Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ULRICH HAARMANN Die Pflichten des Muslims Dogma und geschichtliche Wirklichkeit Originalbeitrag erschienen in: Saeculum 26 (1975), H. 1, S. 95 - 110 Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit Von ULRICH HAARMANN Freiburg i. Br. Die islamische Gemeinschaft und der einzelne Muslim stehen unter dem im Koran offenbarten göttlichen Gesetz. Natürliches und positives Recht, Religion des einzelnen u n d soziale und politische Gesetzgebung für die Gemeinschaft der Gläubigen sind in der Sarica, dem religiösen Recht des Islams, unauflöslich miteinander verbunden. Die Sarica gibt auf die Frage des Gläubigen nach dem rechten Verhalten zu Gott u n d dem Verhalten zum Nächsten die konkrete verbindliche Antwort. Diese Doppelnatur spiegelt auch die Lehre von den kultischen Pflichten bzw. religiösen Verrichtungen (farä'id, cibädcit) des Islams wider. Die Gebote des rituellen Gebets, des Almosens, des Fastens im heiligen Monat Ramadän, der Wallfahrt nach Mekka und — wenn auch eingeschränkt — des Heiligen Krieges wider die Ungläubigen, sie alle sind persönliche und gesellschaftliche Handlungen zugleich. Die vier ersten, die kanonischen Pflichten bilden zusammen mit der 1.'abcida, dem Glaubensbekenntnis, die Eckpfeiler der Religion, arkän ad-clin. Ihre Erfüllung ist höchstes Gebot für jeden Muslim. über die absolute Verbindlichkeit der Grundpflichten für den gläubigen Muslim hat im Islam immer Übereinstimmung geherrscht, auch wenn sie im Koran noch nicht ausdrücklich als die „Stützen der Religion" apostrophiert werden. Das Gebot, sie zu befolgen, ist im Koran in den sogenannten ‚Gesetzesversen' (äyät l'arciya) 1 bei jeder einzelnen Pflicht in klarer imperativischer Form vorgetragen, z. T., wie im Falle der Wallfahrt, summarisch, z. T., wie im Falle des Almosens, bereits mit relativ genauen Ausführungsbestimmungen. Die Sunna, das Präzedens des Propheten Muhammad, die zweite materielle Quelle des islamischen Rechts, ergänzt und — in Ausnahmefällen — ersetzt die einschlägigen koranischen Formulierungen. Ein wichtiges Beispiel für die Überlagerung einer loranischen Bestimmung durch die Sunna des Propheten ist die Erhöhung der Zahl der täglichen Gebete von drei auf fünf. In dem Gebot der Pflichten, eigentlich: Dienstleistungen, tritt Gott unmittelbar Gehorsam fordernd vor seine Diener. Konkret, präzis und ausführlich gibt Gott im Koran, seiner höchsten Manifestation, Auskunft über die Pflichten und erhöht durch solche Klarheit (baycin) ihren Rang. Ihre überaus hohe Wertigkeit, man ist geradezu versucht zu sagen, ihre Heiligkeit, entzieht sie jeder Diskussion. Wer die Verbindlichkeit der Pflichten leugnet, begeht Apostasie und wird zum Ungläubigen mit allen rechtlichen Konsequenzen in dieser und in jener Welt. Die Rechtsgelehrten, die — wie alle Vorschriften der Offenbarung — so auch die Pflichten und deren positive Einzelbestimmungen rational zu begründen versuchen, unterlegen ihnen die höchste symbolische Bedeutung. So steht z. B. das rituelle Gebet, die salät, für die Hingabe des Menschen an Gott, also den Islam schlechthin. 1 Hierzu vgl. N. J. Coulson, A History of Islamic Law (Edinburgh 1964) (Islamic Surveys 2) S. 12f. la über die ratio der kultisdien Leistungen (die salät als Mittel der Verherrlichung Gottes „und Zeichen des Dankes für die Gnadengabe des Körpers"; die zakät als Mittel zur Reinigung von der Sünde und Dankerweis für die „Gnadengabe des Vermögens, das zur Erhaltung des Lebens dient"; das Fasten als Sieg über die Triebseele; die baii als mönchische Emigration aus der vertrauten 95 Ulrich Haarmann Die Juristen, die zwischen dem Aufstieg der Abbasiden im 8. Jh. und der Vollendung der hanbalitischen Rechtslehre im 11. Jh. das Gebäude der Sarica errichten, bekräftigen und verankern das Dogma von der Zusammengehörigkeit und Unveränderlichkeit dieser Gebote und ihrer buchstäblichen Erfüllung. Ihnen war daran gelegen, durch die Zementierung des Kanons absoluter religiöser Gesetze dem weltlichen Herrscher, dem Kalifen, Schranken zu setzen und ihre eigene Verantwortung für das Heil (maslaha) der Gemeinde Gottes zu unterstreichen 2 . Durch die Geschichte und die verschiedenen Rechtsschulen hindurch, bei Sunniten und Schichen, bei dem Reformer al-Gazzäli im 11. und dem Traditionalisten Ibn Taimiya im 14. Jh., überall wird einmütig betont, daß die Gott geschuldeten kultischen Pflichten unabänderlich seien und nicht wie die allgemeinen ethischen Verhaltensregeln (abläq) und die zwischenmenschlichen Konventionen (Inucämalät), auf die der Koran ebenfalls hinweist, je nach den zeitlichen und räumlichen Umständen eine verschiedene Auslegung gestatten 3 . In der Rechtstheorie des Islams, den usü/ al-fiqh, wird der besondere Rang der Pflichten im islamischen Dogma theoretisch untermauert. Ag-gäfici (st. 204/820) z. B. bezeichnet in seiner Risäla 4 , dem ältesten Traktat des Islams über die usül al-fiqh, die Pflichten als die Essenz des koranischen bayän. Der Begriff bayän 5 , eigentlich: Klare Aussage, bezeichnet die unübertreffliche sprachliche° und inhaltliche Qualität des Korans. Nicht minder aufschlußreich ist der Platz der Pflichten in der islamisch-arabischen Semantik. Diese Wissenschaft ist nicht — oder jedenfalls nicht in erster Linie — in den kutub Umgebung) spricht — mit übersetzungsproben aus al-Fanäris (st. 1431) usül-Werk — Erwin Gräf, Vom Geiste islamischen Rechts, in: Festschrift für Ernst Klingmüller (Karlsruhe 1974) S. 126-128 und ders., Recht und Sprache im Islam, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 74 (1974) S. 70. 2 Vgl. Gustave E. von Grunebaum, The Sources of Islamic Civilization, in: The Cambridge History of Islam (Cambridge 1970) Bd. II, S. 490 f. 3 Vgl. Louis Gardet, Religion and Culture, in: The Cambridge History of Islam, Bd. II, S. 575. Vgl. auch E. I. J. Rosenthal, Political Thought in Mediaeval Islam (Cambridge 1958) S. 213. 4 Ar-Risäla, ed. A. M. Säkir (Kairo 1358/1940) S. 21 (Nr. 56), S. 26-28 (Nr. 73-83). übersetzt in: Majid Khadduri, Islamic Jurisprudence (Baltimore 1961) S. 68,71 f. 5 Vgl. Khadduri (wie Anm. 4) S. 33 f., 67 (Anm. 1). Al-Säficis Definition von al bayän spiegelt die Ambivalenz dieses Begriffes wider: „al bayän ist ein Sammelname für grundsätzlich zusammengehörige, jedoch in ihrer jeweiligen Anwendung divergierende Begriffe" (wal bayänu smun iämicun li macanin muitamicati l usiili mutaleaccibati 1 furiic, Risäla S. 21 [Nr. 53]). 6 Hier sind einige knappe Worte zu ag-Säficis Sprachverständnis am Platz. Einmal gesteht er der carabiya des Korans den Rang des Glaubwürdigkeitsbeweises von Muhammads Prophetentum, d. h. des letzten und damit größten Prophetenwunders (muckiza) zu, andererseits akzeptiert er die Sprache des Korans als identisch mit der lebendigen und gewachsenen Sprache des auserwählten Volkes, auf das durch den Propheten eben dieses Volkes die Offenbarung herabgesandt wurde. Er postuliert also durchaus nicht, wie es einige Traditionarier des 9. und 10. Jahrhunderts im Kampf gegen die muctazilitische Lehre vom erschaffenen Koran getan haben, eine vom Menschen entrückte, göttliche Sprache des Korans. Er selbst sagt nur (Risäla S. 42 [Nr. 138]): „Von allen Sprachen ist die Sprache der Araber die umfassendste, die mit dem reichsten Vokabular. Kein Mensch, nur ein Prophet, kann sie völlig meistern" (wa lisänu l carabi ausacu l alsinati madhaban wa aktaruhä alfäzan wa lä naclamuhi yulfitu bi kamici cilmihi insänun gairu nabiyin). So wie kein einzelner Jurist die Sunna, für ag-Säfici dig in der Praxis wichtigste Rechtsquelle, beherrschen könne, so sei auch kein einzelner Mensch in der Lage, die unermeßliche arabische Sprache vollständig zu kennen. Den Arabisten ermutigt er mit der Bemerkung (Risäla S. 44 [Nr. 137]): „Und wenn [ein Fremder (min al cakam)] audi nur wenig Arabisch