Untitled - Stadt Essen

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Büro Gesunde Stadt /
Gesundheitsamt Essen
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Inhalt
Einleitung
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Ursachen und Erscheinungsbilder bei Mager- und Ess-Brechsucht
Prof. Dr. Wolfgang Senf, Rheinische Kliniken Essen, Klinik
für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
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Hilfen und Therapiekonzepte bei Mager- und Ess-Brechsucht
17
Bericht aus der Arbeitsgruppe “Amnorexie und Bulimie”
Brigitte Kissel, Distel e. V.
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Die Arbeit des Vereins Frauen helfen Frauen e. V.
Cornelia Simmberg, Frauen-Treff & Beratung, Frauen helfen Frauen e. V.
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Multimodale Behandlung der Anorexie und Bulimie in einem
stationär-teilstationären Setting
Christian Hamke, Rheinische Kliniken Essen, Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
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Ursachen und Therapie von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter
Prof. Dr. Johannes Hebebrand, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie an der Universität Duisburg-Essen
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Ess-Störung – eine gesellschaftspolitische Herausforderung
Dorothea Krollmann, Gleichstellungsstelle der Stadt Essen
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Essener Wegweiser bei Ess-Störungen
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4
5
6
Einleitung
Ess-Störungen sind Ernst zu nehmende Erkrankungen mit körperlichen, seelischen und sozialen
Konsequenzen. Obwohl Mager-, Ess-Brech- und Ess-Sucht sich in ihren Erscheinungsbildern von
einander unterscheiden, nimmt bei allen essgestörten Menschen der Umgang mit Lebensmitteln einen
unangemessenen Stellenwert ein.
Ess-Störungen nehmen in unserer Gesellschaft zu; sie betreffen mehrheitlich Mädchen und Frauen. In
Essen leiden Schätzungen zufolge weit über zehntausend Menschen an Ess-, Ess-Brech- oder
Magersucht.
Das „Projekt Gesunde Stadt Essen“ - ein von den „Healthy Cities“-Ideen der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) inspiriertes Projekt - hat sich mit drei Aktionen des Problems der
Ess-Störung angenommen:
-
Herausgabe des Wegweisers bei "Ess-Störungen" mit Adressen von Essener Einrichtungen, bei
denen Betroffene und Angehörige, aber auch andere mit dem Thema Konfrontierte, zum Beispiel
Lehrerinnen und Lehrer, Beratung finden können.
-
Einrichtung des Facharbeitskreises Ess-Störungen
-
Veranstaltung dieser Tagung, um Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen Unterstützung im Umgang
mit essgestörten Kindern und Jugendlichen zu geben.
Die Verbreitung der Ess-Störungen ist wegen einer hohen Dunkelziffer schwer einschätzbar. Berechnungen auf der Grundlage der bundesrepublikanischen Zahlen gehen für Essen von 10.200 Menschen
mit Ess-Brech-Sucht und 3500 mit Magersucht aus. Dazu kommen 88.000 Menschen mit Ess-Sucht.
Ess-Störungen waren seit Längerem Schwerpunktthema des „Projekt Gesunde Stadt Essen“ – das ist ein
unabhängiger Verbund von Fachleuten aus Arbeitsgebieten, die im weitgefassten Sinne mit Gesundheit
zu tun haben. Das vom „Büro Gesunde Stadt Essen“ des Gesundheitsamts und von der Selbsthilfeinformationsstelle WIESE e. V. koordinierte Projekt will damit Bewusstsein für den Umfang des Problems Ess-Störungen, für die Defizite in der Prävention und in der Versorgung schaffen und damit Anstöße zur Verbesserung der Versorgung geben.
Gabriele Becker
Horst Heinemann
WIESE e. V.
Büro Gesunde Stadt /
Gesundheitsamt
Projekt Gesunde Stadt Essen
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Ursachen und Erscheinungsbilder bei
Mager- und Ess-Brechsucht
Wolfgang Senf
Was ist eine Ess-Störung?
Ess-Störungen sind Krankheiten, die durch Besonderheiten des Essverhaltens bedingt sind: entweder
wird zu wenig Nahrung aufgenommen bis zur extremen Abmagerung wie bei der Anorexia nervosa,
oder es wird nach einem Ess-Anfall (Aufnahme großer Kalorienmengen) das Erbrechen der Nahrung
herbeigeführt, wie bei der Bulimie. Eine Erkrankung, die in der letzten Jahren erheblich zugenommen
hat, ist die Binge Eating Störung, bei der es zwar ebenfalls zu einer Ess-Attacke wie bei der Bulimie
kommt, jedoch nicht zu einem Erbrechen als gegenregulatorische Maßnahme. Dieses Verhalten führt
zu einer Adipositas (Fettsucht).
Unter- oder Übergewicht als Folge einer Ess-Störung
Ess-Störungen führen zu Unter- oder Übergewicht. Ein normales Gewicht liegt bei einem BMI zwischen 18,5 – 24,9.
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Der BMI, dem Body Mass Index, der nach folgender Formel berechnet wird
Gewicht in Kilogramm (kg) / Körpergröße (m)2
Die Bewertungen sind
Klassifikation
BMI (kg/m²)
Anorexie
<17,5
Untergewicht (Bulimie?)
<18
Normalgewicht
18,5-24,9
Übergewicht
> 25
Präadipositas
25,0-29,9
Adipositas Grad I
30,0-34,9
Adipositas Grad II
35,0-39,9
Adipositas Grad III
> 40,0
Anorexia nervosa führt zu oft extremem Untergewicht, Bulimie ist häufig mit Untergewicht i. S. eines
suboptimalen Gewichtes verbunden, eine Binge-Eating Störung führt in der Regel zu einer oft erheblichen Adipositas.
Wie häufig sind Ess-Störungen?
Ess-Störungen sind eine sehr häufige Erkrankung vor allem junger Frauen zwischen 15-35 Jahren. An
Anorexia nervosa leiden bis zu 1% junger Frauen zwischen 15-25 Jahren, an Bulimie bis zu 3% (bzw.
7% in Risikogruppen wie Tänzerinnen oder Sportlerinnen) der Frauen zwischen 18-35 Jahren und an
einer Binge-Eating Störung bis 2% im Durchschnitt der Bevölkerung , bis zu 9% adipöser Menschen
und bis zu 30% der TeilnehmerInnen an Gewichtsreduktionsprogrammen, wobei hier jede Altersgruppe
vertreten ist und bis zu 70% Frauen betroffen sind.
Was verursacht Ess-Störungen?
Ess-Störungen sind psychisch verursacht. Allerdings ist bis heute noch nicht eindeutig geklärt, warum
sie vor allem bei jungen Frauen in den modernen Industriegesellschaften auftreten und warum sie so
häufig sind und zunehmen.
Da die Erkrankung vor allem Frauen betrifft, kann man davon ausgehen, dass kulturell bestimmte
Idealvorstellungen über das Erscheinungsbild des weiblichen Körpers eine wichtige Rolle spielen: Mode,
Werbung und Medien lassen den Eindruck entstehen, dass Frauen, die dem Schlankheitsideal entsprechen, besonders attraktiv, erfolgreich, unabhängig, leistungsfähig etc. seien. Dies muss auch hinsichtlich spezifische Belastungen für junge Frauen auf dem Hintergrund eines besonderen Leistungsdruckes mit vielfältigen Leistungsforderungen (Beruf und Familie) gewichtet werden, was zu Überforderungen führen kann. Eine wichtige Rolle spielt auch die Industrialisierung der Ernährung: Ohne
eine Gegenregulation durch das Schlankheitsideal, wie es z.B. durch die Werbung vermittelt wird,
wären durch die moderne Ernährung die meisten Menschen stark übergewichtig – Ess-Störungen sind
sozusagen der „Preis“, den die Gesellschaft für die gute Ernährungslage im Überfluss „bezahlt“.
Wie kann man eine Anorexia nervosa erkennen?
Anorektische Patientinnen haben durch extremes Hungern deutliches Untergewicht, oft liegt ihr Gewicht 25 % oder mehr unter dem Normalgewicht. Sie haben einen Drang abzunehmen, mit welchen
Mitteln auch immer. Deshalb hungern sie bis zur völligen Auszehrung (Kachexie), was nicht nur in der
skelettartigen Erscheinung der Erkrankten sichtbar wird, sondern auch weitere, schwere gesundheitliche Komplikationen zur Folge haben kann. In besonders schweren Fällen kann die Magersucht mit
dem Tod enden. Im Mittelpunkt des Krankheitsbildes steht die Störung des Essverhaltens:
x
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Weglassen von Mahlzeiten, rigides Diätverhalten bis hin zur Nulldiät
x
Unterdrückung des Hungergefühls mittels Trinken großer kalorienarmer Flüssigkeitsmengen, u.a.
Kaffee
x
Gewichtsabnahme zusätzlich durch Einnahme von Abführmitteln (Laxantienabusus), Diuretica etc.
oder Erbrechen
x
exzessiver Sport oder Bewegung.
Hinzu kommen
x
eine intensive Angst zuzunehmen, selbst wenn bereits Untergewicht besteht
x
eine Störung der Wahrnehmung von Gewicht, Maßen und Gestalt des eigenen Körpers: die Betroffenen fühlen sich immer noch „zu fett“, auch wenn ihnen das Untergewicht deutlich anzusehen ist
x
das Ausbleiben von mindestens drei zu erwartenden Menstruationszyklen (bleibt die Menstruation
ganz aus bzw. setzt nur nach Hormongabe ein, so spricht man von Amenorrhoe).
Bei anorektischen Patientinnen ist oft eine extreme Leistungsorientiertheit zu bemerken. Ihre Fähigkeit
zu intensiveren Kontakten und emotionalem Austausch ist eingeschränkt, sie leben meist in sozialer
Isolation. Das Verlangen nach Sexualität ist gering oder sogar mit Angst besetzt.
Mögliche psychische Hintergründe der Anorexia nervosa
Die Magersucht kann gesehen werden als Ausdruck eines Konfliktes, für den die Betroffenen keine andere Lösung als das Hungern finden können. Anorexie kann somit existentielle seelische Bedürfnisse
ausdrücken, welche die Betroffenen nicht ausleben und nicht anders äußern können.
Für die Anorexia nervosa lassen sich unterschiedliche psychodynamische Ausdrucksformen unterscheiden:
Magersucht als Ausdruck eines Autonomieversuchs: Abgrenzung gegenüber familiären Ansprüchen,
Autonomiebestrebungen, innerhalb des familiären Systems, Verselbständigungstendenzen, Abgrenzung
gegenüber eigenen triebhaften, sexuellen Impulsen (Pubertätsmagersucht), konfliktreiche Entwicklung
der eigenen Geschlechtsidentität
Magersucht als Ausdruck der Beziehungsabwehr: Störung auf der Objektbeziehungsebene, Appell nach
stützendem Objekt, Hilfeleistung wird als eigene Ohnmacht, narzisstische Kränkung und Einbruch in
die Autonomie gewertet, Nähe-Distanz-, Abhängigkeits-, Autonomiekonflikt
Magersucht als Ausdruck einer Lebensverweigerung: extreme, meist depressive Rückzugstendenzen mit
ausgeprägt autodestruktiven Zügen, prolongierte Suizidalität
Wie kann man Anorexia nervosa behandeln?
Die Behandlung der Anorexia nervosa kann man in zwei übergeordnete Phasen unterteilen:
Gewichtszunahme. Zunächst steht die Gewichtszunahme im Vordergrund. Eine Therapie, die auch die
seelischen Probleme der Erkrankten behandelt, kann erst erfolgreich sein, wenn der körperliche
Zustand stabilisiert bzw. nicht mehr lebensbedrohlich ist. Da anorektische Patientinnen ausgeprägte
Verleugnungstendenzen haben und große Schwierigkeiten in Hinblick auf die Normalisierung ihres
Essverhaltens, ist die Indikation für eine stationäre Psychotherapie, in der schon in der Phase der
Gewichtszunahme eine psychotherapeutische Betreuung gewährleistet ist, meist gegeben. Der stationäre Aufenthalt ist als Einstieg in den psychotherapeutischen Prozess zu sehen, der ambulant
fortgesetzt werden muss, wenn die Behandlung Erfolg haben soll.
