Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius Wissenswert Zahlen und Töne: Musik und Mathematik (2) Von Pythagoras bis MP3 – Die Mathematik der Klänge Von Niels Kaiser 09.12.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecher/in: Sprecher/in: Niels Kaiser 08-163 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 Antike griechische Musik Musik und Mathematik haben eine lange gemeinsame Geschichte. Sie beginnt im antiken Griechenland bei den Pythagoräern. Die waren Philosophen, Mathematiker, Musikwissenschaftler und Politiker. Die Musik betrachteten sie als Teil einer Weltordnung, die sich auf allgemein gültigen Zahlengesetzen beruht. Alles ist Zahl, so lautete ihr Wahlspruch. Diese Zahlengesetze in der Welt konnten sie mit Hilfe eines einfachen Monochords darstellen. Albrecht Beutelspacher vom Gießener Mathematikum demonstriert es. BEUTELSPACHER: Das so genannte Monochord, das ist ein Instrument, das nur eine Saite hat. Diese Saite kann man anzupfen, dann gibt es einen Ton. (zupft Grundton am Monochord) Aber diese Saite kann man auch in der Mitte oder an irgend einer Stelle abdrücken, so wie an einer Gitarre oder bei einer Geige. Dann habe ich rechts einen Teil und links einen Teil. Ich kann beide Teile anzupfen, dann gibt’s in der Regel zwei verschiedene Töne. Die Pythagoräer haben dieses Phänomen ganz genau untersucht. Zum Beispiel, wenn man genau in der Mitte die Saite unterteilt, dann ist links und rechts eine völlig symmetrische Situation. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn da zwei verschiedene Töne rauskommen würden. (zupft Monochord) Das ist die eine Hälfte. (zupft Monochord) Und das ist die andere Hälfte. Sie haben das Monochord nicht nur im Verhältnis 1:1 unterbrochen, sondern zum Beispiel auch im Verhältnis 1:2, also ein Drittel, zwei Drittel. Dann gibt’s bei der Hälfte mit der längeren Saite einen tiefen Ton, bei der anderen einen hohen Ton. Aber nicht irgendeinen tiefen oder hohen Ton, sondern genau eine Oktave. Jetzt kommt erst der tiefe Ton. (zupft das Monochord) Und jetzt der hohe. (zupft das Monochord) Eine Oktave. Und dann kann man noch im Verhältnis 2:3, zwei Fünftel zu drei Fünftel abdrücken, das mach ich auch mal. Seite 3 (zupft das Monochord) Das ist eine Quinte. Und so haben die Pythagoräer eine Erkenntnis erzielt, nämlich: Je einfacher das Zahlenverhältnis ist, desto reiner ist der Klang. Und umgekehrt: Je komplexer das Zahlenverhältnis wird, 7:8, 9:13, desto unreiner, spannender, aufregender, wilder wird der Klang. Oder auch einfach dissonanter. Unsere heutigen Vorstellungen davon, welches konsonante, also gut klingende Intervalle und welches die dissonanten sind, unterscheiden sich kaum von den Ergebnissen der Pythagoräer. Quinte und Oktave sind auch in unserer Musik die am harmonischsten empfundenen Intervalle. Popmusik Aber liegen wir damit auch richtig? Sind wir wirklich von Natur aus darauf festgelegt, Quinten und Oktaven als konsonant zu empfinden, wie die Pythagoräer behaupteten? Hier kommt die Musikphysiologie ins Spiel. Eckart Altenmüller ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule Hannover. Er hat das Konsonanzverständnis von Säuglingen untersucht mit dem Ergebnis, dass Säuglinge konsonante Klänge eindeutig den dissonanten vorziehen. Das muss nun aber nicht heißen, dass wir einen angeborenen Konsonanztrieb haben. Das