spricht, so ist er doch darum einer von den Arabern" (wa mä nataqa bi qalilin minhu fa huwa tabacun lil carabi fihi). Es gelingt ag-Säfici also, die Natürlichkeit des Arabischen mit der Doktrin vom Wundercharakter der carabiya des Korans in Einklang zu bringen. - - - - - - - - - - - - - - 96 - - - Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit al-macäni, den „Büchern von den Bedeutungen" 7 , zu Hause, vielmehr in den sprachlichsemantischen Prolegomena (al-mabädi' al-lukawiya) zu den muctazilitischen und schaficitischen usül al-fiqh Schriften und nach dem 14. Jh. auch in den kutub al-wacjc, den Traktaten über die impositio nominis ad significandums. Die Juristen geben den kultischen Pflichten einen besonderen Status. Sie fassen die Begriffe bakk, salät, zakät und «zum als juristische Termini technici (asmä' .'arciya) zusammen, d. h. als Begriffe mit einer ursprünglichen, allgemeinsprachlichen und einer davon geschiedenen technischen, gesetzlichen Bedeutung. Die Antithese „im sprachlichen Sinne" (lukatan): „im juristischen Sinne" Ciarcan) entwickelt sich geradezu zu einem Topos muslimischer Dialektik°. So bedeuten die Worte für die vier Institutionen Wallfahrt, Gebet, Almosen und Fasten, arabisch: hakk, salät, zakät und aum, in der Gemeinsprache ursprünglich „Absicht", „Anrufen", „Wachsen" und „Enthaltsamkeit", also etwas völlig anderes. Wie aber hängen nun jeweils die beiden verschiedenen Bedeutungen zusammen? Läßt sich der juristische Sinn „Wallfahrt" vom sprachlichen Sinn „Absicht" metonymisch (bil-makäz) ableiten (wadc /upwi) oder sind vielmehr durch den Akt der göttlichen Gesetzgebung neue, spezifisch juristische Begriffe geschaffen worden (wadc S'arci)? Nach langen Auseinandersetzungen einigen sich die Scholastiker des Spätmittelalters auf die zweite These, die These von der völligen semantischen Autonomie der juristischen von der lexikalischen Bedeutung". Damit heben sie nicht nur die Termini selbst aus dem Fluß der lebendigen und wandelbaren unermeßlichen arabischen Sprache heraus, sondern verleihen auch den durch sie vermittelten rechtlichen Inhalten, den vier Geboten der Wallfahrt, des Gottesdienstes, des Almosens und des Fastens, einen übernatürlichen Rang. Die besondere Verbindlichkeit der Pflichten für die Gläubigen ist an entlegener Stelle bestätigt worden. II. Wir haben bisher nur über die Theorie der Pflichtenlehre gesprochen. Wie aber sah die historische Wirklichkeit aus? Lassen sich — entgegen dem Dogma von der Unwandelbarkeit — in der fast vierzehnhundertjährigen Geschichte des Islams Veränderungen und Entwicklungen auch auf diesem Gebiet religiösen Lebens beobachten? Auch andere in der Sarica sehr hoch bewertete und genau reglementierte Bestimmungen sind im Laufe der Zeit vernachlässigt und übertreten worden. Denken wir z. B. an die hadd-Strafen, die Kapitalstrafen wie z. B. Verstümmelung oder Steinigung für besonders schwere Vergehen. Die osmanischen Sultane, die die Sarica beileibe nicht abrogieren, sondern nur in einem religiös indifferenten Sinne fortschrittlich ergänzen wollten, schafften in ihren Qänün-nämes 7 Bei dem ci/m al mactini, der noch kaum erforschten ersten Disziplin in den Büchern zur literarischen Rhetorik (baläia) der Araber, handelt es sich um eine syntaktische Stilkunde bzw. stilistische Syntax, vermehrt um eine rudimentäre Lehre vCal der sprachlichen Information (ifiida). 8 Hierzu vgl. Bernard G. Weiss, Language in Orthodox Muslim Thought (Diss. Princeton 1966) S. 42 149; Ulrich Haarmann, Religiöses Recht und Grammatik im klassischen Islam, in: Akten des 18. Deutschen Orientalistentags in Lübeck (Wiesbaden 1974) S. 152-156. über die Parallelität — bzw. über das Wechselverhältnis — zwischen der Lehre vom weuic und den scholastischen modi significandi liegen leider noch keine Untersuchungen vor. 9 Vgl. z. B. Imäm al-baramain al-Guwaini, al-Irgäd ilä qawätic al-adilla fi usül al-ictiqäd [= Wegweiser zu den zwingenden Beweisen der Glaubenslehre] ed. M. Yüsuf Müsä und cAbd al-Muncim cAbd al-klamid (Kairo 1950) S. 17. 10 Weiss (wie Anm. 8) S. 79-84; Haarmann (wie Anm. 8) S. 154 f. — Das Zeugnis eines Verfechters des wacic lutawi der juristischen Nomina, nämlich al-Gazzälis (st. 1111) Stellungnahme im Kitäb al-Mustasfä (Kairo 1356/1937), Bd. I, S. 146-148, liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor, vgl. E. Gräf, Recht und Sprache (wie Anm. la) S. 111-114. - - 97 Ulrich Haarmann diese Strafen ab und ersetzten sie entgegen dem Religionsgesetz durch den taczir, eine Prügel- und Geldstrafen. Was nun die kultischen Pflichten, die ihrem Wesen nach a priori geschichtslosen Stützpfeiler der endgültigen und unwandelbaren Botschaft Gottes an die Menschen betrifft, so ist die Zeit für eine erschöpfende und differenzierte Beantwortung der Frage nach ihrer historischen Entwicklung noch nicht gekommen. Es fehlen — mit zwei wichtigen Ausnahmen zum Thema des Heiligen Krieges" — die detaillierten, nicht nur aus juristischen, sondern auch aus historischen Quellen schöpfenden Einzelstudien, die einen repräsentativen Überblick oder gar eine lückenlose Darstellung dieser vier bzw. fünf religiösen Institutionen erlauben würden. Im folgenden will ich mich darum damit begnügen, einige Beobachtungen zu der historischen Entwicklung, der Praxis der einzelnen Gebote im Laufe der Jahrhunderte vorzutragen. Auf dieser schmalen Basis will ich versuchen, erste allgemeine Schlüsse zu ziehen. Zwei Fragen, dies sei vorausgeschickt, sind für die Auswahl und die Analyse der Beispiele von besonderem Gewicht. Erstens: Inwieweit haben sich die Einzelbestimmungen der Pflichten von Meammads Wirken bis zum Abschluß der Sarica im 10.111. Jh., noch verändert? In anderen Worten: Bis zu welchem Grade hat sich die juristische Norm an die beträchtlichen historischen Entwicklungen der ersten zwei, drei islamischen Jahrhunderte noch anpassen können? Zweitens: Wann und unter welchen Bedingungen prallten die Interessen des Staates und der politischen Obrigkeit mit den Vorschriften der Pflichtenlehre zusammen, und wie wurden diese Konflikte gelöst? Wir wollen nun die einzelnen Pflichten, rituelles Gebet, Wallfahrt, Fasten, Almosensteuer und Heiligen Krieg, in der genannten unkanonischen Reihenfolge kurz diskutieren. Die erste und höchste Pflicht des gläubigen Muslims ist die salät, das rituelle Gebet, d. h. die in der Sarica in allen Details reglementierte gottesdienstliche Handlung, der sich der Muslim im Zustand ritueller Reinheit (tahära) täglich fünfmal zu unterziehen hat. Wir haben bereits davon gesprochen, daß im Koran nur von einer dreimaligen salät pro Tag die Rede ist, daß dann aber gemäß einem Hadit die tägliche Norm auf fünf erhöht wurde. Die zentralen liturgischen Bestandteile der Salcit und die körperlichen Handlungen des Gläubigen während des Gebets sind bereits im Koran genau vorgeschrieben, die komplizierte Struktur des Andachtsrituals aber hat sich erst in späterer Zeit auf der Basis der Sunna des Propheten entwickelt. Die integrierende Kraft der salät innerhalb der jungen muslimischen Gemeinde zu Medina muß beträchtlich gewesen sein. Das gemeinsame Gebet, geleitet vom Propheten und später von den Kalifen, förderte und symbolisierte den Austausch der alten Bluts- und Stammesloyalitäten durch die Glaubensgemeinschaft. Es lebt in dem Freitagsgottesdienst bis heute weiter. Hat sich die Praxis der salät nach Abschluß der Sarica im Laufe der Jahrhunderte noch wesentlich gewandelt? Gewiß nicht. Das Gebet, die oberste Pflicht für den Muslim überhaupt, stellt sich jeglicher Umdeutung entgegen. Darüber hinaus kollidierte und kollidiert die gewissenhafte Erfüllung dieser persönlichen Pflicht nicht mit den Interessen der ObrigVgl. Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law (Oxford 1964) S. 91. Albrecht Noth, Heiliger Krieg und Heiliger Kampf in Islam und Christentum. Beiträge zur Vorgeschichte und Geschichte der Kreuzzüge (Bonner Historische Forschungen, 28, Bonn 1966); Emmanuel Sivan, L'Islam et la Croisade. Id6ologie et Propagande dans les R6actions Musulmanes aux Croisades (Paris 1968). 11 12 98 Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit keit. Im Gegenteil. In der Freitagspredigt, dem Kernstück des wöchentlichen Gemeindegottesdienstes, wird Gottes Heil und Segen auf den jeweiligen Herrscher herabgefleht. Die salät wirkt also legitimierend, staatserhaltend, ohne dadurch ihre eigentliche, unpolitische Funktion preiszugeben, nämlich den Ausdruck der Demut des Gläubigen vor Gott. IV. Als nächstes wollen wir uns der vierten und letzten der kanonischen Pflichten, der hakk, der Wallfahrt nach Mekka, zuwenden. Der Muslim soll einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern. Ist ihm dies verwehrt, so kann jemand an seiner Statt die bakk unternehmen. General! erlaubt die Sarica — dies sei hier eingefügt — die nachträgliche Erfüllung versäumter Pflichten durch den Schuldner selbst oder, wenn es wie im Falle der Wallfahrt nicht möglich ist, durch einen anderen Gläubigen. Im Koran ist erst in den späten Medinenser Suren von der Pilgerfahrt die Rede, zu einer Zeit also, als Muhammad endgültig den Versuch aufgegeben hatte, sich mit den Juden von Medina zu einigen, als er die Gebetsrichtung anstelle Jerusalems nach Mekka bestimmt und die Wallfahrt zur Kacba, dem vorislamisdien arabischen Heiligtum, zur Pflicht gemacht hatte (II 136-45). Das Gebot der bau und die wichtigsten Bestimmungen — z. B. das Verbot der Pilgerfahrt für Nichtmuslime — sind im Koran enthalten. Die komplizierten Einzelheiten des Rituals jedoch stützen sich vor allem auf das Präzedens des Propheten, der im Jahre 10 der Hiära, kurz vor seinem Tode, von Medina aus die bakkat al-wadd, die „Abschiedswallfahrt" nach seiner dem Islam gewonnenen Heimatstadt unternahm. Gerade die so unislamisch anmutenden Einzelregeln (manäsik al-hak), in denen so viel aus den heidnischen Kulten seines Sinnes entkleidet weiterlebt, spiegeln eindrucksvoll die Genese der Sarica in den ersten zwei, drei Jahrhunderten islamischer Geschichte: Die vor- und außerislamischen Rechtstraditionen wurden meist nicht preisgegeben, sondern erlangten nach z. T. nur äußerlicher Assimilation an die abstrakten religiös-ethischen Normen des Korans neue, islamische Gesetzeskraft. Hat der Gottesdienst, die saliit, die Bildung der Glaubensgemeinschaft überhaupt erst möglich gemacht, so ist die Pilgerfahrt von den Anfängen des Islam bis in unsere Zeit hinein das Symbol der Gleichheit und der Zusammengehörigkeit der Muslime vor Gott und voreinander geblieben. Im Zustand der Weihe, ihräm, ist jeder, ungeachtet seines Standes und seiner Herkunft, gleich. Die jährliche Wallfahrt manifestiert einem jeden Gläubigen die Realität der lebendigen umma und bestärkt in ihm den Willen, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, sie zu bewahren und zu verteidigen. Die Erinnerung an Muhammad, den Begründer der umma, und an den Kampf um den Sieg des Islams wird wachgerufen und aktualisiert. Die bedeutendsten, meist militanten Reformbewegungen des mittelalterlichen und neuzeitlichen Islams, die fatimidische, almoravidische, almohadische und in gewissem Sinne auch die wahhabitische Bewegung sind alle von Mekkapilgern entfacht worden. Auf die Bedeutung der Wallfahrt als Medium und Forum des gelehrten islamischen Konsenses und, wichtiger noch, der auch heute lebendigen und wirksamen „öffentlichen Meinung" des Islams ist verschiedentlich hingewiesen worden 13 . Die Mekkaheimkehrer trugen die erneuerte Idee muslimischer Solidarität durch die Lande in ihre Heimat zurück und wurden allein dadurch politisch wirksam. Das Ansehen des jeweiligen Herrschers und Schutzherrn über den kligäz, sei es nun der Fatimidenkalif, der Mamlukensultan oder der osmanische Großherr, stand und fiel mit 13 Richard Hartmann, Die Religion des Islam (Berlin 1944) S. 74; Bernard Lewis in: Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. III, S. 38 a, s. v. hadjdj. 99 Ulrich Haarmann seiner Fähigkeit, die heiligen Stätten in seinem Machtbereich zu halten. Ihr Besitz war Ausdruck höchsten Prestiges. Die Länder, durch die die Pilgerkarawanen reisten, vor allem aber die Heilige Stadt Mekka selbst, zogen aus dem Wallfahrtswesen beträchtlichen Gewinn. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde zur Pilgerzeit in Mekka eine große Messe abgehalten. Konflikte zwischen der Obrigkeit und der Institution der Wallfahrt nach Mekka hat es nur selten gegeben. Berühmte solche Ausnahmen sind das Embargo gegen die Wallfahrt von seiten der Umayyaden zur Zeit der sogenannten" zweiten Fitna Ende des 7. Jahrhunderts, die Propaganda orthodoxer cu/amä gegen die Wallfahrt auf Betreiben des Osmanensultans Osmans II. (1618-1622) während des Aufstandes des Drusenemirs Fahr ad-Din und die Unterbrechung des Pilgerverkehrs durch ägyptische Behörden unmittelbar nach der Eroberung des kligäz durch den Sacüdi-König cAbd al-cAziz im Jahre 1925. Hingewiesen sei auch auf die Achtung der Pilgerfahrt nach Mekka im Staate des Mandi des Sudan gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts. Bei schicitischen Herrschern hören wir häufiger von einer solchen Politik. Schah cAbbäs I. z. B. setzte zu Beginn des 17. Jahrhunderts gewiß nicht primär aus religiösen, sondern vielmehr politischen und wirtschaftlichen Interessen alles daran, den Pilgerstrom von Mekka in die auf seinem Herrschaftsgebiet gelegenen schicitischen Wallfahrtsstätten im Irak und in Huräsän umzuleiten. Wie gesagt, dies sind Ausnahmen. Normalerweise stellte sich der Staat der Ausübung der Wallfahrtspflicht nicht entgegen. Abgesehen davon, daß die haki — im Gegensatz zu anderen Pflichten, über die wir gleich sprechen werden — den betroffenen Souveränen gewöhnlich nur ökonomische Vorteile brachte, scheint dieses Einvernehmen aber auch im Wesen der Institution selbst begründet zu liegen: Die Wallfahrt führt einzelne aus aller Welt ohne äußeren Zwang zusammen und vermittelt ihnen das Erlebnis der überstaatlichen Gemeinschaft der Gläubigen. Die Interessen der zwischen Individuum und umma stehenden Partikulargemeinschaften, also etwa eines mittelalterlichen Potentaten oder aber auch eines modernen Nationalstaates islamischen Bekenntnisses, werden durch die hakk nicht tangiert, geschweige denn bedroht. Solange die Religion und Weltanschauung des Islams als solche nicht gefährdet ist, solange ist keine Beeinträchtigung der freien Ausübung dieser Pflicht zu. befürchten, deren kasuistische Bestimmungen im übrigen kaum Raum für freie Interpretation lassen und das Wallfahrtsritual unverändert bis in unsere Zeit konserviert haben. V. Die dritte Pflicht, in unserer und in der kanonischen Reihenfolge, ist das Fasten im Monat Ramaslän. Auch das Fasten geht auf die Zeit nach der Higra des Propheten zurück und reflektiert in seiner frühen Entwicklung — ähnlich wie die Wallfahrt — den Gesinnungswandel Meammads gegenüber der jüdischen Gemeinde von Medina. Eine ursprüngliche Offenbarung schrieb in genauer Nachahmung der Bestimmungen des Yom Kippur Fasten am cAgürä'-Tag, dem 10. des ersten muslimischen Monats, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang vor. Dieses Gebot wurde im Koran (II 179-83) später abrogiert und durch das Fasten von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang während des ganzen Monats Ramaslän ersetzt, des Monats, in dem der Prophet die ersten Offenbarungen empfangen hatte. Die genauen Ausführungs- und vor allem Ausnahmebestimmungen, die uns in den späteren Rechtsbüchern begegnen und das Fasten unter gewissen besonderen Bedingungen geradezu illegalisieren, gehen im allgemeinen wiederum auf die Tradition des Propheten zurück. 