Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich

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Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Professur für Ethik in der Medizin
Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A.
Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 im Klinikum Nürnberg
Evaluation der Beratungsfälle von 1999 bis 2011
im Kontext der historischen Entwicklung einer patientenzentrierten Medizin
Inaugural-Dissertation
zur Erlangung der Doktorwürde
der Medizinischen Fakultät
der
Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg
vorgelegt von
Stephan Kolb
aus Wilhelmshaven
Gedruckt mit Erlaubnis der
Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Dekan:
Prof. Dr. Dr. h.c. J. Schüttler
Referent:
Prof. Dr. A. Frewer
Korreferent:
Prof. Dr. F. Erbguth
Tag der mündlichen Prüfung:
27. November 2012
Meinen Eltern
Margret und Gerhard Kolb
Medizin, das ist eine Weise
des Umgangs des Menschen mit dem Menschen
Viktor von Weizsäcker
(1886 – 1957)

Aus den Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers, Band 9, S. 19, Einleitung zu „Fälle und
Probleme. Anthropologische Vorlesungen in der Medizinischen Klinik“ (1947)
Im Verständnis des Verfassers meint der Begriff „Medizin“ im umfassenden Sinne die Heilkunde
an sich und schließt Ärzte wie Pflegende ein.
Inhaltsverzeichnis
I.
Zusammenfassung
1
II. Summary
2
1. Einleitung
3
2. Einführung – historische und theoretische Bezugspunkte
10
2.1. „Medizin ohne Menschlichkeit“
10
2.2. Informierte Zustimmung
14
2.3. Autonomie des Patienten
22
2.4. Ärztliches Rollenverständnis
28
2.5. Patientenzentrierte Medizin
32
2.6. Partizipative Entscheidungen
37
2.7. Zusammenfassung des Kapitels
44
3. Entwicklung, Modelle und Kontext Klinischer Ethikberatung
45
3.1. Internationale Entwicklung
45
3.2. Entwicklung in Deutschland
49
3.3. Modelle und Methoden Klinischer Ethikberatung
52
3.3.1. Beratungsmodelle
52
3.3.2. Voraussetzungen erfolgreicher Ethikberatung
54
3.3.2.1. Zugang zur Ethikberatung
55
3.3.2.2. Qualifizierung der Beratenden
56
3.3.2.3. Ablauf der Beratungsgespräche
58
3.3.2.4. Dokumentation der Beratung
66
3.3.2.5. Evaluation der Beratung
68
3.3.3. Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission
70
3.4. Das Krankenhaus als Ort Klinischer Ethikberatung
71
3.4.1. Strukturen, Entwicklung, Trägerschaft
71
3.4.2. Ethische Konflikte im Krankenhaus
74
3.5. Zusammenfassung des Kapitels
76
4. Rahmenbedingungen am Klinikum Nürnberg
77
4.1. Allgemeine Rahmenbedingungen des Klinikums
77
4.1.1. Strukturen und Entwicklung
77
4.1.2. Vergütung und Leistungszahlen
79
4.2. Spezifische Rahmenbedingungen der Ethikberatung
82
4.2.1. Ethikprojekt als Organisationsentwicklung
82
4.2.2. Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
88
4.2.3. Medizinische Klinik 4 für Nieren- und Hochdruckkrankheiten
93
4.3. Zusammenfassung des Kapitels
95
5. Mitarbeiterbefragung zu ethischen Fragen in der Med. Klinik 4
96
5.1. Befragungskollektiv
97
5.2. Befragungsinstrument
97
5.3. Ergebnisse
98
5.3.1. Teilnehmer, Berufsgruppen, Funktion
98
5.3.2. Ethik-Konflikte in den letzten zwölf Monaten
99
5.3.3. Persönliche Belastung durch ethische Konflikte
99
5.3.4. Häufigkeit und Wichtigkeit ethischer Konflikte
101
5.3.5. Ethische Probleme und Personengruppen
108
5.3.6. Ursachen ethischer Konflikte
109
5.3.7. Wichtigkeit ethischer Konflikte in den Berufsgruppen
111
5.3.8. Anerkennung der Bedeutung am Arbeitsplatz
112
5.3.9. Gesprächspartner für ethische Konflikte
112
5.3.10. Klinikinterne Ansprechpartner für ethische Konflikte
114
5.3.11. Wichtige Ethikangebote in der Klinik
115
5.4. Diskussion
117
5.4.1. Gemeinsamkeiten der Berufsgruppen
118
5.4.2. Unterschiede der Berufsgruppen
121
5.4.3. Lösungsstrategien der Berufsgruppen
124
5.5. Zusammenfassung des Kapitels
126
6. Evaluation der Ethikberatungen des Ethikkreises von 1999 bis 2011 127
6.1. Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4
127
6.1.1. Entstehungsgeschichte
127
6.1.2. Selbstverständnis
129
6.1.3. Strukturen
129
6.1.4. Abläufe
130
6.1.5. Entscheidungshilfen
132
6.2. Evaluationsmethode
133
6.2.1. Anzahl und Form der Beratungsprotokolle
133
6.2.2. Auswertungsbogen
134
6.3. Ergebnisse
135
6.3.1. Geschlecht und Alter der Patienten
135
6.3.2. Fragestellungen in der Ethikberatung
136
6.3.3. Teilnehmende Gesprächspartner
137
6.3.4. Orientierung und Kontaktfähigkeit
138
6.3.5. Kenntnis des Patientenwillens
139
6.3.6. Patientenverfügungen
140
6.3.7. Anzahl der Beratungsgespräche
140
6.3.8. Gesprächsverlauf
140
6.3.9. Konsensbildung
143
6.3.10. Empfehlungen
145
6.4. Diskussion
149
6.4.1. Datengrundlage
149
6.4.2. Methode der Untersuchung
151
6.4.3. Zugang, Teilnehmende, Initiative
155
6.4.4. Qualifikation
157
6.4.5. Gesprächsverlauf
157
6.4.5.1. Themen und Fragestellungen
157
6.4.5.2. Kontroverse oder Konsens
158
6.4.5.3. Empfehlungen
162
6.4.5.4. Rat oder Beratung
163
6.4.5.5. Modell „Ethikkreis“
165
6.4.6. Dokumentation
167
6.4.7. Evaluation und Entwicklungspotenzial
169
6.4.8. Entwicklung von Vergleichen und Kennzahlen
173
6.5. Zusammenfassung des Kapitels
176
7. Schlussfolgerungen
177
8. Literatur
179
9. Anhang
196
9.1. Allgemein
9.1.1. Hippokratischer Eid
196
9.1.2. Nürnberger Kodex 1947
197
9.1.3. Nürnberger Kodex 1997
199
9.2. Klinikum Nürnberg
9.2.1. Ethik-Code Klinikum Nürnberg
205
9.2.2. Mitglieder des Ethikforums
206
9.2.3. Zum Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden
207
9.2.4. VaW-Anordnung (Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen)
211
9.3. Medizinische Klinik 4
9.3.1. Informationsschreiben zur Mitarbeiterbefragung
213
9.3.2. Fragebogen der Mitarbeiterbefragung
214
9.3.3. Auswertungsbogen zur Ethikberatung
216
9.3.4. Beispielprotokolle im Original
217
9.3.5. Informationstexte zum Ethikkreis für Mitarbeiter
222
9.3.6. Informationsblatt zum Ethikkreis für Patienten
225
I. Zusammenfassung
Hintergrund und Ziele: Die rasante Entwicklung der Medizin, insbesondere der
Intensivmedizin, verlangt von Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegenden
gerade am Ende des Lebens häufig schwierigste Entscheidungen. Um diese oft
ambivalent erlebten Situationen im Sinne aller Beteiligter zu tragfähigen Lösungen
zu führen, verbreitet sich seit den 1990er Jahren das Instrument der Ethikberatung.
Sie fördert gemeinsame Entscheidungsfindungen mit professioneller Moderation.
Seit 1997 arbeitet in der Medizinischen Klinik 4 im Klinikum Nürnberg eine der
ersten Ethikberatungen Deutschlands. Die vorliegende Studie untersucht die
Beratungen des sogenanten „Ethikkreises“ im Kontext der historischen Entwick lung einer patientenorientierten Medizin mit ihren spezifisch Nürnberger Bezügen.
Methoden: Für den Zeitraum von 1999 bis 2011 liegen 257 Beratungsprotokolle
vor, die deskriptiv-quantitativ analysiert wurden – einer der größten international
publizierten Datenbestände. Ergänzt wird die Analyse durch die Auswertung einer
im Jahr 2007 in der Medizinischen Klinik 4 ebenfalls vom Autor durchgeführten
Mitarbeiterbefragung (N=105) zum Erleben ethischer Themen im Klinikalltag.
Ergebnisse und Beobachtungen: 57% der Beratungen fanden mit dem Patienten
statt, 43% ohne ihn; er war zu 43% kontaktfähig, zu 19% eingeschränkt und zu
26% nicht kontaktfähig (12% unklar). Der Patientenwille war in 58% direkt oder
indirekt bekannt und eindeutig, in 19% ambivalent, bei 23% unklar. 89% der
Beratungen erzielten einen Konsens, in 96% erfolgte eine Empfehlung. Der
„Ethikkreis“ gab 331 Empfehlungen. Von 163 zur Dialyse votierten 81 für deren
Fortsetzung, 82 für eine Beendigung; ein bemerkenswertes Ergebnis, das die
Ausgewogenheit der Beratungen bestätigt. Die Mitarbeiterbefragung bestätigt die
Relevanz ethischer Konflikte für Ärzte wie Pflegende. Beide bewerten deren
Anlässe, Häufigkeit und Schwere sehr ähnlich. Auch bei der Diskrepanz zwischen
Beratungsbedarf und der Anforderung einer Ethikberatung stimmen beide überein.
Schlussfolgerungen: Ethikberatungen stärken partizipative Entscheidungen und
wirken patienten- und lösungsorientiert. Die enge Anbindung an die Klinik scheint
erfolgversprechend. Aufgrund ihrer Ergebnisse sollte die Klinische Ethikberatung
weiter ausgebaut sowie kontinuierlich wissenschaftlich evaluiert werden.
1
II.
Abstract
Objective. Clinical ethics consultation is still a relatively new service within
german hospitals. Facing the fast technological progress in medicine, especially
within intensive care, and the increasing legal pressure, it was established to
strengthen the systematic process of ethical and shared decision making and to
assist viable and sustainable clinical decisions among doctors, nurses, patients and
families. Reflecting the principle of informed consent and the historical development of patient-orientation within medicine, the purpose of this study was to
review one of Germany´s most experienced ethics consultation services at a
department of nephrology and hypertension of a tertiary care community hospital.
Methods. Retrospective and descriptive analysis of the documentation of 257
clinical ethics consultations between 1999 and 2011, which represents one of the
largest published databases in literature. This analysis was complemented by a
questionnaire in 2007 among doctors and nurses concerning ethical conflicts.
Results. 57% of the consultations involved patients. 43% of all patients were
oriented and able to communicate, 19% were only partially oriented, 26% not
orientated (12% not documented). The patient´s will was known in 58% of all
cases, in 19% it was ambivalent and uncertain, in 23% unknown. 89% of the
consultations ended with a consensus, in 96% one ore more recommendations
were given. The consultation team gave 331 recommendations, 70% delt with endof-life decisions. Of 163 recommendations concerning dialysis, 81 favored to
continue, 82 to withdraw dialysis – a remarkable result showing the very balanced
consultations of the ethics-team. The questionnaire underlined the relevance of
ethical conflicts, and it showed among doctors and nurses common attitudes and
estimations concerning ethical issues, frequency and severity. It also showed for
both groups the gap between their demand for ethics consultation and the use of it.
Conclusions. Ethics consultations strengthen patient-orientation and viable
solutions within ethical conflicts. The model of a department-based ethics-team
shows an accepted strategy to implement a consultation service within a large
hospital. Ethics consultations should be spread widely and evaluated scientifically.
2
1. Einleitung
„Die Zeugnisse sind über alle menschlichen Maße furchtbar geblieben.
Keine Zeit wird sie je mildern können. Heute wie zur Zeit des Prozesses,
der die Vorgänge der Welt offenbar machte, müssen wir die Frage stellen,
wie man diese Ungeheuerlichkeiten in unser aller wirkliche Erfahrung
einordnen kann.“1
Mit diesen Zeilen leiten Alexander Mitscherlich und Fred Mielke 1960 ihre
Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/47 ein, die diesmal unter
dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ auch verbreitet wurde. Im Ärzteprozess
hatten deutsche Ärzte wegen ihrer Menschenversuche in KZs, dem „Euthanasie“Programm und der Massensterilisation vor einem US-Militärgericht gestanden.
Die Absicht der Dokumentation, so die Herausgeber, berühre nicht die Ebene
des Juristischen. Sie zeigte vielmehr die „wissenschaftliche Arbeitsweise“, „den
ärztlichen Stil im Umgang mit Kranken oder Versuchspersonen“ und das „Milieu,
in dem sich diese ärztlichen oder wissenschaftlichen Tätigkeiten abspielten“.
Am Ende des Ärzteprozesses sprachen die Richter nicht nur ihr Urteil. Sie
formulierten auch zehn ethische Grundsätze für zulässige medizinische Versuche
am Menschen, den Nürnberger Kodex. Darin betonten sie den „informed consent“,
die informierte und freiwillige Einwilligung des Patienten nach bestmöglicher
Aufklärung, und ermahnten die Forscher „zu mehr Achtung gegenüber dem
unveräußerlichen Recht und Interesse ihrer Versuchspersonen“, so Jay Katz 1996
auf dem Nürnberger Kongress „Medizin und Gewissen – 50 Jahre nach dem
Nürnberger Ärzteprozess“. Dieses Ziel aber, resümiert damals der amerikanische
Medizinethiker, sei ein bis heute „unabgegoltenes Vermächtnis“ der Richter.2
Das Prinzip des „informed consent“ bildet damit den historischen, normativen,
aber auch ideell-persönlichen Hintergrund der vorliegenden Arbeit. Sie untersucht
ein klinisches Beratungsangebot, den „Ethikkreis“ der Medizinischen Klinik 4 am
Klinikum Nürnberg, das vom Kongress „Medizin und Gewissen“3 inspiriert wurde
und seit 1997 zu den ältesten und aktivsten Ethikberatungen in Deutschland zählt.
Die Arbeit schlägt daher den Bogen vom „informed consent“ medizinischer
Forschung zum „shared-decision-making“ der täglichen Krankenversorgung –
insbesondere in den schwierigen Entscheidungssituationen am Ende des Lebens,
dem häufigsten Ausgangspunkt Klinischer Ethikberatungen.
1
Mitscherlich/Mielke (1947), (1949), (1960), S. 7. Die Erstauflage wurde vielfach verschwiegen.
Katz (1998), S. 241.
3
Kolb/Seithe (1998).
2
3
Eine Untersuchung zur Klinischen Ethikberatung mit einem Verweis auf den
Nürnberger Ärzteprozess einzuleiten, mag auf den ersten Blick überraschen. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass ein solcher Ansatz weit mehr ist als eine
Referenz an den Prozess und an eine Stadt, die sich heute in beispielhafter Weise
ihrer nationalsozialistischen Geschichte stellt und die Idee der Menschenrechte
vielfältig fördert. Der Verweis auf den Nürnberger Ärzteprozess ist vor allem
inhaltlich begründet, weil sich damit die folgenreiche Entwicklung der Medizin als
Naturwissenschaft aufzeigen und zuspitzen lässt; eine Entwicklung, die das Wesen
der Beziehung von Arzt und Patient grundsätzlich veränderte. In gewisser Hinsicht
verdinglichte die Medizin den Patienten zum Objekt – zum Objekt eines auf der
experimentellen Empirie basierenden medizinischen Denkstils. 4
In Bezug auf diese Entwicklung der Medizin im 19. und 20. Jahrhundert und
auch auf die vor über 60 Jahren in Nürnberg verhandelten ärztlichen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit entwickelte der „Vater der Psychosomatik“, Viktor von
Weizsäcker, seine Vision einer Medizin, die sich vor allem durch eines definiert:
Den Umgang des Menschen mit dem Menschen. Von Weizsäcker arbeitete in den
zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts an der Universitätsklinik in
Heidelberg, wo „auch die Einbeziehung nicht-wissenschaftlicher Methoden in das
klinische Denken sowie eine Offenheit für die Erkenntnisse der Psychoanalyse das
allgemeine Klima kennzeichneten“, so schreibt der Journalist Rainer Appel in
einer Würdigung Viktor von Weizsäckers zu dessen hundertstem Geburtstag.
Unter der Leitung des Internisten Ludwig von Krehl sei eine „Heidelberger Schule
der Medizin“ entstanden, „die das Scheitern einer rein naturwissenschaftlich
ausgerichteten Medizin auf die einfache Formel brachte: Krankheiten als solche
gibt es nicht, es gibt nur kranke Menschen.“ 5
Den „wichtigsten und originellsten Beitrag dieser Heidelberger Schule“, so
Rainer Appel habe von Weizsäcker als Begründer der Anthropologischen Medizin
geleistet. „Im Rahmen seiner klinischen und physiologischen Studien ist er zu dem
Ergebnis gelangt, dass die objektivierenden Verfahren der Naturwissenschaft die
lebendige Wirklichkeit verfälschten“.6 Seine Kritik habe sich daher stets gegen die
cartesianische Subjekt-Objekt-Spaltung gewandt, die er durch das, was er Umgang
mit dem Patienten nannte, zu überwinden versuchte.
4
In Anlehnung an die Wissenschaftstheorie von Thomas S. Kuhn.
Vgl. Rainer Appel in der FAZ am 21. April 1986, S. 27, unter dem Titel „Geduldeter Fremdling“.
6
Ebd.
5
4
Vor diesem Hintergrund bezieht sich die vorliegende Arbeit auf die Idee einer
Medizin, in der weder allein der Patient noch der Arzt im Mittelpunkt stehen,
sondern vielmehr die Beziehung beider. Diesen beziehungstheoretischen Ansatz,
der bei Viktor von Weizsäcker auch vom dialogischen Prinzip Martin Bubers
inspiriert wurde, greifen später weitere Vordenker der psychosomatischen Medizin
wie etwa Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack auf und entwickeln ihn
weiter. Für sie ist die Medizin ihrem Wesen nach immer „gemeinsame
Angelegenheit“ beider: eine Sache von Patienten und Ärzten.
Es ist wohl kein Zufall, dass ein solches Grundverständnis der Medizin
ausgerechnet von Ärzten formuliert wurde, die sich selbstkritisch auch mit dem
Nürnberger Ärzteprozess und seinen wissenschaftstheoretischen und historischen
Voraussetzungen beschäftigt hatten, insbesondere mit der Entwicklung der
Medizin als Naturwissenschaft. In ihrem Sinne war das Wohl des Patienten
weniger mit dem Wohl der Volksgesundheit oder einem „schillernden Begriff der
Gesundheit“ 7 verbunden, sondern vielmehr mit dem Anspruch einer Stärkung der
Autonomie und Selbstverantwortung des Patienten. Für diese Stärkung wiederum
war das Prinzip des „informed consent“ des Nürnberger Kodex von wegweisender
Bedeutung. Für das Humanexperiment gedacht, lässt es sich nicht nur auf die
Forschung anwenden, sondern auch auf den klinischen Alltag.
In diesem Sinne beziehen sich die folgende Untersuchung von Ethikberatungen
und insbesondere das Kapitel der Einführung auch auf die Begründer der
psychosomatischen Medizin, auf Viktor von Weizsäcker, seinen Schüler
Alexander Mitscherlich – den Leiter der offiziellen Beobachterkommission im
Nürnberger Ärzteprozess – und auf Thure von Uexküll, der als ein weiterer „Vater
der Psychosomatik“ in Deutschland gilt. Neben ihnen basieren die Bezugspunkte
dieser Arbeit auch auf Arbeiten der Psychiater und Psychoanalytiker Klaus
Dörner, Robert Lifton, Horst Eberhard Richter und Alice von Platen-Hallermund.
Wie schon der Verweis auf den Nürnberger Ärzteprozess mag auch der Bezug
auf das Fach Psychosomatik und ihre Vertreter in einer Untersuchung von
Ethikberatungen
überraschen.
Bei
näherer
Betrachtung
der
spezifischen
Rahmenbedingungen und Herausforderungen von Psychosomatik und Klinischer
Ethikberatung finden sich allerdings zahlreiche Parallelen: in Fragen der
theoretischen Konzeption wie auch der praktischen Umsetzung.
7
Uexküll/Wesiack (1991), S. 610.
5
Beide, Psychosomatik wie Ethikberatung, basieren auf einem ähnlichen
Verständnis einer ganzheitlichen Betrachtung des kranken Menschen. Beide
wirken auch als Vermittler und Katalysatoren der Arzt-Patienten-Beziehung; beide
agieren in einem klinischen Umfeld, das einer umfassenden medizinischen,
psychischen und sozialen Begleitung von Patienten noch immer zu wenig
Aufmerksamkeit schenkt; und beide, Psychosomatik wie Ethikberatung, benötigen
angemessene Strategien der Implementierung, um ihre Kompetenzen und Dienste
im klinischen Alltag nachhaltig verorten zu können.
Selbstverständlich geht es um sehr unterschiedliche Dimensionen – einerseits
um die Anerkennung und Einführung eines komplexen Fachgebietes, andererseits
um die Akzeptanz einer einzelnen „Dienstleistung“. Aber angesichts ähnlicher
Ziele und Rahmenbedingungen ist eine vergleichende Betrachtung beider
naheliegend und aufschlussreich. Die Erfahrungen der vergangenen drei
Jahrzehnte aus der Implementierung psychosomatischer Dienste können für die
weitere Entwicklung der Klinischen Ethikberatung auch als umschriebener
einzelner Dienstleistung hilfreich, wenn nicht wegweisend sein.
Angesichts dieser Parallelen überrascht es vielleicht nicht mehr, dass im
interdisziplinären Team des „Ethikkreises“ der Medizinischen Klinik 4 im
Klinikum Nürnberg seit seinem Beginn auch die psychosomatische Klinik des
Klinikums integriert ist. Da die in dieser Arbeit herausgestellten Zusammenhänge
von Psychosomatik und Ethikberatung bisher in der wissenschaftlichen Literatur –
weder damals noch heute – explizit thematisiert wurden, müssen andere Gründe in
Nürnberg diese frühe Zusammenarbeit befördert haben: vielleicht war es die
bereits bestehende Kooperation zwischen Nephrologie und Psychosomatik, eine
entsprechende Intuition der Beteiligten oder purer Zufall? Die Voraussetzungen im
Klinikum Nürnberg waren jedenfalls günstig.
Schon 1980 hatte das Klinikum Nürnberg als eines der ersten Krankenhäuser in
Deutschland eine eigenständige psychosomatische Abteilung eingerichtet, die eine
16-Betten-Station unterhielt, einen Liaison- und Konsultationsdienst betrieb, sich
an der Weiterbildung von Ärzten für die Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“
beteiligte sowie eine psychosomatische Zusatzausbildung für das Pflegepersonal
organisierte.8 Vor allem der Liaison- und Konsultationsdienst, für den das
Klinikum bundesweit bekannt wurde, spielt für diese Arbeit eine wichtige Rolle.
8
Pontzen (1990).
6
Die Klinische Ethikberatung ist national wie international im Rahmen der
stationären Versorgung eine vergleichsweise junge „Dienstleistung“. In Form
moderierter Gespräche soll sie Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen
dabei helfen, bei schwierigen Entscheidungen gemeinsam tragfähige Lösungen zu
finden. Seit 2006 wird die Einrichtung einer Ethikberatung von der Zentralen
Ethikkommission an der Bundesärztekammer explizit empfohlen. Der „Ethikkreis“
der Medizinischen Klinik 4 im Klinikum Nürnberg praktiziert sie bereits seit 1997.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage, ob und wie eine solche
Ethikberatung dazu beiträgt, patientenorientierte Entscheidungen herbeizuführen,
an denen im besten Fall ein informierter Patient mitwirkt oder sein mutmaßlicher
Wille Berücksichtigung findet. Dazu wurden 257 Beratungsprotokolle des
„Ethikkreises“ aus der Zeit von 1999 bis 2011 ausgewertet sowie eine Mitarbeiterbefragung aus dem Jahr 2007, die in der Medizinischen Klinik 4 das persönliche
Erleben und Bewerten ethischer Fragen von Ärzten und Pflegenden erhoben hatte.
Inzwischen bietet bundesweit etwa jedes fünfte Krankenhaus Ethikberatungen
an bzw. entwickelt diese. Wenige Kliniken verfügen allerdings über mehrjährige
Erfahrungen oder umfangreiche Dokumentationen. Deshalb ist die Zahl von 257
Protokollen der zweitgrößte bisher untersuchte Datenbestand. Die Protokolle, vor
allem aus den ersten Jahren, erfüllen zwar nicht sämtlich die seit 2010 in
Deutschland empfohlenen Dokumentationsstandards, aber sie stellen einen
besonders umfangreichen Erfahrungsschatz zur Praxis der Ethikberatung dar.
Vor diesem Hintergrund ist das primäre Ziel der vorliegenden Arbeit, den
Mitgliedern des Ethikkreises und dem Klinikum Nürnberg anhand der Protokolle,
der Mitarbeiterbefragung und des aktuellen Forschungsstandes eine Auswertung
ihrer bisherigen Beratungen zu liefern und sie in der weiteren Entwicklung ihres
Angebotes zu bestärken.
Zunächst vermittelt das zweite Kapitel die zentralen Bezugspunkte der Arbeit.
Es sind dies: die geschichtlichen Hintergründe, die in Nürnberg verhandelt
wurden; der Nürnberger Kodex mit seinem prägenden Prinzip der informierten
Zustimmung; die patientenzentrierte und integrierende Theorie der Medizin der
Psychosomatik; das Selbstverständnis der Heilberufe, Experten und Partner ihrer
Patienten zu sein; die Patientenautonomie als moralisches Recht mit ihren
Konsequenzen für Individuen und Institutionen, sowie das Konzept partizipativer
gemeinsamer Entscheidungsfindungen, das sogenannte „shared-decision-making“.
7
Das dritte Kapitel führt in die Grundlagen Klinischer Ethikberatung ein. Es
beschreibt die historische Entwicklung international wie national, schildert die
Modelle und Methoden etablierter Ethikberatungen und benennt wesentliche
Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung wie etwa Qualifikation, Zugang
oder Gesprächsverlauf. Dabei wird deutlich, dass sich im Zuge der Entwicklung
von Ethikberatungen sehr unterschiedliche Modelle herausgebildet haben – vom
Einzelberater, dem kleinen Konsil-Team bis zum umfangreichen Ethikkomitee.
Ergänzend dazu werden die allgemeinen Rahmenbedingungen und Rationalitäten
von
Krankenhäusern
aufgezeigt,
dem
institutionellen
Ort
Klinischer
Ethikberatung. Hier hat die Einführung der Abrechnung nach diagnosebezogenen
Fallpauschalen (DRG-System) in den vergangenen Jahren zu einem erheblichen
Kostendruck, zur Veränderung von Strukturen und Prozessen und zu einer
Verdichtung der Arbeit geführt.
Daran anschließend stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels die spezifischen
Rahmenbedingungen des Kommunalunternehmens Klinikum Nürnberg sowie
seiner Medizinischen Klinik 4 mit dem Schwerpunkt Nieren- und Hochdruckkrankheiten. Sowohl das Gesamtklinikum als auch die Einzelklinik nehmen auf
dem Gebiet der Klinischen Ethik in Deutschland eine Vorreiterrolle ein – die
Klinik seit 1997 mit dem „Ethikkreis“ und seinen Ethikberatungen, das gesamte
Klinikum seit 1999 mit einem umfangreichen „Ethikprojekt“, dem bundesweit
ersten dieser Art an einem Krankenhaus der Maximalversorgung. Auch mit der
Etablierung einer eigenständigen Klinik für Psychosomatik beschritt das Klinikum
Nürnberg Anfang der 1980er Jahre bundesweit Neuland – eine Innovation, die wie
erwähnt, auch für die Klinische Ethik von Bedeutung ist.
Das fünfte Kapitel ist dem ersten Schwerpunkt der Arbeit gewidmet. Es stellt
die Ergebnisse der Befragung zu ethischen Themen im Berufsalltag aller
Mitarbeiter in der Medizinischen Klinik 4 dar, die im Sommer 2007 erhoben
wurde. Die Befragung erfolgte anlässlich des zehnjährigen Bestehens der
Ethikberatung des „Ethikkreises“ und liefert aufschlussreiche Einblicke in die
Einschätzung ethischer Themen von Ärzten und Pflegenden. Sie zeigt dabei nicht
nur Unterschiede, sondern vor allem viele Gemeinsamkeiten. Dabei wird
allerdings auch eine Diskrepanz zwischen theoretischen Wünschen und praktischer
Nutzung sichtbar, selbst in Bezug auf das bereits bekannte und etablierte Angebot
der klinikinternen Ethikberatung.
8
Darauf aufbauend folgt im sechsten Kapitel der zweite Schwerpunkt der Arbeit,
die Auswertung der insgesamt 257 Protokolle des Nürnberger „Ethikkreises“. Die
Protokolle zeigen einen Fokus in der Begleitung schwieriger Entscheidungen am
Lebensende, insbesondere bei Fragen zum Beginn, zur Fortführung oder zur
Beendigung einer Dialyse. Im Hinblick auf den Ruf und die Akzeptanz des
„Ethikkreises“ ist dabei vor allem die ausgewogene Verteilung der Empfehlungen
bei Entscheidungen zur Fortsetzung oder Beendigung von Dialysen interessant.
