JULIUS WEISMANN LEBEN UND WIRKEN 1 Julius Weismann, 1930 2 VORWORT or 50 Jahren starb Julius Weismann. Nun legt das Julius WeismannArchiv anlässlich einer Gedenkausstellung in der Stadtbibliothek Duisburg, die auch Domizil des Archivs ist, eine neue Veröffentlichung zu Leben und Werk dieses Komponisten vor. Gerd Rataj, Referent für Öffentlichkeitsarbeit am Duisburger Stadttheater, ist seinem Thema „Julius Weismann – ein Komponist im Spannungsfeld von Fortschritt und Beharren“ mit einer dreiteiligen Gliederung begegnet. Neben einer kurzen Biographie wird die stilistische Stellung des Komponisten beleuchtet. In diesem Zusammenhang widmet Rataj ein besonderes Kapitel der Gegenüberstellung von Schönberg und Weismann. Julius Weismann verkörpert ein wichtiges Stück Musik- und Zeitgeschichte, von dem wir einen Eindruck vermitteln möchten. Seine Musik kann die Palette der aktuellen stilistischen Vielfalt um Wesentliches bereichern, findet sich doch in seinem umfangreichen Schaffen neben Zeitgebundenem auch sehr viel zeitlose Musik, die wiederentdeckt, musiziert, gehört und erforscht zu werden der Mühe lohnt. Zu solch einer vielfältigen und immer wieder neuen Begegnung mit dem Komponisten Julius Weismann und seinem künstlerisch reichen Werk möchten wir mit dieser Veröffentlichung anregen. Sibylle Lützner, die als Musikpädagogin und Musikwissenschaftlerin die Ausstellung und die vorliegende Broschüre betreut hat, befasst sich zunächst mit Weismanns musikästhetischen Ansichten und den Beziehungen zwischen Julius Weismann und Duisburg, um schließlich vor allem die Weismann-Rezeption zwischen 1920 und 1950 zu beleuchten. 3 Für das Zustandekommen von Ausstellung und Schrift danken wir der Stadtbibliothek Duisburg, insbesondere Frau Annemie Maagh, den Herren Dr. Jan-Pieter Barbian, Jens Holthoff und Rainer Schmidt. Wilm Falcke Julius Weismann-Archiv, Duisburg „…Fortschritt! Als ob es in der Kunst so etwas gäbe! Im Automobilbau, in der Medizin etc. – freilich ja! Also in praktischen Dingen – aber die Musik ist ja, je schöner und innerlicher, umso unpraktischer!…“ (Julius Weismann) Vorne sitzend 2. von links Richard Strauss; 2. von rechts Julius Weismann, 1922 m Rahmen des Internationalen Musikfestivals “Schönberg und Neue Musik aus Deutschland, Österreich und der Schweiz” gab es 1993 in Duisburg eine Konzertreihe des WDR unter dem Motto “Fortschritt und Beharren”, in der Musik Weismanns mit der von Brahms, Berg und vor allem Schönbergs kombiniert wurde. Wie kam es zu dieser Zusammenstellung? Was verbindet beide miteinander - abgesehen von der Tatsache, daß Schönberg und Weismann Zeitgenossen waren und sich 1929 beim 59. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Duisburg trafen? Steht Schönberg womöglich für den wenngleich zweifelhaften Aspekt des “Fortschritts”, Weismann dagegen eher für den des “Beharrens”? 4 Eine solche Polarisierung zeugt von sehr oberflächlicher Betrachtung beider Komponisten. Denn abgesehen von der Tatsache, daß “Fortschritt und Beharren” das Spannungsfeld ist, unter dessen Einfluß sich die gesamte Musikgeschichte entwickelt hat, treffen beide Gesichtspunkte auf beide Komponisten zu: Schönberg war ein “konservativer Revolutionär”, der seine ersten Zwölftonkompositionen in tradierte Formen goß und seine Wurzeln wie auch seine Liebe zur Tradition und Vorbildern wie Bach, Beethoven und Brahms nie verleugnete. Weismanns Tonsprache, die weitaus gemäßigter als Schönbergs und daher an tonale Schwerpunkte und konventionelle Formen gebunden ist, ist dagegen stärker der Tradition verbunden. In manchem ist er seinem Zeitge- JULIUS WEISMANN EIN KOMPONIST IM SPANNUNGSFELD VON FORTSCHRITT UND BEHARREN nossen Bartók und auch jüngeren Kollegen wie Hindemith und vor allem Schostakowitsch vergleichbar. Weismann dagegen als “Spätromantiker” abzustempeln, wäre jedoch