Konsonanzverständnis wird erlernt, und zwar bereits vor der Geburt. ALTENMÜLLER: Wenn man sich die akustische Welt eines Säuglings im Mutterleib mal genau anhört, wenn Klänge aus dem Uterus analysiert mit einer Frequenzanalyse, einer Fourieranalyse, dann stellt sich heraus, dass natürlich mitnichten da ein Geräuschchaos ist, sondern das zum Beispiel das Blubbern des Darmes oder der Herzschlag, dass das natürlich alles Klänge sind. Das heißt: Die haben eine Grundfrequenz und die haben Obertonreihen, da ist eine Oktave, da ist eine Quinte, das ist eine Terz usw. nachweisbar. Oktave, Quinte, Terz, es sind die konsonanten Intervalle, aus denen sich auch die Obertöne in der Stimme der Mutter zusammensetzen. Sie sind der dominanteste Klangeindruck ist, den ein Ungeborenes erhält. Unser Konsonanzverständnis formt sich also schon früh aufgrund der Physik der Welt und auf eine mathematisch nachvollziehbare Art und Weise. Wenn das so ist, warum sind wir Seite 4 dann trotzdem in der Lage, auch Musik zu hören, die nicht diesem Konsonanzverständnis entspricht, 12-Ton-Musik etwa oder Musik aus ganz anderen Kulturräumen. ALTENMÜLLER: Das wird eben dadurch möglich, dass unser Hörsystem durch die Entwicklung und die Lernfähigkeit, durch die Neuroplastizität unglaublich anpassungsfähig ist. Das heißt: Wir können es ohne Schwierigkeiten schaffen, nach und nach unsere Vorlieben so umzuformen, dass wir nicht mehr in einer einfachen Kadenzharmonik denken, sondern dass wir hochkomplexe Klangverbindungen mögen. Das wird dann gelernt. Weltmusik Dass unser Gehör umlernen kann, ist ein Glück. Denn sonst dürften wir diese Klänge hier gar nicht als harmonisch empfinden. Tonleiter chromatisch BEHRENDS: Es ist ja schon überraschend, dass wir uns an eine ganz spezielle Sorte von Tonleitern gewöhnt haben, und man kann ja wohl fragen: Wie kommt es, dass es ausgerechnet diese Tonleitern sind? Diese Frage stellt der Mathematiker Ehrhard Behrends von der Freien Universität Berlin. Zu Recht. Warum finden wir diese Tonleiter hier zum Beispiel nicht so schön? Zufallstonleiter Die Antwort ist leicht. Wir haben sie noch nie vorher gehört. Ihre Töne hat ein Computer zufällig zusammengestellt. Die Tonleiter, die wir gewohnt sind, ist aber ebenfalls alles andere als „natürlich“. Hielten wir uns an die Konsonanzvorgaben der Pythagoräer, müsste sie eigentlich so klingen. Tonleiter pythagoreisch Seite 5 Das, was da bei genauem Hinhören für uns nach einem leicht verstimmten Instrument klingt, … Tonleiter pythagoreisch …sind in Wirklichkeit die rein gestimmten Töne der pythagoreischen Tonleiter. Die sind eigentlich die „richtigen“. Warum verwenden wir sie nicht? Schuld hat das Pythgaroeische Komma. BEUTELSPACHER: (dazu sind die genannten Töne auf dem Klavier zu hören) Wenn man sich ein Klavier vorstellt, und ich fang ganz unten bei einem Ton C an, geh dann eine Oktave höher, das ist das Verhältnis 2:1, dann noch mal eine Oktave höher, noch mal das Verhältnis 2:1, also insgesamt 4:1, usw., So machen wir das über sieben Oktaven hinweg, so dass wir dann ein Verhältnis von 2 hoch 7 zu 1 haben. Ich könnte das aber auch anders machen, indem ich nicht in Oktavenschritten nach oben gehe, sondern in Quintschritten. Also von C zu G, dann von G zu D, von D zu A, von A zu E usw. Und wenn ich das 12 mal mache, bin ich wieder ganz oben, auch bei einem hohen C