Bei den übrigen Entscheidungen am Lebensende zeigt sich eine gewisse Tendenz
zur Beendigung bzw. zum Überdenken von Therapiezielen (Palliativtherapie).
Auch das spezifische Modell des „Ethikkreises“ wird bewertet, das sich vor
allem durch eine besondere Nähe zum stationären Alltag auszeichnet. Zudem
werden die Unterschiede von „Rat“ und „Beratung“ hinterfragt. Den Rahmen der
Diskussion im sechsten Kapitel bilden die im zweiten Kapitel dargelegten
Bezugspunkte, insbesondere der Nürnberger Kodex und die Frage, inwiefern
Ethikberatungen dazu beitragen, den im Kodex formulierten Anspruch einer
informierten Zustimmung und Selbstbestimmung der Patienten zu fördern.
Dabei zeigt sich, dass es dem Klinikum Nürnberg und dem „Ethikkreis“ der
Medizinischen Klinik 4 mit diesem Angebot gelungen ist, institutionelle und
personelle Voraussetzungen zu schaffen, die eine situationsbedingte Patientenautonomie fördern und gemeinsame Entscheidungsfindungen von behandelnden
Ärzten und Pflegenden sowie Patienten, Angehörigen und Betreuern ermöglichen.
Ergänzend folgt eine Reihe von praktischen Anregungen für die Dokumentation
von Ethikberatungen sowie für die Entwicklung von Kennzahlen, die sich
klinikübergreifend im Sinne der Klinischen Ethik für das Qualitätsmanagement
und die Öffentlichkeitsarbeit eignen.
Das siebte Kapitel zieht Schlussfolgerungen für den „Ethikkreis“ und die
weitere Entwicklung bzw. Evaluation von Ethikberatungen am Klinikum Nürnberg
und andernorts. Im Blick auf Erfahrungen des Nürnberger „Ethikkreises“, andere
Modelle von Ethikberatung und die Erfahrungen der Psychosomatik schlage ich
abschließend vor, eine Art Ethischer-Liaison-Dienst zu favorisieren und weiter zu
verbreiten, da dieser – anders als ein reiner Konsildienst – eine enge Einbettung
der Ethikberatung und ihrer Akteure in den Klinik- und Stationsalltag vorsieht und
so die vermutlich größte Nachhaltigkeit verspricht.
9
2. Historische und theoretische Bezugspunkte
2.1. Medizin ohne Menschlichkeit
Der Nürnberger Ärzteprozess bildete 1946/47 den bedrückenden und leider nur
vorläufigen Schlusspunkt einer langen Entwicklung. Im Jahrhundert hatte sich die
Medizin mitsamt ihren Methoden immer stärker als Naturwissenschaft verstanden
und zu einem dynamischen und teilweise wenig kontrollierten Experimentierfeld
entwickelt. Auch wenn bahnbrechende Entdeckungen, etwa auf dem Gebiet der
Bakteriologie, die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung rapide und
nachhaltig verbesserten, gehörten auch fragwürdige und gesundheitsgefährdende
Menschenversuche zum weithin tolerierten und publizierten Repertoire der
Medizin – darunter viele Versuche an Menschen ohne jede Form der Information
oder freien Zustimmung der jeweils beteiligten Probanden oder Patienten. 9
Diese Entwicklung mündete in der Zeit des Nationalsozialismus in die
menschenverachtenden, grausamen und nicht selten tödlichen Experimente an KZGefangenen: z.B. Höhenexperimente, Unterkühlungsversuche, Versuche mit den
Erregern von Malaria, Gelbsucht oder Fleckfieber sowie Sterilisationsexperimente.
Diese und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden ab Oktober 1946
vor dem Amerikanischen Militärgericht im Nürnberger Ärzteprozess verhandelt.
23 Personen waren angeklagt: 20 Ärzte (darunter eine Frau) und drei Mitarbeiter. 10
Am 20. August 1947 schloss das Gericht den Prozess nach 139 Gerichtstagen mit
der Verkündung des Urteils ab. Es verurteilte sieben Angeklagte zum Tode, fünf
zu lebenslanger Haft, drei zu langen Haftstrafen und sprach sieben Beschuldigte
von der Anklage frei. Der Medizinhistoriker Richard Toellner stellt hierzu fest,
„dass im Nürnberger Ärzteprozess zum ersten Mal der Umfang der
Verbrechen, das Ausmaß der Greuel, die deutsche Ärzte an wehr- und hilflosen
Menschen verübt hatten, sowie die Reichweite der menschenverachtenden
Mordtaten unwidersprechlich der Weltöffentlichkeit in ihren Umrissen sichtbar
wurden, auch da, wo die Verbrechen, weil von Deutschen an Deutschen verübt,
nicht Gegenstand der Anklage des amerikanischen Militärgerichtshofes waren,
wie im Falle der Aktion T4, der sogenannten Euthanasie-Aktion, durch die
allein in ihrer offiziellen Phase (1939-1941) über 70.000 geistig und körperlich
behinderte Menschen von Ärzten heimtückisch und grausam ermordet wurden,
durch die methodisch und organisatorisch der Genozid, der Holocaust,
eingeübt wurde.“11
9
Hohendorf/Magull-Seltenreich (1990),Annas/Grodin (1992), Gerst (1994), Baader (1980),
(1998), Böhme (2008), Bruns/Frewer (2008), Dörner (1999), Winau (1998), Eckart (2009),
Frewer (2000) und (2007), Schmidt/Frewer (2008).
10
Mitscherlich/Mielke (1960), Weindling (2006).
11
Toellner (1998), S. 289.
10
Ohne dem ärztlichen Berufsstand in Deutschland eine kollektive Schuld und
Beteiligung an diesen Verbrechen zu unterstellen, ist dennoch hinreichend belegt,
dass eine weitaus größere Zahl von Ärzten als die in Nürnberg Angeklagten einem
medizinischen oder wissenschaftlichen Denkstil anhingen, der weder die Versuche
an Menschen noch die Praxis der „Euthanasie“ verhindert hatte. Im Gegenteil: Das
ärztliche Selbstverständnis und die medizinischen Methoden hatten sich im Laufe
des 19. Jahrhunderts so geändert, dass Ärzte nicht selten zu Forschenden wurden
und ihre Patienten zum naturwissenschaftlichen Objekt ihres Handelns.
Nach dem Studium der Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, die seine
Schüler Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice von Platen-Hallermund
gesammelt und kommentiert hatten, kam auch der Heidelberger Lehrstuhlinhaber
und Begründer der Psychosomatik Viktor von Weizsäcker 12 in seiner Arbeit
„Euthanasie und Menschenversuche“ zu dem Schluss:
„[…] es kann wirklich kein Zweifel darüber bestehen, dass die moralische
Anästhesie gegenüber den Leiden der zu Euthanasie und Experimenten
Ausgewählten begünstigt war durch die Denkweise einer Medizin, welche den
Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein
Versuchskaninchen.“13
Dieser Denkweise setzte von Weizsäcker ein Verständnis von Natur, Wissenschaft
und letztlich auch Medizin entgegen, das integrierend und menschlich wirkt:
„Die Einführung des Subjekts hat nicht etwa die Bedeutung, dass die
Objektivität eingeschränkt würde. Es handelt sich weder um die Subjektivität
allein noch um Objektivität allein, sondern um die Verbindung beider. Eben
darum ist nun hier doch eine Veränderung des Wissenschaftsbegriffes zu
bemerken. Wissenschaft gilt nämlich hier nicht als objektive Erkenntnis
schlechthin, sondern Wissenschaft gilt als eine redliche Art des Umgangs von
Subjekten mit Objekten. Die Begegnung, der Umgang, ist also zum Kernbegriff
der Wissenschaft erhoben.“14
Die wissenschaftstheoretische Kritik, die sich hier ankündigt – immerhin hatten
die Revolutionen der Physik am Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellungen
der Biologie und Medizin nicht erschüttern können – soll hier nicht weiter vertieft
werden. Für die später zu erörternde Rolle der Psychosomatik als Vorbild der
Ethikberatung erscheint mir aber schon jetzt der Hinweis wichtig, dass Biologie
und Medizin eher die Integration als die Aufspaltung suchen müssten.
12
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Rolle Viktor von Weizsäckers in der NS-Zeit
seit den 1970er Jahren durchaus kontrovers diskutiert wird. Vgl. u.a. Kütemeyer (1973), WuttkeGroneberg (1980), Roth (1986), Dörner (1988), Rimpau (1990), Peter (1996), Böhme (2008).
13
Weizsäcker (1985-2005) Bd. 5, S. 134.
14
Ebd.
11
In diesem Zusammenhang weist der Psychiater Horst Eberhard Richter darauf hin,
dass im Nürnberger Ärzteprozess die Verteidigung die Frage aufgeworfen hatte,
„ob man dem Forscherarzt nicht die Befolgung des hippokratischen Eides in der
strengen Form erlassen können, wie diese den praktizierenden Arzt binde“.15 Für
diesen Vorschlag habe die Verteidigung teilweise sogar Verständnis erhalten. Zwei
der Prozessbeobachter für die Westdeutschen Ärztekammern, Alexander
Mitscherlich und Fred Mielke, hätten dagegen argumentiert, „dass die Trennung in
Forscher und Helfer mit verschiedenem Moralkodex nicht allein den Begriff des
Arzttums sprenge, sondern zu zwei verschiedenen Humanitätsbegriffen führt.“16
Richter spricht in diesem Zusammenhang von einem Selbstbetrug, dem Ärzte
erliegen könnten. Kompliziert, so der Begründer der Psychosomatik an der Universität Gießen, werde das Problem dadurch, dass dem Arzt seine „professionelle
Spaltung leicht entgehen kann, wenn er eine nämlich eine gewisse fachliche
Partialmoral als die eigentliche erlebt, zum Beispiel die penible Einhaltung von
Sauberkeit und Exaktheit in der naturwissenschaftlichen Methodik“.17 Versuche an
Menschen seien zum Teil von Ärzten vorgenommen worden, die dabei mit „aller
gebotenen fachlichen Gründlichkeit und Sorgfalt“ vorgegangen seien. Es gebe, so
Richter, demnach auch eine „gewissenlose Gewissenhaftigkeit, mit der man sich
selbst trügerisch beschwichtigen könne“. Und so entstünde die
„Gefahr einer moralischen Korruption, die mit dem Kunststück zusammenhängt, dass der Arzt täglich zwei grundverschiedene Sichtweisen vom
Menschen in sich verbinden soll. Da ist einerseits die verdinglichende,
naturwissenschaftliche [Art], in der er Daten analysiert und ingenieurhaft
reparierend in körperliche Funktionen eingreift. Andererseits ist da die
personale Sichtweise, die Viktor von Weizsäcker mit der Formel gemeint hat:
,Medizin ist die Weise des Umgangs des Menschen mit dem Menschen‘. Darin
ist der Arzt der sich Einfühlende, der Zuhörende, der am Schicksal und an den
Konflikten des Anderen Anteilnehmende. Aber der laufend zunehmende
Aufwand für das naturwissenschaftliche Sehen und Denken kann für den Arzt
bedeuten, dass die vergegenständlichende Betrachtungsweise in ihm überhand
gewinnt. Daß er im beruflichen Handeln seine Gefühle weitgehend abschaltet
und sie nur noch kompensatorisch im Privatbereich unterzubringen
versucht.“18
Dieses Bild der Spaltung und Verdrängung wird Mitte der 1980er Jahre durch eine
viel beachtete Arbeit bestärkt und auf die Ärzte im „Dritten Reich“ angewandt.
15
Richter (1997), S. 24.
Ebd.
17
Ebd.
18
Ebd.
16
12
Auf der Grundlage hunderter Interviews mit Tätern, Opfern und sogenannten
Mitläufern sowie der umfangreichen Analyse tausender Prozessdokumente aus
Nürnberg beschäftigte auch den amerikanischen Psychiater und Psychologen
Robert J. Lifton letztlich die Tatsache,
„dass gerade Mediziner, dazu berufen, zu helfen und zu heilen und Leben zu
retten, in großer Zahl dafür gewonnen werden konnten, das Vernichtungsgeschäft der Nationalsozialisten mitzumachen oder gar voranzutreiben.
Angefangen bei der biologisch-medizinischen Argumentationshilfe für die
Rassenideologie über die immer umfangreicher werdenden ,Euthanasie‘Projekte bis hin zu den sadistischen Experimenten und der perfekt laufenden
Tötungsmaschinerie in den Konzentrationslagern finden wir Ärzte, die das
Gegenteil dessen tun, was sie einst mit dem Hippokratischen Eid schworen.“ 19
Der Mitbegründer der Ärzteorganisation „Internationale Ärzte für die Verhütung
des Atomkrieges“ (IPPNW) hat in seiner weithin rezipierten Studie „Ärzte im
Dritten Reich“ derartige Prozesse der Spaltung und Verdrängung beschrieben, als
deren Ergebnis sonst normal empfindende Menschen im professionellen Bereich
denken und handeln, als wären ihre mitmenschlichen Empfindungen abgestorben.
Lifton stellt die Hypothese auf, dass bei Ärzten eine Spaltung ihrer psychischen
Einheit im Sinne einer Verdopplung des Bewusstseins vorgelegen habe, d.h. einer
Aufteilung des Selbst in zwei selbständig funktionierende Ganze, so dass jedes der
beiden wie ein ganzes Selbst handle.
Mit diesen Überlegungen schließt der hier nur skizzenhaft geschilderte Weg
zum Nürnberger Ärzteprozess ab. Er zeigt insgesamt die Entwicklung einer
Medizin, die nicht zuletzt mit ihrem reduktionistischen Denkstil und dem
tradierten cartesianischen Modell der Maschine eine tiefgreifende Krise erfuhr.
In den Worten des Psychosomatikers Thure von Uexküll:
„Die Krise der Medizin begann mit dem Sieg des Maschinenparadigmas – als
eine Krise der Humanität. Mit diesem Sieg war eine Medizin ohne
Menschlichkeit möglich geworden.“20
19
Lifton (1996), S. 25.
Im Vorwort der deutschen Ausgabe weist Robert Lifton 1987 auch auf die mangelnde Rezeption
des Nürnberger Ärzteprozesses hin: „Unglücklicherweise hat sich ein großer Teil der deutschen
Ärzteschaft den von Mitscherlich und seinen Nachfolgern aufgedeckten harten Wahrheiten
verschlossen. Während ich an dieser Einleitung schreibe, bekämpfen die höchsten Gremien der
deutschen Ärzteverbände die mutigen Versuche des jungen Arztes Hartmut Hanauske-Abel, seine
Kollegen zum Lernen aus den Verfehlungen der Medizin im Dritten Reich anzuhalten (Deutsches
Ärzteblatt, Bd. 84, Nr. 18, 1987). Hanauske-Abel hat seinen Finger auf die unverheilte Wunde des
moralischen Versagens vieler Ärzte in der Nazi-Zeit gelegt, als er dazu aufrief, die von der Bundesregierung anberaumten Spezialausbildungen in ,Katastrophenmedizin‘ und ,nuklearen Notfällen‘
zu boykottieren: Dieses Mal sollten die deutschen Ärzte ihre Fähigkeit zum Widerstand gegen
offiziellen Druck unter Beweis stellen (The Lancet, II, 1986, S. 271 ff; Die Zeit, 6. Nov. 1987, S.
45f.)“. Vgl. auch Hanauske-Abel (1998).
20
13
2.2. Informierte Zustimmung
Vor dem Hintergrund der von Ärzten verübten grausamen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und angesichts des offensichtlichen Fehlens bzw. Wirkens
entsprechender Richtlinien 21 verlautbarten die Richter des amerikanischen
Militärgerichtshofes Nr. 1 am 20. August 1947 mit dem Urteil im Ärzteprozess
zugleich zehn Prinzipien für die künftige medizinische Forschung am Menschen.
Unter dem Titel „Zulässige Humanexperimente“ gliederte sich der Kodex in
zehn Punkte. Das erste und wichtigste Prinzip ist der Notwendigkeit gewidmet, die
Zustimmung des Teilnehmers für die beabsichtigte Forschung auf der Basis einer
ausreichenden Information zu erhalten.
„Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.
Das heißt, dass der Betreffende die gesetzmäßige Fähigkeit haben muss, seine
Einwilligung zu geben; in der Lage sein muss, eine freie Entscheidung zu
treffen, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder
irgendeine andere Form der Beeinflussung oder des Zwanges; und genügend
Kenntnis von und Einsicht in die Bestandteile des betreffendes Gebietes haben
muss, um eine verständnisvolle und aufgeklärte Entscheidung treffen zu
können. Diese letztere Bedingung macht es notwendig, dass der
Versuchsperson vor der Annahme ihrer bejahenden Entscheidung das Wesen,
die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die
Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle
Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die
Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme
ergeben mögen.
Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen,
obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies sind
persönliche Pflichten und persönliche Verantwortungen, welche nicht
ungestraft auf andere übertragen werden können.“ 22
Die humane Haltung und Verpflichtung, die in diesem ersten Abschnitt sowie im
gesamten Kodex zum Ausdruck kommen und eingefordert werden, sollen dazu
beitragen, den Probanden oder Patienten als Subjekt zu stärken, d.h. seine eingangs
beschriebene Reduzierung auf ein wissenschaftliches Objekt überwinden helfen.
Der Nürnberger Kodex wurde im Hinblick auf die unvermeidliche und
notwendige Forschung am Menschen formuliert. Er gibt dem forschenden Arzt
eine besondere Verantwortung und dem ihm Anvertrauten einen besonderen
Schutz. Letztlich lässt sich der Kodex aber auch auf die Alltagsmedizin mit ihren
Entscheidungen übertragen und damit auch auf die Praxis der Ethikberatung.
21
Es sei darauf hingewiesen, dass es seit 1931 aus dem Reichsinnenministerium entsprechende
Richtlinien gab.
22
Mitscherlich/Mielke (1960), S. 273. Vgl. auch Anlage 9.1.2.
14
Es mag überraschen, eine Arbeit zur Ethikberatung mit einem Exkurs zum
Ärzteprozess und dem Nürnberger Kodex zu beginnen, aber das dort bekräftigte
Prinzip des „informed consent“ ist ein so grundlegendes Prinzip der Medizin, dass
es sich als Referenz für schwierige Entscheidungssituationen anbietet. Schließlich
könnte der Nürnberger Kodex von 1947 bis heute weit mehr sein als die
historische relevante Grundlage „zulässiger Humanexperimente“. 23
In diesem Sinne stellt sich die Frage, inwieweit der Kodex nicht nur für die
Forschungspraxis, sondern auch für Fragen des ärztlichen Alltags national und
international rezipiert und genutzt wurde. Haben seine Grundsätze, vor allem der
zentrale Aspekt der informierten Zustimmung („informed consent“), auch Eingang
gefunden in die allgemeine Debatte um das ärztliche Selbstverständnis und die
Arzt-Patienten-Beziehung? Wie wurde der Nürnberger Kodex als Bestandteil des
Ärzteprozesses überhaupt verbreitet und innerhalb der Ärzteschaft bekannt?
Die Antwort auf letztere Frage ist ernüchternd, wenn nicht beschämend. Die
Dokumentation zum Nürnberger Ärzteprozess, die Alexander Mitscherlich und
Fred Mielke umgehend unter dem Titel „Diktat der Menschenverachtung“
veröffentlichen wollten, wurde von ehemaligen NS-Ärzten juristisch bekämpft und
erschien erst 1949 in relevantem Umfang als „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“
und 1960 in einer Neuauflage als „Medizin ohne Menschlichkeit“. Auch die
Publikation der dritten Beobachterin, von Alice von Platen-Hallermund, wurde
weitgehend verschwiegen. 24 Sie erinnert sich 50 Jahre später:
„Nach langen Verhandlungen wurde damals für die als wichtig anerkannte
Aufgabe eine sechsköpfige Kommission zusammengestellt, die ausführliche
Berichte verfassen sollte. Die Begeisterung der Auftraggeber, aber auch der
anderen Mitglieder der Kommission kann nicht sehr groß gewesen sein. Drei
der ernannten Mitglieder tauchten lediglich am Anfang unserer Tätigkeit und
dann nur noch selten auf. Übrig blieben Dr. Mitscherlich als Leiter, der
Medizinstudent Fred Mielke und ich, die ich damals als Volontärassistentin an
der psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg bei Professor Viktor
von Weizsäcker arbeitete. Es stelle sich bald heraus, daß in Wirklichkeit große
Widerstände, besonders bei den westdeutschen Ärztekammern und bekannten
Medizinprofessoren, gegen unsere Kommission und besonders gegen Dr.
Mitscherlich, einen bekannten Widerständler, vorherrschten.“ 25
23
Wunder (2002).
Platen-Hallermund (1948).
25
Ricciardi-von Platen (1998), S. 13. Auf Anregung des Psychiaters Klaus Dörner nahm Alice
Ricciardi-von Platen im Oktober 1996 als Kongresspräsidentin am Nürnberger Kongress „Medizin
und Gewissen – 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess“ teil. Ihre weithin beachtete
Teilnahme mündete in eine breite internationale Berichterstattung, auch über die Wiederauflage
und Rezeption ihres Werkes „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ aus dem Jahr 1948. Mit
engen Verbindungen nach Nürnberg starb Alice Ricciardi-von Platen 2008 mit 98 Jahren in Italien.
24
15
Der Medizinhistoriker Richard Toellner hat für das Verhältnis der deutschen
Ärzteschaft zum Nürnberger Ärzteprozess das Bild des „blinden Spiegels“ 26
benutzt: Uns müsse die Frage interessieren, „ob die deutsche Medizin, ob die
deutsche Ärzteschaft den Nürnberger Ärzteprozess als Chance begriff, sich im
Spiegel der Angeklagten, im Spiegel von deren Verhalten und Taten im Dritten
Reich selbst zu prüfen, ja selbst zu erkennen“. Das freilich, so Toellner, hätte
bedeutet, „die eigene Mittäterschaft, die Duldung und Zulassung des Unrechts und
der Verbrechen eingestehen und bekennen zu müssen. Von einer solchen Wirkung,
geschweige denn von einer kathartischen Wirkung des Ärzteprozesses“ könne
jedoch keine Rede sein. Richard Toellner zitiert in diesem Zusammenhang auch
eine Klage Alexander Mitscherlichs, für den der Abschlussbericht ohne jede
Wirkung und Resonanz geblieben sei:
„Nahezu nirgends wurde das Buch bekannt, keine Rezensionen, keine
Zuschriften aus dem Leserkreis; unter Menschen, mit denen wir in den
nächsten zehn Jahren zusammentrafen, keiner, der das Buch kannte. Es war
und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre.“ 27
Der Spiegel, so resümiert Richard Toellner,
„in dem man sich selbst und seine Schuld hätte erkennen können, blieb blind.
Alle Einsicht blieb aus. Im Gegenteil: Noch bevor der Prozess überhaupt
begonnen hatte und die Anklageschrift bekannt war, wußten deutsche
medizinische Fakultäten schon, was der Prozess zu leisten habe“28:
Laut Toellner erwarteten etwa die Göttinger und Freiburger Fakultäten eine große
Entlastung der deutschen Ärzteschaft. Während der Nürnberger Ärzteprozess
innerhalb der Ärzteschaft demnach zunächst wenig bis keine Wirkung hinterließ,
wurden der Nürnberger Kodex und die bereits im Ärzteprozess geführte Debatte
zum Prinzip der Information und Zustimmung von Probanden durchaus rezipiert. 29
Das Primat der Aufklärung des Patienten, das als „informed consent“ im oben
zitierten Sinne der erste und entscheidende Grundsatz des Nürnberger Kodex war,
fand bereits vor der Urteilsverkündung im Ärzteprozess im sogenannten „Bad
Nauheimer Gelöbnis“ Berücksichtigung, einem ärztlichen Gelöbnis, das die
Delegierten der Ärztekammern in Westdeutschland im Juni 1947 in Bad Nauheim
quasi „präventiv“ verabschiedeten. 30 Darin heißt es:
26
Toellner (1998), S. 289.
Ebd., S. 290.
28
Ebd., S. 290.
29
Klee (2001).
30
Frewer (2009).
27
16
„Gegen seinen Willen und auch nicht mit seinem Einverständnis werde ich
weder am gesunden noch am kranken Menschen Mittel oder Verfahren
anwenden oder erproben, die ihm an Leib, Seele oder Leben schaden oder
Nachteil zufügen können.“31
Die Aussagen sind deutlich. Doch das allgemeine Desinteresse innerhalb der
Ärzteschaft und die Ignoranz gegenüber dem Nürnberger Ärzteprozess und seiner
Dokumentation lassen es fraglich erscheinen, ob sich die Verfasser mit diesem
Gelöbnis bewusst auf den Nürnberger Kodex und sein Prinzip des „informed
consent“ bezogen. Ausdrückliche Verweise darauf sind mir jedenfalls nicht
bekannt.
Der Medizinethiker Andreas Frewer verweist in diesem Zusammenhang auf
das „nicht unerhebliche Pathos“, mit dem im Bad Nauheimer Gelöbnis bereits im
Sommer 1947 von der deutschen Ärzteschaft erneut Werte für das ärztliche Ethos
beschworen würden – das „wahre Arzttum“ und die „reine Menschlichkeit“ –, die
wenige Jahre zuvor noch in ganz anderem Zusammenhang benutzt worden seien. 32
Insgesamt kam dem Bad Nauheimer Gelöbnis nur geringe Bedeutung zu. Wenig
später sollte es bereits hinter einem anderen Dokument in den Hintergrund rücken.
Auch die Gründer des 1946 geschaffenen Weltärztebundes beabsichtigten die
Formulierung einer verbindlichen Eidesformel, die schon 1948 als Genfer
Gelöbnis verabschiedet und auch für den ärztlichen Berufsstand in Deutschland
wichtig werden sollte. Denn erst als das Genfer Gelöbnis im Jahr 1951 zum
offiziellen Bestandteil der ärztlichen Berufsordnung wurde, sollte auch die
ärztliche Standesvertretung Deutschlands international anerkannt und als Mitglied
in den neu gegründeten Weltärztebund aufgenommen werden.
Selbst wenn es Hinweise dafür gibt, dass die Initiatoren des Genfer Gelöbnis
den Eid des Hippokrates als nicht mehr zeitgemäß empfanden, zeigt eine Lektüre
des Textes, dass er die Kernaussagen des Nürnberger Kodex unberücksichtigt
lässt, damit selbst hinter den Text aus Bad Nauheim zurückfällt und erneut den
durchaus umstrittenen medizinischen Mythos der Antike aufgreift.
Um unter Ärzten erneut eine vertraut bedeutungsschwere Identitätsstiftung zu
leisten, knüpfte das als „neuer hippokratischer Eid“ bezeichnete Genfer Gelöbnis
explizit an der antiken Eidesformel an, auf die sich immerhin auch angeklagte
Ärzte im Nürnberger Ärzteprozess berufen hatten.
31
32
Frewer (2009), S. 63.
Frewer/Bruns (2004), Frewer (2009).
17
Im Genfer Gelöbnis33 heißt es:
„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein
Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. [...]
Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des
ärztlichen Berufsstandes aufrechterhalten. […]
Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre.“
Die eingangs gestellte Frage nach der Bedeutung zentraler Prinzipien des
Nürnberger Kodex für die allgemeine Debatte um das ärztliche Selbstverständnis
und die Arzt-Patienten-Beziehung muss angesichts dieser Entwicklung für die
unmittelbare Nachkriegszeit eher negativ beantwortet werden. Das Prinzip der
informierten Zustimmung geriet bereits 1948 wieder aus dem Blick. Das Genfer
Gelöbnis, auch als „Serment d´Hippocrate, Formule de Geneve“ bezeichnet,
beschwört eher rückwärtsgerichtet und nostalgisch die „Ehre“ und die „edle
Überlieferung des ärztlichen Berufs“.
Dem Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven zufolge habe sich damit der viel
beschworene Mythos des Hippokrates erneut als ein „fester Bestandteil der
ärztlichen Selbstwahrnehmung erwiesen“ 34 und belege das Bedürfnis nach einer
besonderen Begründung oder gar Bestimmung der ärztlichen Profession. Dieses
Bedürfnis beginne bereits mit der „Erfindung des Hippokrates“, und es halte trotz
aller wissenschaftlichen Zweifel an der Echtheit und Autorenschaft dieser Texte
von der Antike bis in die Gegenwart an. Dabei sei der historische Hippokrates
nach den Arbeiten des Philologen Ludwig Edelstein nicht nur ein „Name ohne
Werk“ und seine Beteiligung am Corpus Hippocraticum schon in der Antike
umstritten, sondern auch der „Eid des Hippokrates“ könne diesem nicht
zweifelsfrei zugeordnet werden. Aber, so Leven, als idealisierter Stammvater der
Medizin gelte Hippokrates bis heute.
Während die Aufarbeitung von Ärzteprozess und Kodex und deren Bedeutung
für die alltägliche Medizinpraxis weiter auf sich warten ließ, beeinflusste der
Nürnberger Kodex von 1947 die Debatte um die Rahmenbedingungen
medizinischer Forschung durchaus. Der Medizinhistoriker Eduard Seidler bemerkt
dazu 50 Jahre später:
33
34
Frewer/Kolb/Krasá (2009), S. 309.