Behandlung der psychischen Probleme. Die Psychotherapie kann anorektischen Frauen andere Lösungen für die Bewältigung ihrer Probleme eröffnen, ohne auf ihr gestörtes Essverhalten als Lösungsstrategie zurückgreifen zu müssen. Bei jüngeren Anorexiepatientinnen, die noch in ihren Herkunftsfamilien leben, wird oft eine Familientherapie durchgeführt, um die Störung auch aus dem Lebensumfeld der Patientin heraus verstehen und behandeln zu können. In der Familientherapie werden auch
die Eltern und Geschwister in den Behandlungsprozess mit einbezogen.
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Besonderheiten der Behandlung von Anorexia nervosa
Für anorektische Patientinnen ist die Vereinbarung eines Zielgewichts in einem Behandlungsvertrag
unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Psychotherapie, wobei ein Normalgewicht (z.B. BMI
20 - 25 kg/m2) nicht unbedingt angestrebt wird. Magersüchtige Patientinnen müssen aber in eine
körperliche Situation gebracht werden, die sie gerade noch akzeptieren und mit der sie gleichzeitig
relativ ungefährdet leben können.
Wie kann man eine Bulimia nervosa erkennen?
Hauptmerkmal der Bulimie sind die Ess-Attacken, gefolgt von gegenregulatorischen Maßnahmen wie
Fasten, Erbrechen, exzessivem Sport etc. Bei einer solchen Essattacke werden sehr große Mengen
hochkalorischer Nahrungsmittel verschlungen, also fett- und kohlenhydratreiche Esswaren, manchmal
mehrere tausend Kilokalorien. Auf eine solche Essattacke folgt in der Regel ein tiefes Schamgefühl, die
Betroffenen versuchen meist erfolgreich, die Erkrankung vor Angehörigen und Freunden zu verbergen,
die Essattacken finden heimlich statt.
Neben dem willkürlichen Erbrechen werden auch Abführmittel, Appetitzügler, Diuretika, Schilddrüsenhormone u. a. eingenommen, um den dick machenden Effekt der aufgenommen Nahrungsmenge zu
verhindern. Manchmal wechseln sich die Essanfälle auch mit Fastenperioden ab.
Die Betroffenen sind permanent mit Nahrungsaufnahme, Lebensmitteln, ihrer Figur und der damit verbundenen Angst, dick zu werden, beschäftigt. Dabei verlieren (gemeinsam eingenommene) Mahlzeiten
als zeitlich strukturierende Elemente im Alltagsgeschehen und auch als Kommunikationsmittel im sozialen Leben ihre Bedeutung.
Das bulimische Essverhalten kann vielfältige körperliche Folgen haben, die gesundheitlich bedenklich
sind: Durch Abführmittelmissbrauch können sich Durchfall und Verstopfung abwechseln, durch das
Erbrechen drohen Elektrolytentgleisung und Fehlernährung, beim Erbrechen benetzt Magensäure den
Zahnschmelz und schädigt ihn, die Speicheldrüsen können sich vergrößern („Hamsterbacken“), es
kommt zu Kreislaufproblemen.
Um von einer Bulimia nervosa zu sprechen, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
x
Es kommt zu wiederholten Episoden von Essanfällen (mindestens 2 Eßanfälle pro Woche), in denen
die Betroffenen eine große Menge hochkalorischer Nahrungsmittel zu sich nehmen. Die Menge an
Nahrungsmitteln können sie während eines Essanfalls nicht mehr kontrollieren.
x
Um eine Gewichtszunahme zu vermeiden, greifen die Betroffenen zu drastischen Methoden: sie
erbrechen, missbrauchen Diuretika oder Laxantien (Abführmittel), zwischen den Fressanfällen
werden rigide Diäten eingehalten oder Fastenkuren durchgeführt, manchmal sind die Betroffenen
im Übermaß körperlich aktiv.
x
An Bulimie erkrankte Personen beschäftigen sich überdurchschnittlich viel mit ihrer Figur und
ihrem Gewicht, die für ihr Selbstwertgefühl extrem wichtig sind.
Mögliche psychische Hintergründe der Erkrankung
Wie hinter vielen psychischen Erkrankungen steckt auch hinter jeder Bulimie-Erkrankung ein ganz
individueller Leidensweg, dennoch gibt es Merkmale, die viele an Bulimie erkrankte Personen
gemeinsam haben. Meistens haben sie ihr Leben zwischen den Essattacken äußerlich gut im Griff und
sind erfolgreich. Es gibt Faktoren, welche die Entstehung einer Bulimie begünstigen:
Unzufriedenheit mit Körper und Figur. Viele Mädchen und junge Frauen hegen den Wunsch abzunehmen, oft beeinflusst durch das gesellschaftlich vermittelte Schlankheits- und Schönheitsideal. Dieser
Wunsch ist häufig verbunden mit Diätverhalten (s. u.). Der Wunsch abzunehmen steht für den Wunsch
nach mehr Attraktivität. Schlankheit wird als Sinnbild von Gesundheit, Leistung und Erfolg angesehen.
Geringes Selbstwertgefühl. Anders als bei Männern drückt sich bei Frauen eine Selbstwertproblematik
häufig in einer Unzufriedenheit mit dem Körper aus.
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Familiäre Faktoren. Einflüsse aus dem Elternhaus können an der Entstehung einer Bulimie beteiligt
sein, z. B. wenn Eltern offen oder nur subtil Körpergewicht und Selbstwert miteinander verknüpfen.
Spezifische familiäre Faktoren sind aber mit Vorbehalt zu diskutieren.
Diätverhalten. Häufige Diäten werden als ein wichtiger Faktor in der Entstehung einer Bulimie gewertet. Ein solches Essen nach Plan mit dem Ziel der Gewichtsreduktion wird nicht mehr durch die
physiologische, gesunde Wahrnehmung von Hunger, Sättigung, Appetit, Lust und Genuss gesteuert.
Natürliche Mechanismen der Nahrungsregulation treten immer mehr in den Hintergrund, im Fall der
Bulimie bis hin zu Kontrollverlust und Essattacken.
„Fressen“ als Ventil. Ein Essanfall kann emotionale Erleichterung verschaffen, kann angstmindernd
wirken und eine Ersatzbefriedigung für unerfüllte Bedürfnisse darstellen.
Erlebte, drohende oder vorgestellte Kränkungen, die sich vor allem auf Aussehen und Gewicht der
Betroffenen beziehen, stehen oft in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Erkrankung
und können als Auslöser gewertet werden. Auch Trennungen vom Elternhaus, Verluste nahestehender
Menschen oder enttäuschende Erfahrungen in sexuellen oder erotischen Beziehungen können Auslöser
der Erkrankung sein.
Wie kann man Bulimie behandeln?
Im Gegensatz zu magersüchtigen Patienten sind bulimische Patienten meistens normal- oder idealgewichtig. Eine Gefährdung der vitalen Körperfunktionen durch ein zu geringes Gewicht, das eine stationäre Behandlung zwingend notwendig macht, ist also meistens nicht gegeben. Dennoch gibt es Gründe, die eine stationäre Aufnahme erforderlich machen:
Schwerwiegende medizinische Komplikationen. Z. B. kann es bei der Bulimia nervosa durch häufiges
Erbrechen zu vital gefährdenden Elektrolytentgleisungen kommen.
Chronifizierung. Wenn die bulimischen Episoden weitgehend unabhängig von aktuellen Konfliktsituationen auftreten, dann ist ein Automatismus erreicht, der eine stationäre Aufnahme unumgänglich
macht.
Begleiterkrankungen. z. B. Diabetes mellitus. Ess-Störungen wie die Bulimie sind insbesondere bei
jungen Frauen mit Diabetes mellitus, Typ I keine Seltenheit. Die Betroffenen verhindern den gefürchteten Gewichtsanstieg mit Hilfe einer verringerten Insulin-Dosierung, mit jedoch schweren gesundheitlichen Folgen. Bei dem Vorliegen einer solchen „Doppelkrankheit“ ist ein stationärer Aufenthalt
sinnvoll.
Bei der Überlegung, ob eine stationäre Aufnahme angeraten ist, müssen auch der Grad der krankheitsbedingten Isolation der Betroffenen, ihr soziales Umfeld, die Familiendynamik sowie das Vorhandensein
weiterer psychosomatischer oder psychiatrischer Störungen bedacht werden. Wie bei der Behandlung
der Magersucht, ist auch nach einem stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik eine
ambulante Weiterbehandlung für den Erfolg maßgeblich. Die stationäre Psychotherapie stellt nur den
Anfang einer Behandlung dar, die sog. initiale Phase in einem Gesamttherapieplan. Neben der psychotherapeutischen Betreuung spielt zur Normalisierung des Essverhaltens die Ernährungsberatung
eine wichtige Rolle.
Da bei der Entstehung einer Bulimie das Zusammentreffen vieler, unterschiedlicher Faktoren eine Rolle
spielt, muss eine Psychotherapie multidimensional ausgerichtet sein, um dem betroffenen Menschen
gerecht werden zu können.
Besonderheiten der Behandlung bei Bulimia nervosa
Für bulimische Patientinnen ist die Festlegung eines Basisgewichts ebenfalls sinnvoll. Diätverhalten
stellt einen kausalen Faktor für die Pathogenese der Bulimie dar. In der Mehrzahl geht der Bulimia nervosa ein Diätverhalten mit dem Ziel einer Körpergewichtsreduktion voraus. Unabhängig von der physiologischen Wahrnehmung von Hunger, Sättigung und psychischer Appetenz erfolgt die Regulation
der Nahrungsaufnahme aufgrund einer der Schlankheitsnorm entsprechenden kognitiven („kopfgesteuerten“) Kontrolle. Quantität, Qualität und zeitliche Strukturierung der Nahrungsaufnahme werden
unabhängig von physiologischen internen Signalen vorausgeplant. Natürliche Mechanismen der Nah13
rungsregulation treten zunehmend in den Hintergrund. Zahlreiche Untersuchungen konnten belegen,
dass gezügeltes Essverhalten unter bestimmten Bedingungen zu einem unkontrollierten Konsum
größerer, hochkalorischer Nahrungsmengen führt.
Ein weiteres Therapieziel bei dieser Patientengruppe ist die Entwicklung körperbezogener selbstfürsorglicher Verhaltensweisen, welche schädigendes bulimisches und/oder anorektisches Essverhalten in Krisensituationen zunehmend ersetzen.
Was ist eine Binge Eating Störung und wie kann man sie erkennen?
Binge Eating umschreibt ein Essverhalten, das durch häufige Kontrollverluste beim Essen (Heißhungeranfall, „Fressanfall“) gekennzeichnet ist. Im Unterschied zur Bulimia nervosa fehlen die einer Gewichtszunahme gegenregulatorischen Maßnahmen. Daher sind Menschen mit dieser Ess-Störung häufig stark
übergewichtig oder adipös.
Von einem „Fressanfall“ spricht man,
x
wenn in einem abgrenzbaren Zeitraum eine Nahrungsmenge gegessen wird, die wesentlich größer
ist, als die meisten Menschen in diesem Zeitraum essen würden,
x
wenn es zu einem Kontrollverlust über das Essen kommt, z. B. zu dem Gefühl, dass man einfach
nicht mehr aufhören kann zu essen und auch nicht mehr steuern kann, was und wie viel davon
man zu sich nimmt.
Um von einer Binge Eating Störung zu sprechen, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
x
Die „Fressanfälle“ treten an mindestens zwei Tagen pro Woche auf.
x
Es besteht ein deutliches Leiden deswegen.
x
Auf die Fressanfälle folgen keine einer Gewichtszunahme direkt gegensteuernde Maßnahmen wie
Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch.
Außerdem gehören folgende Symptome zum Störungsbild:
x
Wesentlich schneller essen als normal.
x
Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl.
x
Essen großer Nahrungsmengen, obwohl man nicht hungrig ist.
x
Alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst.
x
Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach einem Fressanfall.
Mögliche psychische Hintergründe der Erkrankung
Viele adipöse Menschen berichten, dass sie mehr oder zuviel essen, wenn sie seelische Probleme haben,
z. B. wenn sie Kummer haben oder einsam sind. Es gibt Studien, aus denen hervorgeht, dass Menschen
mit emotionalen Schwierigkeiten manchmal unfähig sind, Hunger von anderen Zuständen des
Unbehagens zu unterscheiden oder Hunger und Sattsein nicht erkennen, nicht fühlen können.
Wie kann man eine Binge Eating Störung und Adipositas behandeln?