gelandet, das gleiche wie bei der Oktave. Wenn man das allerdings ausrechnet, dann ist eine Quinte drei Halbe, 3:2, zwei Quinten sind also 3x3 durch 2x2 usw., so dass wir insgesamt auf 3 hoch 12 durch 2 hoch 12 kommen. Und das ist eine ganz andere Zahl als 2 hoch 7, was wir bei der Oktave geschafft haben. Die sind zwar ganz nahe beieinander, aber sind grundsätzlich andere Zahlen. Diesen kleinen Unterschied nennt man das Pythagoreische Komma. Komma heißt einfach: Kleines Zeichen, was dazwischen passt., hat nichts mit unserem Komma und Punkt und Strich und Ausrufezeichen zu tun. Das heißt also: Ein Pianist, der Quinten oder Oktaven übereinander schichtet, kommt in beiden Fällen irgendwann bei einem hohen C an. Der Mathematiker, der die gleiche Prozedur rechnerisch durchführt, nicht. Er landet bei zwei verschiedenen, wenn auch sehr nah beieinander liegenden Tönen. Pythagoreisches Komma So klingt es, wenn zwei gleichzeitig angeschlagene Töne ein Pythagoreisches Komma weit von einander entfernt sind. Pythagoreisches Komma Genau genommen müsste ein Klavier Tasten für beide Töne haben. Und viele viele Tasten mehr für weitere durch Kommata voneinander getrennte Töne. Das Komma ist also klein, aber die Folgen sind Seite 6 groß. Die Welt der Zahlen ist eben doch nicht so einfach und klar, wie die Pythagoräer sie sich gerne zurechtgerechnet hätten. BEHRENDS: Das Pythagoreische Komma ist sozusagen der Preis, den man zahlen muss, wenn man’s ganz exakt machen möchte, wenn man also die pythagoreische Idee konsequent durchführt. Aber da ist die Mathematik vor, es ist eben aus innermathematischen Gründen ausgeschlossen, dass man mit dieser pythagoreischen Idee zu einer perfekten Tonleiter kommt, die aufgeht. Und wieso geht’s dann trotzdem auf, wenn wir uns ans Klavier setzen? Da steckt jede Menge mathematischer Trickzauber dahinter. Das Grundprinzip der Klaviertastatur ist einfach: Bei den Intervallen wird ein bisschen gepfuscht. Da und dort wird mal ein Ton ein klitzekleines bisschen zu hoch oder zu tief gestimmt. Das hatte bei den ersten Stimmungsversuchen allerdings den Nachteil, dass, je nachdem in welcher Tonart man spielte, die falschen Töne sich an unterschiedlichen Stellen der Tonleiter befanden. Und das führte dann schon zu klanglich eindeutig unschönen Ergebnissen. Kam die eine Tonart ganz passabel daher, … C-Dur in ME.C-Stimmung …so klang die nächste schon nicht mehr so gut. Des-Dur in ME.C-Stimmung Eine passable Lösung bahnte sich erst mit den mathematischen Berechnungen Andreas Werckmeisters an, der das Pythagoreische Komma in kleinsten Dosen über die Tastatur verteilte. BEUTELSPACHER: Und das führte letztlich dann dazu, dass im 17. Jahrhundert die so genannte Wohltemperierte Stimmung erfunden wurde. Da wurde nämlich gesagt: Bevor wir ein Klavier in C-Dur stimmen und dann Schwierigkeiten haben, wenn wir modulieren in andere Tonarten, machen wir’s doch lieber so, dass es überall gleich gut oder auch gleich schlecht stimmt. Man hat es einfach so gemacht, dass man sagt: Jeder Halbton ist gleich groß. Das ist der reinen Stimmung nicht der Fall, jeder Halbton ist gleich groß. Die so genannte Wohltemperierte Stimmung, die dann zu wahrscheinlich dem prominentesten Werk in dieser Richtung führte, nämlich dem Seite 7 Wohltemperierten Klavier, in dem Johann Sebastian Bach praktisch programmatisch sagt: Ich kann