verfehlt, auch wenn er bis etwa 1914 eine “spätromantische Phase” durchlebte, denn es findet sich viel Neues, Fortschrittliches und Eigenständiges in seiner Musik. Ein “revolutionärer Konservativer”? Womöglich. Ein lineares Denken in der Musikgeschichte ist unsinnig. Die strenge Trennung zwischen „Fortschritt“ in der Linie Freitonalität - Zwölftonmusik - serielle Musik - elektronische Musik auf der einen Seite und „Beharren“ im Sinne von „tonale Zentren“, „Ausrichtung am Metrum“, „Festhalten an konventionellen Gattungen“ wirkt aus (G.R.) der heutigen Sicht, schon alleine durch die Entwicklung der Gegenwart, die pluralistische Vielfalt in der Musik der letzten Jahre, überholt. Denn es läßt keinen Platz für Wechselbeziehungen, für individuelle Werdegänge, für Einzelgänger, wie es Weismann war. Und der “Fall Weismann” ist dabei nicht singulär: Zahlreiche Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nicht zuletzt wegen ihrer Ablehnung oder Bevorzugung durch das Naziregime in Vergessenheit geraten. Mit der historischen Distanz, die mittlerweile möglich ist, kann die Musikgeschichte neu betrachtet und gewertet werden. Das soll nicht die Verdienste Schönbergs und der Neuen Wiener Schule schmälern, sondern bedeutet den Versuch, ein umfassen- 5 des Bild von den Musikströmungen zwischen etwa 1900 und 1950 zu erhalten wie auch den Wunsch ein offenes Musikleben voller stilistischer Vielfalt zu bewirken. Und das geht nur, wenn die Werke jener Zeit auch gespielt werden. So wird sich feststellen lassen, welch komplexes Geflecht auf einen Komponisten einwirkte und welchen Einfluß er seinerseits ausübte, sei es durch “Fortschritt” oder durch “Beharren” - oder durch beides. Vor der Duisburger Tonhalle anläßlich des 59. Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins, 2.-7. Juli 1929 in Duisburg. Vorne rechts sitzend Arnold Schönberg, hinten links stehend Julius Weismann ls Sohn des berühmten Zoologen, Vererbungsforschers und Begründers des Neodarwinismus August Weismann wurde Julius Weismann am 26. Dezember 1879 in Freiburg geboren. Seine Mutter Mary - eine kunstsinnige Frau aus vermögender Familie starb, als er sechs Jahre alt war. Fortan kümmerte sich sein Vater um ihn und seine vier Schwestern. Aufgrund eines Sonnenstichs kränkelte Weismann in seiner Jugend lange. Dies hatte mehreres zur Folge: Abgesehen von kurzem Schulbesuch erhielt er seine Bildung durch Privatlehrer und durch seinen Vater. Von Noten zu spielen war ihm lange nicht möglich, wodurch sich sein Improvisationstalent am Klavier und auch seine spätere Kompositionsweise entwickelte. Er schuf nie am Instrument, sondern meist im Freien. Weismanns tiefe Liebe zur Natur wurde durch seinen Vater und durch Genesungsaufent- Julius Weismann im Alter von 12 Jahren vor der Villa Weismann in Freiburg 6 halte in den Alpen geweckt: Der Engadin und die nähere Umgebung des Schwarzwalds wurden seine eigentliche Heimat. Er erinnerte sich: “Oft kommt es mir vor, als wäre ich den grössten Teil meiner Lebenszeit gewandert! Bin ich im Dunkeln oder schließe die Augen, wandern die Stämme der Bäume, die Gräser der Wiesen an mir vorbei, an denen ich oft vorüberschritt, oder einzelne Kilometersteine an Bahngleisen blieben in der Erinnerung haften ... Wann habe ich eigentlich gearbeitet? Wohl sehe ich mich an kleinen Tischen sitzen, auf Holztreppen aussen an Heustadeln, oder auf meinem lieben treuen Felsen im Höllental ... . Dort irgendwo muß ich wohl geschrieben haben, sehe ich erstaunt auf alles, was entstanden ist. ... die hellen Sommerwolken über den Bergen, der Klang der Luft und des Wassers tief unten, blieben mir treu und fanden sich später in der Musik wieder ein.” Bereits als Elfjähriger erhielt Weismann Kompositions- und Kontrapunktunterricht bei dem als konservativ geltenden Joseph Rheinberger in München. Von 1893 - 1895 erhielt er Klavierunterricht bei dem Lisztschüler Hermann Dimmler in Freiburg. Sprachstudien in Lausanne (1896-1898) folgten, und für ein Semester studierte er in Berlin - die “musikalisch-überhebliche, akademisch verbrähmte - und verbrahmste - Atmosphäre” bei Friedrich Stumpf und Heinrich von Herzogenberg stieß ihn jedoch ab. Die folgenden drei Jahre bei Ludwig Thuille in München haben Weismann in seiner Entwicklung weitergebracht, zeigen aber auch sein ausgeprägtes Einzelgängertum: “... ich mied jene (Musiker-) Kreise öfter, als dass ich sie suchte. Hätte ich nicht in der Familie meiner späteren Frau so liebe Aufnahme gefunden, ich wäre wohl sehr einsam gewesen. Im Thuille-Kreis gab es eben nur einen Obergott, das war JULIUS WEISMANN EIN LEBEN (G.R.) Richard Wagner - und zwei lebende Götter: Max von Schillings und Ludwig Thuille! Was sollte ich `klassizistischer Mensch damit anfangen! trotz meiner ehrlichen Begeisterung für Thuilles Oper `Lobetanz`und sein Bläser-Sextett fühlte ich bald eine Kluft, die sich auftun und mich von der `Münchner Schule trennen würde. ... Für viele spätere Beurteiler meiner Musik schien ich zur Münchner Schule zu gehören. Ein großer Irrtum! Gewiß trug meine Musik nach einiger Zeit Züge davon - aber viel mehr durch den Obergott Richard Wagner als durch die Untergötter!” 1902 heiratete Weismann die Konzertsängerin Anna Hecker - vielleicht mit ein Grund, warum er in seiner 7 ersten Schaffensphase so viele Lieder für Sopran und Klavier schrieb - und ließ sich als freischaffender Komponist in München nieder. 1906 kehrte er nach Freiburg zurück und wirkte außerdem als Pianist und Dirigent. Der glücklichen Zeit folgten zwei jähe Einschnitte: Der Erste Weltkrieg brach aus und kurz darauf starb sein Vater, der als sein bester Freund eine wichtige Stütze in seinem Leben war. Die zwanziger Jahre, in denen durch die Inflation das Familienvermögen verlorenging, wurden zur produktivsten Etappe in Weismanns Leben: Innerhalb von zehn Jahren entstanden fünf seiner sechs Opern. Der Durchbruch war geschafft. 1929 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste und erhielt ein Jahr später deren Beethoven-Preis. 1930 gründete Weismann mit Erich Doflein das Freiburger Musikseminar, aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg die Freiburger Musikhochschule hervorging. Als Leiter der Meister- klasse für Klavier wurde er dort 1936 Professor. 1939 wurde er zum Ehrenbürger Freiburgs ernannt und erhielt den Leipziger Bachpreis. Doch im selben Jahr zog sich Weismann, der zwar Freunden gegenüber herzlich, im Grunde jedoch ein eher scheuer Einzelgänger war, allmählich vom öffentlichen Leben zurück, übersiedelte nach Nussdorf (Bodensee) und gab zwei Jahre später seine Lehrtätigkeit auf. Das war zum einen gesundheitsbedingt: 1941 zeichnete sich seine Krankheit ab. Zum anderen gab es bei diesem stillen, unpolitischen Menschen so etwas wie eine Art “innerer Emigration”: Er suchte Heilung vor dem bedrohlichen Geschehen im zurückgezogenen Kom- Julius Weismann im Alter von 22 Jahren 8 ponieren und in der Natur, soweit sein sich ständig verschlechternder Gesundheitszustand dies zuließ. Seine letzten Lebensjahre waren von klaglos ertragener Krankheit, Skepsis, aber auch fleißigem Komponieren und zahlreichen Hauskonzerten im engsten Freundeskreis bis ins Todesjahr 1950 gekennzeichnet. Am 22. Dezember 1950 starb Julius Weismann kurz vor seinem 71. Geburtstag in Singen am Hohentwiel. 