14 100 Hierzu s. G. H. A. juynboll, The date of the great fitna, in: Arabica 20 (1973) S. 142-159. Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit Es mag zum Teil mit dieser vom Gesetz zugestandenen, durch das körperliche Wohl und Leistungsvermögen des Menschen bestimmten relativen Flexibilität des generellen Fastengebots zusammenhängen, daß das Fasten im Ramaelän die Jahrhunderte unangefochten überstanden hat. Mehr noch, das Fasten scheint in unserer Zeit, im Zeichen wachsender Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens in den islamischen Ländern, zum religiösen Opfer schlechthin geworden zu sein, das auch jemand erfüllt und verteidigt, und sei es nur aus Konvention, der die anderen Pflichten längst nicht mehr praktiziert. Der Ramadän wird zum Schibboleth islamischen Lebenswandels. Vergessen wir allerdings auch nicht, daß ohne das Fasten im Ramaelän das Fastenbrechen am Ende des Monats (cid al-fitr), das seines religiösen Charakters weitgehend beraubte Hauptereignis des muslimischen Festkalenders — denken wir an das christliche Weihnachten —, seinen Sinn verlöre. Dieser Umstand wirkt sich ebenfalls stabilisierend zugunsten des Fastengebots aus. In der Gegenwart tauchen neue Probleme auf. Das Fasten und der dadurch unmittelbar verursachte Produktionsausfall kollidiert eklatant mit den vitalen wirtschaftlichen Interessen der jungen Staaten des islamischen Orients. Es spricht für den religiösen und sozialen Wert gerade dieser Institution im Bewußtsein der Muslime, daß so gut wie alle Anstrengungen, das dreißigtägige Fasten abzuschaffen, gescheitert sind. Von nur begrenztem Erfolg war beispielsweise selbst der Versuch der tunesischen Regierung in den Jahren 1959 bis 1961, durch religiöse Gutachten das Gebot des Fastens dem Gebot des „Heiligen Krieges um die nationale Entwicklung" unterzuordnen und dadurch zu neutralisieren, d. h. den tatsächlichen Interessenkonflikt zwischen Staat und religiösem Bürger geschickt auf die für den Frommen allein maßgebliche Ebene der Sarica zu projizieren und dort zuungunsten des Fastengebots zu entscheiden. VI. Die in unserem Kontext wichtigste und ergiebigste der vier kanonischen Pflichten ist ohne Zweifel die zakät, die Almosensteuer. Die Verpflichtung zur Wohltätigkeit ist schon in den mekkanischen Suren des Korans — oft in Zusammenhang mit dem Gebot des Gottesdienstes — niedergelegt. Wer gibt, wer sich seiner weltlichen Reichtümer entledigt, ebnet den Weg zum ewigen Heil. Vor allem aber wird die zakät, die der Gläubige Gott schuldet, zum Zeichen konkreter Solidarität mit den Glaubensgenossen, der Gemeinde Gottes. Die Hilfe, die der Ungläubige vor dem Islam seinen Stammesgenossen gewährt hatte, wird jetzt auf die bedürftigen Mitmuslime übertragen. Die den frühen Islam prägende zweigleisige Wirtschaftsethik", die dem Muslim ein verschiedenes Gebaren abverlangt, je nach dem, ob er es mit Glaubensgenossen oder mit Nichtmuslimen zu tun hat — man denke etwa an das Verbot des Zinsnehmens von Muslimen und das Gebot des Zinsnehmens von Nichtmuslimen — findet, wie wir sehen werden, in der Institution der zakät ihre erste und wichtigste Verkörperung. In Mekka war eine organisierte Verteilung der Spenden noch nicht nötig. Sie wäre auch schwer durchführbar gewesen. Aber schon bald, nachdem sich in Medina die islamische umma politisch konstituiert hatte, und vor allem, als sich die ersten Stämme außerhalb 15 Hierzu vgl. die Ausführungen von Rudolph Peters, Recente discussies rond de Islamietische vastenmaand Ramadän, in: Internationale Spectator 23, Nr. 20 (1969) S. 1812-1825, besonders 1816 ff. 16 Auf dieses Phänomen hat Peter von Sivers, University of California, Los Angeles, im Frühjahr 1974 in einem Seminar zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des frühen Islam hingewiesen, an dem ich teilgenommen habe. 101 Ulrich Haarmann Medinas Muhammad anschlossen und mit ihm feste Abgaben vereinbarten, begann der Prophet, die Verwaltung und Verteilung der immer reichlicher fließenden, in ihrem Volumen und in ihrer Zusammensetzung jedoch noch nicht fixierten Almosenabgaben zu organisieren. Verwendung für diese Spenden gab es in Hülle und Fülle. Die mekkanischen Mitflüchtlinge (muhäkiriin) mußten unterstützt werden. Aber auch nichtkaritative, für die Gemeinde lebensnotwendige Ausgaben mußten bestritten werden, z. B. die Ausrüstung muslimischer Truppen gegen Mekka. Dazu bedurfte es eines Gemeindefonds und der Regulierung der Einkünfte. Muhammad bemühte sich, den Charakter der zakät als eines freiwilligen und individuellen Opfers möglichst wenig anzutasten, aber schon zu seinen Lebzeiten wurden einige Einzelabgaben für obligatorisch erklärt. Mubammads Nachfolger, der erste Kalif Abü Bakr, tat gegen den Willen maßgeblicher Prophetengenossen 17 den entscheidenden Schritt. Er erhob die zakät zu einer regulären Steuer. Damit schuf er eine wesentliche Voraussetzung für die islamische Expansion. Gleichzeitig aber fixierte er dadurch die praktischen Bestimmungen der zakät-Pflicht in dem Milieu und unter dem prägenden Einfluß der frühislamischen Beduinengesellschaft Zentralarabiens. Die Urbanisierung des islamischen Staates in der Umayyaden- und vor allem der Abbasidenzeit und die damit zusammenhängenden sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen schlugen sich in den archaischen Normen der zakät kaum mehr nieder. Die zakät verharrte auf ihrer frühen Entwicklungsstufe und wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr und mehr zum Anachronismus. An der Weiterentwicklung der Sarica gerade in der frühen Abbasidenzeit partizipierte sie nicht in gleichem Maße wie die anderen Pflichten. Sie blieb aber rigoros die einzige vom Religionsgesetz zugelassene Abgabe für Muslime. Eifersüchtig wachten die cuiamd über die Beachtung dieser Bestimmung. Der Herrscher, der darüber hinaus Steuern erhob, handelte gegen das Gesetz, auch wenn diese zusätzlichen Einkünfte sich für das Gedeihen des dem nomadischen Milieu entwachsenen islamischen Reiches als unabdingbar erwiesen. So eng die fiskalischen Interessen des Staates und die persönliche kultische Pflicht der zakät-Zahlung verknüpft sind, so sind sie doch schon bald nicht mehr in Deckung zu bringen. Woraus setzte sich die Steuer Abü Bakrs zusammen und wem kamen die Beträge zugute? Unterstützungswürdig sind nach dem Koran (IX 60) u. a. die Armen und Bedürftigen — zu letzteren rechneten sich dann die Rechtsgelehrten selbst gerne —, die Glaubenskämpfer, die freiwillig die Bürde des heiligen Krieges gegen die Ungläubigen auf sich nehmen, und nicht zuletzt die Steuereinnehmer. Zwar behielt der Muslim das Recht, im Sinne des ursprünglichen Almosens seine Abgabe ohne Mittelsmann direkt an die Bedürftigen zu verteilen, doch setzte sich schon in der Zeit der ersten Kalifen der Grundsatz durch, es sei besser, die zakät den Steuerbeamten zur gerechteren Verteilung zu überantworten. Die ständig wachsende staatliche Autorität und die Zentralisierung der Finanzverwaltung ließen keine andere Wahl. über die Arten und Sätze der zakät-Steuer gibt der Koran indessen keine Auskunft. Diese Bestimmungen stützen sich auf das Präzedens des Propheten und der ersten Kalifen. Fünf Steuerquellen werden unterschieden. Die ersten beiden gehören sinngemäß zusammen, nämlich die Ernteabgabe von Feldfrüchten und von Obst in Höhe eines Zehntels (cu.'ir) des jährlichen Ertrags. Zehntpflichtig sind nach dem Gesetz alle Muslime außer den Mitgliedern der Familie des Propheten, und zwar unabhängig davon, ob sie den eigenen Boden (mu/k) oder ob sie Staatsland bestellen, das ihnen zur Kultivierung überlassen wurde (qagic). Schon sehr bald hat der Zehnte allerdings diesen persönlichen muslimi- 17 Vgl. Ibn Taimiya, as-Siyäsa ag-garciya fi 414 ar-räci war-raciya [= Die gesetzlichen Maximen zum rechten Handeln von Herrscher und Untertan] (Kairo 3 1955) S. 108. 