Auch die Behandlung der Binge Eating Störung hat als Basis zwei Behandlungsziele:
x
Normalisierung von Essverhalten und Gewicht
x
Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Problematik
Die Psychodynamik der Binge Eating Störung bringt in der Therapie spezielle Herausforderungen mit
sich. Es wird diskutiert, inwieweit sich wiederholtes und nicht selten frustrierendes Diätverhalten (wenn
das Gewicht nicht gehalten werden kann und sich der sogenannte Jo-Jo-Effekt einstellt) auf das
seelische Empfinden und die Entwicklung z. B. einer depressiven Störung oder Ess-Störung auswirkt. In
der Psychotherapie wird eine Abwendung von restriktivem Essverhalten angestrebt, so dass sich eine
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Gewichtsreduktion nach Normalisierung der Nahrungsaufnahme „von selbst“ einstellt. Die sich meistens mit der Binge Eating Störung entwickelnde Adipositas birgt auch medizinische Risiken: es kann zu
Krankheiten wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck kommen, auch ein
erhöhtes Sterblichkeitsrisiko ist die Folge.
Die Behandlung muss also neben der häufig notwendigen Gewichtsreduktion medizinischen Fragestellungen ebenso Rechnung tragen wie psychotherapeutischen. In der psychotherapeutischen Behandlung
haben sich multidimensionale Therapiekonzepte mit einer jeweils individuell abgestimmten Kombination verhaltenstherapeutischer und tiefenpsychologischer Konzepte bewährt. Die Bewegungstherapie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung. Zentral ist dabei die Motivation zu körperlicher Bewegung, da sportliche Betätigung ein geeignetes Mittel ist, um eine Gewichtsreduktion
beizubehalten.
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Hilfen und Therapiekonzepte bei Mager- und EssBrechsucht
Bericht aus der Arbeitsgruppe „Anorexie und Bulimie“ für die
Zielgruppe der Lehrer und Lehrerinnen
Brigitte Kissel
Von vielen Teilnehmern wurde die „Hilflosigkeit“ in Bezug auf anorektisches oder bulimisches Verhalten
als schwieriges Problem genannt. Professor Senf machte zwei Aspekte klar:
Magersucht und Bulimie haben zwar viele Gemeinsamkeiten, sind aber unterschiedliche Erkrankungen.
Deshalb sollten sie getrennt besprochen werden und es wurde in diesem Workshop zuerst auf die
Magersucht fokussiert. Bei der Magersucht handelt es sich um eine medizinisch sehr ernste Erkrankung
in der Schwere sogar vergleichbar mit einer Krebserkrankung, etwa einer Leukämie, was aber eher
nicht so gesehen wird. Magersucht erscheint oft mehr als ein Fehlverhalten, das zu unterlassen ist. Das
medizinische Problem ist aber, dass diese Patientinnen sich dem inneren Zwang, abnehmen zu müssen,
nicht entziehen können, sondern diesem ausgeliefert sind. Diese Krankheit muss auf jeden Fall so früh
wie möglich behandelt werden, da mit der Dauer und der Ausprägung der Krankheit die Prognose
immer schlechter wird. Deshalb ist es vor allem sehr wichtig, diesen Sachverhalt den betroffenen
Patientinnen und ihren Eltern eindeutig und unmissverständlich klar zu machen, also dass es sich um
eine sehr schwere Erkrankung handelt, und nicht um eine „Ungezogenheit“, die sofort behandelt
werden muss, auch wenn die Betroffenen es nicht wollen. Eine mögliche Kränkung der Betroffenen
und der Eltern muss im Hinblick auf eine schnelle effektive Hilfe in Kauf genommen werden.
Die Hilflosigkeit der Pädagogen ist typisch und durch diese Krankheit bedingt, es ist die typische
„Beziehungsfalle“: wenn ich mich zu viel kümmere, dann trete ich zu nahe und werde abgewehrt z. B.
durch Entwertung, wenn ich mich dann distanziere, wird das als Vernachlässigung erlebt, d. h., was
man auch macht, ist letztlich falsch. Deshalb eskalieren die Konflikte mit Magersüchtigen oft so heftig.
Magersucht macht also immer hilflos und die Bezugspersonen gleichzeitig verführbar, den Betroffenen
nachzugeben, nicht konsequent zu sein. Die Hilflosigkeit darf nicht so weit gehen, dass das Problem
ignoriert wird. Jeder, der mit Schülerinnen regelmäßig zu tun hat, kann eine Magersüchtige erkennen
und sollte das Thema ansprechen und klar stellen, dass es sich um eine schwere Krankheit handelt.
Eine ebenso häufige Frage war die Frage nach dem Erkennen der Störung. Welche Signale senden die
Betroffenen aus und wie kann man als Lehrer oder Lehrerin angemessen darauf eingehen? Jeder, der
regelmäßig mit Schülerinnen arbeitet, wird eine Magersüchtige erkennen. Angemessen darauf eingehen kann man, indem man der Betroffenen seine Beobachtungen mitteilt und die Sorge um sie in den
Vordergrund des Gespräches stellt. Es sollen keine Diagnosen getroffen werden.
Einige Teilnehmerinnen hatten die Erfahrung gemacht, dass die Betroffenen immer jünger werden. Eine
Teilnehmerin machte das Problem „Auffälliges Essverhalten“ am Beispiel von acht bis neunjährigen
Kindern deutlich.
Ein weiterer Aspekt waren die Möglichkeiten und Grenzen von Hilfen in der Schule.
Aus der Angst, durch gezielte Informationen Mädchen erst neugierig auf das Thema zu machen, kam
die Anregung, weniger Informationen zu geben und mehr die Stärkung von Lebenskompetenzen ins
Zentrum zu stellen. Nach der Einschätzung einiger Teilnehmer sind informierte Jugendliche besser geschützt als uninformierte. Zudem würde der Ansatz, nicht aufzuklären, die gesamte Suchtprävention in
Frage stellen. Daneben ist die Stärkung von Lebenskompetenzen ein wichtiger Baustein zur Lebensbewältigung, der weit im Vorfeld süchtigen Verhaltens (Kindergarten) ansetzen und kontinuierlich fortgeführt werden muss. Diesbezüglich gibt es einige Programme zur Suchtprävention in Schulen, die
evaluiert und für gut befunden wurden. Beispielsweise das Lions Quest Programm für 5. bis 10.
Schuljahr oder ALF (Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten) für das 5. und 6. Schuljahr.
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Unter dem Stichwort „Hilfestellungen“ wurde die Frage nach der Wirksamkeit von Präventionsveranstaltungen für Eltern gestellt. Elternfortbildungen wurden an einem Beispiel von betroffenen Schülern
und deren Klassenkameraden gefordert. Die Einschätzung der Schüler war: Wir wissen alles über das
Thema, aber unsere Eltern haben massiven Bedarf.
Aus Sicht der Fachstelle für Suchtprävention ist es erfahrungsgemäß gut, Elternabende zum Thema
„Suchtgefährdung und Suchtprävention“ anzubieten. Das Thema ist so weit gefasst, dass seitens der
Eltern keine Befürchtungen im Vorfeld entstehen und sie mehr oder weniger unvorbelastet kommen.
Im Rahmen solcher Veranstaltungen kann dann sehr gezielt auf verschiedene Süchte und Suchtmittel
eingegangen werden.
Teilnehmende Lehrerinnen von Schwesternschülerinnen berichten darüber, dass die Schülerinnen den
Schulalltag zwar noch durchstehen, aber den Arbeitsalltag nicht durchhalten. In diesem Zusammenhang kam die Frage einiger Lehrerinnen auf, ob sie Mädchen, die beängstigend untergewichtig sind,
nach Hause schicken dürfen. Dieses Thema scheint an den Schulen nicht geklärt zu sein. Viele Lehrer
haben aufgrund der ungeklärten Rechtslage Angst, diesen Schritt zu tun. Diese Frage müsste die Schulleitung mit der Schulaufsichtsbehörde klären. Professor Senf ermutigte dazu, die Betroffenen nach
Hause zu schicken und mit den Eltern das Gespräch zu suchen. Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie in
solchen Fällen, mit dem Einverständnis der Schülerin, entsprechende Anlaufstellen aufsucht und
anschließend die Eltern informiert. Nach ihrer Erfahrung sind die Eltern dann sehr betroffen und kooperationsbereit.
Das Thema Bulimie nahm in der Arbeitsgruppe weniger Raum ein. Bei der Bulimie liegt meistens eine
Grenzverletzung oder Entwertung vor und somit eine manifeste Beziehungsstörung. Andererseits ist
Bulimie eine Form der Regulation des Gewichtes und ist medizinisch gesehen weit komplexer als medizinisches Problem als die Anorexie. Nur bei einem Teil der bulimischen Patientinnen liegen medizinisch
ebenso gravierende Probleme vor wie bei der Anorexie.
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Die Arbeit des Vereins Frauen helfen Frauen e. V.
Cornelia Simmberg
Ein Fallbeispiel:
Die 22-jährige Katharina R. kommt in die Frauenberatungsstelle. Sie ist sehr verzweifelt, denn sie fragt
sich seit Wochen, ob sie ihr Studium der Kommunikationswissenschaften aufgeben und in ihr Elternhaus zurückkehren soll. Ihr Traum war es, Psychologie zu studieren, sie hatte in ihrer Heimatstadt in
diesem Fach auch tatsächlich einen Studienplatz bekommen. Aufgrund ihrer Essstörung kam sie aber
zu dem Schluss, dass sie für dieses Studium und besonders für diesen Beruf nicht geeignet sei, ausserdem war sie der Auffassung, sie müsse Abstand zu ihrem Elternhaus gewinnen.
Der äußere Zwang, in einer anderen Stadt zu studieren, könne ihr bei diesem Schritt helfen, hoffte sie.
Die junge Frau war mit 16 Jahren aufgrund ihrer Magersucht in stationärer Behandlung. Eine Zeitlang
ging es ihr besser, sie wurde dann bulimisch, gestand sich dies auch ein und machte eine ambulante
Therapie, ein weiterer Klinikaufenthalt folgte. Das Abitur machte sie ein Jahr verspätet, dennoch mit
sehr gutem Notenschnitt.
Jetzt sagt sie : “Ich habe völlig versagt, das Studium sagt mir überhaupt nicht zu, vermutlich liegt es an
mir ,denn ich kann mich in den Vorlesungen nicht konzentrieren. Oftmals gehe ich gar nicht erst hin,
mit Arbeitsgemeinschaften und Freundschaften klappt es überhaupt nicht, mein ganzer Tagesablauf ist
bestimmt davon, nicht essen zu wollen. Zigaretten und Kaffee oder auch das Laufen helfen mir zunächst dabei, bis ich dann doch aufgebe, oftmals am späten Nachmittag, dann esse ich alles, was ich
auftreiben kann, und erbreche und esse und erbreche bis in die Nacht hinein. So kann es nicht
weitergehen, die Rückkehr in mein Elternhaus könnte mir vielleicht helfen, die Bulimie zu kontrollieren,
aber das kann ich meiner Familie im Grunde nicht antun. Sie haben alle so mitgelitten. Außerdem
schäme ich mich so sehr, denn seit zwei Jahren mache ich ihnen vor, ich sei geheilt. Ich weiß nicht ,
wie es weitergehen soll.“
So oder ähnlich, aber auch anders beschreiben Frauen mit einer Essstörung ihre Lage in einem Erstgespräch.
Welche Frauen mit Essproblemen kommen in die Frauenberatung, welche Haltung begegnet ihnen hier?
Zu uns kommen von einer Essstörung betroffene Frauen im Alter von 17 bis 65 Jahren aus allen Stadtteilen Essens und auch außerhalb Essens aus allen sozialen Schichten. Sie kommen, weil sie seit kurzem
oder seit sehr langer Zeit bemerkt haben, dass sie es nicht alleine schaffen, die Ess- beziehungsweise
Hungersucht zu besiegen. Eventuell reagieren ihnen nahestehende Menschen mit Sorge oder Druck auf
den Gewichtsverlust oder ihr Essverhalten, zum Beispiel Eltern, Freundinnen, Freunde, Partner, Lehrerinnen, Arbeitgeber. Vielleicht wurde ihnen von einer Ärztin oder einem Arzt ein Klinikaufenthalt angeraten. Sie können sich diesen Weg aber nicht oder noch nicht vorstellen.