1879 am 26.12. in Freiburg geboren 1891 studiert in München Klavier bei Bußmeyer (Liszt-Schüler), Komposition bei Rheinberger 1893 Fortsetzung und Vertiefung der pianistischen Ausbildung in Freiburg bei Heinrich Dimmler (Liszt-Schüler) 1896 – 1898 Musikalische Studien und Sprachstudien an der Universität Lausanne 1898/99 Studien bei Heinrich v. Herzogenberg, Berlin 1899 – 1902 Kompositionsstudium bei Ludwig Thuille in München 1902 Heirat mit Anna Hecker. Lebt ab 1902 als freier Komponist, Pianist, Dirigent in München und Sils-Maria (Engadin) 1906 Übersiedelung nach Freiburg und Schachen/ Bodensee 1906 – 1923 Intensive Kompositionsund Konzerttätigkeit 1914 – 1918 Kriegsdienst (Krankenpflege, Vermißtenfürsorge) 1923 Uraufführung der Oper “Schwanenweiß” op. 75 in Duisburg (Text: Strindberg) 1925 Uraufführung der Oper “Traumspiel” op. 83 in Duisburg (Text: Strindberg) 1925 Uraufführung der Oper “Leonce und Lena” op. 89 in Freiburg (Text: Büchner) 1928 Uraufführung der Oper “Regina del Lago” op. 91 in Karlsruhe (Text: Calé) 1929 Ernennung zum Mitglied der preussischen Akademie der Künste 1930 Verleihung des Beethovenpreises der Preussischen Akademie der Künste. Uraufführung der Oper “Die Gespenstersonate” op. 100 in München (Text: Strindberg). Gründung des Freiburger Musikseminars zusammen mit Erich Doflein; dort auch Lehrer für Tonsatz und Meisterklasse für Klavier 1933 wird in die Jury der Tonkünstlerfeste des ADMV (Allgemeiner Deutscher Musikverein) berufen 1936 Verleihung des ProfessorenTitels vom Deutschen Reich 1939 Uraufführung der Oper “Die pfiffige Magd” op. 135 in Leipzig. Verleihung des Bachpreises der Stadt Leipzig als erstem Komponisten. Verleihung der Ehrenbürgerrechte der Stadt Freiburg 1941 Aufgabe der Lehrtätigkeit und Übersiedelung nach Nußdorf am Bodensee 1950 Ernennung zum Professor durch das Land Baden, gestorben am 22. 12. in Singen/ Hohentwiel 1954 Gründung des Julius WeismannArchivs in Duisburg 1981 Das Archiv geht als Dauerleihgabe an die Stadt Duisburg/ Stadtbibliothek (S.L.) Julius Weismann im Alter von 56 Jahren während der Kompositionsarbeit 9 Julius Weismann und Ensemble während der Proben zur „Pfiffigen Magd“, Leipzig, 1939 10 JULIUS WEISMANN DAS WERK IM ÜBERBLICK (S.L.) Kammermusik - 1 Werk für Bratsche solo, - 29 Werke für Streicher und Klavier - 4 Werke für Bläser und Klavier - 5 Kammermusikwerke in gemischter Besetzung Bühnenwerke - 6 Opern - 2 Schauspielmusiken - 2 Melodramen – 5 Ballettmusiken Vokalwerke - 40 Chorwerke a capella oder mit Klavierbegleitung - 5 Chorwerke mit Orchester - 4 Chorwerke mit Soli und Orchester - 11 Werke für Gesang und Orchester - über 260 Lieder oder Duette mit Klavier- oder anderer Instrumentalbegleitung Musik für Tasteninstrumente - 45 Werke für Klavier solo oder Klavierduo - 1 Werk für Orgel 11 Orchesterwerke - 23 Orchesterwerke ( Sinfonien, Ouvertüren, Rondos,etc.) - 13 Werke für Soloinstrumente und Orchester Richard Wagners Enkel Wieland Wagner im Jahr 1950 mit Julius Weismann as Schaffen Julius Weismanns ist ebenso umfangreich wie vielschichtig: Es geht bis zur Opuszahl 157 a (bei zahlreichen Werken ohne Opuszahl) und umfaßt außer geistlicher Musik quasi jede musikalische Gattung - von Opern, Schauspielmusiken, Chorwerken, Liedern über Symphonien, Konzerte, Klaviermusik aller Art bis zur Kammermusik, einer zentralen Gattung seines Gesamtwerks, von der aus 12 es sich erschließen läßt. Ein Werkverzeichnis ist beim Julius-WeismannArchiv in Duisburg zu erhalten. Die stattliche, kontinuierliche Produktivität Weismanns erklärt sich aus zwei Gründen: Erstens konnte er sich bis 1930 und ab 1941 weitgehend ungehindert durch Amtspflichten auf seine Arbeit konzentrieren, da er als freischaffender Komponist, Pianist, Dirigent und Liedbegleiter tätig war. Zweitens zeigen seine Skizzenbücher, die er auf jeder Wanderung mitnahm, daß er die Einfälle, die er in freier Natur hatte, fließend niederschrieb: Er komponierte ohne Klavier, mit offensichtlich hervorragender innerer Klangvorstellung und einer fertigen inneren Konzeption. JULIUS WEISMANN STILISTISCHE STELLUNG Aus der Fülle und Vielfalt resultiert das Problem, das Werk stilistisch einzuordnen. Der Pianist Franzpeter Goebels