102 Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit schen Charakter verloren. Die um ihre Einkünfte besorgte umayyadische Regierung machte bereits Ende des ersten Jhs. der Higra neubekehrten Muslimen das Recht streitig, nur die zakät, d. h. den Zehnten, zu entrichten. Sie wurden vielmehr gezwungen, die den Nichtmuslimen auferlegte sehr viel höhere Bodensteuer (Wie auch nach ihrer Konversion weiterzuzahlen und dadurch im wesentlichen den Ungläubigen gleichgestellt. Der zuvor genannte wirtschaftsethische Dualismus des frühen Islams — Muslimen gebührt bevorzugte Behandlung vor Nichtmuslimen — beginnt sich bereits jetzt aufzulösen. Die Rechtsgelehrten rechtfertigten diese Neuerung mit dein Argument, die Grundsteuer hafte am Boden, dem baräk-Land, und werde durch die Bekehrung des Besitzers des Bodens nicht ipso facto aufgehoben und in die zakät, den Zehnten, umgewandelt. Die dritte zakät-Steuer, ein Spiegelbild der urislamischen Beduinengesellschaft, war eine kompliziert gestaffelte Viehabgabe, die ab dem 8./9. Jh. fast nur die soziale Randgruppe der muslimischen Nomaden betraf. Sie erwies sich, soweit wir wissen, im Vergleich zu dem Zehnten auf Grundbesitz als relativ resistent. Die vierte und fünfte Steuer schließlich wurde auf Edelmetalle und Handelswaren erhoben, solange diese Güter wenigstens ein Jahr lang dem Verkehr entzogen blieben. Diese letzteren beiden Steuern wurden von den Juristen als sogenannte „innerliche" (bätin) Steuern qualifiziert, das bedeutete, der staatliche Steuerinspektor hatte — im Gegensatz zu der Ernte- und Viehabgabe —hier nicht das Recht, durch eigenen Augenschein die Steuerschuld festzusetzen und einzufordern. Es blieb vielmehr dem Frommen überlassen, dieser Pflicht von sich aus zu genügen. Hier also bleibt der ursprüngliche Charakter der zakät gewahrt. Als jedoch die außergesetzlichen Steuern anstiegen und die Belastungen für den einzelnen Muslim immer größer wurden, schwand die Bereitschaft, sich im Gegensatz zur Obrigkeit einseitig an die Vorschriften der Sarica zu halten. So weit wir wissen, wurden die Gewissenssteuern auf Edelmetalle und Handelswaren bald nur noch zu einem kleinen Teil, häufig überhaupt nicht mehr entrichtet. Der zakät auf Grundbesitz und Vieh war eine längere Lebensdauer beschieden, aber auch sie wurde bald überlagert von den bereits genannten außergesetzlichen Abgaben an den Herrscher (muküs) wie Zöllen, Mieten und Gewerbesteuern, auf die der Staat, „der von seinem Ursprung fast ausschließlich auf Einnahmen aus Landbesitz gegründet war, in einer Periode handwerklichen und kommerziellen Aufschwungs nicht verzichten" 18 wollte. Hin-. zu kam, daß seit dem 10. Jh. mehr und mehr zakät-Land durch die Übertragung der steuerlichen Rechte auf hohe Militärs (iqtäc) dem Fiskus entzogen wurde. Von dieser Zeit an nimmt die zakät einen eigentümlichen zweiten, übertragenen Sinn an, der — so scheint es — bis in unser Jahrhundert hinein gewirkt hat. Die zakät, eine der Grundpflichten, der arkän ad - din, wird zum Inbegriff der verlorenen urislamischen Ordnung, des Gottesstaates auf Erden, den weltliche Tyrannen verdorben und verfälscht haben. Die Rückkehr zur zakät, d. h. zugleich die Abschaffung der illegalen Sondersteuern, wird zum Fanal radikaler muslimischer Reformer. Die Almoraviden führten sie sogleich nach ihrem Sieg in Spanien 1090 wieder ein. Nür ad-Din, der militärische und ideologische Vorkämpfer des Islams gegen die Kreuzfahrer um die Mitte des 12. Jhs., geht nach der Eroberung von Damaskus im Jahre 1154 genauso vor. Freilich war solchen idealistischen Versuchen stets nur kurzer Erfolg beschieden. Abgesehen von den bürokratischen Schwierigkeiten, die eine Umstellung der auf den mukas gegründeten Steuerverwaltung von vorneherein unmöglich machten, erlaubte das Staatsinteresse keinen dauernden Verzicht auf die scharicawidrigen Ressourcen, die durch die klassische zakät längst nicht mehr gedeckt werden konnten. Die Eroberung der östlichen islamischen Lande durch die Mongolen im 13. PI. und die Etablierung einer neuen, nun völlig unislamischen Wirtschafts- und Steuerordnung 18 Claude Cahen, Der Islam I. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanenreiches (Fischer Weltgeschichte 14 [Frankfurt am Main 1968]) S. 113. 103 Ulrich Haarmann vergrößerten die Kluft zwischen islamischem Ideal und politisch-wirtschaftlicher Realität noch beträchtlich. Nun ging die zakät als lebendige gesetzliche Abgabe an den Staat endgültig in die Geschichte ein. Spezifisch mongolische Steuern auf Vieh und Land, vor allem aber die berüchtigten Gewerbe- und Handelssteuern, die tamiä, traten an ihre Stelle. Un.ter den Mamluken taucht die zakät nochmals auf, und zwar als eine Steuer auf die Handelsgüter, die die nota bene meist jüdischen Kärimi-Kaufleute vom Roten Meer zu den Mittelmeerhäfen Alexandria und Damiette transportiertefllg. Dieser Abgabe und der nach dem Religionsgesetz Muslimen vorbehaltenen klassischen zakät scheint wirklich nur mehr der Name — gewiß aber nicht die Liste kanonischer Bestimmungen — gemein zu sein 20 . Eine ganze Reihe türkischer Fürsten über Azerbaidschan 21 , Persien 22 , Transoxanien 23 und Indien 24 im 15. und 16 Jh. lassen sich nennen, die unter dem Druck frommer Ratgeber 25 und fanatischer Volkstribunen 26 , in einem Fall angeblich nach einem Traumgesicht 27 , den Entschluß faßten, die heidnische tamkä zu widerrufen und feierlich zur zakät zurückzukehren. Alle diese Versuche brachen wiederum nach kurzer Praxis zusammen. Entscheidend war in den meisten Fällen vermutlich die Absichtserklärung, der Topos, zu dem zakät längst geworden war. Nichts charakterisiert den Anachronismus all dieser Versuche besser als der Einfall des bigotten, aber dabei offenbar doch realistischen Säh Ruh, des Sohnes Timurs, die mongolischen Steuern zu belassen, aber kurzerhand mit dem ehrwürdigen Na- 12 Vgl. Subhi Y. Labib, Handelsgeschichte Agyptens im Spätmittelalter (Wiesbaden 1965) S. 245 f. Die der ‚klassischen` zakät entsprechende Abgabe einheimischer Geschäftsleute wurde, nachdem der Begriff zakät dafür nicht mehr zur Verfügung stand, zakät ad daulaba genannt, ebd. S. 236. 20 Hassanein Rabie, The Financial System of Egypt A. H. 564-741 / A. D. 1169-1341, London Oriental Series, 25 (London 1972) S. 96 formuliert kategorisch: „lt is necessary to distinguish from a comparatively early time onwards, between the real sharci zakät and the taxes, such as customs duties, etc., which were referred to as zakät merely to provide them with a cover of sharci legality." Eine analytische Untersuchung zur Geschichte des Begriffes zakät auf der Grundlage historischer, vor allem ardiivalischer, und normativer Quellen gehört zu den dringenden Desiderata islamischer Geschichtsforschung. 21 Der Turkmenenfürst Yaceb Aq Quyunlu, der Sohn Uzun Hasans, reg. 1478-90. 22 Tahmäsp I., Sohn und Nachfolger Ismäcils I., des Begründers des Safawidenreidies, reg. 1524-1576. 23 Der Timuride Abü Sacid, Herr Transoxaniens von 1451-1469. 24 Bäbur, der Begründer des Mugalreiches, vgl. Bäbur-näme, ed. A. S. Beveridge (London 1905) (E. J. W. Gibb Memorial Series. Bd. 1.) fol. 3,14; A. S. Beveridge, The Bäbur-näma in English (London 1922) S. 555. 