Es kommen Frauen, die sich fragen, ob eine ambulante Therapie notwendig oder hilfreich sein kann
und wenn ja, welche Art von Therapie die richtige sein könnte. Unter Umständen haben sie sich bereits
für eine ambulante Therapie entschieden, sie müssen jetzt ein halbes, manchmal bis zu zwei Jahren
Wartezeit überbrücken.
Es melden sich betroffene Frauen, die sich überhaupt noch nicht vorstellen können, dass irgendetwas
hilfreich sei, die sich verzweifelt und resigniert fühlen und auch Betroffene, die bereits als austherapiert gelten, die Klinikaufenthalte und ambulante Therapien bereits in Anspruch genommen haben,
aber immer noch unter der Essstörung leiden.
Und es kommen Frauen, die Beratung in der Frauenberatungsstelle wollen.
Was erwarten die Frauen, die bewusst die Frauenberatungsstelle aufsuchen?
x
Sie wollen den geschützten Rahmen der Frauenberatungsstelle und benötigen sie als niedrigschwelliges Angebot ohne bürokratische Hürden. Dies reduziert ihre tief empfundene Scham und
Angst.
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x
Die Betroffenen erwarten von der frauenspezifischen Beratung Verständnis und Sensibilität für
ihre angstbesetzten Themen wie Versagen, Schuld, Körperwahrnehmung, Sexualität und sexuelle
Gewalterfahrungen
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Sie können erwarten, dass ihre Erkrankung als subjektive Antwort auf ihre jeweiligen Lebensumstände und die darin wirksamen Belastungen, Verletzungen und Gewalterfahrungen gesehen und
verstanden wird.
Hieraus ergibt sich das Selbstverständnis, mit dem ich Frauen mit Essproblemen begegne:
Die Wahrnehmung weiblicher Lebenszusammenhänge bedeutet im Essstörungsbereich die Beachtung
der weiblichen Rolle als die Nährende und Sorgende, die sich einerseits zumeist tagtäglich mit dem
Nahrungsmittelüberangebot und der Zubereitung von Nahrungsmitteln auseinandersetzen muss, zum
anderen stetig mit dem derzeitigen weiblichen Schönheitsideal, dem Schlankheitswahn, dem damit
einhergehenden Verzicht auf Nahrung und dem Anspruch an Fitness konfrontiert wird.
Mit dem Essen und Hungern als Suchtmittel fallen Frauen und Mädchen nicht aus der Rolle, die persönliche Tragik spielt sich im Verborgenen ab. Die Betroffene entwickelt die Vorstellung, das Recht auf
Achtung, Anerkennung, Erfolg und Wertschätzung erst dann erwirkt zu haben, wenn sie ihren perfekten Körper erschaffen hat. Der schlanke Körper wird zum Synonym für Anerkennung, Erfolg und Wertschätzung. Diese Vorstellung ist für sie zentral wichtig, da sie somit davon ausgehen kann, es liege an
ihr selbst und sie habe es in der Hand.
Im Praktizieren der Essstörung vermeidet sie, ihr Recht auf Achtung, Akzeptanz, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe zu spüren, und damit vermeidet sie auch wahrzunehmen, dass ihr dieses Recht
verweigert oder ihre Sehnsucht danach missbraucht wurde. Sie hat gelernt zu empfinden, dass die
Beachtung ihrer Persönlichkeit, nach der sie sich so verzweifelt sehnt, ihr nicht zusteht, da sie versagt
hat.
Was die Betroffene zunächst gerettet hat, war
x
die eigenen Bedürfnisse nicht zu spüren,
x
die überproportionale Orientierung an den Bedürfnissen und Erwartungen anderer zu entwickeln,
x
das Sorgen für andere in den Vordergrund zu stellen,
x
für sich nichts zu beanspruchen,
x
die Unterdrückung von Wut,
x die autoaggressive Konfliktbewältigung über den eigenen Körper und der mangelnde Zugang zum
eigenen Körper.
Was kann Beratung denn nun bewirken?
Die Betroffene möchte für sich klären ,ob sie etwas verändern muss beziehungsweise will, ob sie es sich
zutraut, etwas zu verändern. Die Betroffene, egal ob sie 40 oder 200 Kg wiegt, unter welcher Form von
Essstörung sie leidet, kommt mit dem Gefühl, versagt, sich und andere getäuscht und enttäuscht zu
haben. Sie empfindet große Schuldgefühle, sie ist Schuld an ihrer Essstörung und bekommt die zerstörerische Kraft zu spüren, die Betroffene schämt sich wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes oder
wegen der Mittel, die sie einsetzt, um nach außen idealgewichtig zu erscheinen, sie lehnt sich ab und
verurteilt sich, sie fühlt sich häufig der Essstörung gegenüber völlig ausgeliefert, denn Versuche, sie zu
überwinden, sind bislang gescheitert.
Hierbei kann es sich um die 40-jährige Krankenschwester handeln, die zwischen ihrem 15. bis 18.
Lebensjahr magersüchtig und von da an bulimisch wurde und nun zum ersten Mal in ihrem Leben von
ihrer Not erzählt. Sie hat noch nie irgendeine Hilfe in Anspruch genommen, noch nie hat sie sich jemandem anvertraut; oder um die 18-jährige Gymnasiastin, die bereits einen Klinikaufenthalt und eine
ambulante Therapie gemacht hat, sich aber noch nicht geheilt fühlt; oder die 45-jährige, die nach der
Trennung von ihrem Ehemann eine Magersucht entwickelt; oder auch um die gestandene Nachtschwester, 50 Jahre alt, die seit Jahren unter Essanfällen leidet und dadurch immer dicker wird.
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So individuell die Frauen, so einzigartig ihre Biographien sind, so unterschiedlich gestaltet sich auch
der Beratungsprozess. Wichtig hierbei ist es mir, für die Betroffene erfahrbar werden zu lassen, dass sie
die Expertin ist, dass niemand über ihr Leben, ihre Essstörung so gut Bescheid weiß wie sie selbst, und
ihr deutlich zu machen, wie viel Mut sie aufbringt, mich daran teilhaben zu lassen.
Sie ist auch die Expertin für ihren Heilungsweg. Gemeinsam zu entdecken, wie viel Kraft, Kreativität,
Anpassungsleistung, Widerstand, Verweigerung, Überlebenswille in ihr steckt und sich im Störungsbild
ausdrückt, verschafft der Betroffenen eine erleichternde Sichtweise. Hierbei erlebt sie in mir als Beraterin ein Gegenüber, das ihre Konflikte, Symptome und die Krankheit als Ausdruck ihres Überlebens- und
Widerstandspotentials anerkennt, und sie erlebt sich selbst als zunehmend ihre Ressourcen entdeckend.
Im weiteren Verlauf geht es darum, diese entdeckten Stärken nutzbar werden zu lassen für die Verbesserung ihrer Lebenssituation, zur Austragung von Konflikten, für Schritte zur Veränderung, im Essen
sowie im Leben.
Diese ersten stärkenden Erfahrungen ermöglichen der Betroffenen, damit zu beginnen wahrzunehmen,
dass sie die Essstörung gebraucht und genutzt hat , also nicht mehr nur zu empfinden, dass die Essstörung etwas ist, was Macht über sie hat. Nicht mehr sie ist schuldig und hat versagt, weil sie so
schwach und unfähig ist und die Essstörung deshalb bei ihr so machtvoll werden konnte, sondern es
geht in die Richtung, dass sie die Verantwortung dafür trägt, dass die Essstörung als Lösungsversuch
Einzug in ihr Leben hielt.
Essen und Nicht-Essen wurde eingesetzt, um unerträgliche und Angst machende Gefühle zu betäuben,
die innere Leere zu füllen. Insofern hat die ständige gedankliche Beschäftigung mit dem Essen Sinn
gemacht, auch wenn es sich jetzt als denkbar unglückselig erweist.
Da es Sinn gemacht hat, verdient es auch Beachtung und Respekt. Auf dieser Grundlage kommt sie
jetzt zur eigenen Definition ihrer persönlichen Ziele, die Betroffene wird somit zur aktiv Handelnden:
Sie strebt jetzt nach neuen Handlungsmöglichkeiten, die zur Veränderung im gefühlsmäßigem Erleben,
im Verhalten, und im Hinblick auf internalisierte Norm- und Wertvorstellungen führen, und kann erste
Schritte unternehmen, ein realistischeres, selbstbejahenderes Körperbild und ein positiveres Selbstbild
zu entwickeln.
Es kann für sie auch darum gehen, andere Hilfsangebote nutzen zu wollen, und zwar unter Berücksichtigung der Fragestellungen: Welche Art von Hilfe bin ich bereit anzunehmen, was ist für mich hilfreich,
wo finde ich diese Hilfen, wie nutze/ wie überstehe ich die Zeit, bis ich sie bekomme?
Die Frauenberatungsstelle des Vereins Frauen helfen Frauen Essen e.V. arbeitet seit 15 Jahren zum Thema Essstörungen: Unser Anliegen war und ist es, maßgeblich daran mitzuwirken, dass das Thema öffentlich diskutiert und darüber aufgeklärt wird, dass von einer Essstörung betroffene Mädchen und
Frauen angemessene Hilfe erfahren, dafür einzutreten, dass angemessene Hilfen im ausreichenden
Maße geschaffen werden (was leider aus unserer Sicht bis heute nicht gelungen ist). Wir kooperieren
mit Ärztinnen/Ärzten, Krankenhäusern, psychosomatischen Kliniken, psychologischen Praxen, Schulen,
anderen Beratungsstellen und anderen sozialen Einrichtungen insbesondere vor Ort, aber auch über die
Stadtgrenze hinaus. Wir bieten Einzelberatung und Gruppentherapien für betroffene Mädchen und
Frauen ab 17 Jahren, die unter einem Essproblem leiden, sowie für weibliche Angehörige (Mütter,
Freundinnen, Schwestern, usw.) an.
Die Einzelberatung umfasst kurz und –mittelfristige Beratungsprozesse, die wir kostenlos anbieten. Wir
bemühen uns, innerhalb von spätestens vier Wochen einen Erstgesprächstermin zu vergeben, um die
Motivation der Betroffenen nicht zu frustrieren. Die Beratung kann anonym bleiben, die Hilfe ist absolut unbürokratisch.
Frauen, die längerfristig therapeutisch durch uns begleitet werden möchten, können an einer Gruppentherapie teilnehmen. Unser Gruppenangebot umfasst zwei Gruppen für Frauen mit Esssucht, zwei
Gruppen für Frauen mit Magersucht und Ess-Brechsucht, eine Gruppe davon für junge Frauen ab 17
Jahren und eine Gruppe für Frauen ab 24 Jahren, eine Gruppe für weibliche Angehörige, die unter der
Essstörung eines ihnen nahestehenden Menschen leiden.
Leider gibt es auch strukturelle Probleme: Unser Angebot zum Thema Essstörungen ist üppig, die finanzielle Basis tendiert eher in Richtung Magersucht! Die langfristige Sicherung des oben beschriebenen
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Konzeptes ist gefährdet, an den dem Bedarf entsprechenden notwendigen Ausbau unseres Hilfsangebotes ist gar nicht zu denken.
Gründe hierfür sind:
x
Die fehlende Finanzierung unseres Angebotes - das führt zu einer sehr begrenzten personellen
Ausstattung und kann der stetig steigenden Nachfrage im Bereich Essstörungen kaum noch gerecht werden. In Bezug auf die Umsetzung unseres Konzeptes sind wir längst an der Grenze der
Machbarkeit angelangt. Da wir fachlichen Qualitätsanforderungen treu bleiben, haben wir nur die
Möglichkeit, diesen Mangelzustand durch Mehrarbeit zu kompensieren.
x
Aufgrund der Notwendigkeit der Vorhaltung eines Akutangebotes im Bereich „häusliche Gewalt“
und der damit einhergehenden Notwendigkeit von absolut zeitnaher und intensiver Beratung, Begleitung und Krisenintervention für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, und aufgrund der
stetig ansteigenden Nachfragen in allen anderen Angeboten, auch aufgrund der therapeutischen
Unterversorgung in Essen, muss sich auch unsere Beratungsstelle die Frage stellen, wie die geringen
personellen Ressourcen zukünftig eingesetzt werden.
x
Dabei wird landesweit der Versuch unternommen, den Bereich Essstörungen der gesundheitlichen
Privatversorgung und den Suchtberatungsstellen zuzuschustern. Die Nachfragekapazität in unserer
Beratungsstelle zeigt, dass Betroffene sich damit nicht abspeisen lassen wollen, sondern dass sie die
Beratung mit frauenspezifischem Ansatz als den für sie relevanten oder zumindest einen Baustein
ihres Gesundungsprozesses ansehen.