Leven (1997).
18
„Im Binnenraum der Medizin – und zunächst im wesentlichen außerhalb
Deutschlands – war indessen seit den späten fünfziger und frühen sechziger
Jahren eine Diskussion über die Prinzipien von Nürnberg in Gang gekommen
und hatte 1962 zur ersten, später mehrfach redigierten Deklaration von
Helsinki durch die World Medical Association geführt. Diese hat erkennbar
den Nürnberger Code und dessen Richtlinien für den Heilversuch und das
wissenschaftliche Experiment am Menschen fortgeschrieben und ist unter
anderem zur Grundlage der Arbeit von Ethikkommissionen geworden.“ 35
Die Wortwahl Seidlers ist aufschlussreich, spricht er doch von einem „erkennbaren
Fortschreiben“ des Kodex und deutet damit indirekt die Kontroversen um den
Nürnberger Kodex an. In der Tat wurde der Kodex auch in der medizinischwissenschaftlichen Welt der USA verzögert und kontrovers wahrgenommen. Eine
wegweisende Abhandlung zu Fragen des medizinischen Rechts beschrieb ihn erst
ein Jahrzehnt später in einer Publikation im Jahr 1956. In den Folgejahren
entwickelte sich eine Kontroverse um die Stringenz und Praxistauglichkeit des
Kodex, die 1959 in einem vielbeachteten Artikel des Forschers Henry Beecher
gipfelte. Beecher lobte zwar den Geist des Nürnberger Kodex, stellte die
Durchführbarkeit insbesondere seiner Einwilligungsvorschriften aber schlichtweg
in Frage und widersprach der Vorstellung, aus dem Kodex die Regeln der
amerikanischen Forschung ableiten zu wollen. 36
So hat denn die Deklaration von Helsinki, die drei Jahre später vom
Weltärztebund verabschiedet wurde, den Nürnberger Kodex nicht im Wortlaut
übernommen, sondern gerade im Hinblick auf die Einwilligung entscheidend
verändert. Die amerikanischen Medizinethiker Todd L. Krause und William J.
Winslade fassen diese Veränderung, die auf eine
Unterscheidung der
Einwilligungsforderung nach verschiedenen Forschungsgruppen hinauslief, 1997
rückblickend wie folgt zusammen:
„Forschung, die ‚mit professioneller Betreuung einherging‘ (d.h. klinische
Forschung), forderte vom Arzt, nur dann eine Einwilligung einzuholen, wenn
dies ‚möglich‘ und ‚mit der Psychologie des Patienten vereinbar‘ war. Die
Auflagen für die nicht-klinische Forschung waren strenger und forderten in
allen Fällen eine freiwillige aufgeklärte Einwilligung. Spätere Revisionen der
Deklaration in den Jahren 1975, 1983 und 1989 verfeinerten diese Ideen, sie
gestanden den Ärzten jedoch im Hinblick auf die Einwilligungsforderung
größere Freiheiten zu als der Nürnberger Kodex.“ 37
35
Seidler (1998), S. 310.
Beecher (1959). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Henry Beecher zu dieser Zeit
parallel in geheime Humanexperimente der CIA eingebunden war.
37
Krause/Winslade (1997), S. 199.
36
19
Die Dokumentation von zwei internationalen Tagungen zur Kodifizierung
medizinischer Ethik seit 1947, die im Jahr 1996 an der Universität Freiburg
stattfand, zeigt die internationale Rezeption des Nürnberger Kodex und seine
weltweite Bedeutung für die Formulierung medizinethischer Kodices. Seit dem
Nürnberger Kodex ist die Zahl entsprechender standesrechtlicher Leitlinien, Eide
oder Gelöbnisse stark gestiegen. Sie thematisieren nicht nur die Anforderungen an
den „guten Arzt“ und ein gelingendes „Arzt-Patienten-Verhältnis“, sondern auch
wichtige ethische Grundfragen am Anfang und Ende des Lebens oder
gesellschaftlich
umstrittene
Themen
wie
die
Gendiagnostik
und
die
Organtransplantation. Die Herausgeber resümieren dabei kritisch:
„Findet die Kodifizierung von Ethik in der Medizin der letzten 50 Jahre bei
den Berufsangehörigen im allgemeinen Zustimmung, so stößt sie doch in der
Öffentlichkeit auch auf Kritik. Man sieht in den von Standesvertretern
geschaffenen Dokumenten im Zeitalter der Demokratie eine Tendenz zur
Festigung eines Monopols, eine Verstärkung eigener Zielsetzungen und der
Selbstregulation. Gleichzeitig werden die darin enthaltenen Forderungen nach
Idealen als zu vage abgetan, und die Verdrängung philosophischer und
religiöser Wertsysteme durch die professionelle und säkularisierte
Organisation der Ethik in der Medizin wird beklagt.“ 38
Demgegenüber sei hier auf eine zwar überregional eher unbedeutende, aber
inhaltlich alles andere als vage zu bezeichnende Initiative einer „Nürnberger
Erklärung“ hingewiesen, die 1996 im Zuge des Nürnberger Kongresses „Medizin
und Gewissen“ entstand, und in der es heißt:
„Das gesundheitliche Wohl des Individuums ist für uns Ärztinnen und Ärzte
ein unbedingt zu schützendes Gut. Deshalb dienen wir in unserer Praxis
vorbehaltlos den gesundheitlichen Interessen des einzelnen Menschen und
verteidigen diese gegen alle Ansprüche von anderer Seite. Wir unterstützen den
Patienten in seiner eigenverantwortlichen Sorge für sein gesundheitliches
Wohlergehen. […]
Beim ärztlichen Handeln ist die Achtung vor den autonomen
Entscheidungen des Patienten nach seiner bestmöglichen Aufklärung für uns
Gebot. Ist er nicht einwilligungsfähig, gilt für uns die Zustimmung eines
informierten gesetzlichen Vertreters oder im Notfall der begründet gemutmaßte
Wille des Patienten. Vor fremdnütziger Forschung muss er geschützt sein. (...)
Wir setzen uns für die öffentliche Transparenz medizinischer
Forschungsprojekte ein, weil in der gesellschaftlichen Akzeptanz ein
notwendiges Korrektiv zur Einschätzung der Verantwortbarkeit der Vorhaben
liegt. In der Beachtung ihres gesundheitlichen Schutzes dürfen Versuchspersonen hinter Patienten nicht zurückstehen. Es gibt nicht zweierlei
Humanitätsbegriffe für die forschende und praktische Medizin.“ 39
38
39
Tröhler/Reiter-Theil (1997), S. 13.
Kolb/Seithe (1998), S. 468.
20
Ausgehend von dieser „Nürnberger Erklärung“ entstand zwischen Oktober 1996
und August 1997 in einem mehrmonatigen überregionalen Diskussionsprozess
unter Mitwirkung namhafter Ärzte, Medizinhistoriker und Medizinethiker 40 ein
„Nürnberger Kodex ´97“. Er sollte sich ausdrücklich auf die Prinzipien des
Nürnberger Kodex von 1947 beziehen, diese auf die ethischen Herausforderungen
der modernen Medizin anwenden und am 20. August 1997, dem 50. Jahrestag des
Nürnberger Kodex, veröffentlicht werden. Im „Nürnberger Kodex ´97“ heißt es
u.a. :
„Die freiwillige und informierte Einwilligung des Patienten nach
bestmöglicher Aufklärung (,informed consent‘) ist eine prinzipielle Grundlage
aller Behandlungen im Gesundheitswesen, aller Heilversuche und aller
medizinischen Experimente am Menschen. Nur im Falle von Notfallbehandlungen kann diese Zustimmung nachträglich eingeholt werden.“ 41
Angewendet auf aktuelle Kontroversen der Medizin, z.B. Gendiagnostik, Fortpflanzungsmedizin, Transplantation oder Sterbebegleitung, werden der Anspruch
dieser Prinzipien deutlich: Für eine Organentnahme etwa bräuchte es demnach die
ausdrückliche Zustimmung des Organspender, ein Widerspruch genügte nicht. Um
die Zustimmung zu erhalten, könnte – wie inzwischen vom Gesetzgeber auf den
Weg gebracht – eine Thematisierung beim Führerscheinerwerb erfolgen.
In diesem Sinne hat der Nürnberger Kodex bis heute Bedeutung. Dabei geht es
weniger um jedes einzelne Wort, sondern vielmehr um die patientenorientierte
Haltung, die er vermittelt. Ein solche ärztliche Haltung wird in den folgenden
Abschnitten dieser Einführung immer wieder anklingen, ob im Bezug auf die
Autonomie von Patienten, die Vorstellungen vom ärztlichen Rollenverständnis,
oder das Prinzip gemeinsamer Entscheidungsfindungen. Insofern geben die
Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Ärzteprozess und der
Kodex mit seinem „informed consent“ der Medizin bis heute Orientierungspunkte.
40
An den Diskussionen nahmen u.a. teil: Theresia Adelfinger (Erlangen), Prof. Dr. Klaus Dörner
(Hamburg), Dr. Alfred Estelmann (Nürnberg), Prof. Dr. Helfried Gröbe (Nürnberg), PD Dr. Bernd
Höffken (Nürnberg), Prof. Dr. Regine Kollek (Hamburg), Prof. Dr. Hans Mausbach (Frankfurt),
Prof. Dr. Eduard Seidler (Freiburg), Dr. Horst Seithe (Nürnberg), Prof. Dr. Renate Wittern-Sterzel
(Erlangen) und Dr. Michael Wunder (Hamburg). Der einjährige Prozess der Diskussion und
Redaktion wurde vom Verfasser dieser Arbeit moderiert.
Erstunterzeichnende waren u.a.: Prof. Dr. Gerhard Baader (Berlin), Dr. Winfried Beck (Offenbach),
Prof. Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim (München), Prof. Dr. Karl Bonhoeffer (München), Prof. Dr.
Hans-Ulrich Deppe (Frankfurt), Dr. Torsten Lucas (Berlin), Prof. Dr. Dietmar Mieth (Tübingen),
Prof. Dr. Norbert Paul (Düsseldorf), Prof. Dr. Walter Pontzen (Nürnberg), Prof. Dr. Udo Schagen
(Berlin), Dr. Eva Schindele (Bremen), Prof. Dr. Manfred Stauber (München), Dr. Hilde Steppe
(Frankfurt), Dr. Waltraud Wirtgen (München) und Prof. Dr. Jörg Wiesse (Nürnberg).
41
Siehe Anlage 9.1.3.
21
2.3. Autonomie des Patienten
Nach den beiden historischen Bezugspunkten mit ihren Verweisen auf die heutige
Medizin, steht in diesem Abschnitt der Patient selbst im Mittelpunkt. Patienten
gelten heute vielfach nicht mehr als unwissende Laien oder „hilfsbedürftige
Mündel ärztlicher wie pflegerischer Fürsorge“ 42, sondern sie gelten immer
häufiger auch als „selbstbestimmte Kundinnen und Kunden“ eines wachsenden
Gesundheitsmarktes. Je stärker die Gesundheitspolitik das bisherige Verständnis
eines von der Daseinsfürsorge geprägten Gesundheitswesens konterkariert und
einer auf Profit orientierten Gesundheitswirtschaft den Weg bereitet, umso mehr
rückt in den Hintergrund, dass Patienten nicht selten verletzliche oder existenziell
bedrohte Menschen mit Bedürfnissen, Rechten und Ansprüchen sind. Gerade
diejenigen Patienten, die eine Ethikberatung erfahren, sind oft in einer vulnerablen
Situation und nur selten dürften sie sich als uneingeschränkt souveräne Subjekte
empfinden. Viel eher erfahren sie sich als beratungsbedürftige Objekte eines
komplizierten und unübersichtlichen Gesundheitsapparates – und stehen dabei
nicht selten unter einem erheblichen Entscheidungsdruck. Jede anzustrebende
Norm einer Autonomie von Patienten wird diese Annahme also zu berücksichtigen
haben, will sie nicht an den Realitäten kranker Menschen vorbeizielen. 43
In diesem Zusammenhang bezeichnet die Philosophin Sigrid Graumann die
Stärkung der Patientenautonomie in Medizinethik und Gesundheitspolitik als
„historische Errungenschaft“44, zuerst als Abwehr- später auch als Anspruchsrecht.
Als Abwehrrecht gründe sie auf den Erfahrungen einer paternalistischen Medizin,
bei der – wie beschrieben – im 19. und 20. Jahrhundert die naturwissenschaftliche
Entwicklung der Medizin mitsamt dem Humanexperiment den Konflikt zwischen
wissenschaftlichem Interesse und ärztlichem Heilauftrag verschärft habe und „das
Vertrauen in die ärztlichen Tugenden zerstörte“. Bis in die Nachkriegszeit habe ein
paternalistisches Selbstverständnis die Beziehung von Ärzten und Patienten
geprägt, so dass sich vor diesem geschichtlichen Hintergrund das Verständnis
einer Autonomie von Patienten als eines der Paradigmen moderner Medizinethik
entwickelte, aber zunächst eben als als Abwehr- und Schutzrecht.45
42
Graumann (2008), S. 415.
Vgl. Kühn (1996), Brunner (2000), Gold et al (2000), Sachverständigenrat (2002) und (2003).
Dörner (2004), Huber/Langbein (2004), Dierks (2006), Deppe (2008), Rosenbrock (2008).
44
Graumann (2008), S. 416.
45
Graumann (2004), Katz (1998).
43
22
Angestoßen durch den Nürnberger Kodex und die kontroversen Diskussionen um
das Prinzip der freiwilligen und informierten Zustimmung in der Deklaration von
Helsinki erlangte das Gebot der Patientenautonomie immer größere Bedeutung –
zunächst in der Bürgerrechtsbewegung der USA,46 später auch in Deutschland im
Zuge der wachsenden Basisbewegungen im Gesundheitswesen. In dieser Zeit
entstanden und prägten einige Klassiker der medizinkritischen Literatur die
gesundheitspolitische Debatte, nicht zuletzt „Die Nemesis der Medizin“.47
In den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts bildeten sich an vielen
Orten alternative Gesundheitsläden, Selbsthilfegruppen und Patientenvertretungen,
die im Mai 1980 in Berlin im ersten „Deutschen Gesundheitstag“ mit mehreren
tausend Teilnehmern gipfelte. Die Gegenveranstaltung zum jährlich stattfindenden
Deutschen Ärztetag war auch insofern bemerkenswert, als ihr Selbstverständnis
von zwei Hauptanliegen geprägt wurde: den Forderungen nach einer stärkeren
Patientenzentrierung in der Medizin und der Aufarbeitung der medizinischen
Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus. Der damalige Wortführer der
kritischen Ärztebewegung, Ellis Huber, fasste das Selbstverständnis so zusammen:
„Im Gesundheitswesen helfen fachkundige Menschen anderen Menschen, die
hilfsbedürftig sind. Gesundheitlicher Forts chritt und die Bewältigung von
Krankheit und Leid sind eine Beziehungsleistung von Arzt und Patient, ein
gemeinsames Produkt. Arzt und Patient sind Partner, Ärzteschaft und
Bevölkerung bilden eine dialogische Partnerschaft. Dies zu erkennen, ist für
uns Ärztinnen und Ärzte in sozialer Verantwortung ein politisches Programm:
Gesundheitspolitik statt Standespolitik.“48
Damals, im Mai 1980, war nicht vorherzusehen, dass es Ellis Huber nur sieben
Jahre später gelingen sollte, mit diesem ungewöhnlichen Selbstverständnis auch
die Mehrheit der Berliner Ärzteschaft für seine Wahl zum Präsidenten der Berliner
Ärztekammer zu gewinnen. Mit seinen unkonventionellen Thesen wurde Huber für
lange Zeit zum Sprachrohr vieler Anhänger einer patientenzentrierten Medizin.
Während Patientenautonomie damals besonders als Abwehrrecht gegenüber
ärztlicher und staatlicher Bevormundung verstanden wurde, gilt es heute
mindestens ebenso stark als Anspruchsrecht. Patienten verhalten sich innerhalb des
Gesundheitswesens auch als Kunden. In bestimmten Situationen kommt ihnen
damit eine gewisse Wahlfreiheit zu – allerdings nicht ohne Einschränkung.
46
Schöne-Seifert (1996).
Illich (1995) Die erste Auflage erschien 1975 unter dem Titel „Die Enteignung der Gesundheit“.
48
Huber (1998), S. 439.
47
23
Mit der Einführung der Kundenperspektive in die Heilkunde stößt dieses Recht
eben auch an Grenzen. Eine Beschränkung der Patientenautonomie auf das Prinzip
der Wahlfreiheit würde den Patienten in unverantwortlicher Weise die Risiken und
Belastungen medizinischer Behandlungen aufbürden und „gerade schwerkranke,
bedürftige und von medizinischer Versorgung existentiell abhängige Patientinnen
und Patienten“, so die Philosophin Sigrid Graumann, würde dies „überfordern und
benachteiligen“.49
Die
Philosophin
und
langjährige
wissenschaftliche
Begleiterin
der
Gesundheits- und Behindertenbewegung unterscheidet daher zwischen einer
„situationsbezogenen Handlungsautonomie“ und einer „Patientenautonomie als
moralisches Recht“. Graumann postuliert, dass erstere „durch den aktuellen
Krankheitszustand und die Umgebungsbedingungen eingeschränkt sein [kann],
und ihre Ausprägung von ärztlichem und pflegerischem Handeln sowie von
institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen abhängt.“50
„ Dieser situationsbezogenen Selbstständigkeit steht ein Verständnis von
Autonomie als moralisches Recht mit Regulierungsfunktion für das ärztliche
und pflegerische Handeln und für die Gestaltung des Gesundheitswesens
gegenüber. Aus der Patientenautonomie als moralisches Recht folgt, das
Patientinnen und Patienten ein Recht auf Bewahrung, Förderung und
Wiederherstellung ihrer Autonomie haben. Daher müssen sich sowohl
ärztliches und pflegerisches und als auch die politische Gestaltung des
Gesundheitswesens daran orientieren, die situationsbezogene Handlungsautonomie von Patientinnen und Patienten nicht zu behindern, sondern zu
fördern und zu stärken.“51
Ein solches emanzipatorisches Verständnis von Patientenautonomie, das sich nach
Graumann „sowohl gegen paternalistische Bevormundung als auch gegen
neoliberale Vereinnahmung richtet und für das sich die Gesundheits- und
Behindertenbewegung in den letzten 30 Jahren eingesetzt“ habe, entspräche
gesundheitspolitischen Folgerungen, zu denen „die Inklusion aller Menschen, die
hier
leben,
in
eine
solidarische
Gesundheitsversorgung“
mit
guter
Versorgungsqualität gehöre sowie die Stärkung der Patientenbeteiligung. 52
Im Hinblick
auf die
Klinische
Ethikberatung
ergeben
sich
daraus
Schlussfolgerunen sowohl für die Mitglieder des professionellen Teams als auch
für das Krankenhaus als Ganzes.
49
Graumann (2008), S. 420.
Ebd.
51
Ebd., S. 421.
52
Ebd., S. 422, Vgl. auch Dörner (2004) und (2005).
50
24
Beiden, Individuen wie Institutionen, kommt die Verantwortung zu, den
erforderlichen Rahmen für eine Förderung der situationsbezogenen Handlungsautonomie in den schwierigen ethischen Entscheidungssituationen zu schaffen.
Damit wird das eher abstrakte und theoretische Konstrukt der Patientenautonomie
durch seine praktische Umsetzung im klinischen Alltag überprüf- und bewertbar.
In diesem Zusammenhang sind auch die Vorstellungen von Thure von
Uexkülls zum Wohl des Kranken und seinem Verständnis von der Autonomie des
Patienten aufschlussreich, die er in seiner „Theorie der Humanmedizin“
gemeinsam mit Wolfgang Wesiack dargelegt hat. Uexküll versteht unter
Autonomie, die er als das „Fundament der Freiheit des Menschen“ bezeichnet,
stets zweierlei: Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung – wobei letztere
dem Begriff der Selbstverantwortung der gegenwärtigen Debatte sehr nahe
komme. Uexküll versteht sie beide nicht als gegensätzliche, sondern als sich polar
ergänzende Begriffe. Eines sei ohne das andere nicht denkbar.
„So gesehen ist Gesundheit (bzw. genauer gesagt, der Weg zur Gesundheit)
gleichbedeutend mit dem Weg zu einer größeren bzw. größtmöglichen
Autonomie. Therapie jedweder Art wäre dementsprechend Hilfe für Selbsthilfe
bzw. Hilfe für den Mitmenschen einen Zuwachs an Autonomie zu erreichen. Zu
diesem Zweck ist es nötig, alles, was die Autonomie des Patienten einschränkt,
so weit als möglich zu beseitigen.“ 53
In diesem Sinne hat sich auch der erfahrene Internist und Klinker Linus S. Geisler
praktisch und theoretisch mit der Idee der Patientenautonomie befasst und eine
„kritische Begriffsbestimmung“ vorgelegt, in der er einen möglichen Paradigmenwechsel vom Prinzip der Fürsorge zum Prinzip der Autonomie beschreibt. Geisler
war viele Jahre Mitglied der Ethik-Kommission der Ärztekammer Nordrhein und
wiederholt von Enquête-Kommissionen des Bundestages als Sachverständiger zu
ethischen und rechtlichen Fragen der modernen Medizin bestellt.
Für Geisler ist ärztliches und pflegerisches Ethos „von seinen Wurzeln her“ ein
Ethos der Fürsorge: „Fürsorge findet ihren Grund in der Natur des Menschen: in
seinem Angewiesensein auf die Zuwendung anderer“. 54 Auch fänden sich bereits
im hippokratischen Eid zwei der vier Prinzipien der modernen Prinzipienethik,
nämlich beneficence und nonmaleficence; Autonomie, so Geisler, komme
hingegen nicht vor.
53
54
Uexküll/Wesiack (1991), S. 611.
Geisler (2004).
25
Linus Geisler verweist auf die Herkunft der Idee der Autonomie und die
Philosophie Immanuel Kants, wie er auch auf den Nürnberger Kodex von 1947
und auf die Bedeutung der Zustimmung des autonomen Patienten verweist sowie
auf die vier die Medizinethik maßgeblich prägenden „Principles of Biomedical
Ethics“, die 1979 von Tom L. Beauchamp und James F. Childress reformuliert
wurden: die Achtung der Autonomie, das Nicht-Schaden, das Wohltun und die
Gerechtigkeit. 55 Letztlich resümiert der erfahrene Arzt:
„Die ständig wachsende medizinische Verfügbarkeit über menschliche
Gesundheit und menschliches Leben, aber auch die zunehmende
Individualisierung der Werte und Lebenskonzepte erhoben in den vergangenen
drei Jahrzehnten den Willen des selbstbestimmten Patienten immer stärker in
den Rang einer Lex suprema. Das Prinzip der Fürsorge hingegen erfuhr unter
dem Vorwurf des Paternalismus eine stetige Abwertung, ein Prozess, der als
Paradigmenwechsel vom ,beneficence model‘ zum ,autonomy model‘
beschrieben wurde.“ 56
Angesichts dieser Entwicklung fragt der Arzt nach den inhaltlichen „Auffüllungen
und Ausfächerungen“ des heutigen Autonomiebegriff und nach dem Stellenwert,
der ihm unter den ethischen Prinzipien der Biomedizin zukomme, und wie
Autonomie bei einem Kranken verwirklicht werden könne, wenn dieser sie
überhaupt nicht mehr wahrnehmen könne?
In seinen Antworten folgt Geisler zunächst der Psychologin Monika Bobbert,
die in Bezug auf „Patientenautonomie und Pflege“ 57 eine „Begründung und
Anwendung eines moralischen Rechts“ vorgelegt hat. Bobbert ordne der
Patientenautonomie dabei verschiedene Rechte zu wie „das Recht auf Zustimmung
oder Ablehnung, auf Information, Festlegung des Eigenwohls, auf Alternativenauswahl sowie auf möglichst milde Einschränkung des Handlungsspielraums
durch die im Gesundheitssystem unumgänglichen institutionellen Strukturen“. 58
Kurzum: Patientenautonomie versteht sich – wie schon bei Graumann – nicht nur
als Widerstandsbegriff, sondern auch als Formulierung von Anrechten. Sie kann
eher eng verstanden werden („Ich will informiert sein“) oder auch sehr weit gefasst
sein („Ich erwarte umfassende Hilfestellungen“). Wesentlich für Geisler ist die
Unterscheidung eines Autonomiebegriffs, der entweder eher vom Individuum her
oder eher unter dem Aspekt der Beziehung gedacht ist.
55
Beauchamp (2009).
Geisler (2004), S. 453.
57
Bobbert (2002).
58
Geisler (2004), S. 453.
56
26
Eine Ethik der Fürsorge betone dabei stets die Perspektive der Beziehung und des
„menschlichen Eingebundenseins in Beziehungen“ und sei daher – auch dem
Verständnis des Ethikers George J. Agich nach – mit ständigen Prozessen der
Interpretation und Aushandlung verbunden.
„In scheinbarer Paradoxie zu einem Autonomiebegriff, der von einer von jeden
äußeren Einflüssen unabhängigen Selbstbestimmtheit ausgeht, schält sich
immer mehr heraus, dass Patientenautonomie Sinn und Tragfähigkeit erst
durch Relationalität und Kontextualität gewinnt. Damit entstehen quasi
Schnittmengen mit anderen ethischen Prinzipien, wie beispielsweise der Ethik
der Fürsorge. Patientenautonomie imponiert dann nicht mehr als
monolithisches ethisches Prinzip mit der Gefahr der Distanzbildung zwischen
Arzt und Patient und einer möglicherweise fragwürdigen Verlagerung von
Verantwortung auf den Patienten.“59
Geisler verweist auch auf die aus der feministischen Ethik kommende „relationale
Autonomie“, die eine „gegenseitige Verwiesenheit von Arzt und Patient, die
Fragilität der Autonomie und die Notwendigkeit der Autonomieförderung“ betone.
„Eine nicht paternalistische Fürsorge erlaubt dem Kranken Möglichkeiten
einer autonomen ,Selbstsorge‘. Der Patient trifft seine Entscheidung selbst,
aber nicht einsam und allein, sondern intersubjektiv, d.h. im Dialog oder
Gespräch. Auch hier wird wieder die grundlegende Bedeutung kommunikativer
Prozesse für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der Medizin deutlich.“ 60
Wenn in diesem Sinne Fürsorge und Autonomie einander bedingten, erübrige sich
die Frage nach ihrer Rangordnung, sie stünden gleichwertig nebeneinander. Die
Fürsorge der Ärzte brauche die Selbstbestimmtheit der Patienten und umgekehrt.
Dies gelte umso mehr, als das Autonomiebedürfnis sehr unterschiedlich sein
könne: Krankheit schränke die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht nur
grundsätzlich ein. Mit der Schwere der Krankheit nehme der Wunsch nach
autonomen Entscheidungen nachweislich ab und auch je nach Phase der
Behandlung gäbe es ein größeres Interesse direktiver Fürsorge des Arztes.
Letztlich, so Geisler, ginge es um ein „Ernstgenommenwerden“ durch den Arzt –
ein Anspruch, der für die Situationen der Ethikberatung besonders gelten dürfte.
„Sich ernsthaft auf die Selbstauslegung der Krankheit eines Patienten
einlassen zu können, wurzelt vorwiegend in der Empathiefähigkeit des Arztes.
Sie zu vermitteln und zu entwickeln wird im derzeitigen Ausbildungssystem
allerdings nicht angestrebt.“61
59
Geisler (2004), S. 455.
Ebd., S. 455.
61
Ebd., S. 456.
60
27
2.4. Ärztliches Rollenverständnis
Wie soeben deutlich wurde, berühren Überlegungen zur Patientenautonomie oder
einer Ethik der Fürsorge nicht zuletzt das ärztliche Selbstverständnis. Deshalb
frage ich nunmehr in Anlehnung an Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack,
wie sich das ärztliche Rollenverständnis im Laufe der Geschichte entwickelt und
verändert hat. „Grundlagen des ärztlichen Denkens und Handeln“ lautet die
Schrift, in der die beiden ihr Programm einer Medizin vorlegen, die den ganzen
Menschen in den Blick nimmt. Auf der Suche nach ihren tragenden Phänomenen
tasten sie sich zurück an die Anfänge der menschlichen Stammesgeschichte. Von
den ersten vorgeschichtlichen Spuren über die geschichtliche Entwicklung aller
Epochen mit ihren spezifischen Ausprägungen stoßen sie dabei auf ein wiederkehrendes Muster: die geradezu existenzielle Bedeutung der Beziehung zwischen
dem immer von Krankheit bedrohten Menschen und seinem „Arzt“ – ob in der
Rolle des Medizinmannes, Priesters, Pädagogen oder medizinischen Experten.
Uexkülls ganzheitlicher Sicht folgend, erscheint ihm sehr wichtig die Phase der
Einheit von Mensch und umgebender Natur mit ihrer „participation mystique“, 62
abgebildet bis heute in der Mutter-Kind-Beziehung, gewissermaßen dem
„Archetypus“ der Beziehung zwischen dem Hilfebedürftigen und seinem „Heiler“.