schlägt anhand Weismanns Klavierwerk folgende Gliederung vor: Bis op. 68 (1917) eine “romantische” bzw. “naive”, von Schumann beeinflußte Phase. Von op. 76 (1918/29) bis op. 87 (1923) mache sich durch Differenzierung und Konzentration der Harmonik und der Mittel “der Einfluß Debussys bemerkbar”. Von op. 93 (1926) bis op. 109 (1931) straffen “konstruktive Züge die Form”, Goebels sieht “eine Art neue Musik im Anbruch” und die “Polyphonie wird härter”. Den Spätstil Weismanns ab op. 114 (1933/34) sieht er besonders von kontrapunktischem Denken und der Hinwendung zu Bach geprägt, fügt aber hinzu: “Man sträubt sich jedoch, ein so vielschichtiges Werk in diesem Sinne zu periodisieren. Die Übergänge sind fließend und jedes einzelne Werk will erhört und aus seiner Mitte verstanden werden.” (G.R.) Versuche, Weismanns Werk einzuorden, finden sich zu jeder Zeit. So urteilte Thomas-San-Galli 1907 über die Symphonie h-moll op. 19: “Wenn wir historische Ähnlichkeiten nennen sollten, so würden wir Anklänge an Schumann hier und da finden können. Ab und zu wandelt auch einmal Brahms in undeutlichen Umrissen vorbei. Eigentliche Verwandtschaft aber hat Weismann mit Franz Schubert.” Art ergriffen, in der sie die diabolische Tiefenpsychologie Strindbergs für den romantischen Ausdrucksbereich des Romantisch-Unheimlichen erobern, ohne deren radikale Schärfe und Erbarmungslosigkeit im geringsten abzuschwächen.” Ferner hob er Weismanns “Gabe einer reichen, unbeschwerten Phantasie” und “die Leichtigkeit, mit der er stets über sie gebot” hervor. Adolf Weißmann, einer der bedeutendsten Berliner Musikschriftsteller jener Zeit, erwähnt in seinem Buch “Musik in der Weltkrise” (1922) auch Julius Weismann: “Und nun ließen sich in langer Reihe die aufzählen, die auf verschiedensten Wegen, manche abseits von der gebrochenen Linie der modernen Kunst, Lösungen suchen. ... Rüstig am Werk ist Julius Weismann, der einen Stil zwischen dem Brahmsischen und dem Modernen, jedenfalls aber Geschlossenheit sucht. ... Ein Umstürzler ist er nicht, eher ein Abseitiger, der namentlich in Kammermusikwerken ein zurückhaltendes Wesen bekennt.” Über die für Weismanns mittlere Schaffensphase charakteristischen Strindberg-Opern der zwanziger Jahre schrieb Alexander Berrsche, der Klassiker der Münchner Musikkritik: “Diese Opern haben uns durch ihre geniale 13 Richard Wagners Enkel Wieland Wagner, der sich gegen Weismanns Lebensende rührend um ihn kümmerte, sah Weismanns Musik “... in den Bereichen des Metaphysischen beheimatet, er empfindet sich nur als Mittler eines Geschenkes, das er in begnadeter Stunde empfängt. Modernste, in den Grenzbezirken der Tonalität schweifende Harmonik verbindet sich organisch mit unerbittlicher Strenge und gläubiger Demut der musikalischen Konzeption.” ulius Weismann hat sich immer zu einer irrationalistischen Ästhetik des Einfalls, für ein Primat der Melodie, gegen jegliche Konstruktivität und vor allem gegen Atonalität, Zwölftönigkeit und “Neue Sachlichkeit” in der Musik bekannt. So unterstrich er gerne seinen intuitiven Ansatz beim Komponieren: “Dort, wo der Traum dem Wachen reicht die Hand, Liegt dämmervoll ein schmales Land – das ist die Heimat der Melodie, Doch sucht sie wer, er find t sie nie!” Entsprechend fordert er, dass ein Künstler vor allem aus der Intuition heraus schaffen solle und unterstreicht: “Alle Kunst lebt zuerst von Ahnen, nicht von Wissen! Erkennen und achten wir die Grenzen zwischen Wissen und Ahnen, verehren wir das Naturhafte, dem Wissen Unzugängliche, dem Ahnen Offene, das den ewigen Goldwert der Musik in sich bergende Wesen der musikalischen Erfindung!” JULIUS WEISMANN MUSIKÄSTHETISCHE ANSICHTEN (S.L.) Auch berichtet er von der Entstehung seiner Oper “Gespenstersonate”. ...daß die Entstehung einer solchen Komposition wie der Ablauf eines Uhrwerks ist, das lange