An dieser Stelle bitte ich interessierte Bürger und Bürgerinnen und Verantwortliche in der Kommune,
dieses Problem wahrzunehmen und dafür einzutreten, dass Frauenberatung auch zukünftig für von einer Essstörung betroffene Mädchen und Frauen Angebote vorhalten kann, die der Nachfragekapazität
entgegenkommen. Dafür bedanke ich mich herzlich!
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Multimodale Behandlung der Anorexie und Bulimie in einem
stationär-teilstationären Setting
Christian Hamke
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Ursachen und Therapie von Übergewicht im Kindes- und
Jugendalter
Johannes Hebebrand
Einleitung
In Anbetracht der Zunahme der Häufigkeit von Adipositas (starkes Übergewicht) im Kindes- und Jugendalter in zahlreichen Ländern ist festzuhalten, dass hierfür primär Umweltfaktoren einschließlich
sozialer Faktoren in Betracht kommen. Diese bedingen eine Erhöhung der Energiezufuhr und/oder eine
Erniedrigung des Energieverbrauchs; letztere wird durch körperliche Inaktivität verursacht. Wahrscheinlich haben sich im Laufe der Evolution Genvarianten angehäuft, die die Energiespeicherung in
Form von Fett begünstigen. Folglich kann die „Adipositasepidemie“ als das Resultat des Aufeinandertreffens unserer modernen Lebensweise und einer bei vielen Menschen vorliegenden genetischen
Ausstattung aufgefasst werden, der die Energiespeicherung begünstigt und somit in früheren Zeiten
das Überleben einer Hungerepisode wahrscheinlicher machte (Neel, 1962).
Ursachen
Ehe ausführlich auf die der Adipositasepidemie zugrunde liegenden Umweltfaktoren eingegangen wird,
sollen zunächst die genetischen Befunde zur Adipositas beleuchtet werden.
Genetische Faktoren
Für Eltern eines Kindes mit Adipositas ist es ausgesprochen hilfreich zu wissen, dass erbliche Faktoren
an dem Zustandekommen des Übergewichts des Kindes einen erheblichen Einfluss haben können.
Schließlich haben viele Eltern festgestellt, dass sie selbst, ihre Geschwister oder ihre Eltern ebenfalls
übergewichtig sind. Insofern ist es wichtig, dass Eltern eines Kindes mit Adipositas verstehen lernen,
wie man sich diese Erblichkeit vorstellt. Darüber hinaus ist es aber auch von Bedeutung, dass mit dem
Kind selbst bzw. dem betroffenen Jugendlichen über diesen Aspekt gesprochen wird. Insgesamt kann
durch die Vermittlung der Erkenntnisse zur Vererbung des Körpergewichts erreicht werden, dass
Schuldgefühle sowohl bei den Eltern als auch den betroffenen Kindern abgebaut werden. Letztlich
werden subjektive Erklärungsansätze zum Körpergewicht um die Dimension der Erblichkeit erweitert.
Welche Befunde beim Menschen sprechen dafür, dass das Körpergewicht durch erbliche Faktoren
beeinflusst wird? Hierzu sind bereits seit fast 100 Jahren Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien
erfolgt. Wir wollen uns zunächst die wichtigsten Zwillingsbefunde verdeutlichen:
Das Körpergewicht von eineiigen und damit genetisch identischen Zwillingen ist im Durchschnitt
deutlich ähnlicher als das von zweieiigen Zwillingen, die sich genetisch nur so ähnlich sind wie
Geschwister. Dies konnte in zahlreichen Zwillingsuntersuchungen gezeigt werden, wobei teilweise über
2000 Zwillingspaare untersucht wurden. Diese Zwillingsuntersuchungen legen einheitlich nahe, dass ca.
60 bis 80% des Körpergewichts genetisch bedingt ist (Hebebrand und Remschmidt, 1995).
Da möglicherweise das gemeinsame Aufwachsen auch diese Ähnlichkeit im Hinblick auf das
Körpergewicht mit verursacht, war es zusätzlich notwendig, getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge
zu untersuchen. Eine derartige Untersuchung, die über 100 getrennt aufgewachsene eineiige Zwillingspaare umfasste, ist 1990 veröffentlicht worden. Die Zwillinge waren zum größten Teil seit den ersten
Lebensmonaten getrennt. Im Hinblick auf die Ähnlichkeit des Körpergewichts innerhalb eines
Zwillingspaares gab es keinerlei Unterschiede zwischen den getrennt und gemeinsam aufgewachsenen
eineiigen Zwillingen. Dies bedeutet, dass sich eineiige Zwilling, unabhängig davon ob sie getrennt oder
gemeinsam aufgewachsen sind, meist im Hinblick auf ihr Körpergewicht relativ stark ähneln. In der
entsprechenden Untersuchung wurde festgestellt, dass nur ca. 30% des Köpergewichts auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden kann.
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In weiteren Zwillingsuntersuchungen konnte der Einfluss von Über- und Unterernährung auf eineiige
Zwillinge untersucht werden. In einer Studie konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass eineiige
Zwillinge, die über 84 Tage lang 1000 kcal zusätzlich zu ihrer zuvor ermittelten durchschnittlichen
Nahrungsaufnahme erhielten, sehr unterschiedlich an Gewicht zunahmen (Bouchard et al., 1990). Die
niedrigste Gewichtszunahme lag bei ca. 4 kg, die höchste bei ca. 13 kg. Innerhalb eines Zwillingspaares
war die Gewichtszunahme beider Zwillinge jedoch jeweils relativ ähnlich. Dieser Versuch belegt, dass
manche Menschen aufgrund ihrer genetischen Ausstattung stärker als andere dazu veranlagt sind, bei
übermäßiger Nahrungszufuhr zuzunehmen.
In Adoptionsstudien konnte ebenfalls gezeigt werden, dass genetische Faktoren einen Einfluss auf das
Körpergewicht haben. Man hat beispielsweise die Körpergewichte der leiblichen und der Adoptiveltern
von untergewichtigen, normalgewichtigen bzw. übergewichtigen Adoptivkindern verglichen. Es zeigte
sich, dass die leiblichen Eltern der untergewichtigen Adoptivlinge ebenfalls eher ein niedriges Gewicht
hatten, während die leiblichen Eltern der übergewichtigen Adoptivlinge zu Übergewicht neigten.
Interessanterweise ließ sich keinerlei Zusammenhang zwischen dem Gewicht der Adoptivkinder und
dem Gewicht der Adoptiveltern aufzeigen.
In zahlreichen Familienstudien konnte gezeigt werden, dass die Eltern eines übergewichtigen Kindes
ebenfalls gehäuft übergewichtig sind. Sowohl der Ausprägungsgrad als auch die Häufigkeit, mit der
Eltern übergewichtig sind, hängt mit dem Ausprägungsgrad des Übergewichts bei dem Kind selbst
zusammen. Bei derartigen Untersuchungen kann man natürlich nicht den erblichen Einfluss von dem
Umwelteinfluss trennen. So könnten beispielsweise übergewichtige Eltern durch ihre eigenen
Lebensgewohnheiten, insbesondere im Hinblick auf Nahrungsaufnahme und Bewegung, das Gewicht
ihrer Kinder beeinflussen. Gerade die vorgenannten Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen jedoch,
dass den genetischen Faktoren ein starker Einfluss zukommt.
Beim Menschen weiß man heute noch sehr wenig über die Erbanlagen, die das Körpergewicht beeinflussen. Auch weiß man bis auf wenige Ausnahmen nicht, wie diese Erbanlagen das Übergewicht
bewirken. Ganz allgemein könnten sich diese Erbanlagen auf die Nahrungsaufnahme, den Stoffwechsel
und den Umfang der körperlichen Aktivität auswirken. Tatsächlich zeigen Zwillingsstudien, dass
erbliche Faktoren unsere Geschmacksvorlieben ebenso wie unseren Energieverbrauch und das Bewegungsverhalten beeinflussen. Hieraus wird deutlich, dass erbliche Faktoren offensichtlich auf zahlreiche Funktionen einwirken.
Der Mensch hat ca. 25.000 Erbanlagen. Diese Erbanlagen liegen auf den so genannten Chromosomen,
von denen jeder Mensch üblicherweise 46 hat. Die Chromosomen sind, mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen beim Mann, jeweils paarig vorhanden. Somit haben Frauen 23 Chromosomen-Paare und
Männer 22 Paare plus ein X- und ein Y-Chromosom. Da die Erbanlagen auf den Chromosomen liegen,
ist jede Erbanlage somit ebenfalls zweifach vorhanden. Man kennt verschiedene Erbgänge: Beim so
genannten rezessiven Erbgang müssen beide Erbanlagen eines Paares eine Veränderung aufweisen, damit es zur jeweiligen Merkmalsausprägung (z. B. Übergewicht) kommt. Beim dominanten Erbgang
genügt es, wenn eine einzelne Erbanlage des jeweiligen Paares die Veränderung aufweist. Die Gene
enthalten letztlich den Bauplan für die körpereigenen Eiweiße; die Basenpaare kodieren für die entsprechenden Aminosäuren, die zusammengesetzt das jeweilige Protein ergeben.
Bei Mäusen und Ratten sind bislang fünf Formen der spontan entstandenen extremen Adipositas bekannt, die auf Veränderungen einer einzigen Erbanlage bzw. beider Erbanlagen eines Paares (monogen
bedingte Adipositas) beruhen. Die entsprechenden Erbanlagen konnten in den letzten Jahren alle
identifiziert werden. Hierdurch ist es erstmalig möglich geworden, auf molekularer Ebene Einblicke in
die genetische Regulation des Körpergewichts zu erhalten.
Eines dieser Gene kodiert für das Sättigungshormon Leptin. Dieses Hormon wird in den Fettzellen gebildet und in die Blutbahn abgegeben. Schließlich gelangt es in das Gehirn, wo es an den Leptinrezeptor bindet. Dem Gehirn wird somit die vorhandene Fettmasse rückgekoppelt; Energieverbrauch und
-aufnahme des Gesamtorganismus werden entsprechend dieses Signals beeinflusst. Falls - wie im Falle
der so genannten obese oder diabetes Maus - dieser Regelkreis nicht funktioniert, fressen die Mäuse
sehr viel mehr als andere; das Körpergewicht dieser Tiere ist bis zu dreifach gegenüber nicht
betroffenen Mäusen erhöht. Bei der obese Maus sind beide Erbanlagen (rezessiver Erbgang) für das
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Leptin verändert, so dass kein funktionsfähiges Leptin gebildet werden kann. Weil das Hormon dem
Organismus fehlt, kann dem Gehirn nicht die entsprechende Fettmasse rückgekoppelt werden. Die
Mäuse sind deshalb ständig hungrig und werden, bei entsprechend freiem Zugang zur Nahrung, infolge
dessen extrem übergewichtig. Die diabetes Maus kann aufgrund einer Veränderung der beiden entsprechenden Erbanlagen (rezessiver Erbgang) den Leptinrezeptor nicht bilden. Sie wird genauso übergewichtig wie die obese Maus.
Erst kürzlich konnte auch belegt werden, dass Veränderungen des Leptingens beim Menschen ebenfalls
zu extremer Adipositas führen. In einer Familie pakistanischen Ursprungs entwickelten Vetter und Cousine bereits in den ersten Lebensmonaten eine Adipositas, die auf einen übermäßig ausgeprägten Hunger zurückzuführen war. Die Kinder hatten mit zwei und acht Jahren Körpergewichte, die als extrem
anzusehen sind (26 bzw. 89 kg). Im Blut konnte bei diesen Kindern kein funktionstüchtiges Leptin
nachgewiesen werden. Man geht auch hier davon aus, dass ohne Leptin die zentrale Rückkopplung der
vorhandenen Fettmasse (bzw. – wenn man so will - der Energiereserve) nicht erfolgt. Der Organismus
ist deshalb nicht in der Lage zu erkennen, wieviel Fettmasse vorhanden ist. Insofern resultieren, im
Prinzip genauso wie bei der obese Maus, der übermäßige Hunger und der Gewichtsanstieg. Durch die
Gabe von rekombinant hergestelltem Leptin konnte, zunächst bei dem älteren der beiden Kinder, eine
erfolgreiche Therapie eingeleitet werden. Das Mädchen hörte bereits nach einer Woche auf, ständig
hungrig zu sein. Die Gewichtsabnahme beträgt mittlerweile fast 20 kg.