„Die ontogenetische Wurzel des suggestiven Heilzaubers ist offenbar die
primäre, auch symbiotisch genannte Mutter-Kind-Beziehung. Sie ist das Urbild
jeder Arzt-Patient-Beziehung. Die Mutter, die das Kind durch beruhigende
Worte und Streicheln tröstet, die ihm Sicherheit gibt und hilft, Not und
Schmerzen zu ertragen, ist der Archetyp des auf der magischen Ebene
heilenden Medizinmannes oder Arztes.“63
Die Heilkunst in den frühen Hochkulturen des Vorderen Orient, besonders die in
Ägypten, stellt einen großen Fortschritt gegenüber dem magischen Zauber der
archaischen Welt dar. Dazu zählt, dass der Mensch nicht mehr naturhaftunbewusst existiert, sondern sich als Person wahrnimmt, die für ihr Tun
verantwortlich ist. Er weiß um die Normen, und deshalb kennt er auch das Gefühl
der Schuld, wenn er sie verletzt – wenn er die Götter beleidigt hat, in deren Hand
sein Schicksal liegt. Auch er braucht den Heiler und den Helfer, aber zum Zauberritual treten Gebet und Opfer, neben den Magier tritt der Priester-Arzt. Seine
Rolle wurde als so bedeutend eingeschätzt, dass es zum ersten Mal „Sitten-und
Pflichtenlehren für Ärzte“ gibt, die dessen Verhalten regeln.
62
63
Den Begriff prägte der französische Philosoph und Ethnologe Lucien Lévi-Bruhl.
Uexküll/Wesiack (1991), S. 579.
28
Den vorläufigen Höhepunkt in der Geschichte der medizinischen Kunst bewirken
die Griechen. Sie fügen der Rolle des Arztes den Aspekt des Lehrers und
Erziehers hinzu. Der „gelehrte“, der kundige Arzt verfügt über das Wissen. Er
weiß, was dem Kranken nützt und was ihm Schaden zufügen könnte; deshalb
übernimmt er die Rolle des Erziehers. Inzwischen ist die Medizin über die bloße
Anwendung von Erfahrung hinausgewachsen in eine Wissenschaft vom Körper,
von seinen Kräften und Säften, mit der die Griechen auf lange Zeit Maßstäbe
setzten. Aber mehr noch. Was den Ruhm Sokrates' und Platons begründete, ihre
Dialoge, das, so Uexküll, spielte auch für die Heilkunst eine besondere Rolle:
„Sokrates aber entwickelte eine Form der Dialogführung, die er selbst
maieutiké techne (d.h. Hebammenkunst) nannte, und schuf damit eine bis heute
gültige psychotherapeutische Methode. […] Sokrates ist ebenso wie der gute
Psychotherapeut von heute nur Geburtshelfer, der dem Gesprächspartner bzw.
dem Patienten nicht seine eigene Meinung aufzwingt, sondern wartet, bis sich
bei diesem aus Erlebnissen und Assoziationsreihen neue Erkenntnisse bilden
und neue Verhaltensweisen einstellen. […] Platon dokumentiert erstmals mit
der Sokratischen maieutike´techne eine interpersonelle Kommunikationsform,
die nicht nur zu neuen Interpretationen und Erkenntnissen, sondern auch zu
Veränderungen der Menschen führt. Im Gegensatz zur Illusion einer objektiven
Erkenntnis´, wie sie der immer noch in der Medizin wirksame Positivismus des
19. Jahrhunderts vertritt, zeigt Platon, wie Erkenntnis durch Interaktion
mehrerer Partner entsteht.“64
Schließlich verbindet sich im landläufigen Verständnis mit dem griechischen
Namen Hippokrates die Vorstellung einer von hoher Ethik getragenen Sorge um
den kranken Menschen, bestimmt von der philantrophia, der Liebe zum
Menschen. Der Arzt als Freund – eine weitere Spielart der Rolle, die Uexküll als
wesentlich für den Arzt entdeckt und ihm zuweist. Dass hohe Ideale bisweilen in
der gesellschaftlichen Wirklichkeit an Grenzen stoßen, gilt allerdings auch für die
geforderte Menschenliebe: Vor allem die Reichen unter den freien Bürgern
Griechenlands waren Nutznießer der hoch entwickelten Heilkünste; für die
weniger Begüterten und erst recht für die Sklaven galten andere Sitten.
„Neben der ,tyrannischen‘ Medizin, die bei Sklaven angewandt wurde, und der
,pädagogischen‘ Medizin für die Reichen beschreibt Plato noch eine dritte Art
der Krankenbehandlung, die seine besondere Sympathie findet und die ihm vor
allem für die armen freien Bürger (wie z.B. Handwerker) besonders geeignet
erscheint. Es ist eine Art ,Radikalkur‘, die entweder im günstigsten Fall zur
Wiederherstellung der Gesundheit (und Arbeitsfähigkeit), im ungünstigen Falle
aber zum Tode führt.“65
64
65
Uexküll/Wesiack (1991), S. 582.
Ebd., S. 585.
29
In diesem Zusammenhang bedeutet vor allem das christliche Mittelalter einen
Fortschritt in seiner Betonung der Nächstenliebe, seinem Verständnis des Arztes
als Samariter, das dann für lange Zeit prägend wurde. Anders als in der Antike
standen für den Arzt weniger die Wissenschaft der Heilkunde als vielmehr
Tröstung und Sorge der unheilbar Kranken und Armen als christliches Gebot im
Mittelpunkt. Die Erfahrungsheilkunde spielte wieder eine größere Rolle, während
ein Teil des medizinischen Wissens der Antike auf diese Weise verloren ging.
Mit der Aufklärung setzt erneut eine Gegenbewegung ein. Hat sich die
Wissenschaft bisher nur im Rahmen des geltenden Weltbildes bewegt, so
kommen nun vor allem die Naturwissenschaften auf dem Weg des Experiments –
ohne „dogmatische“ Vorfestlegungen – zu völlig neuen, teilweise umstürzenden
Ergebnissen, die alte Gewissheiten nicht nur infrage stellen, sondern am Ende
auch beseitigen. Der heftige Widerstand der herrschenden Autoritäten, vor allem
der Kirche, kann diese Entwicklung auf Dauer nicht aufhalten; er trägt letztlich
sogar dazu bei, die eigene Glaubwürdigkeit zu mindern. Mit dem immer
erfolgreicheren Aufstieg der naturwissenschaftlichen Disziplinen verliert gleichzeitig die überkommene metaphysische Verankerung der Menschen zunehmend
an Überzeugungskraft. Stattdessen richtet sich der Blick des Menschen auf seine
Welt, von der er ja Teil ist und für die er in einem neuen Sinn Verantwortung
trägt. Forscherdrang führt zu einem ungeahnten Aufstieg der Wissenschaft von
Natur, völlig neue Möglichkeiten eröffnen sich durch neue technische
Entwicklungen ihrer Anwendung. Uexküll spricht davon, dass die Rolle des
Arztes als Lehrer gerade in dieser Zeit „zu neuem Leben erwacht“, an Bedeutung
sogar zunimmt. Allerdings gilt das in einem neuen Sinn, denn die Medizin sieht
sich zum ersten Mal in der Lage, über das Wohl des einzelnen Patienten hinaus,
gesundheitsfördernd oder Krankheit vermeidend in die Gesellschaft hinein zu
wirken. Mit der Wahrnehmung dieser Möglichkeit aber wächst der Arzt in eine
Rolle hinein, die auf einen Konflikt zusteuert: ist er weiterhin der unbedingte
Anwalt eines Kranken, seines Patienten, oder ist er in erster Linie dem
Gemeinwohl verpflichtet? Der Patient steht in der Gefahr, zum Anwendungsfall
im Hinblick auf das Ganze zu werden. Dass gleichzeitig mit der starken
Differenzierung innerhalb der Medizin der einzelne Arzt immer mehr zum
Experten in einem immer begrenzteren Gebiet seines Faches wird, verändert das
Verhältnis zwischen Arzt und Patient grundlegend.
30
„Durch die Modellvorstellung des Organismus als Maschine haben sich
zwangsläufig auch das Selbstverständnis des Arztes und die Arzt-PatientenBeziehung grundlegend geändert. Der Arzt ist jetzt in erster Linie naturwissenschaftlicher Experte, und der Patient ist Objekt seiner diagnostischen
und therapeutischen Bemühungen. An die Stelle des leibseelischen
Physisbegriffes der Hippokratiker ist das Maschinenmodell des Organismus
getreten. Die alten Begriffe der philanthropia, der philotechnia und der
physiophilia, aber auch der caritas haben in den nüchternen Modellen der
objektivierenden naturwissenschaftlichen Medizin keinen Platz.“ 66
Es ist ein Verdienst Thure von Uexkülls und Wolfgang Wesiacks, dass sie in
ihrem exemplarischen historischen Exkurs nicht einfach Fakten zusammentragen,
sondern wesentliche Grundlinien ärztlichen Handelns aufspüren und damit auch
ihre Gültigkeiten für ärztliches Handeln heute verdeutlichen. Auch in unseren
Tagen läuft die Medizin Gefahr, Wissen und Handeln des Experten in den
Vordergrund zu stellen und das Bedürfnis des Kranken nach partnerschaftlicher
Kommunikation und Begleitung geringer zu achten oder gar ganz zu übersehen. 67
Für die hier vorliegende Arbeit zur Klinischen Ethikberatung zählen diese –
vorrangig an den Vorstellungen der beiden Psychosomatiker angelehnten –
punktuellen und exemplarischen Reflektionen der verschiedenen Rollen von
Ärzten und die damit verbundene Reflektion der Beziehung von Ärzten und ihren
Patienten zu einem weiteren wichtigem Bezugspunkt. Gerade in den schwierigen
klinischen Entscheidungssituationen, in denen Ärzte, Patienten und Angehörige
die „Dienstleistung“ einer professionellen Ethikberatung in Anspruch nehmen,
sind auch auf ärztlicher Seite die hier skizzierten Rollen des Experten, Partners
und Samariters von Nöten. Die Ethikberatung kann diese allenfalls ergänzen,
ersetzen kann sie diese nicht.
Insofern ist für die Klinische Ethikberatung, aber auch für die Medizin im
Allgemeinen, ein Selbstverständnis – oder eine Theorie der Medizin – notwendig,
das diese Rollen systematisch integriert und damit das Verständnis der Medizin
deutlich weiter fasst, als dies herkömmlich geschieht. Eine solche Theorie liegt
dem bio-psycho-sozialen Modell der psychosomatischen Medizin zugrunde,
weshalb dieses Modell im folgenden Kapitel kurz vorgestellt wird. Das
Selbstverständnis der Psychosomatik kann schliesslich als wegweisend auch für
die Praxis der Ethikberatung angesehen werden.
66
67
Uexküll/Wesiack (1991), S. 593.
Engelhardt et al. (2001).
31
2.5. Patientenzentrierte Medizin
Im folgenden Kapitel möchte ich die theoretischen Grundlagen der Psychosomatik
skizzieren sowie Ideen und Erfahrungen bezüglich ihrer Institutionalisierung in der
Organisation Krankenhaus beschreiben. Mit der Psychosomatik rückt ein Modell
ganzheitlicher Betrachtung in den Blick, das zwar als eigenes Fachgebiet ungleich
komplexer ist, aber für die klinische Implementierung dennoch interessante
Verbindungen zur Klinischen Ethikberatung aufweist.
Nicht ohne Absicht gründet das vorangegangene Kapitel ausdrücklich auf den
Vorstellungen Thure von Uexkülls, einem der Väter der modernen Psychosomatik.
Mit der „Theorie der Humanmedizin“ schufen er und Wolfgang Wesiack etwas,
das dem Fach Humanmedizin im Grunde fehlt: eine theoretische Basis, eine
Theorie der Heilkunde. Uexküll und Wesiack gaben ihrem Werk den Untertitel
„Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns“, wobei ihre Theorie weit über die
Belange des ärztlichen Berufes hinausgeht und eigentlich allen heilkundlich
Tätigen als Grundlage dienen kann. Uexküll und Wesiack liegt von Anfang an viel
daran zu verdeutlichen, was das Fehlen einer eigenen Theorie im Grunde bedeutet.
„Wir sind in der Vorstellung aufgewachsen, daß Medizin eine angewandte
Wissenschaft – und das meint – letzten Endes gar keine Wissenschaft sei,
sondern eine Disziplin, welche die Theorien und Methoden von sogenannten
Grundlagenwissenschaften für praktische Zwecke der Ärzte verwende.
Höchstens die Regel, was und wie dieses, was angewendet werden muß, um die
angestrebten Ziele zu erreichen, seien Eigentum und Eigenverantwortung der
Medizin; alles andere bleibe Eigentum und Eigenverantwortung der Physik,
der Chemie, der Biologie, der Physiologie oder der Anatomie.“68
Dieser Vorstellung, so die beiden, entspräche auch das übliche medizinische
Curriculum. In ihm, so die beiden theoretischen Visionäre, lernten künftige Ärzte
die Theorien für den Aufbau des menschlichen Körpers und die komplizierten
Mechanismen in seinem Inneren, ehe sie in den klinischen Semestern mit kranken
Menschen in Berührung kämen.
„In diesen Semestern lernen sie dann die Praxis, d.h. die Regeln, nach denen
man die in der Vorklinik erworbenen Theorien in Diagnostik und Therapie
umsetzt. Medizinstudenten und Ärzte haben daher Schwierigkeiten zu sehen, in
welchem Ausmaß die Praxis, die sie erlernen und ausüben, von Theorien
durchtränkt ist. Sie glauben, die Realität der Krankheiten habe die Theorien
der Medizin geschaffen und sehen nicht, wie weit die Theorien fremder Fächer
die Realität der Krankheiten bestimmen, welche die Medizin diagnostiziert und
behandelt.“69
68
69
Uexküll/Wesiack (1991), S. 3.
Ebd.
32
Die beiden Herausgeber Thure von Uexküll und Wolfgang Wesick beginnen denn
auch das bis heute führende Lehrbuch der Psychosomatik mit dem treffenden Satz:
„Medizinische Lehrbücher verzichten für gewöhnlich auf eine theoretische
Einführung. Sie kommen gleich zur ,Sache‘ “.70
Die „Sache der Medizin“ im Sinne der psychosomatischen Lehre ist – ganz im
Gegensatz zu den mechanistischen Vorstellungen der traditionellen Medizin – ein
integriertes Medizinmodell. Die psychosomatische Lehre bedeutet daher im
Kuhn‘schen Sinne einen grundlegenden Paradigmawechsel hin zu einem biopsycho-sozialen Medizinmodell. Dieses ist u.a. charakterisiert durch eine Reihe
von Grundannahmen.
Grundannahmen
Beschreibung
Im Sinne des sogenannten Situationskreises, eines
Offensein
Modells der systematischen Integration von Wechselbeziehungen des Individuums zu seiner Umgebung.
Eine Ursache zeigt nicht immer die gleiche Folge,
Indeterminiertheit
sondern wird durch den Zustand des komplexen
Organismus und seine Programme mitbestimmt.
Emergenz
Das Auftreten neuer Eigenschaften beim
Zusammenschluss von Subsystemen zu Suprasystemen.
Lebende Systeme neigen immer dazu, sich zu immer
Selbstorganisationstendenz
Einbau der
Lebensgeschichte
komplexeren Strukturen zu organisieren.
Die psychische und soziale Anamnese ist wesentlicher
Bestandteil.
Tabelle 1: Grundannahmen des bio-psycho-sozialen Modells.
Nicht zuletzt setzt das bio-psycho-soziale Modell die Beteiligung des Arztes
voraus, der in den oben genannten Situationskreis eingeschlossen ist. Wenn
überhaupt, orientiert sich dieses integrative Medizinmodell eher an den
Erkenntnissen der Quantentheorie als an denen der Mechanik und statischen
Thermodynamik und hat damit die starren Deutungsmuster des Positivismus längst
hinter sich gelassen.
70
Uexküll/Wesiack (2011), S. 3.
33
Um die Psychosomatik und ihr integriertes Medizinmodell in der hier gebotenen
Kürze zu beschreiben, gehe ich im Folgenden lediglich skizzenhaft auf ihren
Gegenstand, ihre Methode sowie ihre Verbreitung und Lehre ein. Ich beziehe mich
dabei vor allem auf die Psychosomatiker Karl Köhle und Peter Joraschky. Dann
folgt die in diesem Zusammenhang wesentliche Frage der Institutionalisierung.
Die Psychosomatik versteht sich nicht als neue Subdisziplin im Kanon der
übrigen Fachgebiete und ihrer Ausdifferenzierungen wie Nephrologie, Kardiologie
oder Neurochirurgie. Sie versteht sich eher als „spezifische Betrachtungsweise“,
als eine psychosomatische Betrachtung oder Perspektive, die sich den übrigen
klinischen Fächern als Ergänzung ihrer jeweiligen Arbeitsansätze anbietet. 71
Dieser systemische Ansatz der Psychosomatik erfordert ein ärztliches
Verständnis für die Teilsysteme, seien sie biologisch, psychologisch oder sozial; er
erfordert aber auch Verständnis für die Wechselwirkungen dieser Systeme. Um
ihrem Gegenstand – dem ganzheitlichen Phänomen von Gesundheit wie Krankheit
– gerecht zu werden, müsse die Psychosomatik, so Köhle und Joraschky, auch
solche Grundlagenfächer in die Heilkunde integrieren, die in unserer traditionellen
Sicht
nur
bedingt
zur
Medizin
gehörten:
Kommunikations-
und
Sozialwissenschaft, Psychologie und auch die Lehre von der Systemtheorie.
In den vergangenen 30 Jahren hat die Psychosomatik Eingang gefunden in die
ambulante wie die stationäre Versorgung, sie wird an den medizinischen
Fakultäten gelehrt und sie hat den Status eines eigenen Facharztgebietes erlangt. In
der Praxis des Niedergelassenen wie in der Klinik kommt besondere Bedeutung
dem ärztlichen Gespräch, der Anamnese und der Interviewtechnik (auch der
körperlichen Untersuchung) sowie den verschiedenen psychotherapeutischen
Verfahren zu, ob im Rahmen von Einzel-, Gruppen- oder Familientherapien.
In der „psychosomatischen Betrachtungsweise“, so Köhle und Joraschky,
könnten
„Kranker
und
Krankheit
nicht
mehr
unabhängig
von
den
Interaktionsprozessen verstanden werden, die zwischen dem Kranken und seiner
medizinischen Umwelt“ 72 abliefen. Die Einbeziehung der Wechselwirkungen
zwischen Subjekt und Objekt verändere den Wissenschaftsbegriff.
„Von der Art des Umgangs zwischen Arzt und Patient hängt es ab, was von der
Krankheit in Erscheinung tritt. Mit dem Beginn ihrer Beziehung gehören Arzt
und Patient jeweils der Umwelt des anderen Partners an.“73
71
Köhle/Joraschky (1990).
Ebd., S. 418.
73
Ebd., S. 417.
72
34
Köhle
und
Joraschky
folgern,
dass
nicht
die
„additive
Einbeziehung
psychologischer Gesichtspunkte in eine biologisch orientierte Medizin“ die
„psychosomatische Betrachtungsweise“ ausmache, sondern die konsequente
Pflege und Benutzung dieses Umgangs zwischen Arzt und Patient; diese
Begegnung nehme zunächst vor allem im Gespräch selbst Gestalt an.
Selbstverständlich kann es nicht das Ziel der Psychosomatik sein, dass die im
Krankenhaus arbeitenden Ärzte solche ganzheitlichen Gespräche lediglich an
andere Therapeuten, Psychosomatiker oder Psychotherapeuten delegieren. Uexküll
bezieht deshalb alle Ärzte wie Pflegenden ausdrücklich ein, indem er schreibt:
„Das Ziel muß sein, den Ärzten und dem Pflegepersonal des Krankenhauses
die psycho-soziale Kompetenz zu vermitteln, die sie in die Lage versetzt, die
Beziehungen zu ihren Patienten unter diagnostischen und therapeutischen
Gesichtspunkten zu reflektieren und mit den von ihnen betreuten Patienten die
Gespräche zu führen, die ein vertieftes Vertrauensverhältnis begründen.“ 74
Einige der organisatorischen Voraussetzungen sind aktueller, als gedacht. 75
„Dafür ist eine Änderung der Arbeitsorganisation unerlässlich, die den Ärzten
und dem Pflegepersonal die für die Gespräche mit den Patienten und für die
eigene Weiterbildung erforderliche Zeit zur Verfügung stelle. Ferner ist auch
eine Umstellung des Pflegesystems von der sogenannten Funktionspflege auf
die Zimmerpflege erforderlich, bei der jeweils eine Schwester für die
Betreuung weniger Patienten zuständig ist.“76
Auch den psychosomatischen Vordenkern war klar, dass derartige Veränderungen
Zeit und Überzeugung brauchen und nur „in kleinen Schritten“ erreicht werden
können. Im Hinblick dieser Arbeit, die Etablierung der Ethikberatung, ist es daher
aufschlussreich, welche der vier Schritte bzw. Modelle Thure von Uexküll und
Wolfgang Wesiack Ende der 1980er Jahre für die Integration der Psychosomatik
im Kontext des Krankenhauses vorschlugen: Sie unterscheiden eine volle
Integration; Team-Integration; Integration im Rahmen eines Liaison-Dienstes und
den Konsultationsdienst. Zum Abschluss dieses Kapitel und als Grundlage für die
spätere Diskussion werden diese vier Modelle kurz beschrieben. 77
74
Uexküll/Wesiack (1991), S. 643.
Interessant sind in diesem Zusammenhang Modelle der fallverantwortlichen Pflege oder des
primary nursing, bei denen die Kontinuität und Intensität der Beziehung von verantwortlichen
Pflegenden und Patienten ausdrücklich erhöht werden. Im Klinikum Nürnberg ist im Rahmen einer
konzertierten Reorganisation („Struktur- und Prozessoffensive“) im Jahr 2010 ein vergleichbares
System theoretisch erarbeitet worden, das nach entsprechender praktischer Vorbereitung seit 2011
in fünf Fachkliniken erprobt wird.
76
Uexküll/Wesick (1991), S. 643.
77
Uexküll/Wesiack (1991), S. 643.
75
35
Die volle Integration des psychosomatischen Konzepts einer patientenzentrierten
Medizin beschreibe quasi den Idealzustand: Alle an der Behandlung der Patienten
beteiligten Berufsgruppen – Ärzte, Pflegende, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter
u.a. – könnten die psychosomatische Lehre in ihre Alltagsarbeit integrieren und
konkret praktizieren. Sie würden dafür psychosomatisch fort- und weitergebildet,
und es stehe ihnen die erforderliche Zeit zur Verfügung. Die Arbeitsorganisation
sei so weiterentwickelt, dass kontinuierlich ein umfassender Informationsaustausch
zwischen den Beteiligten gewährleistet werde. Außerdem stelle das Krankenhaus
den Mitarbeitern entsprechende Hilfesysteme bereit, die angesichts der intensiven
Beziehungen zwischen Personal und Patienten und der damit einhergehenden
Belastungen notwendig seien. Kurzum: Die volle Integration erscheint tatsächlich
wie ein unerreichbarer Idealzustand. Aber auch der ist möglich.
Die sogenannte Team-Integration, so Uexküll und Wesiack, bezeichne die
Organisation einer stationären psychosomatischen Versorgung, bei der die Klinik
oder Abteilung durch einen psychosomatisch oder psychotherapeutisch geschulten
Oberarzt supervidiert werde. Wie im Modell der vollen Integration, müssten auch
hier veränderte Abläufe die Notwendigkeiten einer patientenzentrierten Medizin
und Pflege berücksichtigen. Eine intensive Fort- und Weiterbildung des Teams in
fachlich-somatischer und psychosozialer Kompetenz sei zu gewährleisten.
Im Modell des Liaison-Dienstes ist gerade letzterer Aspekt deutlich geringer
ausgeprägt. Den beiden Vordenkern zufolge, nehme der psychosomatische oder
psychotherapeutische
Supervisor
zwar
regelmäßig
an
den
Team-
oder
Stationsbesprechungen teil, er gäbe aber sein Wissen und seine Kompetenz nur
eingeschränkt weiter. Er berate Patienten und konzentrierte sich einerseits auf die
Beziehung zwischen Patienten und Team, andererseits auf die Beziehungsdynamik
innerhalb des Teams. Er bemühe sich darum, ein Mitglied des Teams zu werden
und kontinuierlich die dafür erforderliche Nähe aufzubauen.
Sehr viel geringer sind Nähe und Integration beim Modell des sogenannten
reinen Konsiliardienstes. Hier werden dem Konsiliarius entsprechende Patienten
vorgestellt. Die Wirkung des Konsiliardienstes hängt daher in hohem Maße von
der Kompetenz und dem Interesse der verantwortlichen Ärzte ab.
Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Arbeit zur Ethikberatung zeigt
sich, dass der Liaison-Dienst in gewisser Weise als Vorbild für die Ethikberatung
bedenkenswert ist: inhaltlich wie pragmatisch.
36
2.6. Partizipative Entscheidungen
In den ersten fünf Abschnitten dieser Einführung ist die Vorstellung einer
partnerschaftlichen Beziehung und Entscheidungsfindung von Ärzten und
Patienten immer wieder angeklungen. Im Sinne einer Fortsetzung der vorangegangenen Überlegungen zur Patientenautonomie, dem ärztlichen Rollenverständnis
und einer integrativen Medizin geht es im letzten Bezugspunkt dieser Arbeit um
das Prinzip partizipativer Entscheidungsfindungen und das daran anknüpfende
Modell des „shared-decision-making.“ Auch hier setzt sich der Bezug auf Thure
von Uexküll fort. Gemeinsam mit Wolfgang Wesiack schreibt er über die
Konsequenzen ihrer Theorie der Humanmedizin für die Interaktion zwischen
Kranken und Arzt:
„Unsere Auffassung von Krankheit als Autonomieeinschränkung bzw. -verlust
hat Konsequenzen für die Interaktion mit dem Patienten. In einer durch das
Maschinenparadigma geprägten Medizin ist der Patient (naturwissenschaftliches) Objekt ärztlichen Handelns. Nach dem neuen Paradigma wird er
zum Partner, dessen Autonomie respektiert und gestärkt werden muß. Das
schließt natürlich nicht aus, daß der Körper des Kranken auch im Rahmen
dieses Paradigmas vorübergehend, etwa während einer Operation, zum
,Objekt‘ wird, das verändert werden muß. In der Vorbereitungs- und
Nachbehandlungszeit ist der Kranke aber wieder Patient und Partner.“ 78
Den beiden Autoren zu Folge gehörten zu einer Partnerschaft vor allem zwei
Qualitäten: Wahrhaftigkeit und Respekt. Darüberhinaus müsse der Patient
aufgeklärt werden: über die Krankheit, ihre Folgen und ihre Behandlung. Eine
Forderung, die weniger durch rechtliche Erwägungen getrieben sei als vielmehr
durch den Anspruch an die Bewahrung der Würde und Autonomie des Patienten
und das partnerschaftliche Verhältnis beider.
Seitdem die Pioniere der Psychosomatik ihre Theorie der Humanmedizin
formuliert haben, ist über ein Vierteljahrhundert vergangen und die Ansprüche von
Patienten an die Form von Entscheidungsfindungen in der Medizin sind weiter
gestiegen. Mit dem Trend zu größerer Patientenautonomie, Selbstbestimmung und
Selbstverantwortung sind auch die Erwartungen vieler an eine transparente ArztPatienten-Beziehung gewachsen. Die Informationsmöglichkeiten im Internet und
anderen Medien werden durch alle Generationen hindurch zunehmend genutzt,
und viele Patienten nehmen das Gesundheitswesen auch als einen wirtschaftlichen
Bereich war, in dem sie im eigenen Interesse bestmöglich informiert sein sollten.
78
Uexküll/Wesiack (1991), S. 612.
37
Um daher das hier – später auch für die Klinische Ethikberatung – propagierte
Modell einer gemeinsamen Entscheidungsfindung besser einordnen zu können,
folgt zunächst eine Darstellung anderer Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung.
Die amerikanischen Ethiker Ezekiel und Linda Emanuel haben 1992 vier bis heute
gültige Modelle79 beschrieben, von denen jedes seine Berechtigung hat.
1. Das paternalistische Modell
Der Arzt entscheidet mit Wissen und Erfahrung für den Patienten. Er
informiert ihn eher selektiv, um ihn zur Zustimmung seines Vorgehens zu
bewegen. Die Zustimmung ist oft eine Formsache. Das Verhalten des Arztes
kann von Fürsorge geprägt sein. Vom Patienten wird Dankbarkeit erwartet.80
2. Das informative Modell
Auch als wissenschaftliches oder Konsumenten-Modell bezeichnet. Der Patient
entscheidet selbst, nachdem der Arzt ihm alle Informationen zur Verfügung
gestellt und erklärt hat. Die Abwägung der Chancen und Risiken wird allein
durch den Patienten geleistet und verantwortet. Der Arzt folgt dem, was der
Patient entschieden hat. Er erfüllt eher die Rolle eines Technikers. 81
3. Das interpretative Modell
Hier werden durch den Arzt die Vorstellungen und Werte des Patienten
ermittelt, um diesen bei seiner Entscheidung beraten zu können. Im Gegensatz
zum informativen Modell bleibt der Patient mit seinen Informationen nicht
allein, bei den notwendigen Interpretationen wird ihm durch den Arzt geholfen.