gehemmt ruht, dem aber der Uhrmacher im rechten Augenblick die Räder löst..... die Komposition vollendet, das Uhrwerk abgelaufen. In acht Wochen. -” In einer Werkeinführung zu seinem op. 57 „Aus den Bergen – 12 Phantasien für Klavier – unterstreicht Weismann den Gedanken der vorsprachlichen Transzendenz von Musik gegenüber einer Immanenz von Sprache und zeigt sich damit als der Musikauffassung der Romantik verpflichtet: “Es ist schwer, über Musik zu sprechen, nur die äussere Erscheinungsform, der Stil und die Art der verwendeten Technik lassen sich in Worten beschreiben. Versuchen wir aber, über den inneren Gehalt und die Schönheit eines musikalischen Werkes zu reden, so versagt unsere Sprache fast völlig. Das ist kein Fehler der Sprache, sondern ein Vorzug der Musik und ein Beweis ihrer von ganz besonderen Quellen herfliessenden Kraft!” 14 Julius Weismann auf dem Himbeerkopf bei Hinterzarten, 1918 15 JULIUS WEISMANN IN DUISBURG (S.L.) ie Beziehungen Weismanns zu Duisburg bzw. die Aufführungen seiner Werke in Duisburg haben inzwischen eine über achtzigjährige Geschichte, die im Jahr 1923 mit der künstlerisch herausragenden und engagierten Uraufführung seines Opernerstlings “Schwanenweiß” unter der Intendanz von Saladin Schmitt begannen. Julius Weismann äußerte selbst über die Reaktionen anläßlich der Duisburger Uraufführung seines “Schwanenweiß”: “Soviel Herzlichkeit und von warmer Begeisterung getragene Freundschaft wie in jener Zeit habe ich sonst nie erlebt” Bis auf “Regina del Lago” ist im Laufe der Zeit Weismanns gesamtes Opernschaffen in Duisburg erklungen. Neben Aufführungen bedeutender Werke Weismanns (so etwa des Klavierkonzerts op. 33, der Sinfonia brevis, des Klavierkonzerts op. 138, der Sinfonie op. 130, dem Fantastischen Reigen, der Sinfonietta giocosa op. 110, der Tanzfantasie op. 35 und op. 106) kamen auch einige wesentliche Werke Weismanns in Duisburg zur Uraufführung: So etwa der seinerzeit erfolgreiche Zyklus “Verklärte Liebe”, das “Symphonische Spiel”, das Weismann eigens für eine Jubiläumswoche der Duisburger Oper geschrieben hatte, ferner der “Wächterruf” und schließlich posthum sein Violinkonzert Es-Dur. 16 Daher versicherte Duisburgs Oberbürgermeister Seeling Weismann seinerzeit: “Ihr Name ist in der kulturellen Entwicklung unserer Stadt zugleich Wegweiser und Höhepunkt”, und schon November 1925 hatte der Duisburger Generalanzeiger unterstrichen: “Julius Weismann, der Freiburger Komponist, hat seit langem die musikalischen Ehrenbürgerrechte in Duisburg erworben”. 1954 wurde anläßlich des 108. Niederrheinischen Musikfests und auf Anregung von Wieland Wagner, Georg Ludwig Jochum und Oberbürgermeister August Seeling das JuliusWeismann-Archiv in Duisburg gegründet, das sich seither für die Pflege und Verbreitung von Weismanns Werk einsetzt, und 1981 wurden Weismanns Manuskripte, Skizzenbücher und weiteres Material als Dauerleihgabe an die Duisburger Stadtbibliothek übergeben, so daß sie seither öffentlich zugänglich sind. Aufführung „Die pfiffige Magd“ in Duisburg anlässlich des Niederrheinischen Musikfestes, 5. Juli 1954 17 ohl in den Zwanziger Jahren, spätestens jedoch um 1925/26 war Weismann, der lange schon als Pianist geschätzt war, auch als Komponist der breite Durchbruch im öffentlichen Kulturbetrieb gelungen. Programme und Rezensionen der zahlreichen Aufführungen seiner Werke bei Musikfesten, Festwochen und Uraufführung der „Gespenstersonate“, 1931, München 18 Kulturtagungen zeigen, dass sein Werk dann bis in die 1940er Jahre viel aufgeführt worden ist. Fragt man nach dem Stellenwert Weismanns in der musikalischen Öffentlichkeit in den 1920er Jahren, zeigt sich, daß seine Werke nicht nur im Umkreis Freiburgs und in Süddeutschland geschätzt wurden, son- dern auch in ganz Deutschland vielfach aufgeführt wurden. Dies belegen beispielsweise