In Analogie zu der diabetes Maus konnte auch beim Menschen eine Mutation im Leptinrezeptorgen
identifiziert werden, die rezessiv ebenfalls zur extremen Adipositas führt. Bislang sind weltweit drei
Schwestern einer Familie mit dieser Form der Adipositas identifiziert worden.
Ende 1998 wurden erstmalig zwei Mutationen im Melanocortin-4 Rezeptorgen (MC4-R) beschrieben,
die jeweils dazu führen, dass kein funktionsfähiger Rezeptor hergestellt werden kann. Falls eine Person
in nur einem der paarig vorhandenen Gene eine dieser Mutationen aufweist (dominanter Erbgang),
resultiert bereits eine Adipositas. Mutmaßlich ist als Folge die Rezeptordichte in den relevanten
Regionen des Gehirns – insbesondere des Hypothalamus –reduziert. Die Träger dieser Mutationen
weisen, ebenso wie weitere mischerbige (ein Gen enthält die Mutation, das zweite Gen ist unauffällig)
Angehörige, jeweils eine extreme und frühmanifeste Adipositas auf. Mittlerweile weiß man, dass ca. 24% aller stark übergewichtigen Kindern Mutationen im MC4R vorliegen. Erstmalig ist es gelungen, eine
dominante Form der Adipositas beim Menschen abzugrenzen, die eine Untergruppe aller Fälle einer
Adipositas im Kindes- und Jugendalter erklären kann.
Es ist davon auszugehen, dass es beim Menschen weitere Formen von Adipositas gibt, die auf Veränderungen nur einer einzigen Erbanlage (dominant) bzw. eines Erbanlagenpaars (rezessiv) beruhen.
Allerdings werden derartige Fälle mutmaßlich nur einen kleinen Anteil aller Adipositasfälle erklären.
Übergewicht und Adipositas resultieren weitaus häufiger durch das Zusammenspiel von mehreren Erbanlagen.
Durch gezielte Kreuzung von Inzuchtmäusestämmen hat man bereits bei Mäusen verschiedene Erbanlagen, die an der Gewichtsregulation beteiligt sind, bestimmten Chromosomen zuordnen können. Die
eigentlichen Erbanlagen und somit die jeweiligen Eiweiße sind jedoch noch unbekannt. Es wird davon
ausgegangen, dass die gleichen Erbanlagen auch beim Menschen das Körpergewicht beeinflussen. Im
Gegensatz zu den vorgenannten Befunden zu monogenen Formen der Adipositas wird aber davon ausgegangen, dass hierbei verschiedene Erbanlagen zusammenspielen (Polygenie), und somit je nach genetischer Ausstattung eine genetische Prädisposition zu Unter-, Normal- bzw. Übergewicht entsteht.
Letztlich kann davon ausgegangen werden, dass wir durch die molekulargenetische Forschung innerhalb der nächsten Jahre einen wesentlich besseren Einblick in die Regelkreise erhalten werden, die
unser Körpergewicht beeinflussen. Weitere Erbanlagen, die zur Entwicklung von Übergewicht prädisponieren, werden identifiziert werden. Es wird zu prüfen sein, in wieweit sich aus dieser Forschung auch
neue diagnostische und therapeutische Ansätze ergeben werden. Die Zukunft wird auch zeigen, wie
stark der erbliche Einfluss auf das Körpergewicht ist. Man kann bereits jetzt sagen, dass er bei bestimmten Personen sehr, bei anderen weniger stark sein dürfte. Die heutige Forschung legt nahe, dass
Kinder bei gegebener erblicher Neigung besonders stark mit Übergewicht reagieren. Erwachsene können im Gegensatz zu Kindern stärker durch ihren Willen und Vernunft das Körpergewicht beeinflussen.
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Erwachsene erleben auch die Nachteile von Übergewicht stärker als Kleinkinder. Zudem können Erwachsene kraft ihres Willens versuchen, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern. Kinder brauchen hierbei
mehr Hilfe und feste Vorgaben.
Dass aber auch im Erwachsenenalter die dauerhafte Umstellung der Essens- und Bewegungsgewohnheiten nicht einfach ist, wissen die meisten Eltern von übergewichtigen Kindern bereits aus eigener
Erfahrung. Das Vorhandensein einer erblichen Neigung zur Entwicklung von Übergewicht sollte jedoch
nicht dazu führen, dass man sich nicht länger darum bemüht, das Körpergewicht in gewissen Grenzen
zu halten. Es gilt im Einzelfall, diese Grenzen für sich heraus zu bekommen und sich somit auch letztlich mit seinem Gewicht abzufinden, selbst wenn es überdurchschnittlich ist. Hierbei werden einige
Menschen erleben, dass sie ihr Gewicht sehr erfolgreich, andere hingegen weniger erfolgreich kontrollieren können.
Zusammenfassend gilt es, übergewichtige Personen in ihren Bemühungen zu unterstützen, eine Gewichtsabnahme herbei zu führen, um einen Zugewinn an Lebensqualität zu erreichen und mögliche
Folgeerkrankungen abzuwehren. Andererseits muss auch zur Kenntnis genommen werden, dass (zum
Glück) das Gewicht nicht bei allen Menschen einheitlich genormt ist bzw. genormt werden kann. Vielmehr kommt es darauf an wahrzunehmen, dass es ähnlich wie bei der Körperlänge eine erhebliche
Streubreite gibt. An dem Zustandekommen dieser Streubreite sind unsere Erbanlagen beteiligt.
Umweltfaktoren
Die Umwelt von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert.
Zu nennen sind insbesondere veränderte Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, die wiederum die
Folge einer Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, aber auch des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts unserer Zeit darstellen. Der epidemiologischen Forschung ist es in
den letzten Jahren erstmalig gelungen, einzelne Faktoren kausal mit der Zunahme des mittleren Körpergewichts von Kindern und Jugendlichen in Verbindung zu bringen. Insgesamt muss jedoch betont
werden, dass die ermittelten Risikofaktoren jeweils relativ geringe Effekte zeigen. Es ist folglich
anzunehmen, dass viele Faktoren für die Gesamtentwicklung verantwortlich sind, die sich zudem möglicherweise individuell unterschiedlich auswirken.
Die schützende Wirkung des Stillens wird kontrovers diskutiert. Einige Studien legen nahe, dass Stillen
vor der Entwicklung von Übergewicht schützt; je länger gestillt wurde, desto seltener lag im Kindesalter Übergewicht vor. Die Auswirkung des Stillens auf das Körpergewicht im Kindes- und Jugendalter
ist insgesamt aber als gering anzusehen.
Umwelteinflüsse, die Auswirkungen auf das Essverhalten haben, umfassen Veränderungen des Nahrungsangebots, Zunahme des außerhäuslichen Verzehrs, Werbung für Lebensmittelprodukte, Marketing
und die Preisgestaltung für Nahrungsmittel. Bedingt durch die Zunahme der Berufstätigkeit von Frauen
steht weniger Zeit für die Nahrungszubereitung zur Verfügung. Portionsgrößen haben zugenommen.
Amerikanische Studien aus den letzten drei Jahrzehnten zeigen, dass Jugendliche heute einen geringeren Anteil ihrer Energiezufuhr zu Hause decken, wohingegen der Konsum von außerhäuslichem Fastfood und der Gasthausverzehr zugenommen haben. Auch das Essen zwischen den Mahlzeiten in Form
von salzigen und süßen Knabbereien und zuckerhaltigen Getränken hat zugenommen. Im gleichen
Zeitraum hat die Anzahl der Kinder abgenommen, die die empfohlenen Mengen an Obst, Gemüse und
Milchprodukten zu sich nehmen.
Der Nachweis, dass diese Veränderungen der Qualität und Quantität der Nahrungszufuhr für die Häufigkeitszunahme der Adipositas kausal mitverantwortlich sind, ist schwer zu erbringen. Querschnittsstudien ermöglichen lediglich die Aussage, dass solche Veränderungen der Energiezufuhr stattgefunden
haben. In einer prospektiven Beobachtungsstudie haben Forscher fast 600 Schulkinder über 19 Monate
verfolgt, um den Konsum von zuckerhaltigen Getränken zum Ausgangszeitpunkt in Beziehung zu den
im Verlauf aufgetretenen BMI-Zunahmen zu setzen. Pro zuckerhaltiges Getränk zum Ausgangszeitpunkt fand sich eine BMI-Zunahme um durchschnittlich 0,18 kg/m². Selbst bei dieser Studie kann nicht
gänzlich ausgeschlossen werden, dass Kinder, die zuckerhaltige Getränke bevorzugen, sich beispielsweise auch fettreicher ernähren, so dass der kausale Zusammenhang zwischen Getränkekonsum und
Gewichtszunahme letztlich nicht eindeutig bewiesen ist.
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Beim Vergleich der Übergewichts- und Adipositas-Prävalenzraten von Schulkindern aus 34 Ländern
und deren Bewegungs- und Ernährungsgewohnheiten fand sich, dass in Ländern mit hohen Raten die
körperliche Aktivität geringer und der Fernsehkonsum höher als bei normalgewichtigen Jugendlichen
war; in fast allen Ländern nahmen übergewichtige Kinder weniger Süßigkeiten zu sich. Übergewicht
war nicht assoziiert mit dem Verzehr von Obst, Gemüse und zuckerhaltigen Getränken. Auch fand sich
keine Assoziation zur Dauer der PC-Nutzung.
Während einige Experten den veränderten Ernährungsgewohnheiten große Bedeutung beimessen,
überwiegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Tendenz, den Rückgang an körperlicher Aktivität bzw. der
Zunahme an sitzender Tätigkeit einen höheren Stellenwert einzuräumen. Die körperliche Aktivität heutiger Kleinkinder ist gering. So beträgt der durchschnittliche körperliche Aktivitätspegel (= Gesamtenergieverbrauch geteilt durch den Grundumsatz) lediglich ca. 1,6 bei 3- und 5-Jährigen. Fast 80% der
Wachzeit wird durchschnittlich bei der Durchführung sitzender Tätigkeiten, lediglich ca. 3% unter mittelgradiger bis stärkerer körperlicher Aktivität verbracht. Die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten 25 Jahren um ca. 10% verschlechtert.
Die Bedeutung des Fernsehens für die Entwicklung von Übergewicht ist vielfach untersucht worden. In
den meisten Querschnittsstudien fand sich eine Beziehung zwischen der Dauer des täglichen Fernsehkonsums und dem BMI. Solche Studien erlauben jedoch nicht den Rückschluss, dass übermäßiges
Fernsehen zu Übergewicht führt. Auch die umgekehrte Interpretation - Übergewicht bewirkt, dass
Kinder vermehrt Fernsehen – muss berücksichtigt werden.
Prospektiv ausgerichtete Langzeitstudien sind erwartungsgemäß seltener durchgeführt worden: In einer amerikanischen Studie fand sich eine Assoziation zwischen dem von den Eltern angegebenen Fernsehkonsum im Alter von 6 bis 11 Jahren und der Adipositashäufigkeit mit 12 bis 17 Jahren. Eine andere
Forschergruppe fand hingegen bei 279 prospektiv untersuchten Sechst- und Siebtklässlern keinen
Zusammenhang zwischen dem Fernsehkonsum zum Ausgangszeitpunkt und dem BMI 7 bis 24 Monate
später. In einer Langzeitstudie aus Neuseeland konnte erstmalig ein Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum im Kindes- und Jugendalter und dem BMI im Erwachsenenalter festgestellt werden. Bei fast
1000 Kindern wurde der Fernsehkonsum insgesamt sieben Mal zwischen dem Alter von 5 und 21 Jahren erfasst. Im Alter von 26 war der Fernsehkonsum zwischen 5 und 15 Jahren assoziiert mit höherem
BMI, erhöhtem Zigarettenkonsum, erhöhtem Cholesterinspiegel und erniedrigter körperlicher Fitness.
17% des Übergewichts im Alter von 26 Jahren geht nach dieser Studie auf den Fernsehkonsum im
Kindes- und Jugendalter zurück.
