Der wichtige Unterschied zwischen Individuum und Person

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POLITIK
KOMMENTAR
Harald Kamps, Facharzt für Allgemeinmedizin, Berlin
D
er Schlüterhof im Historischen
Museum in Berlin ist im Herbst
2010 festlich geschmückt. Wissenschaftler aus aller Welt feiern den World Health
Summit. Es wird auch ein Preis verliehen: der Pfizer Award für Innovation in
der biomedizinischen Forschung. Titel
der diesjährigen Ausschreibung war:
„Neue Anwendungen der personalisierten Medizin bei chronischen Erkrankungen.“ Ich frage mich einen Augenblick,
wie viele Hausärzte oder Psychiater sich
um den Preis beworben haben. Verlie-
„maßgeschneiderten Kleides“, ist dann
aber bescheidener: Es geht um das Individuelle, nicht um das Persönliche.
Wie wichtig ist denn der Unterschied? Die norwegische Moralphilosophin Nina Karin Monsen hat diesem
Unterschied ein ganzes Buch gewidmet
(„Der liebende Mensch“) und sich damit als Philosophin des „Personalismus“ vorgestellt. Der Kern dieser
Denkrichtung ist, dass die Person sich
frei und verantwortlich entscheiden
kann. Personen leben ihr Leben im
Viele Menschen vermissen in unserem Gesundheitswesen eine personalisierte Medizin. Sie wünschen eine
Medizin, die Menschen nicht nur nach
Diagnosen sortiert. Diagnosen sind
medizinische Begriffe, die Eigenschaften von Individuen beschreiben. Sie
helfen einer Medizin, die zu Diagnosen passende Therapien bereithält.
Diagnosen sind da nicht hilfreich, wo
sie die persönlichen Eigenschaften
eines Menschen verstecken und unsichtbar machen für den Blick und
MASSGESCHNEIDERTE MEDIZIN
Der wichtige Unterschied zwischen
Individuum und Person
hen wird er an Dr. Manuel Esteller aus
Barcelona für „seine Forschung im Bereich der Epigenetik bei Krebserkrankungen und der personalisierten Therapie“.
Ich verstehe die Bedeutung seiner
Arbeit – Patienten mit Krebserkrankungen werden jetzt nicht mehr alle über
einen Kamm geschoren, sondern die
Behandlung wird nach der Analyse der
individuellen Genomaktivität angepasst.
Manche müssen eine aggressivere
Behandlung ertragen, vielen wird dies
erspart bei gleichem Nutzen – ein wirklicher Fortschritt, aber ist dies bereits
personalisierte Medizin?
„Die Sprache verkleidet den Gedanken“, hat uns Wittgenstein in seinem
Tractatus logico-philosophicus zugerufen und vor der Annahme gewarnt, von
der „äußeren Form des Kleides“ gleich
auf die „Form des Körpers“ schließen
zu können. Vielleicht lohnt es sich, den
Begriff der „personalisierten Medizin“
sprachkritisch zu hinterfragen?
Auch die TAILORx-Studie besetzt
diesen Begriff: „Testing Personalized
Treatment for Breast Cancer“ – so wird
das Forschungsprojekt beschrieben.
Genauer hingesehen bedeutet die Abkürzung aber: „Trial Assigning IndividuaLized Options for Treatment (Rx)“.
Der Titel verweist auf die Metapher des
A 2490
Dialog mit anderen Menschen. Monsen
unterscheidet Massenmenschen, Individuen und Personen. Personen haben
eigene moralische Vorstellungen und
Wünsche. Personen schreiben ihre
eigene Lebensgeschichte. Personen
treffen persönliche Entscheidungen,
manchmal unverständliche, manchmal
im Widerstand zur herrschenden Meinung. Der Person geht es um Werte,
die ein sinnvolles Dasein begründen
können. Dem Individuum fehlt diese
ethische Dimension, der Massenmensch verlässt sich auf die Entscheidungen der Mehrheit.
Die Komplexität des persönlichen Lebens lässt sich mit den Methoden der
biomedizinischen Forschung und der
Epigenetik nicht erforschen, aber zu einer individualisierten Medizin tragen sie
schon bei. Tausende von Frauen warten
auf die Ergebnisse der TAILORx-Studie,
die sie und ihre Ärzte hinter die genetischen Kulissen des Brustkrebs blicken
lassen und vielen eine unnötige Chemotherapie ersparen werden. Eine personalisierte Medizin würde versuchen, Hilfestellung zu geben bei ganz anderen
Fragen: Was bedeutet diese Erkrankung
für mein Leben, das meiner Kinder, für
meine Ehe? Wie kann ich trotz Diagnose
ein gesundes Leben führen?
das Ohr des Arztes. Burn-out-Syndrom oder Fibromyalgie sind solche
Diagnosen, die eine diagnostische Genauigkeit vortäuschen, aber die persönliche Lebensgeschichte des leidenden Menschen verbergen. Die
Hausärztin und der Hausarzt sind Experten für eine personalisierte Medizin. Hausarztmedizin ist in erster Linie
personenorientierte Medizin – als akademische Disziplin führt sie aber ein
Schattendasein. Für sie gibt es keine
hochdotierten Preise. Während die individualisierte Medizin ihren Blick in
die molekularen und genetischen
Strukturen des einzelnen Menschen
richtet, hört die personalisierte Allgemeinmedizin auf die Sprache des Patienten, interessiert sich für die persönlichen Gründe ihrer Patienten, so
oder so zu entscheiden, ist neugierig
auf das persönliche Netzwerk des Patienten. Personalisierte medizinische
Forschung braucht akademische Hilfestellung von Literaturwissenschaftlern, Sprachforschern, Theologen und
Philosophen. „Sprache verkleidet den
Gedanken.“ Individualisierte Medizin
und personalisierte Medizin sind unterschiedliche Kleider.
E-Mail: [email protected]
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 50 | 17. Dezember 2010
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