4. Das deliberative (abwägende) Modell
Auch hier sollen Vorstellungen und Werte des Patienten seine Entscheidungen
leiten. Arzt und Patient beziehen dabei in einem gemeinsamen Prozess die
objektiven und subjektiven Aspekte der Entscheidung mit ein. Damit geht es in
diesem Modell um das gegenseitige Informieren, sowie ein gemeinsames
Abwägen und Entscheiden. Das Modell entspricht im Grunde dem Modell des
„shared-decision-making“.82
79
Emanuel/Emanuel (1992).
Engel (1996).
81
Charles (1999).
82
Edwards (2001), Scheibler (2003), Scheibler (2004).
80
38
Wichtig erscheint mir an dieser Stelle der Hinweis, dass sich in Bezug auf diese
Modelle gegenwärtig allenfalls Tendenzen aufzeigen lassen. Die Erwartungen von
Patienten und Angehörigen an Ärzte und Pflegende bleiben selbstverständlich
unterschiedlich. Nicht wenige der Patienten vertrauen sich lieber einer direktiven
ärztlichen Führung an, als dass sie sich in der Rolle eines gleichberechtigten
Gesprächspartners wohl fühlen und diese einnehmen könnten und wollten.
Im Hinblick auf die spätere Einordnung und Bewertung der Ethikberatung ist
es aufschlussreich, sich die einzelnen Prozessschritte der partizipativen
Entscheidungsfindung zu vergegenwärtigen. Die folgenden Schritte wurden im
Rahmen eines Förderschwerpunktes „Der Patient als Partner im medizinischen
Entscheidungsprozess“ entwickelt, den das Bundesministerium für Gesundheit im
Jahr 2001 eingerichtet hatte. 83
Der Prozess der Entscheidungsfindung umfasst insbesondere die in der
folgenden Tabelle dargestellten Schritte:84
1
Übereinkunft zwischen Arzt und Patient über das Anstehen einer Entscheidung
2
Angebot seitens des Arztes, die Entscheidung zu den Optionen gleichberechtigt
zu entwickeln
3
Aufzeigen verschiedener gleichwertiger, möglichst evidenzbasierter
Behandlungsoptionen durch den Arzt
4
Gegenseitige Information und Diskussion der Optionen, Evidenzen, Alternativen
sowie deren Vor- und Nachteile
5
Rückmelden über das Verständnis der Optionen bzw. das Erfragen weiterer
Optionen aus der Sicht des Patienten
6
Ermitteln der Präferenzen von Patient und Arzt
7
Aushandeln der Entscheidungsmöglichkeiten
8
Gemeinsame Entscheidung oder einseitiges Entscheiden des Patienten, auch
gegen den Willen des Arztes
9
ggf. das Erstellen und Verabreden eines Plans zur Umsetzung
Tabelle 2: Schritte der Entscheidungsfindung
83
An diesem Projekt nahm auch das Institut für Präventive Medizin an der Universität Erlangen Nürnberg mit Sitz am Klinikum Nürnberg teil. Im Rahmen seiner Tätigkeit für das Institut hat der
Verfasser dieser Arbeit im Jahr 2001 den Förderantrag zum Thema „Hypertonie und Shared
Decision Making“ formuliert. Das Projekt wurde für zwei Jahre bewilligt und später verlängert.
84
Siehe auch: www.patient-als-partner.de.
39
Eine Reihe von Gründen spricht für eine konsequente Anwendung und
Verbreitung des Prinzips partizipativer Entscheidungsfindung und der dafür
erforderlichen Handlungsschritte. Einige von ihnen seien hier kurz genannt:
Viele Patienten nutzen heute die vielfältigen Möglichkeiten des Internets und
sollten Gelegenheit haben, die dort gefundenen Informationen offen in den
Entscheidungsprozess einbringen zu können. Nur so können die mit der eigenen
Beschaffung von Information verbundenen Erwartungen, Ängste und Wünsche in
die Entscheidung und die folgende Behandlung sinnvoll eingebunden werden.
Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die entstehenden Gefühle in Bezug auf die
Erkrankung negativ auf die innere Haltung gegenüber einer getroffenen
Entscheidung zu Diagnostik oder Therapie auswirken. Die Forschung zur
„Compliance“ als Befolgung ärztlicher Therapieanweisungen oder „Concordance“
als Konsens zwischen Arzt und Patient hinsichtlich der Therapie zeigt
eindrucksvoll, welche Auswirkungen gelungene Entscheidungsfindungen auf die
Behandlungsqualität und den Therapieerfolg haben können.
Zudem sei darauf hingewiesen, dass ein hoher Informationsstand des Patienten
und seine Beteiligung an der Entscheidung dazu beitragen können, auf Seiten der
Ärzte möglichen Prägungen von Entscheidungen durch persönliche Präferenzen
und Wertmaßstäbe entgegenzuwirken – zumal bei vielen Entscheidungen in der
Medizin keine eindeutigen evidenzbasierten „Königswege“ definiert sind und es
nicht selten um eine Abwägung im besten Sinne des Patienten geht.
Was die genannten Unterschiede der Vorstellungen und Erwartungen von
Patienten und Angehörigen betrifft, so zeichnet sich seit etwa 20 Jahren ein
zunehmender Wandel in den Einstellungen ab. Viele der im Folgenden genannten
Forschungsergebnisse haben die Gesundheitswissenschaftler David Klemperer und
Melanie Rosenwirth im Auftrag der Bertelsmann Stiftung im sogenanten
Gesundheitsmonitor zusammengestellt. 85
Während früher die Mehrheit der Patienten keine aktive Beteiligung im
Behandlungsprozess wünschten, möchten heute viele an den Entscheidungen
beteiligt werden. Die empirische Forschung belegt dies nicht nur in Deutschland:
85
Der Gesundheitsmonitor der Bertelsmann Stiftung liefert seit 2001 Erfahrungen mit der
ambulanten Versorgung in Deutschland aus der Perspektive von Versicherten und Ärzten. Die
Befragung der Versicherten erfolgt zweimal jährlich. Die Grundgesamtheit ist die deutschsprachige
Bevölkerung in Deutschland im Alter von 18 bis 79 Jahren. Die Nettostichprobe jeder Befragung
umfasst mindestens 1.500 Personen.
40
So gaben im Jahr 2004 in zwei größeren Befragungen mit über 8.000 Befragten in
acht europäischen Ländern 23% der Befragten an, selbst über die Behandlung
entscheiden zu wollen, 26% wollten lieber den Arzt entscheiden lassen und 51%
wollten mit dem Arzt gemeinsam über die Behandlungsmethode entscheiden. 86
Zu ähnlichen Ergebnissen kam 2004 eine Erhebung des Gesundheitsmonitors,
bei dem ca. 10.000 Bundesbürger zu ihrer Einstellung zu Entscheidungen in der
Medizin befragt worden waren. Hier wollten 58% der Befragten eine gemeinsame
Entscheidungsfindung, während nur 14% eine autonome Entscheidung und 28%
eine alleinige Entscheidung des Arztes bevorzugen würden. 87 Und auch eine
Befragung von 1.100 Patienten zur Patienteninformation in der Allgemeinmedizin
kam zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit von 77% eine Teilhabe an
Therapieentscheidungen wünschte. 88
Der Gesundheitsmonitor belegt, dass die Bereitschaft, an Entscheidungen zu
Behandlungen mitzuwirken, erwartungsgemäß nicht nur alters-, sondern auch
schicht- und bildungsabhängig ist. Unter den befragten Patienten stimmten
mehrheitlich die Jüngeren sowie Versicherte mit höherer Schulbildung für eine
gemeinsame Entscheidungsfindung. Es zeigte sich dagegen kein Unterschied
zwischen Gesunden, akut leicht Erkrankten und chronisch Kranken. Mit jeweils
57% präferierten alle drei Gruppen eine gemeinsame Entscheidungsfindung.
Gerade in Zusammenhang mit der hier untersuchten Ethikberatung sind eine
Reihe von Befunden bemerkenswert: Da die von einer Ethikberatung betroffenen
Patienten meist 65 Jahre oder älter sind, ist die altersbezogene Einstellung zur
partnerschaftlichen Entscheidungsfindung wichtig. Hier zeigt der Gesundheitsmonitor, dass sich bei den über 65-Jährigen 41% der Befragten lieber auf die
Entscheidung ihres Arztes verlassen – gegenüber 16% der 35 - 44-Jährigen.
Ebenfalls bemerkenswert: Im Gesundheitsmonitor wurde in der Rubrik
„Wünsche und Erwartungen der Patienten an die Arzt-Patienten-Beziehung“ den
Erklärungen des Arztes am meisten Bedeutung beigemessen (99%). Die Aussage
„Ich möchte, dass der Arzt das Problem gut erklärt“ hatten mit großem Abstand
die meisten Befragten mit „stimme sehr stark zu“ bewertet. Im Rahmen dieser
Arbeit wäre demnach zu prüfen, inwieweit das spezifische Setting des Nürnberger
Ethikkreises diesem Wunsch nach fachlicher Erklärung nachkommt.
86
Coulter/Magee (2003).
Böcken (2004).
88
Isfort (2004), PIA-Studie. Siehe auch www.emgs.de/en/meetings/pat2004/04pat28.shtml.
87
41
Neben der Einstellung von Patienten ist auch die Haltung von Ärzten gegenüber
dem Konzept partizipativer Entscheidungen bzw. „shared-decision-making“
(SDM) relevant. 89 Zwei Studien aus den USA und Kanada zeigen, dass 81% der
Befragten SDM als potenziell hilfreich zur Veränderung von Lebensstilen der
Patienten einschätzen und 80% in Bezug auf das Management chronischer
Erkrankungen. 90% der Befragten vermuten, SDM könne potentiell die Einnahme
von verordneten Medikamenten verbessern helfen. Entgegen diesen positiven
Einschätzungen gibt es aber auch eine deutliche Skepsis in Bezug auf die
tatsächliche Wirkung von SDM sowie die zahlreichen Barrieren, die viele Ärzte
vom Praktizieren partizipativer Entscheidungen offensichtlich abhalten, allen
voran die mangelnde Zeit und finanzielle Honorierung.
Eine deutsche Publikation aus dem Jahr 2007,90 die sich auf zehn internationale
Übersichtsarbeiten mit insgesamt 256 randomisiert kontrollierten Studien bezieht,
bestätigt die positiven Effekte einer stärkeren Involvierung von Patienten, da diese
für die Patienten u.a. bewirkten:
– eine Zunahme des Wissens
– eine realistischere Erwartung des Behandlungsverlaufs
– eine aktivere Beteiligung am medizinischen Behandlungsprozess
– eine Verringerung von Entscheidungskonflikten und Unentschlossenheit
In der Übersichtsarbeit wurden drei verschiedene Partizipationsstrategien unterschieden, die alle der Stärkung einer partnerschaftlichen Entscheidungsfindung
dienen sollen. Die Maßnahmen fokussieren nicht nur auf die beteiligten Patienten,
sondern auch auf die betroffenen Ärzte:
– Fort- und Weiterbildungen zur Förderung der Kommunikationsfähigkeiten von
Medizinstudierenden und Ärzten
– Medizinische Entscheidungshilfen – sogenannte „Decision Aids“ – als
gedruckte oder audiovisuelle Materialien für eine umfassende Information der
Patienten vor dem eigentlichen Arzt-Patienten-Gespräch
– Patienten- und Multiplikatoren-Schulungen zur Förderung der Gesprächs- und
Handlungskompetenz von Patienten und Angehörigen
89
90
Vgl. auch Michel/Moss (2005) und Mendick et al. (2010).
Loh et al. (2007).
42
Es liegt nahe, dass für die Förderung einer gemeins amen und gleichberechtigten
Entscheidungsfindung unterstützende Maßnahmen sowohl auf der Seite der
Patienten wie auch der Ärzte hilfreich sind. Eines dieser Instrumente ist das
sogenannte OPTION-Instrument zur Messung der Arzt-Patienten-Kommunikation.
Der Name „observing patient involvement“ verweist auf die Tatsache, dass in
vielen medizinischen Entscheidungssituationen mehrere Optionen bestehen, wobei
eine der Möglichkeiten auch das beobachtende Abwarten sein kann.
„Das OPTION-Instrument beschreibt die einzelnen Schritte und ärztlichen
Kompetenzen, die zur Beteiligung des Patienten am Entscheidungsfindungsprozess erforderlich sind. Das Instrument misst die Fähigkeit des Arztes, dem
Patienten das medizinische Problem und die Behandlungsoptionen zu erklären,
sein Verständnis zu überprüfen, in Abwägungsprozessen seine subjektive Sicht
einzubeziehen, sich seiner persönlichen Präferenzen zu vergegenwärtigen und
ihn in dem Ausmaß an der Entscheidung zu beteiligen, wie er es wünscht.“ 91
Aus der Sicht der Patienten haben Auswertungen des OPTION-Instrumentes
gezeigt, dass 88% der deutschen Patienten angeben, „ihr Arzt könne ihnen
medizinische Sachverhalte verständlich erklären“. Ebenfalls interessant ist der
Befund, dass aber nur jeder zweite Patient vom Arzt zu den persönlichen
Vorstellungen zum bestehenden Gesundheitsproblem gefragt und nur jeder dritte
Patient ausdrücklich zu eigenen Fragen aufgefordert wurden.
Aus der Sicht der Ärzte finden partnerschaftliche Entscheidungen zwar
generell Zustimmung, im Alltag empfinden viele Ärzte aber einen Mangel an
eigenen kommunikativen Fertigkeiten und an ausreichender Zeit, um Patienten
angemessen in eine komplexe Entscheidung einbeziehen zu können.
Kommunikative Kompetenzen, so Klemperer und Rosenwirth, sind notwendig.
Sie allein reichten aber längst nicht aus. Partizipative Entscheidungsfindungen
erforderten letztlich eine „Bereitschaft des Arztes, dem Patienten partnerschaftlich,
zugewandt, akzeptierend und empathisch gegenüberzutreten“. Im Hinblick auf die
Analyse der Ethikberatungen stellt sich daher die Frage, welche der hier genannten
Aspekte partizipativer Entscheidungsfindung für Entscheidungsprozesse im
Bereich der Ethikberatung hilfreich sein können – wohl wissend, dass es sich
gerade dort um eine oftmals ältere Patientenklientel handelt, in deren Betreuung
allerdings häufig die Generation der Kinder oder Enkel involviert ist.
91
Klemperer/Rosenwirth (2005), S. 18. Mit Jan Böcken (Bertelsmannstiftung) und Bernard Braun
(Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen) geben die Autoren das Chartbook „Shared
Decision Making“ heraus.
43
2.7. Zusammenfassung des Kapitels
Mit dem einführenden Kapitel und seinen sechs Bezugspunkten ist die Grundlage
der Arbeit definiert. Ich stellte damit die mir wichtigen historischen und
medizintheoretischen Bezüge her, von denen aus ich die Entwicklung der
Klinischen Ethikberatung sowie die Evaluation des „Ethikkreises“ in der
Medizinischen Klinik 4 beschreibe und bewerte. Die Einführung verfolgt das Ziel,
diese Bezugspunkte transparent und damit nachvollziehbar zu machen.
Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Nürnberger Ärzteprozess zu und
den von Ärzten verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie stellen einen
unvergleichlichen Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Medizin dar und sind
einzuordnen in eine Entwicklung der Medizin im 19. Jahrhundert, in der sich diese
immer stärker als Naturwissenschaft verstand und ein teilweise unkontrolliertes
Experimentierfeld wurde. Dies, so Viktor von Weizsäcker, habe eine „moralische
Anästhesie“ und eine Denkweise begünstigt, welche den Menschen betrachte wie
ein „chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchskaninchen“. 92
Mit dem Urteil im Ärzteprozess verlautbarten die Richter den Nürnberger
Kodex zur Forschung am Menschen, der trotz seiner verzögerten Rezeption einen
wichtigen Meilenstein auch auf dem Weg zur Patientenautonomie als Paradigma
der modernen Medizinethik markiert. Das Prinzip der informierten Zustimmung
(„informed consent“) unterstreicht einen wesentlichen Aspekt jedweder ArztPatienten-Beziehung und erlangt damit auch Bedeutung für die Alltagsmedizin.
Vor diesem Hintergrund hat sich die Patientenautonomie als Abwehr- und
Anspruchsrecht entwickelt und wird hier als situationsbezogene Handlungsautonomie und Autonomie als moralisches Recht beschrieben. Das Modell einer
„relationalen Autonomie“ betont die gegenseitige Verwiesenheit von Arzt und
Patient, die Fragilität der Autonomie und die Notwendigkeit ihrer Förderung. So
verstanden, stehen Fürsorge und Autonomie gleichwertig nebeneinander.
In diesem Sinne hat sich die Arzt-Patient-Beziehung historisch gewandelt und
die ärztlichen Rollen des Experten, Pädagogen, Samariters oder Partners hervorgebracht. Letzterer passt zum Verständnis einer integrativen Medizin wie der
Psychosomatik mit ihrem bio-psycho-sozialen Modell. Abschließend bleibt festzustellen: Im Liasiondienst von Psychosomatik und Klinischer Ethikberatung zeigen
sich nicht nur theoretische Bezüge, sondern auch organisatorische Parallelen.
92
Weizsäcker (1947)., S. 134.
44
3. Entwicklung, Modelle und Kontext Klinischer Ethikberatung
3.1.Internationale Entwicklung
Nicht nur die Ökonomie, auch die Ethik beginnt bisweilen mit dem Mangel. Denn
ein Mangel kann schwierigste oder gar dramatische Entscheidungen bedeuten, die
beide Disziplinen in ihrer theoretischen und praktischen Relevanz herausfordern.
Ökonomie und Ethik kommen sich dabei bisweilen sehr nah und ergänzen sich,
wenn sich Verteilungsszenarien zu quasi „ökonom-ethischen“ Problemen – wie in
der modernen Transplantationsmedizin – dramatisch verschränken und verdichten:
Wer bekommt die sechs Organe des Hirntoten – einer oder sechs Patienten?
Die Geschichte der Klinischen Ethikberatung beginnt tatsächlich dramatisch,
aber weniger als theoretischer Diskurs einer wissenschaftlichen Publikation,
sondern vielmehr als praktische Diskussion über Leben und Tod im Auftrag eines
Krankenhauses. Sieben „Auserwählte“, die aber lieber unerkannt und anonym
bleiben wollten, mussten Anfang der 1960er Jahre im amerikanischen Seattle
immer wieder darüber entscheiden, welche Patienten mit Nierenversagen in den
seltenen „Genuss“ einer Nierenersatztherapie kommen sollten – und damit mit
großer Chance überlebten – und wer nicht. 93 Bei einem Faktor von etwa 1 zu 100
bedeutete der Platz auf der Warteliste der Dialyse für viele Nierenkranke nichts
anderes als den baldigen Tod. Insofern ist nachvollziehbar, dass die sieben
Mitglieder des offiziellen „Kidney Dialysis Selection Committee“, besser bekannt
als „Life and Death Commitee“, in Seattle keinen Wert darauf legten, namentlich
erwähnt zu werden und öffentlich entscheiden zu müssen. Dennoch erlangte die
kleine Gruppe (ein Chirurg, ein Pfarrer und fünf Bürger, darunter nur eine Frau)
als „God Commitee“ in der amerikanischen Öffentlichkeit schon bald eine
zweifelhafte Berühmtheit. 94
Auch wenn das Seattle-Komitee nicht mit der heutigen Klinischen
Ethikberatung vergleichbar ist: Die hier bereits anklingenden organisatorischen
Fragen der Besetzung, Transparenz und Entscheidungsbefugnis von Ethikkomitees
und ähnlichen Beratungsgremien werden bis heute auch in der Debatte um
Methoden und Modelle der Klinischen Ethikberatung kontrovers diskutiert. Die
Frage der Verteilungsgerechtigkeit spielt dabei bislang eine weniger wichtige
Rolle.95
93
Frewer (2008).
Alexander (1962).
95
Vgl. auch Sass (1989).
94
45
Gerade in den 60er und 70er Jahren warfen die rasanten Fortschritte der Medizin
immer schwierigere ethische Fragen auf, ob am Anfang oder am Ende des Lebens.
Die Intensiv- und „Apparatemedizin“, die Organtransplantation und auch die
Reproduktionsmedizin stellten die Ärzte und letztlich die Gesellschaft vor neue
ethische Herausforderungen: Sollte das, was technisch möglich war, auch gut sein?
Oft entstand der Eindruck, die Gesellschaft könne mit ihren Versuchen einer
ethisch-moralischen Bewertung den technologischen Möglichkeiten der Medizin
nurmehr hinterherlaufen. Nicht zuletzt an der Hirntod-Diagnostik scheiden sich bis
heute die Geister. Obwohl die medizinischen Kriterien zur Feststellung des
Hirntodes seit langem bekannt, überprüft und als weitgehend unstrittig definiert
sind, entstehen in der Bevölkerung immer wieder Zweifel und Unsicherheiten
gegenüber dem Konzept des Hirntodes. 96 Im Zusammenhang mit den rasant
fortschreitenden Möglichkeiten der Organverpflanzung war es 1968 das „Ad-hocCommittee to Examine the Definition of Brain Death“ an der Harvard Medical
School in Boston, das erstmals verbindliche Kriterien für den Hirntod festlegte und
damit eine Grundlage für die Entnahme von Organen definierte, die weltweit eine
anhaltend kontroverse Diskussion entfachte. 97
In doppelter Hinsicht unterscheiden sich das eingangs erwähnte „Kidney
Dialysis Selection“-Gremium und das hier genannte Harvard-Komitee. Das
Gremium in Seattle war multiprofessionell und nicht überwiegend von Ärzten
besetzt und es hatte über individuelle Patienten in einer konkreten Mangelsituation
zu entscheiden. Das Bostoner Gremium hingegen war ausschließlich von
Fachleuten besetzt und diente eher der Entwicklung von Grundlagen und
Richtlinien für die Entscheidungen anderer. Gemeinsam ist beiden Gremien
allerdings, dass sie für die Etablierung der Klinischen Ethikkomitees und der
Klinischen Ethikberatung eine besondere Rolle spielten.
Da an dieser Stelle die geschichtliche Entwicklung der Ethikberatung von
Interesse ist, seien einige ihrer Etappen kurz skizziert. Ich beziehe mich dabei
insbesondere auf den bereits zitierten Aufsatz des Medizinethikers Andreas
Frewer.
Dort
zeigt
er,
dass
zunächst
unterschiedliche
politische
und
weltanschauliche Hintergründe dazu führten, Gremien zur Reflektion schwieriger
Entscheidungen im Kontext der Medizin bzw. in der Klinik zu etablieren.
96
97
Müller (2010).
Ad-hoc-Committee of the Harvard Medical School on Brain Death (1968), Beecher (1968).
46
So bildeten sich während der amerikanischen Eugenikbewegung in den 1920er
Jahren mit dem „Sexual Sterilization Act“ sogenannte „Eugenic Boards“, die dafür
genutzt wurden, die Unfruchtbarmachung nicht-einwilligungsfähiger Patienten in
Kliniken zu legitimieren. 98 Etwa zeitgleich entstanden an katholischen Krankenhäusern „Catholic Medico-Moral Committees“, die zwar klinische Bedeutung
hatten, aber eher zur Durchsetzung bestimmter Werthaltungen dienten. 99
In der ersten Hälfte der 1970er Jahre war es erneut die Stadt Boston, in der sich
erstmals Ethikkomitees gründeten, die den heutigen Gremien der Klinischen
Ethikberatung vergleichbar sind und bei denen die Unterstützung und Begleitung
klinischer Teams in schwierigen Entscheidungssituationen im Mittelpunkt stand.
Am Boston Massachusetts Hospital entstand das erste dauerhaft verankerte
Ethikkomitee, das „Optimum Care Committee“, welches interdisziplinär und
multiprofessionell besetzt war und zwischen 1974 und 1986 über 70 Fälle
begleitete – meist zu Entscheidungen am Lebensende – und diese auch schriftlich
dokumentierte. 100 Die Reichweite der Verantwortung dieses Komitees für die
endgültige Entscheidungsfindung war damals höchst umstritten; ein Aspekt, der
bis heute in der wissenschaftlichen Begleitung der Klinischen Ethikberatung
kontrovers diskutiert wird. Damals gelang es erstmals, die individuelle ärztliche
Entscheidung auf eine breitere Basis zu stellen und um nicht-ärztliche
Perspektiven zu bereichern.
Die Frage der Besetzung und Entscheidungskompetenz eines solchen
Komitees wurde auch in den Folgejahren kontrovers diskutiert, nicht zuletzt
ausgelöst durch den Fall von Karen Ann Quinlan, die 1975 als 21jährige Frau nach
einem Alkoholexzess bei stabilem Kreislauf in ein sogenanntes Wachkoma fiel
und durch den Konflikt zwischen Ärzten und Angehörigen um die Frage der
Beendigung ihrer Therapie weltweit für Aufsehen sorgte. 101
Der Fall ging vor Gericht, und die beteiligten Richter regten die Einrichtung
eines klinischen Entscheidungsgremiums an, das nicht nur mit Ärzten, sondern
auch mit Sozialarbeitern, Juristen und Seelsorgern besetzt sein sollte, worüber eine
kontroverse Debatte entstand. Befürwortet wurde eine interprofessionelle
Besetzung auch von den beteiligten Ärzten. Entschieden wurde allerdings anders.
98
Grekul (2004).
Levine (1984).
100
Brennan (1988).
101
Colen (1976).
99
47
Gerade diesem Aspekt folgten die Richter nicht. Sie forderten schließlich ein
Komitee, das ausschließlich ärztlich besetzt sein sollte, um nicht nur beraten,
sondern auch entscheiden zu können. In der Folge entstanden in den 1970er
Jahren in vielen Kliniken der USA zunächst die „Health Care Ethics Committees“
(HEC), bis es Anfang der 1990er Jahre im Rahmen von Klinikzertifizierungen fast
flächendeckend zur Einführung Klinischer Ethikberatung an amerikanischen
Krankenhäusern kam. Zwei wichtige Fragen, die im Verlauf dieser Zeit nie
abschliessend erörtert wurden, galten der Zusammensetzung dieser Gremien und
ihrer Entscheidungsbefugnisse: „For experts only?“ 102 und „Who decides?“.103
Auch in Europa entstanden seit den 1980er Jahren Klinische Ethikdienste in
Krankenhäusern, ob als Ethik-Komitee oder als Ethikberatung. Sie widmeten sich
ähnlichen Aufgaben – Fallberatung, Leitlinien und Fortbildung – und waren mit
vergleichbaren Diskussionen konfrontiert, wie ihre Vorläufer in den USA.104
In Japan wird ab 2006 über erste Gremien berichtet. 105 Dagegen begann in der
Schweiz das erste Clinical Ethics Committee (CEC) im Jahr 1988, die meisten
Ethik-Komitees gründeten sich aber erst nach dem Jahr 2000. Gerade in der
kulturell sehr heterogenen Schweiz
sind diese Gremien regional
sehr
unterschiedlich ausgerichtet, werden aber insgesamt von der Schweizer Akademie
der Medizinischen Wissenschaften unterstützt und gefördert. 106
In Großbritannien waren Klinische Ethikkomittees vor Mitte der 1990er Jahre
weitgehend unbekannt, zeigen dann aber eine kontinuierliche Verbreitung, so dass
im Jahr 2000 ca. 5% aller Krankenhäuser und im Jahr 2004 bereits 19% aller
Kliniken über ein solches Gremium verfügen. Auch hier ist eine Bewegung
erkennbar, die eher dem Prinzip des „bottom-up“ entspricht, wo einzelne
engagierte Kliniker daran mitwirken, multidisziplinäre Gremien ins Leben zu
rufen. Diese Gremien sind in Großbritannien oft mit Laien besetzt, von denen in
unterschiedlichem Ausmaß eine Fortbildung in ethischen Fragen verlangt wird.
Seit dem Jahr 2000 werden die Verbreitung und Förderung dieser Institutionen
durch ein eigens zuständiges Netzwerk unterstützt, das UK Clinical Ethics
Network. 107
102
Agich/Youngner (1991).
Lo (1987).
104
Pellegrino (1988), Pantilat (1999), Hurst (2005), (2007), Meulenbergs (2005).
105
Nagao (2005), Fukuyama (2008).
106
Salathe (2003).
107
Slowther (2001), (2004).
103
48
Ebenfalls Mitte der 1990er Jahre starten erste Clinical Ethics Committees in
Norwegen, wo im Jahr 2003 offiziell empfohlen wird, dass alle Health Care Trusts
– die Träger öffentlicher Krankenhäuser – bis 2004 ein solches CEC für
Krankenhäuser eingerichtet haben sollten. 108
Auch für Italien wird von den ersten Ethik-Gremien ab Ende der 1990er Jahre
berichtet. Sie beginnen zunächst ehrenamtlich und sind regional unterschiedlich
stark verortet. Im Veneto beispielsweise verfügt seit 2004 jede lokale
Gesundheitseinrichtung über ein Ethik-Gremium, das zur Hälfte von Ärzten
besetzt ist, Leitlinienarbeit und Fortbildungen leistet und auch in dringenden
Fällen eine akute Fallberatung anbietet.109
3.2. Entwicklung in Deutschland
In Deutschland ist der wichtigste Impuls zur Bildung Klinischer Ethikkomitees der
im Jahr 1997 veröffentlichte Bericht „Ethik-Komitee im Krankenhaus“ der beiden
großen konfessionellen Krankenhausverbände: dem „Deutschen Evangelischen
Krankenhausverband“
und
dem
„Katholischen
Krankenhausverband
Deutschland“. Beide empfehlen die Gründung multiprofessioneller Komitees mit
Mitarbeitern aus ärztlichem Dienst, Pflegedienst, Sozialdienst, Verwaltung,
Seelsorge und Personen von außerhalb des Krankenhauses wie Juristen oder
aufgeschlossenen Bürgern.