Fernsehen könnte im Prinzip über drei mögliche Mechanismen zu Übergewicht führen: 1) Es ersetzt
körperliche Aktivität und verführt somit zu einem erniedrigten Energieverbrauch. 2) Fernsehen führt zu
einer erhöhten Energieaufnahme durch parallel erfolgendes Essen bzw. durch die Auswirkung von
Werbung auf das Essverhalten. Der Einfluss der Fernsehwerbung auf die Nahrungsmittelpräferenzen
von Kindern ist in einzelnen Studien nachgewiesen worden. 3) Fernsehen bewirkt eine Herabsenkung
des Ruheumsatzes.
In Querschnittstudien konnte eine kürzere Schlafdauer mit Übergewicht und Adipositas im Kindesalter
in Zusammenhang gebracht werden. Unklar ist hierbei, ob die kürzere Schlafdauer bei übergewichtigen
Kindern die Folge oder aber eine Ursache für die Entwicklung des Übergewichts darstellt. Mütterliches
Rauchen, besonders in der Frühschwangerschaft, geht mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung
von Übergewicht des Kindes einher.
Therapie
Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, ob es sich bei der Adipositas um eine eigenständige
Krankheit handelt. Bei (Klein)Kindern ist zu berücksichtigen, dass Übergewicht häufig nicht im Jugendbzw. Erwachsenenalter fortbesteht; dies gilt primär, wenn keine familiäre Belastung vorliegt und das
Kind noch jünger ist. Aus medizinischer Sicht kommt es darauf an, Individuen aus Risikopopulationen
zu identifizieren, deren Gesundheitszustand, Handeln und/oder Verhalten als auffällig oder gar krankhaft anzusehen ist. Im Hinblick auf therapeutische Bemühungen zur Reduktion des Körpergewichts ist
auch kritisch zu fragen, welche Nebenwirkungen auftreten. Bei Erwachsenen konnte unlängst in einer
Langzeittudie gezeigt werden, dass die Mortalität bei Personen mit Adipositas, die bewusst abgenommen hatten, höher war, als bei initial gleichschweren Individuen, die zwar auch abnehmen wollten, dies
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dann aber im Verlauf der Studie nicht taten. Während es viel zu früh ist, dieser Studie ein allzu großes
Gewicht beizumessen, müssen dringend weitere solche Studien erfolgen, um potentielle gesundheitliche Risiken von Gewichtsabnahmen zu erfassen; dies gilt insbesondere auch für Kinder und Jugendliche.
Bei der Indikationsstellung müssen 1. Schweregrad der Adipositas, 2. Alter, 3. soziale und funktionelle
Beeinträchtigung, 4. Komorbidität (gleichzeitig vorliegende somatische und psychiatrische Störungen),
5. Therapiemotivation und 6. die psychosoziale Situation der Familie berücksichtigt werden. Vor Beginn
einer Therapie sollten der Patient und seine Eltern darüber informiert werden, dass keine großen
Gewichtsabnahmen erwartet werden können. So hat ein Jugendlicher das Recht zu fragen, ob eine
Gewichtsabnahme um 5% - ein Erfolgskriterium gängiger Adipositastherapie im Erwachsenenalter,
sofern diese für ein Jahr gehalten werden kann - wirklich die damit verbundenen Anstrengungen wert
ist, zumal er ja a priori nicht weiß, ob er überhaupt diesen Erfolg erzielen kann. Wichtig ist, dass die
starke Gegenregulation des Organismus auf eine Gewichtsabnahme besprochen wird. Ggf. kann durch
Aufzeigen der familiären Belastung und durch den Hinweis auf die Beteiligung erblicher Faktoren auch
eine Entlastung des Patienten bzw. der Familie erzielt werden. Häufig wird das Übergewicht eines
Kindes bzw. Jugendlichen trotz evidenter familiärer Belastung individuellen, u. U. auch psychischen
Ursachen, zugeschrieben.
Kontraindikationen für eine Therapie können gemäß den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas
im Kindes- und Jugendalter das Vorliegen einer anderen schwerwiegenden Erkrankung, eine schwere
psychosoziale Belastung oder eines deutlichen Risikos für eine solche Entwicklung bestehen. Im
Gegensatz zum Erwachsenenalter ergibt sich bei noch nicht erreichter Endkörperhöhe die Möglichkeit,
durch Halten des Körpergewichts aufgrund des weiteren Längenwachstums den BMI günstig zu
beeinflussen. Es ist aber unbekannt, ob Kinder und Jugendliche tatsächlich leichter ihr Gewicht halten
können als Erwachsene.
Die übergeordneten Ziele einer Adipositastherapie sind a) langfristige Gewichtsreduktion, b) Verbesserung der mit dem Übergewicht einhergehenden Komorbidität, 3) Verbesserung des aktuellen Ess- und
Bewegungsverhaltens und 4) Vermeiden von unerwünschten Therapieeffekten. Die wesentlichen Therapiebausteine sind Diätberatung, Kochkurse, spielerische Förderung von körperlicher Aktivität und
Reduktion von sitzenden Tätigkeiten (Fernsehen, Video, PC). Im Einzelfall gilt es vorhandene somatische
oder psychiatrische Störungen zu behandeln. Eine Adipositastherapie sollte ambulant erfolgen; als
problematisch erweist sich hierbei in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern das weitgehende
Fehlen geeigneter therapeutischer Anlaufstellen, die die o. g. Therapiebausteine in einem interdisziplinären Gesamtkonzept anbieten. In Deutschland gibt es jedoch eine Tradition für stationäre Rehabilitationsmaßnahmen, deren kurzfristige Wirksamkeit zwar belegt, deren längerfristige Wirksamkeit (bei
fehlender Nachbetreuung) aber bezweifelt werden muss.
Bei Erwachsenen gilt eine BMI-Reduktion um 1 kg/m² oder eine Gewichtsabnahme von mindestens 5%
als erfolgreich, sofern diese für ein Jahr gehalten werden können. Gewichtsabnahmen in dieser
Größenordnung führen bereits zu einer Verbesserung der Morbidität und Mortalität. Bei Kindern und
Jugendlichen gibt es keine analogen Kriterien; ebenso wie bei Erwachsenen können sich aber vergleichsweise geringe Gewichtsabnahmen günstig auf Blutdruck und Stoffwechsel auswirken.
Trotz der epidemischen Ausbreitung der Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind wissenschaftlich
geleitete Therapiestudien rar. In Deutschland ist lediglich das ambulante Therapieprogramm „Obeldicks“ systematisch evaluiert. Am Ende des einjährigen Therapieprogramms hatten 71% der 132 Kinder
mit einem durchschnittlichen Alter von 10,7 Jahren ihr relatives Übergewicht um > 5% und 55% um
mehr als 10% reduziert. Die Reduktion des SDS-BMI betrug im Mittel -0,43. Reinehr und Mitarbeiter
betonen die Notwendigkeit, die Therapie auf motivierte Kinder und Familien zu begrenzen; hierdurch
lässt sich die initiale Dropout-Rate deutlich reduzieren und die Erfolgsquote verbessern.
Zuverlässige und allgemein gültige Schlussfolgerungen lassen sich aus den bisherigen Therapiestudien
nicht ziehen. Die Studiengruppen waren jeweils klein, zudem handelte es sich um ausschließlich homogen motivierte Gruppen in klinischen Settings, so dass sich die Ergebnisse als nur eingeschränkt
verallgemeinerbar erwiesen. Die meisten Untersucher propagieren einen interdisziplinären Therapieansatz unter Einbeziehung sowohl der Eltern als auch der Kinder. Allerdings wurde in einer Studie ge34
zeigt, dass bei der Nachuntersuchung sieben Jahre nach der Therapie die ausschließliche Therapie der
Eltern bessere Ergebnisse lieferte als die alleinige Therapie von 7-12-jährigen Kindern.
Unlängst sind die Ergebnisse von 10 Monate lang stationär behandelten jungen Patienten berichtet
worden, die 14 Monate nach ihrer Entlassung nachuntersucht wurden. Die Kinder und Jugendlichen
(Durchschnittsalter: 12,7; Spanne 7 -17) nahmen während der Behandlung 49% ihres Gewichts durchschnittlich ab; zum Nachuntersuchungszeitpunkt waren dies noch 32% (BMI-Reduktion um durchschnittlich 4,9 kg/m²): In einer eigenen Untersuchung an Jugendlichen, die ca. 6 Monate stationär
behandelt wurden, war der Aufnahme-BMI mit dem zur Einjahresnachuntersuchung fast identisch.
35% bzw. 20% der Jugendlichen wiesen einen um mindestens 5 bzw. 10% erniedrigten BMI auf.
Bislang sind keine Medikamente zur Behandlung von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Chirurgische Verfahren sind bei extremer Adipositas auch im Jugendalter erfolgreich eingesetzt worden, können aber in Einzelfällen zu gravierenden Nebenwirkungen führen.
Es ist evident, dass weitere Therapiestudien erforderlich sind. Gleichzeitig gilt es aber auch festzuhalten, dass angesichts der Adipositasepidemie der Prävention von Übergewicht mehr als bislang Beachtung geschenkt werden muss. Die bis dato vorliegenden Studien erlauben keine klare Aussage im Hinblick auf einzuschlagende Strategien; es „erscheint sinnvoll…., dass eine Konzentration auf Strategien
erfolgt, die eine Reduktion sitzender Tätigkeiten und eine Erhöhung der körperlichen Aktivität vorschlagen“. Gleichzeitig gilt es in unserer Gesellschaft eine Diskussion darüber einzuleiten, ob politische
Maßnahmen (u.a. Werbeverbot der Nahrungsmittelindustrie in Fernsehsendungen für Kinder) nicht angezeigt sind, um der weiteren Zunahme der Häufigkeit von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter
entgegen zu treten.
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Essstörungen - eine Herausforderung für die
Gesellschaft!
Doro Krollmann
Ich will so bleiben, wie ich bin. Und das aus gutem Grund. Wäre ich dicker, dann würde man mir, laut
einiger repräsentativer Umfragen, den Erfolg im Beruf wie im Privaten absprechen. Und würde ich
dann noch hier stehen und schnell noch einen Happen essen, würden manche abwertend denken:
„Mein Gott die Dicke, kann die sich denn nicht beherrschen?“
Interessanter Weise werden, trotz eines sich auch hier wandelnden Trends, dicke Männer im Gegensatz
zu dicken Frauen noch als erfolgreich im Beruf und mit Zufriedenheit im Privaten belegt.
Aber keine Sorge, auch das wird sich zum Nachteil ändern. Im Sportbereich munkelt man jetzt schon
über die ersten öffentlich bekannten Männer, die zur Magersucht neigen sollen, nicht zuletzt auch
deshalb, weil sie dem Bild des schlanken athletischen Sportlers entsprechen wollen und müssen.
Allerdings gibt es meines Wissens noch keine seriöse Studie darüber, ob die Anzahl der essgestörten
Jungen und Männer tatsächlich zugenommen hat oder ob sie aufgrund der Enttabuisierung des Themas eher dazu stehen können.
Die meisten Frauen lernen schon als kleines Mädchen, dass jegliches Fett an ihnen hässlich ist. Dicke
Mädchen sind schlecht im Sport, können nicht tanzen und sind mithin nicht besonders beliebt. Darüber
hinaus wird ihnen unterschwellig mitgeteilt, dass man es als dickes Mädchen schwer hat, einen Mann
abzubekommen. Sexualität ist was für die Schlanken und Schönen. Die Sozialisation der Mädchen konzentriert sich auch noch heute darauf, dass eine sinnvolle Lebensperspektive vor allem in der Ehe und
Familie liegt, dieses Ziel scheint für übergewichtige Mädchen kaum realisierbar.
Assoziierte man noch in der Nachkriegszeit mit üppigen Frauen Gesundheit und einen gewissen Wohlstand, änderte sich das Schönheitsideal schleichend in Richtung „immer dünner werden“, bis hin zu der
„Twiggy-Welle“ in den 60-iger Jahren. Die Massenmedien bejubelten die neu erscheinenden superdünnen Models und zeigten den Frauen, wie sie sein müssen, um als schön zu gelten. Für viele Frauen
bedeutete dieses Ideal der Beginn eines Leidensweges, geprägt durch ständige Diäten, Misserfolge, Medikamenteneinnahme oder sogar Schönheitsoperationen.