für jede Tonart ein Stück schreiben. WOHLTEMPERIERTES KLAVIER Bei der temperierten Stimmung, mit der heutzutage jedes Tasteninstrument versehen ist, kommen die Quinten im Vergleich zur reinen Stimmung noch am besten weg. Sie sind lediglich um zwei Hundertsel eines Halbtons zu tief. Etwas verbiegen aber muss sich unser Gehör bei der großen Terz. Sie ist um einen Siebtelhalbton zu hoch. Den Unterschied kann man kaum überhören, wenn man einen temperierten Dreiklang… temperierter Dreiklang …mit einem reinen vergleicht. reiner Dreiklang Die temperierte Stimmung ist ein Kompromiss zwischen der Natur der Klänge und der Machbarkeit des Spiels auf nur 12 Tasten. Ein Kompromiss, der dann aber nicht notwendig wäre, wenn sich die Tasten eines Klaviers während des Spiels umstimmen ließen. Auf einem Keyboard ist das möglich. Schon längst gibt es Computerprogramme, die die gespielten Klänge bei einem Tonartwechsel sofort in die jeweilige neue reine Stimmung umrechnen. Ein Instrument, das sich beim Spielen beständig selber umstimmt: Das klingt theoretisch ganz gut, praktisch sieht es aber so aus, dass sogar der Computer an der reinen Stimmung scheitert, gerade weil er sie mathematisch genau berechnen kann. Albert Gräf leitet die Abteilung Musikinfomatik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Mainz. Er demonstriert, was passiert, wenn man einen Computer in der so genannten adaptiven Stimmung spielen lässt. GRÄF: Adaptive Stimmungen bedeutet, dass sie zu jedem Zeitpunkt einen rein gestimmten Klang haben wollen, egal, welche Akkorde gespielt werden. Wenn Sie das jetzt aber ganz rigoros durchziehen, dann bekommen Sie Sachen, die so klingen. (spielt Choral auf dem Keyboard) Ich Seite 8 glaub, auch ein musikalischer Laie hört, dass wir zum Schluss ein ganzes Stück abgerutscht waren. Das liegt eben daran: Wenn Sie wirklich ganz rigoros fordern, dass jedes einzelne Intervall in so einem Stück, wo’s durch einige Tonarten durchgeht, wenn alle Intervalle rein klingen sollen, dann können Sie die Tonhöhe nicht halten. So lange Sie in einer Tonart bleiben, sagen wir mal C: Alles kein Problem. Aber wenn Sie jetzt anfangen in entfernte Tonarten zu modulieren, rüber nach Es-Dur oder so, dann ist es klar, dass es irgendwo Stellen geben muss, wo es Brüche gibt, wo Töne umgestimmt werden müssen, und dann haben Sie das Problem, dass Sie auf einmal mit dem Kammerton um ein Stück abrutschen. Derselbe Effekt des Abrutschens tritt auch bei rein singenden Chören auf. Die neueste Entwicklung im Bereich der rein gestimmten elektronischen Musiksysteme ist das so genannte Hermode Tuning, das in Zukunft auch von großen Softwarehersteller eingesetzt werden soll. Das Hermode Tuning rutscht beim Modulieren nicht mehr ab. Das schafft es aber nur, weil es beim Errechnen der reinen Intervalle auch wieder ein kleines bisschen pfuscht. Eine komplexe Musik in wirklich reiner Stimmung werden wir nie zu hören bekommen. Sie ist mathematisch ausgeschlossen. BEHRENDS: Nachträglich gesehen ist es schon eine gewisse kleine Ironie in der Musikgeschichte: Man geht aus von Schwingungsverhältnissen, die ganz ganz einfach sind: pythagoreische Tonleiter, und das Endergebnis ist eine Tonleiter, die eine winzige Modifikation darstellt, aber leider die Eigenschaft hat, dass überhaupt kein Schwingungsverhältnis jetzt mehr einfach ist. WOHLTEMPERIERTES KLAVIER