die Aufführungen seiner Opern. Diese Wertschätzung Weismanns wird auch an der Ernennung zum Mitglied der Preussischen Akademie der Künste und der Verleihung des Beethovenpreises der Akademie ersichtlich. Aufgrund der Quellenlage und der fehlenden Stagma- JULIUS WEISMANN REZEPTION VON 1920 – 1950 (S.L.) Unterlagen läßt sich derzeit kaum wissenschaftlich verläßlich nachzeichnen, wie sich Weismanns Erfolg als Komponist nach 1933 im Verhältnis zur Zeit davor genau entwickelte. Sicher ist jedoch, daß die Zahl der Aufführungen Weismannscher Werke in den 30er Jahren zunahmen und seine 19 Werke auch von offizieller Seite geschätzt und gefördert wurden. Beim Betrachten der WeismannRezeption zwischen 1920 und 1945 zeigt sich überdies eine erstaunliche Kontinuität in der Art seiner Rezeption und den allgemein als positiv hervorgehobenen Aspekten seines Schaffens, die offensichtlich weder mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden kann, noch nach derzeitigem Forschungsstand mit einem bewußten Zutun Weismanns selbst zu begründen wäre, sondern vielmehr von einer die politischen Brüche überdauernden kontinuierlichen Zeitströmung zeugt. Weismann, der sich als völlig unpolitischer Mensch verstand und seines Erachtens zeitlebens wie “traumbefangen” in seiner “anderen” Welt der Musik und der Berge gelebt hatte, hat sich im Grunde nicht zu politischen Themen geäußert – allenfalls zu ästhetischen Fragen, aber auch dies nur sehr selten, so daß es weitgehend ein Rätsel bleibt, was der Mensch und Künstler Weismann zwischen 1933 und 1945 gedacht haben mag. Zwar hat Weismann – wie viele andere Musiker auch - eine neue Schauspielmusik zu Shakespeares “Sommernachtstraum” komponiert, jedoch nicht mit dem Ziel, Mendelssohns Meisterwerk zu ersetzen, sondern in seinen Worten aufgrund des Reizes der künstlerischen Aufgabe und wahr- scheinlich völlig naiv ohne einen einzigen Gedanken an das ideologische Ziel, das der Nationalsozialismus mit derlei Auftragskompositionen verband. Weismanns Kompositionsstil hat sich über die zeitgeschichtlichen und politischen Brüche hinweg völlig kontinuierlich, völlig eigenständig und völlig unabhängig von zeitgleichen Strömungen wie der Entwicklung zur Atonalität, Zwölftontechnik, “Neuen Sachlichkeit” oder “Zeitoper” der Weimarer Republik entwickelt. Die Vereinnahmung und Etikettierung seiner Selbst und seines Werks durch die nationalsozialistische Kulturpolitik, die jedoch keinesfalls von Einheitlichkeit geprägt war, hätte er wohl nur verhindern können, indem er entweder sich selbst verleugnet bzw. sich dem Kulturbetrieb entzogen hätte oder ausgewandert wäre. Angesichts seiner Erfolge und seiner heimatlichen Verwurzelung kam für Weismann keine der drei Möglichkeiten in Frage, zumal er die gleichen musikästhetischen Ansichten pflegte wie maßgebliche Kreise nationalsozialistischer Kulturpolitik und daher ungehindert schaffen konnte. Soweit derzeit ersichtlich, hat sich Weismann nie bewußt für den Nationalsozialismus eingesetzt. Wie viele andere Künstler hat jedoch auch Weismann zwischen 1933 und 1945 im Interesse seiner Werke und ihrer 20 Aufführung gehandelt. Damit ist seine Musik allerdings als Vorzeigebeispiel wie auch als Flucht- und Vorhangkunst benutzbar geworden, die die immer unerträglicher werdende NS-Realität verschleiern helfen konnte. Inwieweit ihm diese Indienstnahme überhaupt bewußt gewesen sein mag, bleibt nur zu vermuten, sicher ist jedoch, daß sie der Rezeption seines Werks nach 1945 leider sehr geschadet hat. Verschiedene Gründe sind neben der anhaltenden Beliebtheit von Weismanns Musik während des Dritten Reichs für die nach 1945 wesentlich schwächer werdende Rezeption seines Werks verantwortlich, dessen allmählich rückläufige Tendenz sich jedoch nach Aussagen von Zeitgenossen bereits ab 1939 abzuzeichnen begann. „Die pfiffige