25 Ich denke an Qädi cIsä aus Säwa, den Wesir Yacqüb Aq Qoyunlus, vgl. Vladimir Minorsky, The Aq-Qoyunlu and Land Reforms, in: Bulletin of the Sdiool of Oriental and African Studies 17 (1955) S. 451-58, vgl. auch 461 f. 23 Nota bene IG1wääa cUbaidalläh ,Abrärg, das Oberhaupt der Naqgbandis Westturkestans in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Vgl. Wilhelm Barthold, Ulug Beg und seine Zeit. Deutsche Bearbeitung von Walther Hinz (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, Band 21.1, Leipzig 1935) S. 214. — Ulrich Haarmann, Staat und Religion in Transoxanien im frühen 16. Jahrhundert, in: ZDMG 124 (1974) S. 367 f. — Hamed Algar, Berkeley, bereitet eine umfangreiche Monographie zu cUbaidalläh Algär vor. 27 über den Traum Tahmäsps I. und seine Maßnahmen gegen die unkanonisdien Steuern s. W. Hinz, Steuerinschriften aus dem Mittelalterlichen Vorderen Orient, in: Belleten 13 (1949) S. 758-66; Heribert Horst, Zwei Erlasse Säh Tahrnäsps I., in: ZDMG 110 (1961) S. 301-07, und besonders jetzt Bert Fragner, Das Ardabiler Heiligtum in den Urkunden (Text Nr. II), erscheint in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, Jahrgang 1975 bzw. 1976. - 104 Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit men zakät zu benennenss. Auch der Uzbeke cUbaidalläh, ein gottesfürchtiger und kriegerischer Herrscher, dürfte sich zu Beginn des 16. Jhs. dieses Kunstgriffs bedient haben". Die zakät konnte so ihren Zweck erfüllen: Sie war das höchste Legitimationsmittel für den weltlichen muslimischen Herrscher vor seinen gelehrten geistlichen Kritikern. Sie sanktionierte — und sei es auch nur pro forma — die gegen die Sarica verstoßenden, aber eben unabänderlichen Zustände im Finanzwesen des Staates. 1954 unternahm eine Juristenkommission nochmals den wenn auch erfolglosen Versuch, die zakät zu neuem Leben zu erwecken, und zwar im Steuersystem der jungen islamischen Republik Pakistanso. Wir haben gesehen, wie die zakät, eine pflichtmäßige, geheiligte Institution des Islams im Spannungsfeld zwischen staatlich-fiskalischem Interesse und religiöser Norm der Frühzeit erst säkularisiert wurde und in der Abbasidenzeit als eine effektive Steuerquelle allmählich von der Bühne verschwand. Das Weiterleben der freiwilligen, privaten Almosenpflicht in der islamischen Welt wurde durch diese Entwicklung freilich nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil, die Verpflichtung des einzelnen Muslims zur Wohltätigkeit trat erst jetzt aus dem Schatten der Almosens teuer hervor und konnte sich ganz im ursprünglichen, vormedinensischen Sinne festigen. Ich denke an die zakät al-fitr, das Almosen an die Armen am Tag des Fastenbrechens. Es sei betont, daß bei den weitverbreiteten Versuchen unserer Tage, in der Sarica sozialistisches Gedankengut nachzuweisen, die Almosenpflicht und die kollektive Verantwortung der islamischen Gemeinschaft für das materielle Wohl ihrer Glieder eine entscheidende Rolle spielensl. VII. Mehr als jede andere Pflicht, die letztgenannte zakiit eingeschlossen, ist in der Geschichte des Islams das Gebot des kihäd, des sogenannten „Heiligen Krieges" gegen die Ungläubigen, von dem Antagonismus zwischen persönlicher religiöser Verantwortung vor Gott und öffentlich-staatlicher Obliegenheit geprägt worden. Im Gegensatz zur zakät hat sich diese innere Spannung auch in den Bestimmungen des Religionsgesetzes zum gibiid niedergeschlagen, Bestimmungen, die im übrigen den politischen und sozialen Veränderungen der islamischen Welt in den Jahrzehnten nach dem Tode des Propheten Rechnung tragen. Der kihäd nimmt eine privilegierte Stellung in der islamischen Ethik ein — Ibn Taimiya z. B. hebt ihn neben der salät als höchstes Bekenntniszeichen (ahamm amr ad-clin) hervor" —, dennoch steht er, was die juristische Valenz betrifft, unter den vier kanonischen Obliegenheiten. Der Begriff kihäd, der — hier kommen wir auf unseren Exkurs in die arabische Semantik zurück — in der Sprache (luptan) unverbindlich „Mühen", „Anstrengung" 29 W. Hinz, Das Steuerwesen Ostanatoliens im 15. und 16. Jahrhundert, in: ZDMG 100 (1950) S. 191. 29 Haarmann, Staat und Religion, in: ZDMG 124 (1974) S. 365 f. 3° Schacht (wie Anm. 11) S. 105. 31 Einen ersten Überblick über das einschlägige moderne Schrifttum zur zakät/Sozialismus-Diskussion gibt Wolfgang Ule, Der arabische Sozialismus und der zeitgenössische Islam (Opladen 1969) S. 95-97 und S. 211 f. (Texte Nr. 75-80) mit weiterführenden Literaturangaben. Der Kronzeuge für eine sozialistische Deutung der Almosenpflicht aus der Frühzeit des Islams ist für die modernen Interpreten namentlich der Prophetengenosse Abü Darr al-Gifäri. über ihn vgl. die Kölner Dissertation von Alan J. Cameron, AM Dharr al-Ghifäri, 1963. — Vgl. auch Hamid Enayat, Islam and Socialism in Egypt, in: Middle Eastern Studies 4 (1967/8) S. 167. 32 as-Siyäsa, S. 22 f. 105 Ulrich Haarmann bedeutet 33 , nimmt im Koran eine hervorragende Stellung ein und ist eng mit dem Aufruf an die Gläubigen verknüpft, „für die Sache Gottes" (ti sabil alläh) zu kämpfen. Zwar bildete sich schon früh die dann später von den Sufis — also Gegnern buchstäblichen Pflichtengehorsams! — verinnerlichte Lehre vom „großen Gihäd" (al-gihäd al-akbar) heraus, in dem der Fromme gegen seine Schwächen und weltlichen Begierden kämpfen soll, eine Lehre im übrigen, die politischem Quietismus Vorschub leistet und darum in unserem Zusammenhang nicht ganz ohne Interesse ist, von greifbarer politischer und juristischer Bedeutung aber war die Jahrhunderte hindurch der „kleine öihäd" al-askar), der militärische und unter gewissen Bedingungen auch nur diplomatisch-politische Kampf zur Stärkung und Verteidigung der umrna gegen die Ungläubigen. In der Zeit des Propheten und des ersten Kalifen Abü Bakrs beschränkten sich die militärischen Kontakte der Muslime mit der Umwelt auf Streifzüge (kazawät) aller verfügbaren kampftüchtigen Männer, in deren Verlauf die Ungläubigen, soweit sie außerhalb der arabischen Halbinsel siedelten, zur Annahme des Islams eingeladen wurden. Erst unter cUrnar und cUtmän (634-656) und dann vor allem unter den Umayyaden beginnt die systematische Expansion des Islams. Die Eroberung der nichtmuslimischen Welt, der där al-harb, des „Landes des Krieges", ist jetzt politisch vorstellbar geworden und wird zur militärischen Aufgabe. Die Einladung (da`wa) zum Islam wird zum Ritual, wird doch nun dem Eingeladenen nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Widerstand gelassen. Schließlich wird sogar der überfall auf nichtmuslimisches Land, der Krieg ohne Kriegserklärung, unter gewissen Bedingungen für rechtmäßig erklärt. Gleichzeitig ließ die Ausdehnung der Grenzen des islamischen Imperiums im ersten Jahrhundert der Higra das ursprünglich geforderte Aufgebot aller wehrtüchtigen Muslime an den Grenzen des Reiches als nicht mehr durchführbar, und darum ein individuelles Kampfgebot — etwa nach dem Vorbild der Wallfahrtspflicht — unsinnig erscheinen. Auf dieser Basis, den Verhältnissen des islamischen Staates während und nach Abschluß der großen Eroberungen, formulieren die Juristen ihre Doktrin vom kihäd. Sie deklarieren ihn per Konsens zur kollektiven Pflicht (fard calä l-kifrea), d. h. es ist nach dem Gesetz hinreichend, wenn ein Teil der Gemeinschaft den Kampf gegen die Ungläubigen führt, und zwar derjenige Teil, dessen Territorium an das „Land des Krieges" grenzt. Für den Herrscher dieses Bezirks freilich ist der kihäd qua seines Amtes und seiner Verantwortung eine immerwährende persönliche Pflicht (farcl al-cain). Für jeden Muslim gilt solch eine individuelle Verpflichtung zum Glaubenskampf automatisch dann, wenn der ungläubige Feind sein Land (där al-isläm) bedroht oder gar angreift. Dann allerdings, darin stimmen die Gelehrten überein, ist es selbst Frauen und Sklaven geboten, zur Waffe zu greifen, ohne daß es ihnen ihr Herr und Meister wehren kann". Auf diesem breiten und elastischen rechtlichen Fundament hat der kihiid in der weiteren historischen Entwicklung verschiedene Erscheinungsformen entfalten können. Man kann geradezu zwischen z w ei gleichermaßen legalen Varianten des kihäd unterschieden. Das erste ist der institutionelle „Heilige Krieg", den die Grenzkämpfer in Erfüllung des gesetzlichen kollektiven Gebots unter der Führung ihres Herrschers — sei es der Kalif, sei es ein autonomer Fürst — meist in regulären militärischen Einheiten gegen die Ungläubigen führen. Es handelt sich hier also um einen Krieg des Staates. Nur ein Bruchteil der Muslime ist in solche Kampagnen verwickelt. Hier ist das vorherrschende Motiv zum Kampf die Aussicht auf Beute bzw. auf die Gewinnung neuer Untertanen, an deren Bekehrung zum Islam der Herrscher nicht einmal ein besonderes Interesse haben kann, zahlen doch die Failalläh b. Rüzbihän Uwe, Kitäb-i Sulük al-mulük [= über das rechte Verhalten der Könige] (Hyderabad 1386/1966) S. 451: 8 ff. 34 Ebd., S. 458. 