Damit folgen die beiden Krankenhausverbände in ihren Grundvorstellungen
der internationalen Entwicklung und befürworten eine interdisziplinäre und
multiprofessionelle Besetzung der Beratung. Im Text heißt es dazu:
„Die von Erfahrung und Berufspraxis geprägten Ärzte und Pflegenden können
ihre Standpunkte und berufsethischen Überzeugungen in den Diskurs um die
Richtigkeit dieser oder jener ethischen Entscheidung aktiv in den
Entscheidungsfindungsprozess einbringen, ohne ‚ideologische Zensur’ ihrer
Weltanschauung befürchten zu müssen.
Im Spiegel der Standpunkte anderer Teilnehmer lernen sie ihren eigenen
Standpunkt besser verstehen und artikulieren. Ethik wird dabei weniger als
Wissen um früher entstandene Normen und Werte erfahren, denn als
Normfindungsprozess im konkreten Berufs- und Alltagsleben. Der Respekt vor
dem anderen und die prinzipielle Gleichheit der an ethischen Diskursen
beteiligten Personen wird praktisch eingeübt, in einer Situation, in der es auch
Hierarchie und Machtverhältnisse gibt.“110
108
Pedersen/Foerde (2005), Foerde et al (2008), Pedersen et al. (2008).
Wray (2000), Hurst (2007).
110
DEKV/KKVD (1997).
109
49
Der
Bericht
beschreibt
die
Implementierung
bzw.
auch
Arbeits-
und
Funktionsweisen Klinischer Ethikkomitees und Klinischer Ethikberatung und stellt
zur Entscheidungsfindung und insbesondere der damit verbundenen wichtigen
Rolle der Moderation fest:
„Des weiteren fällt dem Moderator zu, die vorgebrachten Argumente und
Argumentationsketten auf ihre Kohärenz und Widerspruchsfreiheit hin zu
überprüfen. In diesem Zusammenhang wird er unausgesprochene Prämissen
oder uneingestandene Überzeugungen verdeutlichen. Er wird weitere
Betroffene zum Gespräch dazuladen, damit alle möglichen Standpunkte zur
Sprache kommen. In diesem Forum der Entscheidungsfindung wird er dem
Entscheidungsträger bei der Formulierung seiner Entscheidungen behilflich
sein. Er wird selbst jedoch keine Entscheidung treffen, auch nicht indem er
vorschnell abstimmen lässt. Das abgegebene Votum eines ,klinischen EthikKomitees‘ versteht sich als eine Argumentationshilfe für die Entscheidungsträger. Es macht das Gewicht der verschiedenen Argumente durchsichtig, die
in eine ethische Diskussion eingebracht worden sind, und weist auf deren
Konsequenzen hin. Ob und inwieweit die Entscheidungsträger sich das Votum
zueigen machen oder es aufgrund ihres Standpunktes und ihrer persönlichen
Überzeugungen ablehnen, um zu einer anderen Entscheidung zu kommen,
bleibt in ihrer Verantwortung.“ 111
Damit liegt die letzte Entscheidung über die weitere Behandlung des Patienten
unmissverständlich beim verantwortlichen Arzt. Aufgabe des Ethik-Gremiums
bzw. seiner Moderation ist es, im reflektierenden Diskurs gemeinsame tragfähige
Entscheidungen herbeizuführen.
Die Initiative der beiden Krankenhausverbände zeigte Wirkung, und in der
Folge entstanden erste Klinische Ethikkomitees in Deutschland, einige auch
jenseits konfessioneller Häuser. Zu diesem Zeitpunkt, 1997, nahm auch der hier
untersuchte Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 am Klinikum Nürnberg seine
Arbeit auf. Er zählt damit zu den ersten und ältesten Institutionen Klinischer
Ethikberatung in Deutschland.
Drei Jahre später, im Jahr 2000, fand eine erste bundesweite Umfrage zur
Einrichtung Klinischer Ethikkomitees statt, an der knapp 800 konfessionelle
Krankenhäuser teilnahmen. Wie sich zeigte, gab es zum damaligen Zeitpunkt unter
den befragten Häusern nicht mehr als 30 Krankenhäuser mit einem Klinischen
Ethikkomitee oder einer anderen Form der Ethikberatung und nur siebzehn
Krankenhäuser, die sich in der Gründungsphase eines solchen Gremiums
befanden.112
111
112
DEKV/KKVD (1997), S. 11.
Schaefer (2000), Simon (2001), Dörries (2007).
50
Eine Umfrage bei Ärztlichen Direktoren und Pflegedirektoren der 36 deutschen
Universitätskliniken zeigte 2002, dass die Institution „Klinisches Ethikkomitee“
noch fast unbekannt war. Nur die beiden Universitätskliniken in Erlangen und
Hannover hatten ein solches Gremium gegründet, fünf weitere Hochschulen
befanden sich in Gründung. 113 Ein Jahr später ergab eine bundesweite explorative
Telefonumfrage insgesamt 59 Krankenhäuser mit Klinischer Ethikberatung: 28
davon katholisch, 23 evangelisch und 8 in kommunaler Trägerschaft. 114
Die erste bundesweite Umfrage stammt aus dem Jahr 2005. Sie wandte sich an
die Geschäftsführungen von 2.275 Krankenhäusern mit einem 23 Themen
umfassenden Fragebogen zum Krankenhaus, seiner Ethikberatung und ihrer
Implementierung. 235 Krankenhäuser bestätigten daraufhin die feste Einrichtung
einer Klinischen Ethikberatung, 77 Klinken befanden sich im Aufbau einer
solchen. Die Grafik zeigt Gründe für die Initiierung: die Klinikzertifizierung nach
KTQ oder procumCert, konkrete ethische Konflikte oder andere.115
Grafik 1: Anlässe für die Einführung einer Ethikberatung 116
Demnach hatten auch 2005 erst ca. 10 – 15 Prozent der Krankenhäuser in
Deutschland eine Ethikberatung etabliert oder geplant, meist in größeren und
konfessionellen Kliniken. Viele von ihnen hatten dabei ähnliche Widerstände
erfahren: die Sorge um die ärztliche Entscheidungshoheit, Fragen zum
Berufungsverfahren oder der allgemeine Zeitmangel. Bestätigt sah sich die
Studienautorin und Medizinethikerin Andrea Dörries darin, dass die Einführung
von Ethikberatung nur mit der Unterstützung der Geschäftsführung gelingen kann.
113
Vollmann (2004), Wernstedt (2005).
Kettner/May (2002).
115
Bauer (2007) Die genannten Zertifizierungsverfahren verlangen explizit Ethikprojekte.
116
Dörries (2007).
114
51
3.3 Modelle und Methoden Klinischer Ethikberatung
3.3.1. Beratungsmodelle
Da sich seit Ende der 1990er Jahre in Deutschland eine Vielfalt von Formen
Klinischer Ethikberatung entwickelt hat, werden hier zur späteren Einordnung der
Aktivitäten am Klinikum Nürnberg in Anlehnung an den Medizinethiker Gerald
Neitzke die wichtigsten Modelle kurz dargestellt.117 Ausgangspunkt der hier
beschriebenen Modelle ist ein etabliertes Ethik-Komitee, das entweder selbst in die
Beratungen involviert ist oder mit diesen ihre eigenen Mitglieder oder andere
Personen bzw. Funktionen beauftragt.
Expertenmodell
Ethik-Komitee berät separat und „unter sich“.
Delegationsmodell
Ethik-Komitee berät sich mit der anfragenden Person.
Prozessmodelle
Gesamtes Ethik-Komitee berät auf der Station.
Ethik-Komitee entsendet Berater auf die Station.
Ethik-Fallbesprechung durch geschulte Moderatoren.
Ethik-Konsil durch Einzelpersonen.
Offene Modelle
Dezentrale Arbeitsgruppen (z.B. Ethik-Cafe, Ethik-AK).
Fallbezogene Stationsrunden.
Mischformen.
Tabelle 3: Modelle von Ethikberatungen (in Anlehnung an Neitzke 2008)
Im Expertenmodell gibt die ratsuchende Person, Gruppe oder Organisationseinheit
den Fall zur Lösung an den Expertenkreis ab. Den Mitgliedern des Ethik-Komitees
wird der Fall gemeldet, notwendige Unterlagen werden zusammengestellt, das
Ethik-Komitee tagt für sich und sucht nach einer wohl begründeten Lösung, die als
Entscheidung bzw. Rat festgehalten und mitgeteilt wird. Vorteil dieses Modells
kann die Akzeptanz sein, die das Gremium und seine Urteile erfahren – sofern
seine Mitglieder fachlich anerkannt und geschätzt sind. Zudem kann das Modell
dem Wunsch entsprechen, in schwierigen Fällen die zeitintensive Entscheidungsfindung auf der Station zu entlasten. Als nachteilig wird dagegen empfunden, dass
die Aktenlage allein selten ausreicht, um einen Fall in seinen meist komplexen
Dimensionen darzustellen und nachvollziehbar zu machen. Außerdem, so Neitzke,
verhindere das Expertenmodell, dass die „moralische Urteilsbildung und
Konsensfindung“ der Beteiligten weiter eingeübt und entwickelt werde.
117
May (2004), Vollmann (2006), Kettner (2008), Neitzke (2005), (2008), Dörries (2010).
52
Beim Delegationsmodell übernimmt ebenfalls das Ethik-Komitee die Aufgabe der
Problemlösung, allerdings stellt eine delegierte Person aus der anfragenden
Gruppe, Station oder Klinik den entsprechenden Fall persönlich vor und nimmt an
der Beratung und der Entscheidungsfindung stellvertretend für das gesamte Team
teil. Diese delegierte Person kann zwar nicht die Perspektiven und Interessen aller
im betreffenden Fall Beteiligten gleich gut vertreten, sie kann aber die
Entscheidung bzw. Empfehlung des Gremiums gegenüber den Kollegen im
Stationsteam oder der eigenen Organisationseinheit unmittelbar vermitteln und
persönlich erläutern. Die Vorteile des Delegationsmodells werden auch im
Organisatorischen gesehen. Die Erörterung kann – falls möglich und zeitlich
passend – im Rahmen der üblichen Sitzungen stattfinden, und es müssen keine
gesonderten Termine und Räumlichkeiten gefunden werden. Dies mag auf den
ersten Blick marginal erscheinen, stellt aber im klinischen Alltag oft eine
schwierige Hürde dar. Gerade während der Einführung der Ethikberatung, so
Neitzke, werde das Delegationsmodell oft genutzt. Auch für die Erarbeitung von
Leitlinien scheint es gut geeignet zu sein.
Unter Prozessmodellen werden diverse Varianten beschrieben, von denen hier
die „Fallberatung auf der Station“ und das „Konsilmodell“ näher erläutert werden.
Der wesentliche Unterschied zu den anderen Modellen liegt darin, dass Analyse
und Lösung des jeweiligen Falles dort erfolgen, wo er auftritt, nämlich vor Ort.
Im Auftrag des Ethik-Komitees initiieren und begleiten in einer Fallberatung
vor Ort mehrere seiner Mitglieder oder andere ethisch geschulte Experten
gemeinsam mit den Beteiligten – Ärzten, Pflegenden, Patienten, Angehörigen oder
auch juristischen Vertretern – einen Beratungsprozess, indem sie eine gemeinsame
Reflexion des Konfliktes und eine Entscheidungsfindung anstreben. In diesem Fall
wird das bereits beschriebe Prinzip des „shared decision making“, der
gemeinsamen Entscheidungsfindung, am stärksten realisiert. Ein wesentlicher
Vorteil dieser Fallberatung ist die Einübung von Reflexionskompetenz vor Ort.
Alle Aspekte des Falls, so Gerald Neitzke, könnten unmittelbar berücksichtigt
werden, auch unausgesprochene Probleme wüürden leichter sichtbar und nicht
zuletzt der „Tribunal“-Charakter einer Fallbesprechung fernab der Station werde
vermieden. Die Fallberatung auf der Station scheint am ehesten dazu geeignet zu
sein, eine schwierige Entscheidung nicht nur gemeinsam herbeizuführen, sondern
dann auch dauerhaft gemeinsam zu tragen.
53
Varianten der Fallbesprechung vor Ort sind insofern gegeben, als entweder das
gesamte Ethik-Komitee (bei kleiner Anzahl) oder von ihm beauftragte Personen
die Fallberatung anbieten. Im Nijmwegener Modell von Steinkamp und Gordijn 118
beauftragt das Ethik-Komitee damit speziell geschulte Moderatoren, die besonders
flexibel und kurzfristig auf Anfragen reagieren können.
Als weiteres Prozessmodell wird das Konsilmodell angeboten, in dem eine
einzelne, ethisch besonders kompetente Person eine Einzelberatung anbietet: als
Konsil, Visite, Liaisondienst oder – laut Neitzke – im Sinne eines „diensthabenden
Ethikers“.119 Der Vorteil der Flexibilität ist hier abzuwägen gegenüber einer
eventuell eindimensionalen Sicht, die erst in einem Team aus mehreren Personen
überwunden werden kann.
Neben diesen dezidierten Beratungsmodellen existieren an vielen Krankenhäusern auch offene Strukturen, in denen betroffene Ärzte, Pflegende, Seelsorger
oder andere Mitarbeiter und nicht zuletzt Patienten oder Angehörige ihre Anliegen
vortragen können. Diese eher informellen Angebote können dazu beitragen,
spätere explizite Beratungsformen vorzubereiten oder diese zu ergänzen. Eine
Fallberatung im eigentlichen Sinn kann hier nicht stattfinden, wohl aber die
Einübung einer moderierten Reflexion und damit die Sensibilisierung für die
Relevanz und Vorteile gemeinsamer ethischer Diskurse.
Die offenen Formen werden oft als Ethik-AG, Ethik-Café, oder gar EthikSalon bezeichnet und haben eine wichtige Funktion im Sinne der Fort- und
Weiterbildung in ethischer Kompetenz. Sie eignen sich aber auch als Gelegenheit
und Ort, um an ethischen Fragen interessierte Mitarbeiter anzusprechen und für
eine spätere Mitarbeit im Rahmen von Ethik-Projekten zu gewinnen.
3.3.2. Voraussetzungen erfolgreicher Ethikberatung
Nach der Darstellung der verschiedenen Modelle Klinischer Ethikberatung stellt
sich die Frage: Welche Erkenntnisse und Vorstellungen gibt es zu den grundsätzlichen Voraussetzungen einer erfolgreichen Ethikberatung? Nach welchen
Prinzipien sollten Ethikberatungen organisiert, moderiert, dokumentiert und
letztlich auch evaluiert werden? Wer sollte zur Beratung mit welcher Qualifikation
berechtigt sein? Und letztlich: Wann ist eine solche Ethikberatung überhaupt
erfolgreich? Wann hat sie ihren Zweck erfüllt?
118
119
Steinkamp/Gordijn (2000) und (2005).
Gerdes/Richter (1999), Richter (2001) und (2008).
54
Diesen Fragen, die auch den Anstoß zu der vorliegenden Arbeit gaben, sind die
folgenden Ausführungen gewidmet. Sie greifen in ihrer Struktur den Vorschlag
von zwei amerikanischen Medizinethikern auf, die 1994 fünf Aspekte von
Ethikberatungen vorschlugen, die durch Standards geregelt sein sollten: den
Zugang zur Ethikberatung, die Qualifizierung der Beratenden, den Ablauf des
Beratungsprozesses, die Dokumentation des Ergebnisses und die Evaluation. 120
3.3.2.1. Zugang zur Ethikberatung
In den Empfehlungen der beiden konfessionellen Krankenhausverbände aus dem
Jahr 1997 heißt es:
„Jeder betroffene Mitarbeiter und jeder Patient des Hauses kann sein ethisches
Problem vorbringen, um sich für seine eigene Entscheidung eine Gewichtung
der Argumente und Gegenargumente in Form eines Votums als Orientierungshilfe einzuholen. Der Vorsitzende des Komitees entscheidet, ob über vorgebrachte Probleme verhandelt wird.“ 121
Diese Empfehlung für die Geschäftsordnung eines Klinischen Ethik-Komitees als
Träger der Klinischen Ethikberatung enthält zur Frage des Zugangs zwei
Aussagen, die je nach Modell von Ethikberatung heutzutage vermutlich
differenziert würden: Neben Mitarbeitern und Patienten werden in zahlreichen
Publikationen zur Ethikberatung ausdrücklich auch Angehörige und die
juristischen Vertreter von Patienten genannt. 122 Außerdem ist die Entscheidung
über die Annahme des „vorgebrachten Problems“ im klinischen Alltag meist eine
gemeinsame Entscheidung des Ethik-Komitees oder – im Fall einer Mobilen
Ethikberatung – eine Entscheidung des „diensthabenden Beraters“ nach
entsprechendem (meist telefonischem) Erstkontakt.
Der grundsätzliche Zugang zu einer Ethikberatung wird heute in aller Regel
eher weit gefasst, wobei der Klärung des Anliegens eine wichtige Bedeutung
zukommt, um die Beratung nicht der Gefahr zu vieler Fälle oder einer
Instrumentalisierung auszusetzen
–
etwa
um
Konflikte innerhalb
eines
Behandlungsteams oder in Verbindung mit Führungsfragen zu bearbeiten. In
solchen Fällen bietet es sich eher an, ein passenderes Instrument zu empfehlen und
ggf. zu vermitteln, etwa eine Supervision, Mediation oder ein Coaching.
120
Fletcher/Hoffmann (1994).
DEKV/KKVD (1997), S. 17.
122
ASBH (1998), Simon (2008), AEM (2010).
121
55
3.3.2.2. Qualifizierung der Beratenden
Die Qualität einer Beratung hängt generell nicht zuletzt von der Qualifikation der
Beratenden oder Moderatoren ab. Dies gilt selbstverständlich auch für die
Ethikberatung und hat in den letzten Jahren eine Reihe von Kompetenzprofilen
und Schulungskonzepten entstehen lassen wie auch erste theoretische Arbeiten zur
Didaktik medizinethischer Fortbildungen.123
Während die konfessionellen Krankenhausverbände ihre Empfehlungen zur
Qualifikation von Mitgliedern eines Ethik-Komitees bzw. Klinischen Ethikberatern 1997 noch vergleichsweise allgemein hielten: „Bei der Auswahl seiner
Mitglieder ist darauf zu achten, dass diese sich selbst, ihre Sachkenntnis und ihr
Urteil in einen Prozess einbringen können“, entwickelten sich schon bald
differenzierte Vorstellungen von den notwendigen Qualifikationen für eine
erfolgreiche Ethikberatung.
International fanden vor allem die 1998 von der American Society for
Bioethics and Humanities (ASBH) verabschiedeten Kernkompetenzen für
Ethikberatung
124
weithin Beachtung. Sie definieren zwölf Fähigkeiten und neun
Kenntnisse, die der ASBH zufolge je nach Beraterrolle in unterschiedlicher
Ausprägung vorliegen sollten. Demnach müssten Ethikberater grundsätzlich in der
Lage sein, einen ethischen Konflikt als solchen identifizieren und analysieren zu
können. Sie sollten
– eine multiprofessionelle Gruppe in ihrer Diskussion ergebnisoffen und
zugleich zielorientiert moderieren können sowie mit wichtigen medizinethischen Fragen gerade am Anfang und Ende des Lebens vertraut sein.
– unterschiedliche religiöse Vorstellungen zu Sterben und Tod kennen und über
Grundkenntnisse zu einschlägigen rechtlichen Themen verfügen.
– eine offene wie respekt- und vertrauensvolle Atmosphäre schaffen und gerade
auch in kontroversen Gesprächssituationen vermitteln können.
Die Gründung einer Arbeitsgruppe „Ethikberatung im Krankenhaus“ in der
bundesweiten Fachgesellschaft Akademie für Ethik in der Medizin intensivierte
2003 die Diskussion um Standards in der Qualifikation von Ethikberatern und
mündete 2005 in die Publikation eines offiziellen Curriculums der Akademie. 125
123
Aulisio (2000), Fahr (2008), Vgl. AEM-Curriculum oder cekib-Fernlehrgang Ethikberater/in.
ASBH (1998), (2011).
125
Dörries (2005), (2010).
124
56
In diesem Curriculum werden die ASBH-Kompetenzen bestätigt und im Hinblick
auf die Initiierung und Implementierung ethischer Beratungsangebote ergänzt und
weiterentwickelt. Das offizielle Curriculum der Akademie soll dazu befähigen,
„den Bedarf und die Bedeutung von Ethikberatung für die eigene Organisation
zu erkennen und zu reflektieren sowie am Aufbau und an der
Weiterentwicklung geeigneter Strukturen (z.B. regelmäßige Ethikfortbildung,
Ethikarbeitsgruppen, Klinisches Ethikkomitee, Ethikkonsil) mitzuwirken.“ 126
Damit sind neben Fähigkeiten und Kenntnissen für die Beratungssituation selbst
auch Kompetenzen im Bereich der Organisationsentwicklung gefordert, die dazu
beitragen können, den aufzubauenden Ethik-Strukturen die erwünschte Nachhaltigkeit zu sichern. Seit dem Beginn dieses Qualifikationsprogramms im Jahr
2003 haben an ihm allein bis zum Februar 2010 schon insgesamt 367 Personen
teilgenommen. 127
Eine sinnvolle Verbindung aus Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz mit
Kompetenzen zur Organisationsentwicklung vermittelt auch der Fernlehrgang
„Ethikberater/in im Gesundheitswesen“, den das Centrum für Kommunikation
Information Bildung (cekib) am Klinikum Nürnberg seit 2005 in Zusammenarbeit
mit der Akademie für Ethik in der Medizin und u.a. dem Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg anbietet. Der etwa ein
Jahr dauernde Fernlehrgang ist ausdrücklich an das Curriculum der Akademie
angelehnt und umfasst dreißig Lehrbriefe und vier Präsenztage. Bis 2011 haben
am Nürnberger Fernlehrgang insgesamt 656 Personen teilgenommen. 128
Die Entwicklung emotionaler Kompetenzen scheint bislang in didaktischer
Hinsicht im Zusammenhang mit der Ethikberatung und ihrer Qualifizierung
unterrepräsentiert zu sein. Emotionales Lernen wird dabei verstanden als die
Fähigkeit, eigene und fremde Emotionalität zu verstehen und ausdrücken zu
können. Erste Arbeiten aus der Perspektive der Erwachsenenbildung gehen daher
der Frage nach,
„wieweit es gelingt, ein Lernumfeld zu etablieren, das den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern ermöglicht, emotionale und kognitive Elemente fruchtbar in
die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu integrieren.“129
126
Dörries (2005).
Das Hannoveraner Programm ist das weltweit größte Qualifizierungsprogramm für Klinische
Ethik.
128
Davon waren 562 externe Teilnehmende und 94 Beschäftige im Klinikum Nürnberg. Angabe
cekib, Klinikum Nürnberg.
129
Fahr (2008).
127
57
Das Konzept des emotionalen Lernens für die Erwachsenenpädagogik erst
entwickelt wurde, spielt es für die Anwendung im Rahmen medizinethischer
Fortbildungen bislang noch kaum eine Rolle. Angesichts der oft existenziellen
Fragen im Rahmen einer Klinischen Ethikberatung, so der Medizinethiker Uwe
Fahr, erscheint es naheliegend, auch die Eigeninteressen und Motivationen, oder
anders gesagt: die „Deutungs- und Emotionsmuster“ der beteiligten Beratenden in
ihrer Fort- und Weiterbildung konzeptionell zu berücksichtigen und zu nutzen –
ein Ansatz, der laut Fahr explizit die Kritik an einer Wissensfixierung
medizinethischer
Fortbildungen
aufgreife
und
den
Aspekt
der
Persönlichkeitsentwicklung und praktischer Kompetenzen stärke.
Gegenüber der ausschließlichen Wissensvermittlung – in der Pädagogik als
„erzeugungsdidaktischer Ansatz“ verstanden – ergänzen, so Uwe Fahr,
„ermöglichungsdidaktische Ansätze“ 130 die Vermittlung von Fach- und Methodenkompetenz, indem sie die Sozial- und Selbstkompetenz der Berater als
Schlüsselkompetenzen fördern. Da gerade in Ethikberatungen auch die Emotionen
der
Berater
stark
angesprochen
würden,
komme
ihrer
pädagogischen
Berücksichtigung im Hinblick auf das implizite und explizite Lernen eine
besondere Bedeutung zu. Denn gelernt werde in jedem Fall.
Der Fort- und Weiterbildung von Ethikberatern komme auch insofern eine
besondere Bedeutung zu, als sie selbst während der Beratung auch zu Lehrenden
würden. Ethikberatungen könnten als „einzelfallbezogene Lernarrangements“
gedeutet werden, in denen der Berater auch Erwachsenenbildner werde, „ob er sich
dies bewusst macht oder nicht.“ 131
3.3.2.3. Ablauf der Beratungsgespräche
Für den Ablauf des eigentlichen Beratungsgespräches gibt es eine Vielzahl
publizierter Vorschläge, die sich meist auf die folgenden Grundprinzipien
konzentrieren: Jedes Beratungsgespräch sollte in der einen oder anderen Form eine
Eröffnung, Informationssammlung, Formulierung des ethischen Konfliktes,
Diskussion der ethischen Fragestellung und einen Abschluss enthalten. Die
verschiedenen Modelle setzen dabei lediglich eigene Akzente bzw. Schwerpunkte
oder sie unterscheiden sich durch die chronologische Anordnung der genannten
Gesprächsteile.
130
131
Fahr (2008), S. 27.
Ebd., S. 30.
58
Ethische Fallbesprechungen werden meist als kommunikativer Prozess bezeichnet,
dessen Auslöser und Inhalt ethische Konflikte bzw. deren Lösung darstellen.
Daher ist neben der kommunikativen Kompetenz die inhaltlich-fachliche sowie die
methodische Expertise der Prozessgestaltung wichtig. Gerade der Moderation –
wie auf Seite 50 dargelegt – kommt im Gespräch eine zentrale Rolle zu. Dabei
unterscheidet sich das Gespräch im Rahmen einer Ethikberatung deutlich von den
ansonsten üblichen Besprechungsformen im Krankenhaus oder auf der Station. Es
verlangt, so der Medizinethiker Jochen Vollmann, Haltungs- und Wertevermittlung statt Information und Wissensvermittlung, einen geschickten Fragestil
statt Handlungsanweisungen und Anordnungen. 132
Angesichts der Emotionen und moralischen Intuitionen, die im Rahmen der
Ethikberatung oftmals aufeinander treffen, sei es häufig die Aufgabe der
Moderation, so Vollmann, buchstäblich Lenkung und Mäßigung zu betreiben:
„Eine kompetente Fragetechnik kann Gesprächsblockaden auflösen, stille
Teilnehmer in den Diskussionsprozess einbeziehen, Missverständnisse klären
und den aktuellen Stand der Diskussion in der Gruppe sichtbar machen.“ 133
Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die Moderation nicht einem Beteiligten
und Mitglied der Gruppe zu überlassen, sondern durch eine externe Person zu
besetzen, wie in einigen der oben bereits geschilderten Modelle etabliert. Diese
Person sollte selbstverständlich über die zuvor genannten Qualifikationen
verfügen.
Zum besseren Verständnis von Gesprächsverläufen in der Ethikberatung sind
hier drei publizierte und weit verbreitete Verfahren beispielhaft skizziert: Der
„Bochumer Fragebogen zur medizinethischen Praxis“ aus dem Jahr 1987, 134 die
„Nijmwegener Methode für ethische Fallbesprechung“ 135 von 2005 sowie der
„Basler Leitfaden zur Klinischen Ethikkonsultation“,136 ebenfalls aus dem Jahr
2005.
Der Bochumer Fragebogen versteht sich als Leitfaden für die konkrete
medizinethische Einzelfallanalyse. Seine Autoren bringen den Zweck der Methode
auf die einfache Formel: „In Diagnose, Therapie und Prognose ist das ,Wertbild‘
des Patienten ebenso wichtig wie das ‚Blutbild‘.“
132
Vollmann (2008).
Vollmann (2008), S. 88.
134
Sass/Viefhues (1988).
135
Steinkamp/Gordijn (2005).
136
Reiter-Theil (2005).
133
59
Der Leitfaden ist in folgende drei Abschnitte gegliedert, die chronologisch
bearbeitet werden und zu denen zur Anregung und Anleitung eine Reihe von
Fragen formuliert sind. Zunächst die drei Abschnitte in der Übersicht:
1. Klärung der medizinische Befunde
2. Diskussion der medizinethische Befunde
3. Zusammenfassung und Beschluss
Zusätzlich zu diesem dreistufigen Vorgehen enthält der Bochumer Arbeitsbogen
auch eine Reihe spezieller Fragen zu besonderen ethischen Konstellationen, so bei
„Fällen von langandauernder Behandlung“, bei „Fällen von erheblicher sozialer
Relevanz“ oder auch bei „Fällen therapeutischer oder nicht-therapeutischer
Forschung“.