Magd“ in einer Inszenierung von Professor Carl Riha. Die Erstaufführung fand statt am 29. Mai 1982 im Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt. o hatte sich Weismann schon 1939 ins Privatleben zurückgezogen und immer weniger aktiv am öffentlichen Musikleben beteiligt. Sein polyphon geprägter kompositorischer Spätstil entfernte sich zunehmend vom leichteren Stil der “Pfiffigen Magd” und war daher ungeachtet seiner Qualität wenig dazu geeignet, für eine breite Akzeptanz im Musikleben zu sorgen. Trotz der unermüdlichen Aktivitäten des 1954 gegründeten Julius-Weismann-Archivs und des Engagements namhafter Musiker 21 setzte sich diese Rezeptionstendenz bis heute fort: Einige Rundfunkaufnahmen und die beachtlichen Aufführungen seiner Opern “Gespenstersonate”, “Leonce und Lena” und “Die pfiffige Magd” zeigen exemplarisch, dass Julius Weismanns Musik zwar nie ganz vergessen ist, jedoch vergleichsweise selten erklingt. Die musikalische Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg war von einer Art Neubeginn und starkem Interesse an neuen musikalischen Entwicklungen in der Nachfolge von Hindemith, Strawinsky, Schönberg und Webern geprägt, das Komponisten wie Weismann als zu konservativ und wenig zeitgemäß erscheinen ließ. Zudem war Weismann nach dem zweiten Weltkrieg durch Krankheit in seiner Schaffenskraft beeinträchtigt. Schließlich war sein Werk bei vielen verschiedenen Verlagen erschienen und ein Großteil seines Oeuvres noch ungedruckt, so dass kein Verlag sich besonderen Gewinn von einem gezielten Engagement für Weismanns Werke versprechen konnte. Inzwischen zeichnet sich jedoch eine gewisse Konzentration der Verlagsrechte wie auch die Herausgabe einiger unveröffentlichter Manuskripte ab, die den Zugriff zu seinen Werken und eine intensivere Rezeption erheblich erleichtern. Zugleich liegen heute mehrere Schallplatten- und CD-Aufnahmen wesentlicher Werke vor, die einen ersten klingenden Eindruck seiner Werke vermitteln können. „Die pfiffige Magd“, 1953, Magdeburg 22 as JULIUS WEISMANNARCHIV wird seit 1981 von der Stadtbibliothek Duisburg / Musikbibliothek betreut. Es wurde 1954 anlässlich des 108. Niederrheinischen Musikfestes in Duisburg gegründet und hat sich die Erhaltung, Pflege und wissenschaftliche Erforschung des künstlerischen Nachlasses des Komponisten zur Aufgabe gemacht. Julius Weismann (1879-1950) hat auf allen Gebieten der musikalischen Komposition schöpferisch gewirkt. Impressum Herausgegeben von: Julius Weismann-Archiv, Duisburg c/o Stadtbibliothek Duisburg Musikbibliothek Düsseldorfer Straße 5-7 47049 Duisburg Tel.: 02 03 / 2 83-42 33 Fax.: 02 03 / 2 83-42 94 [email protected] 23 Im Archiv sind sämtliche Manuskripte, gedrucke Notenausgaben, Skizzenbücher, Tagebücher, Aufsätze aber auch Konzertprogramme, Theaterzettel und Zeitungsausschnitte gesammelt. Die Nutzung des Julius WeismannArchives ist nach Terminabsprache während der Öffnungszeiten der Musikbibliothek möglich. Konzeption: Sibylle Lützner Texte: Sibylle Lützner, Gerd Rataj Gestaltung: Jörg Spengler Druck: WAZ-Druck, Duisburg Dezember 2000 ft kommt es mir vor, als wäre ich den grössten Teil meiner Lebenszeit gewandert! Bin ich im Dunkeln oder schließe die Augen, wandern die Stämme der Bäume, die Gräser der Wiesen an mir vorbei, an denen ich oft vorüberschritt, oder einzelne Kilometersteine an Bahngleisen blieben in der Erinnerung haften ... Wann habe ich eigentlich gearbeitet? Wohl sehe ich mich an kleinen Tischen sitzen, auf Holztreppen aussen an Heustadeln, oder auf meinem lieben treuen Felsen im Höllental... Dort irgendwo muß ich wohl geschrieben haben, sehe ich erstaunt auf alles, was entstanden ist. ...die hellen Sommerwolken über den Bergen, der Klang der Luft und des Wassers tief unten, blieben mir treu und fanden sich später in der Musik wieder ein. Julius Weismann 24