessen den Instrumentalpart meist nur dem Klavier oder einigen wenigen Instrumentalisten. Ende
des 19. Jh. hatte die Oper aber die städt. Bühnen erobert und galt nun als Prestigeobjekt kommunaler
Kulturpolitik. Als wenig gehörter Reformer der Wagner-Aufführungen (Inszenierungen in Mailand und Basel)
profilierte sich zu Beginn des 20. Jh. Adolphe Appia. Zum führenden Institut entwickelte sich im späten 20. Jh.
das Zürcher Opernhaus mit wichtigen Ur- und Erstaufführungen und bedeutenden Zyklen (u.a. dem
Monteverdi-Zyklus 1975-79 und Mozart-Zyklus 1980-87 mit Jean-Pierre Ponnelle und Nikolaus Harnoncourt).
Wenn auch vorübergehend von einer Jugend- und Alternativkultur als elitär angefeindet (Zürcher
Opernhauskrawall, 1980), erlangte das Haus unter dem Intendanten Alexander Pereira (1991-2012) internat.
Bedeutung. Gleichzeitig setzte im Anschluss an die Musicalwelle eine Popularisierung der Oper ein: u.a. im
röm. Amphitheater von Avenches (Festival d'opéra seit 1994), im Fussballstadion St. Jakob in Basel und beim
Ope(r)n Air auf der Waldbühne in Arosa finden Freilichtaufführungen mit jeweils mehreren Hundert
Mitwirkenden statt.
Eine ganz andere Tradition des M.s erwuchs aus dem nationalen Festspiel um die Wende zum 20. Jh.; das
erste klass. Festspiel, die Sempacher Schlachtfeier von 1886, entstand durch die Umarbeitung einer Kantate
von Gustav Arnold in ein Bühnenstück. Angesehene Musiker wie Hans Huber, Emile Jaques-Dalcroze, Karl
Munzinger u.a. komponierten die Musik zu weiteren Festspielen der Jahrhundertwende. Eine Spätblüte erlebte
das Festspiel in der Zeit der geistigen Landesverteidigung (u.a. "Sacra Terra del Ticino" 1939). In der
Heimatschutzbewegung wurde in einigen Regionen das Singspiel populär (u.a. "Dursli und Babeli" von
Edmund Wyss, 1913) .
Neue Impulse kamen von Werken, die sich von der grossen Oper entfernten wie Igor Strawinskys "Histoire du
soldat" (Uraufführung 1918 in Lausanne), aber auch vom epischen Theater (Bertolt Brecht), der Revue und
dem Cabaret. Nach dem 2. Weltkrieg eroberte auch das amerikan. Musical die Schweizer Bühnen. Mit dem
Eventmarketing in den 1990er Jahren hielt das Show-Musical Einzug (u.a. "Cats", "Hair", "The Phantom of the
Opera", "Jesus Christ Superstar"). Es gastierte in Werk- und Messehallen, die zu kommerziell betriebenen
Musical-Theatern umgebaut wurden (1991-98 Musical-Theater in der Fabrikhalle der ABB in Zürich Oerlikon,
seit Dez. 2006 in Zürich das Theater 11 im umgebauten Stadthof 11, 1994 Musical-Theater Basel in der
Messehalle 106, seither in Halle 107). Das Schweizer Musical "Space Dream" von Harry Schärer und den Think
Musicals AG erlebte von 1994 bis 2007 mehr als 1'000 Aufführungen in Berikon, Baden, Berlin und Winterthur
mit rund 620'000 Zuschauern.
Autorin/Autor: Dorothea Baumann
3 - Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts
Viele Schweizer Opernkomponisten des 19. Jh. wie Hermann Goetz ("Der Widerspenstigen Zähmung" 1874),
Franz Xaver Schnyder von Wartensee, Joachim Raff (sechs Opern), Felix Draeseke (sieben Opern), Alois
Methfessel, Charles Samuel Bovy-Lysberg orientierten sich stilistisch an der dt. und franz. Oper. Eine neue
musikal. Entwicklung, die sich von der Tradition des Wagner'schen Musikdramas und der Gattung der Oper
distanzierte, leitete u.a. das Werk von Emile Jaques-Dalcroze und Frank Martin, aber v.a. die
Musiktheateraufführungen am Théâtre du Jorat in Mézières (VD) ein, wo es zu einer Zusammenarbeit
zwischen René Morax, Gustave Doret und Arthur Honegger kam (szen. Oratorium "Jeanne d'Arc au bûcher"
1935). Die ältere deutschsprachige Generation mit Hans Huber, aber auch noch Othmar Schoeck, blieb
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stilistisch mit der dt. Musik des späten 19. Jh. verbunden. Schoecks frühe Opern (u.a. "Penthesilea" 1923-25)
führten darüber hinaus zum Expressionismus, Modernismus und epischen Theater, während sich seine
späteren Opern dem Stil der 1930er Jahre von Richard Strauss annäherten. Opern im herkömml. Sinn
schrieben auch Heinrich Sutermeister (sieben Opern, 1936-85) und Rudolf Kelterborn (sechs Opern bis 1991),
während Willy Burkhard, Armin Schibler (u.a. "Antoine und die Trompete" 1983, mit Jazz-Rockgruppe) und
Wladimir Vogel (das Dramma-Oratorio "Die Flucht" nach Robert Walser, 1966) neue musikdramat. Strukturen
suchten. Paul Burkhard, zunächst als Komponist von Bühnenmusiken für das Zürcher Schauspielhaus tätig
(1941 Musik zur Uraufführung von Brechts "Mutter Courage"), komponierte 1951 "Die kleine Niederdorfoper",
die von Cabaret und Revue geprägt ist. Der Einfluss des Musicals zeigt sich in den Werken von Guy Bovet,
Bruno Spoerri und Hans Moeckel. Klaus Huber ("Jot oder wann kommt der Herr zurück" 1972-73, "Im
Paradiese oder Der Alte vom Berge" 1975, "Schwarzerde" 1997-2001), Jürg Wyttenbach (u.a. "Gargantua chez
les Helvètes du Haut-Valais oder: Was sind das für Sitten!?" 2001) und Heinz Holliger (u.a. "Der magische
Tänzer" 1963-65, "Schneewittchen" 1998) näherten sich dem "pluralist. Musiktheater" um Bernd Alois
Zimmermann mit Einbezug von Gebärde, Tanz und Pantomime. Gion Antoni Derungs komponierte 1984 und
1996 zwei Opern in rätorom. Sprache. Rolf Liebermann, der sechs Opern (u.a. die Jazz-Oper "Cosmopolitan
Greetings" 1988, mit George Gruntz), Filmmusik, Bühnenmusik und Opernfilme schuf, machte als Intendant
die Hamburger Staatsoper zu einem bedeutenden Zentrum des modernen M.s (1959-73 und 1985-88).
Autorin/Autor: Dorothea Baumann
Quellen und Literatur
Literatur
– F. Gysi, «Oper und Festspiel», in Schweizer Musikbuch 1, 1939, 210-234
– A.-E. Cherbuliez, «Gesch. der Musik in der Schweiz», in Musica Aeterna 2, 1948, 199-388
– J. Burdet La musique dans le canton de Vaud au XIXe siècle, 1971, 223-257, 644-662
– M.: zum Schaffen von Schweizer Komponisten des 20. Jh., hg. von D. Baumann, 1983
– G. Appolonia Duecento anni di opera a Lugano, 1996
– M. heute, hg. von H. Danuser, 2003
– TLS
Autorin/Autor: Dorothea Baumann
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