Die Nijmwegener Methode für ethische Fallbesprechungen versteht sich
ebenfalls als Hilfe zur Strukturierung der Gespräche, folgt aber einem vierstufigen
Verfahren. Es beginnt mit der gemeinsamen Formulierung des ethischen Problems
und nicht mit der Faktensammlung. Diese erste Problemformulierung verstehen
die Autoren nicht als endgültig – sie lässt sich im Laufe der Beratung auch
verändern
oder
präzisieren, aber als unmissverständlichen
gemeinsamen
Ausgangspunkt des dann folgenden Beratungsgesprächs. Dieses gliedert sich dann
wie folgt:
1. Benennen des ethischen Problems
2. Zusammentragen der verschiedenen Aspekte (med./pfleg./soz.)
3. Diskussion und Bewertung
4. Beschlussfassung
Da sich dieses Vorgehen auf viele, aber nicht auf alle klinischen Situationen
anwenden lässt, hält auch die Nijmwegener Methode für drei besondere ethische
Situationen weitere Fragen bereit, so für „Patienten ohne Einwilligungsfähigkeit
bzw. Entscheidungsfähigkeit“, „Kinder und die Einwilligungsfähigkeit“ und
ebenfalls „Situationen langandauernder Behandlung“.
Zum besseren Verständnis der Leitfäden und des konkreten Gesprächsablaufs
dokumentiere ich exemplarisch auf den hier folgenden drei Seiten die
Nijmwegener Methode ausführlich.137
137
Nach einer Darstellung von Jochen Vollmann (2008), S. 99-101.
60
1.
PROBLEM
Wie lautet das ethische Problem?
2.
FAKTEN
Medizinische Gesichtspunkte
Wie lautet die Diagnose des Patienten, wie ist seine Prognose?
Welche Behandlung kann vorgeschlagen werden?
Hat diese Behandlung einen günstigen Effekt auf die Prognose? In welchem Maße?
Wie ist die Prognose, wenn von dieser Behandlung abgesehen wird?
Welche Erfolgsaussicht hat die Behandlung?
Kann die Behandlung dem Patienten gesundheitlich schaden?
Wie verhalten sich die positiven und negativen Auswirkungen zueinander?
Pflegerische Gesichtspunkte
Wie ist die pflegerische Situation des Patienten zu beschreiben?
Welcher Pflegeplan wird vorgeschlagen?
Inwieweit kann der Patient sich selbst versorgen?
Ist Unterstützung von außen verfügbar?
Welche Vereinbarungen sind über Aufgabenverteilungen in der Pflege getroffen worden?
Lebensanschauliche und soziale Dimensionen
Was ist über die Lebensanschauung des Patienten bekannt?
Gehört der Patient einer Glaubensgemeinschaft an?
Wie sieht er selbst seine Krankheit?
Wie prägt die Weltanschauung des Patienten seine Einstellung gegenüber der Krankheit?
Hat er das Bedürfnis nach seelsorglicher Begleitung?
Wie sieht das soziale Umfeld des Patienten aus?
Wie wirken sich Krankheit und Behandlung auf seine Angehörigen, seinen Lebensstil
und seine soziale Position aus?
Übersteigen diese Auswirkungen die Kräfte des Patienten und seiner Umgebung?
Wie können persönliche Entfaltung u. soziale Integration des Patienten gefördert werden?
Organisatorische Dimension
Kann dem Bedarf an Behandlung und Pflege des Patienten nachgekommen werden?
Tabelle 4: Die Nijmwegener Methode für ethische Fallbesprechungen.
(Die Fortsetzung der Tabelle folgt auf der folgenden Seite.)
61
3.
BEWERTUNG
Wohlbefinden des Patienten
Wie wirken sich Krankheit und Behandlung auf das Wohlbefinden des Patienten aus?
(Lebensfreude, Bewegungsfreiheit, körperliches und geistiges Wohlbefinden, Schmerz,
Verkürzung des Lebens, Angst u.a.)
Autonomie des Patienten
Wurde der Patient umfassend informiert und hat er seine Situation verstanden?
Wie sieht der Patient selbst seine Krankheit?
Wurde der Patient bis dato ausreichend an der Beschlussfassung beteiligt?
Wie urteilt er über die Belastungen und den Nutzen der Behandlung?
Welche Werte und Auffassungen des Patienten sind relevant?
Welche Haltung vertritt der Patient gegenüber lebensverlängernden Maßnahmen?
Ist es richtig, dem Patienten die Entscheidung zur Behandlung zu überlassen?
Verantwortlichkeit von Ärzten, Pflegenden und anderen Betreuenden
Gibt es zwischen Ärzten, Pflegenden, anderen Betreuenden, dem Patienten und seinen
Angehörigen Meinungsverschiedenheiten darüber, was getan werden soll?
Kann dieser Konflikt gelöst werden durch die Auswahl einer bestimmten Versorgung?
Gab es genügend gemeinsame Beratung unter Ärzten, Pflegenden und Betreuenden?
Sind ihre Verantwortlichkeiten deutlich genug abgegrenzt worden?
Wie wird mit vertraulichen Informationen umgegangen (Vertraulichkeit)?
Ist das vorgeschlagene Vorgehen im Hinblick auf andere Patienten zu verantworten
(Gerechtigkeit)? Müssen Interessen Dritter mitberücksichtigt werden?
Welches sind die relevanten Richtlinien der Einrichtung?
4.
BESCHLUSSFASSUNG
Wie lautet nun das ethische Problem?
Sind wichtige Fakten unbekannt? Kann so ein verantwortlicher Beschluss gefasst werden?
Kann das Problem miteinander in Konflikt stehender Werte formuliert werden?
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Welche Handlungsalternative steht am
meisten in Übereinstimmung mit den Werten des Patienten?
Welche weiteren Argumente spielen bei der Entscheidung eine Rolle?
Welche Handlungsweise verdient den Vorzug auf der Basis der genannten Argumente
(Behandlung, Änderung der Pflege, Konsultation, Überweisung, Zuwarten etc.)?
Welche konkreten Verpflichtungen gehen die Betroffenen ein?
Welche Fragen blieben unbeantwortet?
In welchen Fällen muss die Entscheidung aufs Neue überdacht werden?
Für besondere Fallkonstellationen ergänzt das Nijmwegener Modell wie folgt:
62
5.
BESONDERE SITUATIONEN
Patienten ohne Willensfähigkeit
Wie und durch wen wird festgestellt, dass der Patient nicht zu einem eigenen Willen fähig
ist?
In welcher Hinsicht ist er/sie nicht entscheidungsfähig?
Wird die Willensunfähigkeit als zeitlich begrenzt oder dauerhaft angesehen?
Welche Aussicht besteht auf Wiederherstellung der Willensfähigkeit?
Können die jeweils zu treffenden Entscheidungen so lange aufgeschoben werden?
Was weiß man über die Werte des Patienten?
Gibt es einen Vertreter der Interessen des Patienten?
Kinder
Wurde dem Kind ausreichend Gehör geschenkt?
Kann das Kind in Hinsicht auf die Behandlung selbst entscheiden?
Welche Behandlungsalternative steht am meisten in Übereinstimmung mit den Werten
der Eltern?
Was bedeutet es für das Kind, falls der Auffassung der Eltern entsprochen bzw. gerade
nicht entsprochen wird?
Lange andauernde Behandlung
In welchen Situationen muss das Vorgehen der Pflege überdacht und eventuell verändert
werden?
Welche Haltung vertritt der Patient gegenüber Veränderungen des Vorgehens in der
Pflege?
Tabelle 5: Ergänzung zur Nijmwegener Methode nach Steinkamp und Grodijn.138
Die Nijmwegener Methode betont in besonderer Weise den intuitiven Zugang zu
moralischen Fragen und unterstellt den Beteiligten ein hohes Maß an moralischem
Alltagswissen und ethischer Sensibilität.139 Sie betont zugleich die Unterscheidung
von Fakten und Werten sowie die Annahme, dass auch klinische Fakten
interpretiert werden müssen. In diesem Sinne beruht die Methode letztlich auf
einem an der Hermeneutik orientierten Modell der Ethikberatung. 140
138
Nach einer Darstellung von Jochen Vollmann (2008), S. 101.
Steinkamp/Grodijn (2005).
140
Fahr (2008).
139
63
Ein weiteres Verfahren zur Strukturierung ethischer Fallberatungen enthält das
Basler Modell 141 der „klinischen Ethikkonsultation“, das ebenfalls eine m
ethodische Orientierung zur ethischen Beratung am Krankenbett gibt. Es orientiert
sich an psychologischen Beratungsmodellen und betont vor allem den
systematischen Wechsel der Perspektiven nach folgendem Modell:
ICH-PERSPEKTIVE
Bedürfnisse der beteiligten Individuen, persönliche Werte, professionelles
Selbstverständnis, Grenzen der Belastbarkeit, Rechte des Patienten u.a.
ICH-DU-PERSPEKTIVE
Beziehungsebene zwischen Patient und Arzt/Betreuer bzw. Bezugsperson:
Erwartungen, Versprechen, Vertrauen, Überforderung u.a.
PERSÖNLICHE WIR-PERSPEKTIVE
Beziehungskontext des Patienten, vor allem Familie und Angehörige,
Beziehungskontext des Arztes/Betreuers, hier vor allem das Team
INSTITUTIONELLE PERSPEKTIVE
Leitbild, Wertorientierung, Hierarchie, Entscheidungs- und Handlungsraum,
Gewissensfreiheit des Einzelnen in der Institution, Einschränkungen, z.B. Rationierung
PROFESSIONELLE PERSPEKTIVE
Standards des Fachgebietes, rechtliche Rahmenbedingungen, professionelle Ethik
KOLLEKTIVE PERSPEKTIVE
Wertehorizont, z.B. Religionsgemeinschaft, persönliche Verantwortung in der Gesellschaft
Tabelle 6: Perspektivenwechsel im Basler Model (Reiter-Theil) 142
Die Medizinethikerin Stella Reiter-Theil aus Basel führt dazu aus:
„Mit Hilfe einer systematischen Variation der Perspektiven, unter denen die
aktuelle Problematik betrachtet wird, sollten die relevanten Bedürfnisse,
Rechte und Pflichten der Beteiligten erfüllt werden. Wir streben damit eine
Annäherung an ein ideales Modell der Unparteilichkeit – oder auch der
abwechselnden Mehrparteilichkeit – an, das sich an das Gerechtigkeitsprinzip
von John Rawls anlehnt.“143
141
Reiter-Theil (1999), (2000), (2001), (2003) und (2005).
Reiter-Theil (2005), S. 349.
143
Ebd., S. 349.
142
64
Als Orientierung im Beratungsverlauf wird der Vier-Prinzipien-Ansatz von
Beauchamp/Childress144 genutzt mit der systematischen Berücksichtigung der
folgenden vier Dimensionen:
1. Respekt vor der Autonomie des Patienten
2. Vermeidung von Schaden
3. Wohltun/Gutes tun
4. Gerechtigkeit
Zum Vergleich mit dem Bochumer Fragebogen oder der Nijmwegener Methode
folgt hier der Basler „Leitfaden zur Klinischen Ethikkonsultation“.
1.
VORBEREITUNG
Klärung des Rahmens und des Vorgehens
Problemzentrierter Bericht aus dem klinischen Team
Gelegenheit für Rückfragen und Ergänzungen
2.
SPONTANE FALLDISKUSSION DER DIREKT BETEILIGTEN (nach Bedarf)
Ethische Prinzipien, Werte, Normen
Systematischer Perspektivenwechsel
Pro und Contra der Optionen
ggf. Identifikation und Schliessen von Lücken oder Korrektur von Fehleinschätzungen
3.
FOKUSSIERTE ERGEBNISSE – EXPLIZITE FORMULIERUNG
Entscheidung(en) und ethische Begründung
Weiteres Vorgehen, Dokumentation
4.
FEEDBACK, EVALUATION, BEGLEITFORSCHUNG (wenn möglich)
Tabelle 7: Basler Leitfaden zur Klinischen Ethikkonsultation (Reiter-Theil) 145
In der Literatur wird in diesem Zusammenhang auf die Prägung des Basler
Modells durch die „aktive Rolle der Beraterin“ 146 verwiesen. Gegenüber anderen
Verfahren von Ethikberatung, etwa dem Nijmwegener Modell, scheint dem
Berater im Basler Modell eine stärkere Bedeutung zuzukommen.
144
Beauchamp/Childress (2009).
Reiter-Theil (2005), S. 350.
146
Fahr (2008).
145
65
3.3.2.4. Dokumentation der Beratung
Dass jede Klinische Ethikberatung schriftlich dokumentiert werden sollte,
bestätigen alle Stellungnahmen und Publikationen der vergangenen Jahre.147 Wie
dies im Detail geschehen soll, ist allerdings unklar und daher Gegenstand einer
weiteren wissenschaftlichen Diskussion.148 Gerade im Hinblick auf eine künftige
Qualitätssicherung der Ethikberatung erscheint es notwendig, die oft vage
gehaltenen Begriffe „angemessen“ (z.B. ZEKO) oder „geeignet“ (z.B. AEM
Curriculum) zu präzisieren, vor allem zu Inhalt und Form einer Dokumentation.
Insofern tragen die aktuellen „Empfehlungen für die Dokumentation von EthikFallberatungen“ der Arbeitsgruppe „Ethikberatung im Krankenhaus“ der
Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) dazu bei, ein lange bestehendes
Vakuum zu füllen. Die Empfehlungen wurden 2011 publiziert 149 und bieten eine
hilfreiche Orientierung für die unterschiedlichen hier dargestellten Formen von
Ethikberatung.
Grundsätzlich unterscheiden die Empfehlungen der „Akademie für Ethik in der
Medizin“ zwischen einer externen Dokumentation im Sinne von Ergebnisberichten
und einer internen Dokumentation als Aufzeichnung des Beraters. Auf der Basis
grundsätzlicher Einordnungen zu Fallberatungen allgemein, der angestrebten
„Konsensorientierung der Ethikberatung“, dem „Schutz von Beratungen“ und der
Definition möglicher „Ratsuchender“, nennen die Empfehlungen die Ziele einer
Dokumentation:
„Orientierung
und
Erinnerungsfunktion“,
„Absicherung“,
„Qualitätssicherung“, „Ausbildung von Ethikberatern“ und „Tätigkeitsnachweis“ –
und geben konkrete Anhaltspunkte für den „Ergebnisbericht“. Dieser solle
Angaben enthalten zu
– Datum, Ort und Dauer der Beratung
– Namen und Funktion der Teilnehmer
– Ethische Fragestellung(en)
– Aktuelle medizinische, pflegerische, psychosoziale Situation
– Wünsche, Wertvorstellungen, erklärter/mutmaßlicher Wille des Patienten
– Ergebnis der Beratung/Begründung (erzielter Konsens oder Divergenzen) 150
147
DEKV/KKVD (1997), ASHB (1998), ZEKO (2006), Bramstedt (2009) und Fahr (2011).
Freedom (1993), Fahr (2009).
149
Fahr (2011).
150
Ebd.
148
66
Die AEM-Empfehlungen betonen die Vertraulichkeit der Dokumentation und
stufen sie als „Bestandteile der Krankenunterlagen“ ein.
„Als solche wenden sie sich an alle, die an der Behandlung/Versorgung
beteiligt sind und entsprechende Einsichtsrechte in die jeweiligen Unterlagen
haben.“151
Daher sei die Vertraulichkeit der Beratung zu wahren und in der Dokumentation
auf solche Zitate zu verzichten, die einzelnen Personen eindeutig zugeordnet
werden könnten. „Eine wichtige Ausnahme stellten Äußerungen über den
mutmaßlichen Patientenwillen dar.“
Es wird den Beratern empfohlen, die Dokumentation selbst zu erstellen und
vor allem Ergebnisse mit praktischen Konsequenzen für die Versorgung des
Patienten ausdrücklich schriftlich festzuhalten. Der Ergebnisbericht sollte den
Beteiligten „zur Kenntnis“ gegeben werden, bevor er den Krankenunterlagen
hinzugefügt wird. Und es wird empfohlen, den Bericht durch den Protokollanten
unterschreiben zu lassen.
Für die Form regt die Arbeitsgruppe der AEM gegliederte Erhebungsbögen
(Dokumentationsbögen) an, die durch ihre Struktur eine Arbeitserleichterung
bieten könnten und ggf. schon eine erste Bestätigung des Berichtes direkt im
Anschluss an die Beratung ermöglichen. Auch Aufbewahrung, Datenschutz und
Einsichtsrecht thematisiert die Arbeitsgruppe ausdrücklich. Hier betonen die
Empfehlungen die Einhaltung der Schweigepflicht, eine Aufbewahrung analog den
ärztlichen Aufzeichnungen von zehn Jahren und das Einsichtsrecht betroffener
Patienten bzw. Betreuer oder Bevollmächtigter.
Insgesamt sind die Empfehlungen der Akademie ein wichtiger Schritt auf dem
Weg zu einer Standardisierung von Ethikberatungen. Einige der eher allgemeinen
Vorschläge dürften aber noch eine Erörterung nach sich ziehen, z.B. die Frage der
Vertraulichkeit 152 bzw. die Ablage der Protokolle in den Krankenakten.153
Für die weitere Untersuchung Klinischer Ethikberatungen bedarf es einer
Dokumentation, die mehr als das Ergebnis wiedergibt. Nur eine differenzierte
Analyse der Beratung aufgrund detaillierter Protokolle von Gesprächsverläufen
kann die „black box“ der Ethikberatung154 transparenter machen.
151
Fahr (2011) In Anlehnung an den Medizinrechtler Erwin Deutsch (2008).
Neitzke (2007), Frewer/Fahr (2007), Schmidt/Frewer (2007).
153
Fahr (2009).
154
Frewer (2008).
152
67
3.3.2.5. Evaluation der Beratung
Als letzter, aber nicht minder wichtiger Aspekt der Standardisierung Klinischer
Ethikberatung sei die Evaluation genannt: die systematische Überprüfung und
Bewertung der Beratung und ihrer Auswirkungen. Eine Evaluation wird allgemein
für wichtig erachtet, in ihren Zielen häufig näher beschrieben155 und nur selten
realisiert – jedenfalls nur begrenzt im Sinne wissenschaftlicher Studien. Am Ende
dieses Abschnitts wird dieser Aspekt nochmals aufgegriffen. Zunächst stehen die
Ziele einer Evaluation und ein prominent publiziertes Beispiel im Vordergrund. 156
Sinnvoll und notwendig ist die Evaluation von Ethikberatung aus mindestens
zwei Gründen: sie kann die Veränderungen und Effekte aufzeigen, die das
Angebot der Beratung bewirkt; und sie kann zum Ausgangspunkt von
Verbesserungen werden. Obgleich der beabsichtigte Beleg messbarer Effekte eine
methodische Herausforderung darstellt (u.a. Vorher-Nachher-Vergleiche), können
die qualitativen und quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung
genutzt werden, um die Wahrnehmung und das Erleben der Beteiligten näher zu
erforschen. Damit könnte beispielsweise sichtbar werden
– ob die Beratung von Patienten und Angehörigen kurz- und mittelfristig als ein
hilfreiches Angebot für Entscheidungen und Verarbeitung empfunden wird.
– ob Ethikberatung bei den beteiligten Mitarbeitern zu einer größeren Sensibilität
und Sicherheit im Umgang mit ethischen Fragen führt.
– ob die Beratung bei den beteiligten Mitarbeitern einen „Lerneffekt“ bewirkt
und sie nach anfänglich starker Inanspruchnahme immer weniger genutzt wird.
– ob Ethikberatung zu einer neuen Kommunikations- und Kooperationsroutine
im Stationsalltag führt, in der regelhaft zwischen den Berufsgruppen und
weiteren Beteiligten schwierigste Entscheidungen gemeinsam herbeigeführt
werden und damit für alle Akteure tragfähiger werden.
– ob
Ethikberatung
sich
positiv
auf
die
generelle
Kooperation
und
Kommunikation der großen Berufsgruppen auswirkt und hier eine Verstärkerfunktion ausüben kann.
– ob die Beratung sich tendenziell auf die Entscheidungen am Anfang und Ende
des Lebens auswirkt – und beispielsweise zu einer Zunahme oder Abnahme
der Fortführung von Therapie führt.
155
156
White (1997), Simon (2008), Bruns/Frewer (2010), (2011).
Vg. auch Alfred Simon (2008), S. 176.
68
Die Perspektive von Patienten und Angehörigen sollte im Grunde im Vordergrund
stehen, da die Klinische Ethikberatung ihre Legitimation vor allem aus einer
Verbesserung der Patientenversorgung – und in der Folge auch der Verbesserung
der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter – erfährt. Jede Evaluation sollte diesen
Aspekt berücksichtigen und für die weitere Verbesserung der Beratung nutzen.
Während es seit etwa zehn Jahren eine Reihe von Veröffentlichungen zum
methodischen und organisatorischen Vorgehen von Ethikberatungen und
Ethikkonsilen an universitären, konfessionellen und kommunalen Krankenhäusern
gibt, fehlt es nahezu vollständig an wissenschaftlichen Studien zur Wirkung von
Ethikberatung. Eine der wenigen – und daher oft zitierten – Arbeiten stammt aus
dem Jahr 2003 und konnte hochrangig im Journal of the American Medical
Association
(JAMA)
publiziert
werden.157
Untersuchungsziel,
so
der
Medizinethiker Alfred Simon, waren die Auswirkungen von Ethikberatung auf
Entscheidungen zu lebenserhaltenden Maßnahmen auf Intensivstationen. 158
Über zwei Jahre wurden 551 Patienten an sieben US-Krankenhäusern in die
Studie eingeschlossen. Bei ihnen war davon auszugehen, dass sie die Behandlung
nicht überleben. Per Zufallsprinzip wurden die Patienten in zwei Gruppen
eingeteilt: den Patienten der einen Gruppe wurde eine Ethikberatung angeboten,
den Patienten der anderen Gruppe nicht. Im Ergebnis wirkte sich die Beratung
nicht auf die prozentuale Sterblichkeit der Patienten aus, wohl aber lagen die
Patienten mit einer Beratung durchschnittlich kürzer in der Klinik bzw. auf einer
Intensivstation und erhielten weniger lebenserhaltende Maßnahmen. Die Mehrheit
des befragten Personals fand die Beratung hilfreich, um Entscheidungskonflikte
anzusprechen. Die Autoren folgerten daraus, dass Ethikberatung dazu beitragen
könne, nutzlose oder vom Patienten nicht gewollte Intensivmedizin zu vermeiden.
Vielleicht fehlt es auf diesem Gebiet auch deshalb an „harten“ Studien, weil
diese ausdrückliche Verbindung von Ethikberatung und Ökonomie dem Angebot
und seiner Akzeptanz schaden könnte. Es scheint vielen Beteiligten wichtig zu
sein, die Ethikberatung aus den üblichen Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen
möglichst herauszuhalten. Zu diesem Aspekt folgen zum Abschluss der Arbeit
einige Vorschläge zu weiteren Forschungsansätzen bzw. erste Überlegungen für
die strategische Entwicklung von Kennzahlen zur Ethikberatung.
157
158
Schneiderman et al. (2003). Vgl. aber auch Dowdy et al. ( 1998).
Simon (2008), S. 177.
69
3.3.3. Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission
Womöglich angeregt durch die bundesweite Untersuchung zur Ethikberatung an
Krankenhäusern hat Anfang 2006 auch die Bundesärztekammer durch ihre
Zentrale Ethikkommission (ZEKO) eine Stellungnahme zur „Ethikberatung in der
klinischen Medizin“159 veröffentlicht, in der sie die Entwicklung der Ethikberatung
begrüßt und zur Einrichtung solcher klinischen Angebote ausdrücklich aufruft. Die
ZEKO stellt fest, dass in Deutschland „bisher keine Empfehlungen oder Standards
für die Implementierung und die Arbeit klinischer Ethikberatung“ existieren. Sie
betont den hohen „Informations- und Professionalisierungsbedarf“ und nimmt
ausführlich zu den Zielen, Strukturen, Aufgaben, Organisationsfragen, Modellen
und den häufig wiederkehrenden Problemen bei der Implementierung von
Ethikberatung Stellung.
Die Stellungnahme der ZEKO mündet in acht Empfehlungen, in denen sie die
besondere Aufgabe der Klinischen Ethikberatung im konkreten Einzelfall betont.
Ausdrücklich begrüßt sie die
„Mitarbeit von Ärzten in den multiprofessionell zusammengesetzten Klinischen
Ethikkomitees und in der Klinischen Ethikberatung. Hierdurch können die
ethische Sensibilisierung, Argumentations- und Entscheidungskompetenz bei
allen Beteiligten verbessert und ärztliche Entscheidungen transparenter
gemacht werden.“
Die ZEKO bekräftigt:
„Eine ethische Fallberatung darf die Entscheidungsbefugnis und die
Verantwortung des jeweils Handelnden nicht aufheben. Vielmehr muss der
jeweils Zuständige, insbesondere auch der behandelnde Arzt, weiterhin
verantwortlich entscheiden und handeln.“160
In diesem Zusammenhang bewertet die ZEKO auch die Beratungsmodelle:
-
- die klinische Einzelfallberatung durch das gesamte Ethikkomitee (Modell 1)
-
- die Beratung durch einen einzelnen professionellen Ethikberater (Modell 2)
-
- und die dezentralen Modelle klinischer Ethikberatung (Modell 3)
Dem dezentralen Modell der Ethikberatung wird der Vorrang gegeben, da es nicht
Gefahr laufe, „Tribunalcharakter“ (Modell 1) zu entfalten, keine „Einzelkämpfer“
(Modell 2) produziere sowie besonders flexibel und praxisnah operieren könne.
159
160
ZEKO (2006).
Ebd. Beide Zitate stammen von S. 1707.
70
3.4. Das Krankenhaus als Ort Klinischer Ethikberatung
3.4.1. Strukturen, Entwicklung, Trägerschaft
Die Klinische Ethikberatung wird per definitionem vorwiegend an größeren
Krankenhäusern praktiziert. Gerade in der stationären Krankenversorgung treten
diejenigen Konflikte auf, für deren Lösung die Ethikberatung hilfreich sein kann.
Aber auch das Krankenhaus selbst, eine der wichtigsten Säulen im deutschen
Gesundheitswesen, ist in den letzten zehn Jahren zu einem Ort tiefgreifender
Veränderungen und den damit verbundenen Konflikten geworden.161 Für ein
besseres Verständnis der institutionellen Rahmenbedingungen, in denen sich die
Klinische
Ethikberatung
entwickelt,
werden
hier
die
Dynamik
und
Strukturprozesse dieser Veränderung dargestellt.
Politisch gewollt geht die Zahl der Krankenhäuser auch in Deutschland zurück,
von 2.263 Krankenhäusern 1998 auf 2.083 Häuser im Jahr 2008. Dies entspricht
einer Reduzierung um ca. 10% bzw. einem Rückgang um etwa 70.000 Betten. Die
Zahl der Belegungstage sank im gleichen Zeitraum von 171,8 Millionen auf 142,5
Millionen, die Fallzahlen dagegen stiegen von 16,8 Millionen auf 17,5 Millionen.
Die Verweildauer der Patienten sank für alle Krankenhäuser im Durchschnitt von
10,1 Tagen im Jahr 1998 auf 8,1 Tage im Jahr 2008.162 Hinzukommt eine
erzwungene Sparpolitik, die eine Personalausweitung verhindert. Kurzum: In
immer weniger Betten müssen in immer kürzerer Zeit immer mehr Patienten
behandelt werden.
Deshalb verwundert es nicht, dass die Personalproduktivität an deutschen
Kliniken im europäischen Vergleich über alle Funktionen hinweg gut ist. Eine
Studie von McKinsey zeigt: Bei den klinischen Diensten, im „weißen Bereich“,
liegt Deutschland auf Platz 2 hinter Österreich; bei den nicht-klinischen Diensten
liegt es sogar an erster Stelle. Im ärztlichen Dienst kommen hierzulande auf jeden
Klinikarzt im Durchschnitt 146 Entlassungen; der Median der Vergleichsländer
liegt bei 103. Nur Österreich schneidet mit 154 Entlassungen je Arzt noch
produktiver ab. Beim Pflegepersonal weisen Deutschland und Österreich mit 52
Entlassungen je Pflegekraft gemeinsam die höchste Personalproduktivität auf.
Beim medizinisch-technischen Dienst und Funktionsdienst liegen die deutschen
Kliniken international eher auf Durchschnittsniveau.163
161
Vgl. auch Kühn (1996).
Homepage der Deutschen Krankenhausgesellschaft 2010, Quelle: destatis 2010. (20.01.2012)
163
Nach einer Studie von McKinsey zu OECD Vergleichszahlen aus dem Jahr 2008.
162
71
Ausgelöst wurde dieser Prozess der Produktivitätssteigerung nicht zuletzt durch
ein neues Abrechnungssystem von Krankenhausleistungen, das nicht mehr nach
tagesgleichen Sätzen, sondern nach diagnosebezogenen Fallpauschalen, den DRGs
(diagnosis-related-groups), vergütet. Das DRG-System wurde 2003 in Deutschland
eingeführt und umfasst inzwischen über 1.200 verschiedene Fallgruppen, die das
gesamte Leistungsspektrum der Medizin abbilden sollen. Es erfordert daher eine
aufwändige und personalintensive Dokumentation der erbrachten Leistung.