106 Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit schutzbefohlenen Nichtmuslime (dimmis) im Gegensatz zu den Muslimen die lukrative Kopfsteuer. Ein solcher kihäd ist zwar strenggenommen areligiös, aber er ist im Interesse der Religion und Staat umfassenden umma und damit legitim. Bei dem zweiten gihäd handelt es sich um den, wie Albrecht Noth treffend formuliert hat 35, „Heiligen Kampf", den der Fromme reinen Herzens (bin-niya) auf sich nimmt. Er stützt sich auf die Verheißungen der Schrift von göttlichem Lohn für den „heiligen" Krieger. Demjenigen, der im Glaubenskrieg fällt, stehen die Tore zum Paradies offen. Der individuelle religiöse Kämpfer, der käzi, handelt — in voller Übereinstimmung mit der Doktrin der Juristen 36 — freiwillig, ohne Zwang, ohne staatliches Entgelt und vor allem ohne direkte staatliche Kontrolle. Wir erinnern uns, daß nach dem Koran ein Achtel des zakät-Aufkommens einer Region den dort wirkenden freiwilligen Glaubenskämpfern zusteht, daß also in der Theorie die gesamte umma, nicht ein einzelner weltlicher Herrscher, für ihren Unterhalt bürgt. In den beiden Institutionen der Freiwilligenkorps (muttawwica), die sich — wenn sich eine Gelegenheit bot — lose den regulären Armeen anschlossen, und der meist an einem festen Ort etablierten ständigen Grenzkämpfer (rnurcibitün) 37 begegnen uns diese frommen und asketischen Krieger immer wieder in der islamischen Geschichte, im Hochmittelalter besonders an der arabisch-byzantinischen Grenze und in Spanien, im 14. und 15. Jh. vorwiegend im Kaukasus, in Anatolien und auf dem Balkan, wo türkmenische Freibeuter vor allem aus den anatolischen uk beylikleri gegen die christlichen Nachbarstaaten kämpfen. Diese kcizis sind Männer, an deren religiöser Sendung wir kaum zweifeln dürfen, ein wesentlicher Unterschied zu dem regulären Söldneraufgebot des Souveräns einer Grenzmark für den kihäd. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich wenigstens einmal in der islamischen mittelalterlichen Geschichte diese beiden Institutionen, der staatliche „Heilige Krieg" und der individuelle „Heilige Kampf", für kurze Zeit — wie in den Jahren des Propheten — eng verbanden. Ich denke an den muslimischen „Gegenkreuzzug" Nür ad-Dins und Saladins zur Zeit der fränkischen Besetzung Palästinas und Syriens im 12. Jh. Eine eindrucksvolle Bewegung religiöser und moralischer Erneuerung, über deren Ursachen wir erst jetzt langsam Klarheit gewinnen, verschmolz mit einer systematischen und breitgefächerten Propaganda für die Wiederbelebung des äihäd, der nun, da islamisches Land und das heilige Jerusalem allzumal von Ungläubigen besetzt waren, für jedermann in Syrien zur persönlichen Pflicht wurde. In dem frommen Herrscher, dem ersten Gotteskrieger, fand der muslimische Widerstand seine Verkörperung 38 . Nür ad-Din und Saladin stellten ihre politische Macht in den Dienst der Verwirklichung dieser großen religiösen Idee, die für kurze Zeit Wirklichkeit wurde und zu den militärischen Erfolgen der Muslime gegen die Kreuzfahrerstaaten im ausgehenden 12. Jh. beitrug. Nach Saladins Tod zerbrach diese Klammer von religiösem Sendungsbewußtsein und staatlicher Autorität wieder. Erst die Mamluken- Noth (wie Anm. 12) S. 22 und passim. Ebd. S. 43,88. 37 Zum Begriff muräbit vgl. neben den einschlägigen Ausführungen A. Noths (wie Anm. 12; Das Ribät der Almoraviden, in: Der Orient in der Forsdiung. Festschrift für Otto Spies zum 5. April 1966 [Wiesbaden 1967] S. 499-511) u. a. auch an-Nuwairi, Nihäyat al-arab fi funün al-adab [;---- über die Disziplinen des adab] (Handschrift Leiden arab. 2n) fol. 69 a (Jahr 693 H. =-- 1294): Dort preist der Gouverneur der Hafenfeste (tair) Alexandria die Bewohner der Stadt als guzoit muriibitin, die kraft dieses Status unbedingt vor der Willkür der Regierungsbeamten geschützt werden müssen. 38 Vgl. die grundlegende Untersuchung E. Sivans, L'Islam et la Croisade, passim. (S. auch ders., Modern Arab Historiography of the Crusades, in: Asian and African Studies 8/11 [1972] S. 109-42). 35 36 107 Ulrich Haarmann sultane :vermochten am Ende des 1 3. Jahrhunderts ein letztes Mal diese Idee des vereinten Glaubenskampfes von Herrscher und Volk anzufachen. „Unser Herr hat die gesetzliche Pflicht des kihäd ins Leben zurückgerufen" (4yä faridat al-gihäd bacd al-maut), so schreibt der Reichsgeheimschreiber Sultan Qalawuns nach der Eroberung des syrischen Tripolis im Jahre 1289 an den Herrscher des Jemen". Auch das Volk ist angesteckt; die spontanen Ausschreitungen gegen die Christen in Syrien, von denen die frühmamlukischen Chronisten berichten", sprechen für sich selbst. Nach dem Fall von c.A.kkä im Jahre 1 291 und der Eindämmung der Mongolengefahr im Osten 41 löste sich diese Allianz von staatlicher Initiative und volkstümlicher Kriegsbegeisterung im Namen Gottes allmählich wieder auf. Der alte Dualismus von staatlichem und individuellem gihäd war wiederhergestellt. Besonders problematisch ist der Krieg zwischen Muslimen. Hier zeigt sich — und zwar auf die Ebene des „staatlichen" kihäd begrenzt — wiederum der Widerspruch zwischen postulierter gesetzlicher Norm und historischer Praxis. Nach dem Gesetz ist es dem Mus1im 42 grundsätzlich untersagt, gegen seine Glaubensbrüder zu kämpfen. Ausgenommen sind die Ketzer. Gegen sie zu kämpfen, ist nicht nur verdienstvoll, sondern individuelle Pflicht. So wie kurz vor dem Fall von Byzanz der letzte kaiserliche Admiral in einem. Streitgespräch verkündet, er sähe lieber den türkischen Turban auf den Straßen Konstantinopels als die lateinische Tiara, so feuern jahrhundertelang die sunnitischen Polemiker die Gläubigen an, es sei verdienstvoller, einen Ketzer zu töten als vierzig, siebzig oder hundert Franken, also Ungläubige ab origine 43 . Der muslimische Herrscher, der gegen einen muslimischen Gegner ins Feld zieht, wird stets versuchen, diesen Entschluß religiös zu rechtfertigen, -also von den Juristen ein Gutachten zu erlangen, das ihn zu kriegerischem Vorgehen ermächtigt. Sei es, daß in einem solchen fatwii der Gegner selbst mit dem Anathema des takfir, der Ungläubigkeit, belegt wird, sei es, daß man ihm Konspiration mit einem ketzerischen Dritten nachweist — mit diesem Argument begründeten z. B. die Osmanen ihren Feldzug gegen die Mamluken" —, der Angreifer erhält die gewünschte Legitimation. An einem Beispiel läßt sich die politische Komponente in solchen kihäd-Gutachten sunnitischer Rechtsgelehrter regelrecht messen. Als Anfang des 16. Jh. die Safawiden in Persien ihre Macht etablierten, kam es rasch zu militärischen Auseinandersetzungen mit den zunächst bedrohten Nachbarn, den Uzbeken im Nordosten und den Osmanen im 39 al-Gazari, ljawädit az-zamän (Hs Gotha 1561) fol. 30 a; Ibn ad-Dawädäri Bd. VIII (Kairo 1971) S. 292: 2-3. 49 Zum Beispiel al-Gazari, klawädit az-zamän (Hs Gotha 1560) fol. 59 b; Tärib Ibn al-Furät Bd VIII (Beirut 1939) S. 71. 41 Den Wortlautzweier Freitagspredigten, in denen der Kairoer Schattenkalif al-kläkim bi-amr Alläh 1291 zum kihäd gegen die Mongolen und zur Wiedereroberung der „heiligen" Reichshauptstadt Bagdad aufruft, überliefert der Historiker und Reichsgeheimsdireiber Mubyi ad-Din b. cAbd az-Zähir in seiner dem Mamlukensultan al-Agraf IzIalil gewidmeten Vita al-Altäf al-bafiya min as-sira g-garifa s-sultä,niya l-malakiya l-agrafiya, in: Axel Moberg, Ur cAbd Alläh b. cAbd ez-?5,hir's biografi över Sultanen el-Melik el-Agraf Ijalil (Lund 1902) S. (arab.) 8-9, 12-13. 