Susi Orbach, die von mir sehr geschätzte Verfasserin des „Anti-Diät Buches“, stellt die These auf, dass es
nicht von ungefähr komme, dass das Erstarken der Emanzipationsbewegungen der Frauen mit dem
„hyperdünnen Schönheitsideal“ einherging. Sie wertet das als „bewussten oder unbewussten Versuch,
in unserer patriarchalischer Gesellschaft auf die Forderungen der Frauen nach mehr Raum zu kontern“.
Eine These, die zumindest mich nachdenklich stimmt.
Manche Krankheiten würde es nicht geben, wenn Menschen alleine lebten, so wie Robinson Crusoe.
Ess-Störungen würde es ohne eine Gesellschaft nicht geben, davon bin ich überzeugt. Das heißt, es
muss eine Gesellschaft mit einem bestimmten Werte- und Normensystem geben. Allerdings sind EssStörungen nicht in allen Gesellschaften vertreten. In Ländern, wo zum Beispiel Not und Hunger
herrschen, kommen Ess-Störungen als Krankheitsbild nicht vor. Ich möchte hier natürlich nicht behaupten, dass die Gesellschaft die Ursache der Ess-Störungen schlechthin ist, aber in unserer westlichen Hemisphäre bietet sie dennoch einen guten Nährboden dafür.
Unsere Gesellschaft, und davon sind wir ein Teil, legt immer mehr die Betonung auf Äußerlichkeiten.
Auf unseren Kindern und Jugendlichen, die sich naturgemäß in einem Selbstfindungsprozess befinden,
lastet ein ungeheurer Druck. Sie erfahren dank der Medien, dass jemand, der das tollste Handy, die
größte Playstation oder die teuersten Markenklamotten besitzt, etwas wert ist. Aber was nützen
Markenklamotten, wenn man scheinbar zu dick ist?
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Ich war letztens in einer Boutique und fragte die jugendliche Verkäuferin, ob ein bestimmtes T-Shirt
auch in meiner Größe erhältlich sei. Nach einer Musterung von oben nach unten erwiderte das Mädchen: „Nein, Übergrößen führen wir nicht“....
Wie mag so eine Antwort auf ein pubertierendes Mädchen wirken?
Das Wachsen des Körperkultes und die enge Verbindung der Identität mit äußeren Merkmalen hat nach
Schätzung der Expertinnen und Experten mit der Zunahme der Ess-Störungen einen kausalen Zusammenhang. Aber auch die Lebensmodelle von Männern und Frauen haben sich in den letzten Jahrzehnten so drastisch wie nie zuvor in der Geschichte verändert. Es stürmten und stürmen neue Anforderungen vor allem auf die Frauen zu, die mit starkem Druck einhergehen. Eine Frau formulierte das so: „Von
meinem Umfeld wird erwartet, dass ich gut im Beruf bin und Geld verdiene, ich bin aber auch für den
Haushalt und die Kinder da und abends erwartet mein Mann, dass ich aussehe wie ein Model.“
Diese Problemlage, bedingt durch eine starke Mehrfachbelastung, ist vielen Frauen bekannt. Die Konsequenz ist häufig, dass sich die Frauen in ihrer Hilflosigkeit in eine Sucht stürzen, viele davon in eine
Ess-Störung.
Sie haben heute einiges gehört über Entstehung und Zusammenhänge von Ess-Störungen, dass ich
Ihnen und mir eine weitere differenzierte Ursachenerforschung erspare. Spannender ist für mich die
Frage: Was kann die Gesellschaft tun, was können wir tun?
Der von unserer Gesellschaft forcierte Schlankheits- und Schönheitskult bringt vielen Interessengruppen und Wirtschaftsunternehmen große Profite. Millionensummen werden jährlich für Diätkuren und
Schlankheitsmittel ausgegeben. Jedes abgehungerte Kilo Fett kostet laut einem WAZ Artikel vom
18.2.2005 etwa 400,- Euro. Und der Markt mit den Dicken blüht.
Keine Frauenzeitschrift ohne eine Blitzdiät oder mit Berichten über berühmte Persönlichkeiten, die ihre
Traumfigur wieder erlangt haben. Kein Gang durch den Supermarkt, ohne den Blick über unzählige
Light-Produkte schweifen zu lassen. Diät-Kochbücher und Ratgeber, wohin das Auge reicht , dazu unzählige Medikamente, die einen beim Abnehmen unterstützen sollen.
Durch die Werbung wird suggeriert, dass es ganz einfach ist, schlank zu bleiben, wenn man nur auf bestimmte Produkte, wie eben auf jene häufig überteuerten Light-Lebensmittel oder gar auf entsprechende Tabletten zurück greift. Wer es dennoch nicht schafft, gilt als disziplinloser Versager oder Versagerin. Diese finden wir dann zum Teil in einer der zahlreichen Talkshows wieder. Neben Sex ist dort das
wichtigste Thema „Dicke“ - gerne auch beide Themen vereint.
Beliebt sind auch sogenannte Reality-Shows, bei denen Menschen mit Übergewicht sich vor laufenden
Kameras, unter den spöttischen Blicken der Fernsehzuschauer, quälen, um ihre Pfunde loszuwerden.
Oft vergeblich. Eben, wie im richtigen Leben.
Mit all diesen Eindrücken werden unsere Kinder und Jugendliche, aber auch wir selbst bombardiert. Wir
alle, die wir mit der Erziehung von Kindern betraut sind, ob als Eltern, Lehrpersonal oder Erzieherinnen,
haben die Verantwortung, unser eigenes Wertesystem bezüglich eines Schönheitsideals zu überprüfen
und kritisch unter die Lupe zu nehmen. Was übertragen wir davon, auch ohne große Worte zu machen,
auf die uns anvertrauten Kinder?
Welche Sendungen gucken wir uns im Fernsehen an, welche Diäten machen wir selbst? Essen wir gesund? Auf welche Weise äußern wir uns über dicke Menschen?
Wie können wir authentisch sein und unseren Kindern von „Inneren Werten“ berichten, wenn wir selbst
vielleicht immer oberflächlicher werden?
Für mich sind Ess-Störungen nicht nur eine medizinisch/psychologische Herausforderung sondern auch
eine gesellschaftliche. Und wir sind ein Teil der Gesellschaft. Gesellschaftliche Veränderungen sind
nicht ad hoc umzusetzen. Das weiß ich sehr wohl. Fangen wir doch bei uns an.
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Vorwort
Als Ende November 2001 der Essener Gesundheitsbericht “Abhängigkeit und Sucht“ erschien, enthielt
er nur wenige Hinweise auf das Thema Ess-Störungen. Zitate aus diesem Bericht:
„Von Ess-Störungen betroffen ist etwa jede 10. Frau und deutlich weniger Männer.“
„ ..... soll sich .... die Zahl der Schulabgänger/innen mit Ess-Störungen zwischen 1990 und 1998
verdoppelt haben.“
„Schätzungen zur Verbreitung von Ess-Störungen mit Suchtcharakter gehen von 1.400.000 Menschen
mit Ess-Brech-Sucht und 480.000 mit Magersucht aus, von denen über 90%Frauen sind .... Gesonderte
Erhebungen zum Suchtmittelkonsum in Essen liegen nicht vor. Die Daten müssen also von bundesrepublikanischen Daten auf die Stadt Essen zurückgerechnet werden. Zusammengefasst ergeben sich für
die Stadt Essen .... folgende Anhaltswerte ... :
Ess-Sucht
Ess-Brech-Sucht
Magersucht
?
ca.10.200
ca. 3.500
Das Beratungsangebot für Mädchen und Frauen mit Ess-Störungen wird vom Verein ´Frauen helfen
Frauen Essen e. V.` und der ´Distel` wahrgenommen. Das Beratungsangebot ist als unzureichend
anzusehen, da die Nachfrage das Angebot erheblich übersteigt. Für Männer gibt es kein Angebot
außerhalb von Selbsthilfe.“
*
Dieses nicht sehr umfangreiche. aber dennoch aussagestarke Ergebnis hat das „Projekt Gesunde Stadt
Essen“ veranlasst, Ess-Störungen zu einem seiner (wechselnden) Schwerpunktthemen zu machen. Das
von der „Healthy Cities“-Idee der Weltgesundheitsorganisation (WHO) inspirierte Projekt – die Stadt
Essen war 1989 eines von elf Gründungsmitgliedern des deutschen „Gesunde Städte“-Netzwerks, dem
heute 60 Städte, Kreise und Stadtbezirke (in Berlin) angehören - ist ein unabhängiger Verbund von
Fachleuten aus Arbeitsgebieten, die im weitgefassten Sinne mit Gesundheit zu tun haben. Das vom
„Büro Gesunde Stadt Essen“ des Gesundheitsamts und von der Selbsthilfe-Informationsstelle WIESE e.
V. koordinierte Essener Projekt will Bewusstsein für den Umfang gesundheitlicher Probleme, für
Defizite in der Prävention und in der Versorgung schaffen, (Fach-)Öffentlichkeit und Kommunalpolitik
aufmerksam machen und somit für Abhilfe sorgen.
Rund 100 Einrichtungen in Essen bekamen Post vom Projekt: ein Fragebogen zum Thema „EssStörungen“. Neben dem Hinweis auf die offensichtlich nicht ausreichenden Präventions-, Beratungsund Hilfsangebote wurde darin betont, dass zu den „Betroffenen“ auch Angehörige und
Multiplikatoren (zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer) zählen, die Hilfe und Unterstützung suchen.
Pädagoginnen, die im Projekt mitarbeiten, hatten deutliche Anhaltspunkte dafür geliefert.
Die Angeschriebenen – vor allem Beratungsstellen, Kliniken, Krankenkassen – wurden gebeten, an einer
Bestandsaufnahme der Angebote mitzuarbeiten.
Sie fiel sehr „übersichtlich“ aus. Rund 30 Einrichtungen meldeten, dass sie mit dem Thema befasst
seien.
Da seit Beginn der Arbeit des Projekts an diesem Thema klar war, dass Beratenden wie Betroffenen
möglichst bald eine Übersicht über die Angebote – so wenig es zunächst auch seien – zur Verfügung
gestellt werden sollte, da andererseits in einen solchen „Wegweiser“ aber nur Angebote aufgenommen
werden sollten, die wirklich hilfreich sein würden, wurde mit einem zweiten, „verfeinerten“ Fragebogen
noch einmal nachgefragt.
Das Ergebnis liegt mit diesem ersten Wegweiser vor. Dass einige Einrichtungen ihre Meldung nicht
erneuert haben, ehrt sie. Denn wir haben es mit einem sehr ernsthaften gesundheitlichen Problem zu
tun. Und mit einem ernsthaften Defizit bei den Beratungsangeboten. Für Beratende, die im Kollegen-
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kreis nach dem jeweils „passenden“ Angebot für Klientinnen und Klienten suchen, ist es wichtig, auf
Grund einigermaßen gesicherter Kriterien in diesem Wegweiser suchen zu können.
Niedergelassene Therapeutinnen und Therapeuten, auch ärztliche Praxen, wurden in diesen Wegweiser
nicht aufgenommen. Das „Projekt Gesunde Stadt Essen“ ist bei dieser Entscheidung davon ausgegangen, dass das Defizit nicht bei den Behandlungsmöglichkeiten liegt, sondern bei der ersten Orientierung, bei Beratung und Vermittlung. Allerdings wird im Wegweiser auf die für das Finden geeigneter
psychotherapeutischer Praxen wichtigen Adressen der Koordinationsstelle bei der Kassenärztlichen Vereinigung hingewiesen.
Ein erster Wegweiser – das heißt: Wir hoffen und erwarten, dass sehr schnell nach seinem Erscheinen
eine neue Auflage fällig wird. Nämlich dann, wenn mit Prävention, Beratung, Vermittlung und Behandlung Befasste diesen ersten Essener Start ins Thema zur Kenntnis genommen haben. Wenn sie mit
Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen haben, wenn neue Kontakte entstanden sind, wenn
weitere Einrichtungen den Mut gefasst haben, sich gezielt dieses Themas anzunehmen.
Der unterdessen entstandene „Essener Facharbeitskreis Ess-Störungen“ zeigt, dass die Fachöffentlichkeit in unserer Stadt das Themas schon gezielt bearbeitet. Im kommenden Jahr wird es eine Fachtagung
geben. Und der Wegweiser wird gewiss eine neue, erweiterte Auflage erfahren.
Horst Heinemann
Büro Gesunde Stadt / Gesundheitsamt
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