42 Ijärigiten und — wie Tilman Nagel kürzlich ausgeführt hat — Ismä.ciliten haben es einfacher: Sie subsumieren den kihäd gegen „ungerechte" (..--- andersgläubige) Muslime unter die koranische Maxime des al amr bil macre tvan nahy can al munkar, das Gebot, der alleinigen gerechten Lehre auf der ganzen Welt mit allen Mitteln zur Herrschaft zu verhelfen. Vgl. T. Nagel, Frühe Ismailiya und Fatimiden im Lichte der Risälat iftitä13 ad-dacwa (Bonn 1972) S. 39. 43 Elke Eberhard, Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschriften (Islamkundliche Untersuchungen Bd. 3.) (Freiburg i. Br. 1970) S. 161, Anm. 4. 44 Ebd. S. 159, Anm. 2. - 108 - - - Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit Westen Irans. 1510 waren die Safawiden gegen die Uzbeken erfolgreich, vier Jahre später verloren sie den Kampf gegen die Osmanen. Die Uzbeken resignierten und fanden sich mit der Existenz des Safawidenreiches ab, die Osmanen aber sannen auf die endgültige Vernichtung des Gegners und die Annexion seines Territoriums. Diese antagonistische politische Haltung spiegelt sich in den Gutachten der Juristen wider, die nach der ersten Kampfesrunde in Istanbul bzw. Buchara abgefaßt wurden und uns erhalten sind. Sowohl Osmanen und Uzbeken waren Sunniten, während die Safawiden die Zwölferschica in Persien zur Staatsreligion erhoben hatten. Die Zwölferschica als solche konnte zwar von den sunnitischen Theologen nicht zur Ketzerei erklärt werden, anders aber stand es mit dem religiösen Extremismus der Safawidenherrscher selbst und ihrer unmittelbaren Anhängerschaft, der Qizilba Der rechtliche Sachverhalt ist also für die beiden religiösen und politischen Gegner der Safawiden, für Uzbeken und Osmanen, identisch. Beide gestehen zu, daß allein der Schah und seine Kreaturen verdammenswert seien, nicht aber die Masse des verführten Volkes. Ist nun der Krieg, der kihäd gegen Persien erlaubt? An dieser Frage scheiden sich die Geister der Exegeten. Der osmanische Mufti bejaht sie, und wenn dabei Unschuldige zu Schaden kommen 45 , der Uzbeke verneint sie, und wenn darum das verdammenswerte Regime an der Macht bleibt". Die divergierenden politischen Interessen und Möglichkeiten der betroffenen Parteien haben sich im religionsgesetzlichen Urteil niedergeschlagen. Der kihäd ist bis in die jüngere und jüngste Vergangenheit hinein lebendig geblieben. Er hat die Säkularisierung des Islams nicht nur überstanden, sondern sich von ihr — im Gegensatz zu den anderen, den kanonischen Pflichten — umprägen lassen. Gewiß waren die vagen Konturen der Institution kihäd und der inhärente Dualismus von persönlichem und politischem gihäd der erstaunlichen Anpassung an die jeweils herrschenden Bedingungen zuträglich, dennoch verwundert der völlige Wandel des Begriffes in unseren Tagen. Die Sarica sieht vor, daß Nichtmuslime aufgefordert werden können, sich auf der Seite der Muslime am Glaubenskrieg zu beteiligen 47 . Diese Klausel scheint die juristische Grundlage für eine im 20. Jh. beginnende Entislamisierung der kihäd-Idee geliefert zu haben. An die Stelle der Solidarität der muslimischen umma, die es zu verteidigen gelte, tritt die Solidarität der Nation und — in Ansätzen — sogar der Klasse, ohne daß freilich die Zugkraft des traditionellen kihäd-Be griffes dabei verlorenginge. In den Kämpfen um die persische Verfassung im Jahre 1906 begegnen uns armenische Christen als muk ähidiin an der Seite ihrer muslimischen Landsleute". 1914 verkündet der $eyh ül-Islarn von Istanbul den Heiligen Krieg gegen die Alliierten unter dem Druck einer christlichen Macht und deren. Propaganda. Am 7. Oktober 1973, am Tage nach dem erfolgreichen Vorstoß ägyptischer Truppen über den Suezkanal, verkündet der Scheich von al-Azhar, cAbd al-klalim Mahmüd: „Der kiheid obliegt allen ohne Unterschied, Muslimen und Christen, er ist die erste Pflicht für jedermann unter dem Himmel Agyptens, des gemeinsamen Vaterlandes" (al-kihädu ba qq un calä l-kg amici lä farga baina muslimin wa-masibiyin bal hiya l-wäkibu l-awwalu li-kulli man azallathu samä'u Misra watani 1-kamic) 49 . Die Ideologie des kihäd ist nicht mehr, wie noch in Algerien, Arabien und im Sudan im 19. und frühen 20. Jh., spezifisch islamisch. Sie ist vielmehr von der religiösen Basis abstrahiert, überkonfessionell geworden und hat dadurch ihre Ausstrahlung bis in unsere Tage hinein bewahren können. Ebd. S. 166 f. Haarmann (wie Anm. 26) S. 357-61. 47 E. Tyan in: Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. II, S. 539 a, s. v. Djihäd. 48 Enno Littmann, Besprechung von Rudolf Tschudi, Der Islam und der Krieg, in: Der Islam 6 (1916) S. 106. 46 al-Mu5awwar vom 12. Oktober 1973, S. 44. 45 46 109 Ulrich Haarmann: Die Pflichten des Muslims — Dogma und geschichtliche Wirklichkeit VIII. Wir sind am Ende unseres überblicks angelangt. Wir haben gesehen, daß die vier kanonischen Pflichten und — wenn auch in geringerem Maße — der kihäd gemeinsam mit dem Glaubensbekenntnis im islamischen religiösen Gesetz den obersten Rang einnehmen. Die sprachlich-semantische Autonomie, die die Rechtstheoretiker für die Begriffe der Pflichten postulieren, erwies sich als ein besonders klares Indiz für die unwandelbare Natur dieser höchsten Handelnsnormen in der Religion des Islam. Die geschichtliche Wirklichkeit sah aber anders aus. Die Vermutung, daß die Pflichten, eine Institution praktischer Religiosität, historischen Veränderungen unterworfen seien und sich ihnen angepaßt haben, wird bereits durch die wenigen Beispiele, von denen wir gehört haben, klar bestätigt. Die einzelnen Pflichten gingen allerdings verschiedene Wege, obwohl sie vor dem Gesetz im Prinzip — wenn wir den gihiid außer acht lassen — gleichen Rang besitzen. Je später der Zeitpunkt lag, bis zu dem sie sich in der frühen islamischen Geschichte noch an die sich rasch ändernde Wirklichkeit hatten anpassen können, bevor sie in der Sarica normiert wurden, d. h. je aktueller, jünger das Gesetz im einzelnen Fall war, um so schwächer war der Druck historischen Wandels. Aus eben diesem Grund erwies sich die Institution des ,eihcid als relativ stabil, während die zakät, ein Spiegelbild der schon so früh obsoleten urislamischen Wirtschaftsordnung schnell zum Anachronismus geworden war. Dieses erste, historische Kriterium wird überlagert und z. T. verdeckt von einem zweiten, soziologischen, nämlich dem Grad, in welchem sich die buchstäbliche Erfüllung der Pflichten mit den Interessen des Staates, der jeweiligen weltlichen Obrigkeit vereinbaren ließ. In anderen Worten: Bestimmend war, auf welcher Ebene Herrscher und Untertan bei einer bestimmten Pflicht miteinander zu tun hatten. Das rituelle Gebet, und in geringerem Maße auch das Fasten und die Wallfahrt, sind und waren private, zugleich aber gemeinschaftsbejahende Angelegenheiten. Sie konnten darum — wenn wir von der Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit einmal absehen — nicht mit der Staatsräson kollidieren und blieben unangefochten in Geltung. Die zakät hingegen, eine politische Institution par excellence, konnte nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt überleben. Die starren Ausführungsbestimmungen erlaubten keine Anpassung an die sich rasch verändernden ökonomischen Verhältnisse. Der Krieg, der kihäd, ein elementares Mittel jeglicher Politik, ging einen dritten Weg: Seines spezifisch islamischen Sinnes entkleidet paßte er sich modernen Ideologien an. Der natürliche Gegensatz zwischen den Interessen des Staates und des Individuums, zwischen politischer Macht und persönlicher Frömmigkeit hat das in der Sarica vorausgesetzte Modell der Einheit von Staat und Gemeinde im Laufe der Geschichte überwunden. Selbst die rituellen Gebote, die Quintessenz von Gottes ewig gültiger Gesetzgebung, das Bollwerk des abstrakten Islams, blieben von dieser Entwicklung nicht verschont. 110