Entsprechend der Logik des Systems sind die Krankenhäuser implizit angehalten,
ihre Patienten möglichst zügig zu versorgen, um den bestmöglichen Erlös zu
erzielen. Angetrieben durch dieses System ändern viele Krankenhäuser ihre
Strukturen und Prozesse, einige ihre Trägerschaft, andere verschwinden ganz. 164
Die verstärkte Übernahme von Krankenhäusern durch private Träger zeigt sich
besonders deutlich an den absoluten Zahlen. So gingen die Häuser in öffentlicher
Trägerschaft zwischen 2004 und 2008 von 671 auf 571 zurück, frei-gemeinnützige
von 712 auf 673, während die privaten Häuser von 444 auf 537 Häuser anstiegen.
2008 waren in Deutschland 32% der Kliniken in öffentlicher, 38% in freigemeinnütziger und 29% in privater Hand. Aufgrund verstärkter Aquise im Jahr 2008 sind
2009 erstmals mehr Klinken in privater als in öffentlicher Trägerschaft. 165
Das deutsche Krankenhauswesen, das traditionell aus einer Vielfalt
öffentlicher, freigemeinnütziger und privater Träger besteht, könnte sich binnen
kurzer Zeit gravierend verändern, auch in Bezug auf sein grundsätzliches
Selbstverständnis. Im Zuge des politisch gewollten Wandels von einem bislang
durch die öffentliche Daseinsfürsorge geprägten Gesundheitswesen zu einer
stärker marktwirtschaftlich orientierten Gesundheitswirtschaft, halten vermehrt
Aspekte der Profitorientierung Einzug in die Organisation und Führung von
Krankenhäusern. Mit den privaten Klinikketten „Helios“, „Rhön“, „Sana“,
„Asklepios“ und „Mediclin“ beteiligen sich inzwischen zahlreiche börsennotierte
Unternehmen an der Krankenversorgung und streben dabei ausdrücklich jährliche
Renditen im Bereich von bis zu 12% an.166 Auf diese Entwicklung hier deshalb
hinzuweisen, weil sie die grundsätzlichen Unternehmensziele beeinflusst und
damit potenziell auch die Ziele und Wertmaßstäbe der in ihnen Beschäftigen.
164
DKI (2010), Kolb/Missbach (2006), Klauber et al. (2007), Salfeld et al. (2009).
Vgl. Homepage Deutsche Krankenhausgesellschaft, www.dkgev.de. (20.01.2012)
166
Vgl. Hompepage Helios-Konzern, www.helios-kliniken.de. (20.01.2012)
165
72
„Das Rückgrat der stationären Gesundheitsfürsorge bilden aber nach wie vor
die überwiegend in öffentlicher und freigemeinnütziger Trägerschaft
befindlichen Krankenhäuser der Maximalversorgung und die Universitätskliniken. Sie richten ihre Strukturen nicht primär am Profit aus, sondern an
den langfristigen Versorgungsbedürfnissen der Bevölkerung. Hierzu gehört
sowohl die Vorhaltung zur Behandlung von Notfällen als auch die personalund kostenintensive Ausbildung des ärztlichen und pflegerischen
Nachwuchses.“167
Weiterhin stellt das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) in seinem ausführlichen
Forschungsgutachten „Das erfolgreiche kommunale Krankenhaus“ zur Bedeutung
kommunaler Kliniken zusammenfassend fest:
„Grundsätzlich gilt, dass die stationäre Versorgung schwerer und teurer Fälle
in den größeren und großen Kliniken stattfindet. Hier verfügen kommunale
Krankenhäuser – abgesehen von den Universitätsklinika – über die größte
Erfahrung und auch über die positivsten Kennziffern für die Patientenversorgung in Deutschland. Jede zweite Klinik dieses Typs befindet sich in
kommunaler Trägerschaft. Eine kommunale Klinik in Deutschland verfügt im
Durchschnitt über 342 Betten und ist damit fast um die Hälfte größer als das
durchschnittliche deutsche Krankenhaus‘ (261 Betten). Die durchschnittliche
Bettenzahl eines privaten Klinikbetriebes in Deutschland liegt bei 128 Betten.
Acht von zehn deutschen Privatkliniken verfügen über weniger als 200 Betten.“
168
Für die vorliegende Arbeit sind diese Strukturen und Entwicklungen insofern von
Bedeutung, da kommunale Kliniken nicht nur die meisten Patienten und Fälle in
Deutschland behandeln, sondern vor allem für die intensivmedizinische
Behandlung der Patienten unverzichtbar sind. Das DKI stellt dazu fest:
„85% aller Betten auf Intensivstationen in Deutschland befinden sich in
primär nicht-gewinnorientierten Kliniken, davon fast die Hälfte in kommunalen
Häusern. Nur 14,7% dieser besonders kostenaufwändigen und
personalintensiven Betten stehen in privaten Kliniken.“ 169
Gerade intensivmedizinisch zu versorgende Patienten geben aber häufig Anlass zu
einer Klinischen Ethikberatung und entsprechend zeitintensiver Begleitung.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass sich viele der institutionellen
Ethikdienstleistungen an deutschen Krankenhäusern auch in Kliniken öffentlicher
oder freigemeinnütziger Trägerschaft befinden und damit eines der Merkmale
darstellen, an denen die öffentliche Daseinsfürsorge sichtbar wird.
167
Deutsches Krankenhausinstitut (2010), S. 9.
Ebd., S. 8.
169
Ebd., S. 8.
168
73
3.4.2. Ethische Konflikte im Krankenhaus
Die vorgenannten Themen und Herausforderungen können ethische Konflikte im
Krankenhaus hervorbringen oder verstärken, sie sind aber von den eigentlichen
Themen der Klinischen Ethikberatung ausdrücklich abzugrenzen. Während sich
die Unternehmensethik etwa mit Fragen der Betriebskultur und Zusammenarbeit
befasst, sind die Aufgabenfelder der Klinischen Ethikberatung deutlicher klinisch
und am Patienten orientiert sowie auf die Grundlagen der Moraltheorie bezogen.
Die klassischen ethischen Konflikte im Krankenhaus betreffen Fragen am
Anfang des Lebens (z.B. Pränataldiagnostik, Spätabbrüche, Neonatologie), Fragen
mitten im Leben in krankheitsbedingten Krisen (z.B. Amputation, Nierenversagen,
Heimeinweisung) oder am Ende des Lebens (z.B. Beatmung, PEG-Ernährung,
Patientenverfügung). Diese Themen, insbesondere die Fragen am Anfang und
Ende des Lebens, provozieren in den meisten Ethikberatungen den Großteil der
Anfragen. Je nach Krankenhaus und Fachabteilung kann es spezifische
Schwerpunkte geben, beispielsweise im Fach Geburtshilfe oder Neonatologie.
Für eine dauerhafte Akzeptanz der Ethikberatung im Krankenhaus ist es
erforderlich, Themen und Grenzen der Beratung klar zu definieren und sie nicht
instrumentalisieren zu lassen. Viele denkbare Konflikte, auch ausgelöst durch die
oben geschilderten Rahmenbedingungen, können sich auf den Stationsalltag und
konkrete Einzelfälle auswirken, sollten methodisch aber hinterfragt und ggf.
getrennt werden. Ansonsten kann die Ethikberatung in die zweifelhafte Situation
geraten, organisatorische oder ökonomische Aspekte bzw. Fragen der Führung zu
bearbeiten, die eigentlich zur Verantwortung anderer Akteure gehören. Gerade
Team- und Führungsfragen werden oft mit Themen der Ethikberatung vermischt,
was die Unzufriedenheit der Beteiligten eher vergrößert als Lösungen herbeiführt.
Für Auftraggeber wie Auftragnehmer ist es daher wichtig, mittels einer genauen
Auftragsklärung das eigentliche Thema eindeutig zu identifizieren.
Täglich werden im Krankenhaus in den genannten Konfliktfeldern schwierige
Entscheidungen getroffen. Manchmal sind es Entscheidungen im Einvernehmen
aller Beteiligten, manchmal spalten sie auch die Gruppe der Beteiligten, führen zu
gegenseitigem Unverständnis zwischen Ärzten und Pflegenden oder zwischen dem
Behandlungsteam und den Patienten und Angehörigen. Nicht selten sind aber auch
Patienten und Angehörige in wesentlichen Grundfragen nicht einer Meinung. 170
170
Ley (2005).
74
Klinische Ethikberatung bedeutet in diesen Fällen die praktische Anwendung der
Ethik als einer Disziplin, mit deren Hilfe sich moralische Konflikte analysieren
und klären lassen. Als Teilgebiet der Philosophie befasst sich die Ethik mit den
Fragen der Moral. Sie orientiert sich an denen in einer Gesellschaft geltenden
Normen und Werten, etwa den geltenden Maßstäben für soziales Verhalten.
„Die Ethik“, so die Medizinethiker Alfred Simon und Gerald Neitzke, „beginnt
im Grunde dort, wo moralische Normen nicht mehr fraglos hingenommen werden,
sondern nach rationalen Begründungen für menschliches Handeln gesucht wird.“
171
Dann wende die Ethik bestimmte Diskurstechniken an, in deren Verlauf sie „zu
rationalen und einvernehmlichen Lösungen“ zu kommen suche.
Angesichts der Methoden oder Prinzipien der allgemeinen Ethik, so die beiden
Klinischen Ethiker, ließen sich für eine solchermaßen normative Ethik zwei
Theorien unterscheiden, die moralische Normen auf diametral unterschiedlichem
Wege begründeten, und die beide in den entsprechenden Diskursen wichtig seien:
die teleologischen und die deontologischen Theorien.
„Teleologische Theorien beurteilen eine Handlung nach dem Ziel, das der
Handelnde verfolgt, bzw. nach den Folgen, die für diese Handlung zu erwarten
sind. Deontologische Theorien wiederum leiten konkrete moralische Normen
aus bestimmten grundlegenden Pflichten oder Werten ab.“172
Zu den teleologischen Theorien gehörten etwa utilitaristische Moraltheorien,
welche den moralischen Wert einer Handlung in den außermoralischen Werten
begründen, die durch die Handlung geschaffen werden: etwa dem Glück und
Wohlstand oder der Gesundheit.
Die deontologischen Theorien begründeten dagegen eine Handlung immer mit
grundlegenden Prinzipien und würden sie aus diesen ableiten. Es werden nicht die
Folgen von Handlungen beurteilt, sondern von bestehenden Regeln und Prinzipien.
Die Folgen sind damit zwar relevant, aber nicht Ausgangspunkt der Beurteilung.
In diesem Sinne hat sich die Klinische Ethik als ein Gebiet etabliert, das nicht
eigene moralische Theorien entwickelt, sondern die Methoden und Prinzipien der
allgemeinen Ethik auf den Bereich klinischer Fragestellungen anwendet – für das
Fach der Nierenheilkunde etwa so: Soll bei einem Schwerstkranken noch eine
Dialyse begonnen werden? Kann dem Wunsch eines Patienten entsprochen
werden, der sich trotz guter Prognose nicht dialysieren lassen möchte?
171
172
Simon, Neitzke (2008), S. 29.
Ebd., S. 30.
75
3.5. Zusammenfassung des Kapitels
Die Historische Entwicklung der Klinischen Ethikberatung zeigt, wie sich diese
„Dienstleistung“ ausgehend von den USA und im Zuge der rasanten Fortschritte
der Medizin im Verlauf von vierzig Jahren entwickelt hat und auch in Deutschland
an inzwischen 300 – 400 Krankenhäusern etabliert sein dürfte. Dabei begleitet
diese Entwicklung von Anfang an die kontroverse Diskussion um Zusammensetzung und Befugnisse entsprechender Komitees und Gremien. In Deutschland
haben die beiden konfessionellen Krankenhausverbände 1997 mit einem Bericht
zum „Ethik-Komitee im Krankenhaus“ die hiesige Entwicklung angestoßen, dem
zunächst vor allem konfessionelle Kliniken folgten. Langsam stieg die Zahl der
aktiven Ethik-Komitees und Ethikberatungen an. Seit 2006 wirbt auch die Zentrale
Ethikkommission bei der Bundesärztekammer für eine solche Einrichtung.
Da sich in Deutschland eine Vielfalt von Beratungsformen entwickelt hat, wird
die Unterscheidung in Experten-, Delegations-, Prozess- und offene Modelle
dargestellt, wobei meist eine der Varianten des Prozessmodells genutzt wird, etwa
die Beratung im gesamten Ethik-Komitee, die Konsultation mit einem Ethik-Team
oder der einzelne Ethikberater.
Die wissenschaftliche Diskussion zeigt, dass insbesondere der Zugang zur
Ethikberatung, die Qualifizierung der Beratenden, der Ablauf des Beratungsprozesses, seine Dokumentation und Evaluation zu den wichtigsten Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung zählen. Für den Gesprächsverlauf haben
sich verschiedene Modelle etabliert, so der „Bochumer Fragebogen“, die
„Nijmwegener Methode“ oder der „Basler Leitfaden“. Sie variieren jeweils den
Verlauf von Benennen des ethischen Problems, Zusammentragen diverser
Aspekte, Diskussion und Bewertung sowie Beschlussfassung. Für die Dokumentation einer Ethikberatung hat eine Arbeitsgruppe der Akademie für Ethik in
der Medizin 2010 eigens eine Empfehlung herausgegeben. Zur Evaluation
Klinischer Ethikberatung gibt es bis heute auch international nur wenige größere
Studien, wenngleich dies angesichts der Ausbreitung dringend erforderlich wäre.
Für die übergeordnete Einschätzung ist es wichtig zu wissen, dass sich die
Klinische Ethikberatung in einer Zeit entwickelt, in der die Krankenhäuser durch
die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen vor allem zu einer
Entwicklung gezwungen sind: in immer weniger Betten in immer kürzerer Zeit
immer mehr Patienten zu behandeln.
76
4. Rahmenbedingungen am Klinikum Nürnberg
4.1. Allgemeine Rahmenbedingungen des Klinikums
4.1.1. Strukturen und Entwicklung
Mit seiner mehr als 100jährigen Geschichte173 – gegründet 1894 – firmiert das
ehemals „Städtische Krankenhaus“ seit 1998 als selbstständiges Kommunalunternehmen Klinikum Nürnberg und damit als hundertprozentige Tochter der
Stadt Nürnberg. Als Krankenhaus der Maximalversorgung betreut das Klinikum
mit seinen ca. 5.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 36 Fachkliniken und
Instituten mit insgesamt 2.200 Betten an den beiden Standorten im Norden und
Süden der Stadt jährlich über 90.000 Patienten voll- und teilstationär sowie weitere
ca. 90.000 Patienten ambulant.
Das Klinikum Nürnberg ist heute allein mit den über 2.000 Pflegekräften, 900
Ärzten und knapp 400 Auszubildenden nicht nur einer der größten Arbeitgeber
und Ausbildungsanbieter in der Region, sondern auch eines der größten
kommunalen Krankenhäuser Europas.174
Angesichts
der
allgemeinen
demografischen
und
epidemiologischen
Entwicklung ist auch das Klinikum Nürnberg in Bezug auf sein Leistungsangebot
sowie seine Organisation einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen. Um gegenüber den Patientinnen und Patienten seine umfassende
Kompetenz als Krankenhaus der maximalen Leistungsstufe effektiv und effizient
zu bündeln, baut das Klinikum kontinuierlich eigene Netzwerke für bestimmte
häufige Krankheitsbilder auf. Damit sollen Früherkennung, Behandlung und
Nachsorge optimiert und eine enge Kooperation zwischen dem ambulanten und
stationären Bereich gewährleistet werden. 175
Mit diesem Ziel entstanden im vergangenen Jahrzehnt neben sieben
Tageskliniken insgesamt 18 interdisziplinäre Zentren: ein Brustzentrum, Darmzentrum, Kontinenzzentrum, Lungentumorzentrum, Perinatalzentrum, Prostatazentrum, Schilddrüsenzentrum, Schlafmedizinisches Zentrum sowie u.a. die
Zentren für Schwerbrandverletzte, Altersmedizin, Kraniofaciale und Spaltanomalien, Operative Kurzeingriffe oder Plastisch-rekonstruktive und Ästhetische
Chirurgie.
173
Windsheimer (1997).
Klinikum Nürnberg (2009). Vgl. auch www.klinikum-nuernberg.de. (14.12.2011)
175
Maly/Estelmann (2007).
174
77
Im Zuge der gesetzlichen Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen und
insbesondere im Hinblick auf die deutlichen Veränderungen der Finanzierung von
Krankenhäusern, hat sich das Klinikum Nürnberg parallel zu seiner medizinischen
Weiterentwicklung auch strukturell fortentwickelt.
Seit der Umwandlung in ein Kommunalunternehmen hat das Klinikum eine
Konzernstruktur entwickelt, in der es eine Reihe eigener Tochterunternehmen
führt: die Klinikum Nürnberg Service GmbH (KNSG), die Klinikum Nürnberg
GmbH (KNG), das Ambulante Reha Zentrum (ARZ) sowie die Kliniken
Nürnberger Land GmbH. Mit dem Kauf der Krankenhäuser in Altdorf, Hersbruck
und Lauf legte das Klinikum einen Grundstein für die Sicherung der wohnortnahen
akutstationären Grundversorgung in Stadt und Land sowie auf für die
Wettbewerbsfähigkeit der fünf Krankenhausstandorte.
Da zahlreiche Erkrankungen, die früher im Krankenhaus behandelt wurden,
heute nur noch ambulant abgerechnet werden dürfen, bietet das Klinikum mittlerweile verschiedene Leistungen in seinen Medizinischen Versorgungszentren
(MVZ) an. Im Sinne der Patienten vermeidet dies unnötige Lücken zwischen
stationärer und ambulanter Behandlung und nutzt zugleich die vorhandenen
personellen und technologischen Ressourcen des eigenen Hauses. Die Zahl der
ambulant behandelten Patienten steigt damit im Sinne des Gesetzgebers auch im
Klinikum Nürnberg von Jahr zu Jahr deutlich an.
Den größten Anteil der allein 5.800 Beschäftigten im Klinikum stellt mit 33%
der Pflegedienst, gefolgt vom ärztlichen Dienst mit 17%, dem medizin-technischen
Dienst mit 15% und dem Funktionsdienst, z.B. in der Anästhesie, mit 10%. Damit
arbeiten drei Viertel der Klinikumsmitarbeiter in der direkten Krankenversorgung.
Die Anzahl der Klinikumsmitarbeiter in den einzelnen Berufsgruppen ist in
den vergangenen Jahren nahezu konstant geblieben. Gegen den bundesweiten
Trend wurden im Klinikum Nürnberg nahezu keine Stellen abgebaut, im Jahr 2008
stieg die Zahl der Pflegenden im Vergleich zum Jahr 2007 sogar etwas an. Von
weiteren Neueinstellungen profitierte vor allem der medizinisch-technische Dienst,
aber auch die Zahl der Ärztinnen und Ärzte ist leicht angestiegen. Inzwischen
muss sich das Klinikum wie viele andere Krankenhäuser auch auf einen drohenden
Personalmangel sowohl im Pflegedienst als auch im ärztlichen Dienst vorbereiten
und rechtzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen treffen. 176
176
Klinikum Nürnberg (2009), S. 7. Vgl. auch www.klinikum-nuernberg.de (14.12.2011)
78
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist das Klinikum Nürnberg bis heute eine der
größten Ausbildungsstätten in der Metropolregion. Seit 1920 werden Jahr für Jahr
mehrere hundert Pflegende ausgebildet, das Centrum für Pflegeberufe gilt seit
vielen Jahren als eines der größten Ausbildungszentren in Deutschland. Großen
Wert legt das Klinikum auch auf die Fort- und Weiterbildung seiner Mitarbeiter.
Das klinikumseigene Centrum für Kommunikation Information Bildung (cekib)
hat sich seit 2001 zu einem überregional und bundesweit tätigen Bildungsanbieter
für Gesundheitsberufe entwickelt und für den gesamten deutschsprachigen Raum
ein umfangreiches Angebot an Fernlehrgängen entwickelt, nicht zuletzt den
Fernlehrgang „Ethikberater/in Gesundheitswesen“ in Kooperation mit der
Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen und dem Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg.
In Zusammenarbeit mit der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg ist das Klinikum Nürnberg auch Akademisches Lehrkrankenhaus der
Medizinischen Fakultät in Erlangen und darüber hinaus mit Universität wie
Fakultät in verschiedenen Forschungsvorhaben und anderen Aktivitäten verbunden
(z.B. im Transplantationszentrum Erlangen-Nürnberg). Zudem sind zwei der
Nürnberger Chefärzte zugleich Lehrstuhlinhaber für Innere Medizin 2 (Geriatrie)
und Innere Medizin 4 (Nephrologie) an der Friedrich-Alexander-Universität in
Erlangen.
4.1.2. Vergütung und Leistungszahlen
Die Einführung des Fallpauschalensystems (DRG-System) zur Abrechnung von
Krankenhausleistungen hat wie beschrieben seit 2003 gravierende Folgen für die
Organisation, Abrechnung und letztlich auch die Leistungsentwicklung in
Krankenhäusern und damit auch im Klinikum Nürnberg.
Mit dem Ziel bestmöglicher Diagnostik, Therapie und Pflege verbindet sich
zunehmend – und vom Gesetzgeber so gewollt – das Ziel optimierter interner
Aufbau- und Ablaufstrukturen, um die Patienten in möglichst kurzer Zeit in den
kostenintensiven stationären Strukturen versorgen zu können. Die durchschnittliche Verweildauer ist dabei zum Gradmesser für die Qualität der klinikinternen
Prozesse geworden. Sie ist eines der wesentlichen Kriterien für die Vergütung der
erbrachten stationären Leistungen und damit für die wirtschaftliche Existenzfähigkeit eines Krankenhauses.
79
Kann ein Patient in der sogenannten „mittleren Verweildauer“ entlassen werden,
erzielt das Krankenhaus den größtmöglichen Erlös; bei längerer oder kürzerer
Verweildauer ist dagegen mit Auf- oder Abschlägen zu rechnen. Damit rechnen
sich gute Strukturen und Prozesse, organisatorische Friktionen kosten dagegen das
Krankenhaus viel Geld. Denn was sich auf den einzelnen Patienten bezogen als
geringer Betrag darstellt, summiert sich pro Jahr für eine Fachabteilung bzw. das
gesamte Krankenhaus schnell auf sechs- oder siebenstellige Beträge.
Im Klinikum Nürnberg ist, wie in den meisten anderen deutschen Krankenhäusern, die durchschnittliche Verweildauer in den vergangenen Jahren daher
nochmals deutlich gesunken. Innerhalb von nur fünf Jahren sank zwischen 2006
und 2011 die Verweildauer von 7.2 auf 6.8 Tage, eine Verkürzung um 0.4 Tage.
Verglichen mit der durchschnittlichen Verweildauer von 12 Tagen im Jahr 1995
nähert sich das Klinikum allmählich einer Halbierung der durchschnittlichen
Verweildauer innerhalb von zwanzig Jahren, ein nur vermeintlich langer Zeitraum.
Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit, ist auch die Schwere der im
Klinikum behandelten Erkrankungen von Interesse. Während die Patienten des
Klinikums nicht nur zügiger versorgt werden müssen, werden sie nämlich
tendenziell auch kränker. Die Verteilung der Schweregrade auf die Anzahl der
behandelten Patienten belegt dies. Der „Patient Clinical Complexity Level“
(PCCL) zeigt den Gesamtschweregrad eines Krankenhausfalles. Dabei gilt die
Regel: Je höher der Schweregrad, desto höher der PCCL. Im Jahr 2008 etwa fallen
rund 36% der Patienten des Klinikums Nürnberg durch die Art ihrer Erkrankung
sowie der Nebenerkrankungen in die beiden höchsten Schweregrade PCCL 3 und
PCCL 4.177 Auch ein Vergleich der Altersstruktur der Patienten belegt, dass im
Klinikum Nürnberg, wie in vielen anderen kommunalen Häusern, durchschnittlich
ältere Patienten behandelt werden als in konfessionellen oder privaten Kliniken.
Damit unterscheidet sich das Patientenkollektiv im Klinikum Nürnberg
deutlich von dem anderer Krankenhäuser – auch in der Region. Dies begründet
nicht zuletzt den wachsenden Bedarf an einem kompetenten Umgang mit
schwerstkranken und sterbenden Patienten – einer der wichtigsten Zielgruppen für
die hier untersuchte Klinische Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4 am
Klinikum Nürnberg. Aber nicht nur der Schweregrad der Patienten verändert sich
über die Jahre und steigt an. Auch die Zahl der Patienten steigt kontinuierlich.
177
Klinikum Nürnberg (2009), S. 9. Vgl. auch www.klinikum-nuernberg.de (14.12.2011)
80
Während die Patienten zügiger versorgt werden müssen und kränker werden, steigt
auch die Zahl der Patienten von Jahr zu Jahr an. Allein im Zeitraum von 2008 bis
2011 stieg die Zahl der DRG-Fälle im Klinikum Nürnberg um über 6.000 Fälle an.
Grafik 2: Entwicklung von DRG-Fallzahlen und Vollkräfte Ärzte (2008 – 2010)
AD VK (ohne Psychiatrie)
DRG Fallzahl
Fälle pro VK pro Monat
2008
2009
2010
786
806
814
HR 2011
(Jan – Ok)
849
82.656
85.710
87.715
88.854
105,1
106,3
107,7
104,7
Tabelle 8: Entwicklung DRG-Fallzahlen, VK Ärzte, VK/Monat (2008 – 2010)
Zusammenfassend lässt
sich
feststellen: Steigende
Fallzahlen,
sinkende
Verweildauern und erhöhte Schweregrade prägen heute den Alltag vieler Ärzte
und Pflegekräfte im Klinikum Nürnberg wie in anderen Krankenhäusern der
Maximalversorgung auch. Im Klinikum Nürnberg ist diese Entwicklung
allerdings mit einem bemerkenswerten Personalaufbau verbunden. Von 1986 bis
2011 ist die Zahl der Ärzte um 90% und der Pflegenden um 15% gestiegen. 178
Letztere Entwicklung läuft dem Bundestrend diametral entgegen, wo der
Pflegedienst im selben Zeitraum um 15% reduziert wurde.
178
Die Angaben zur Entwicklung von DRG-Fallzahlen und Vollkräften stammen von H.
Röttenbacher, Zentrales Controlling, Klinikum Nürnberg, 2011.
81
4.2. Spezifische Rahmenbedingungen der Ethikberatung
4.2.1. Ethikprojekt als Organisationsentwicklung
Die im Folgenden beschriebenen ersten Aktivitäten zur Unternehmensethik und
klinischen Ethik am Klinikum entstanden lange vor der oben skizzierten Dynamik
durch die Einführung des DRG-Systems. Fallzahlsteigerung, Verweildauer, PCCL
oder Casemix waren noch kein gebräuchliches Alltagsvokabular, als sich die
Leitung des Klinikums 1998 entschloss, ein eigenes Ethikprojekt zu initiieren, d.h.
zunächst eine umfassende qualitative Mitarbeiterbefragung in Auftrag zu geben.
Die Ergebnisse der Befragung begründeten in den Folgejahren eine Reihe von
Maßnahmen und Initiativen, mit denen das Klinikum die Debatte moralischer
Fragen und damit auch die ethische Kompetenz seiner Mitarbeiter systematisch
fördern wollte. Von Anfang an war damit eine Initiative gemeint, „die nicht nur
die klassischen Fragen der Medizin- und Pflegeethik betraf, sondern auch Aspekte
der Unternehmenskultur wie Führung, Kommunikation und Transparenz.“ 179
Ein erster Meilenstein war 1999 die Entwicklung eines Ethik-Codes180 für das
Klinikum, der die Würde des Patienten und seine stets individuelle Situation in den
Mittelpunkt stellte und zum Maßstab des Handelns machte. Vor dem Hintergrund
der historischen Bedeutung Nürnbergs in der Medizingeschichte verweist der
Ethik-Code auf den Nürnberger Kodex von 1947 mit seinem ersten und prägenden
Prinzip des „informed consent“; dem Prinzip, dem auch in dieser Arbeit eine
besondere Bedeutung zukommt, da es eines der Kernprinzipien der Ethikberatung
und der von ihr geförderten gemeinsamen Entscheidungsfindung darstellt.
Der Ethik-Code, so heißt es in seiner Präambel, wurde im Klinikum in einem
„offenen Diskussionsprozess“ erarbeitet. Seine ethischen Grundsätze stellten keine
endgültigen Festlegungen dar, sondern blieben einer „lebendigen Überprüfung und
Weiterentwicklung“ unterworfen. Damit stelle der Code eine Art „öffentliche
Selbstverpflichtung“ dar und schaffe verbindliche Grundlagen aller Handlungen
und Entscheidungsprozesse im Arbeitalltag. Ergänzt werde der Ethik-Code durch
einen Verhaltenskodex für alle Mitarbeiter, der nicht nur den angestrebten
Umgang mit Patienten und Angehörigen betreffe, sondern auch den Umgang der
Beschäftigten untereinander und vor allem das Verhalten der Führungskräfte.
179
180
Erbguth et al (2007), S. 157.
Wehkamp (1999) und (2001). Ethik-Code Klinikum Nürnberg – siehe Anhang unter 9.2.1.
82
Neben dem Verhaltenskodex brachten der Vorstand und die Personalvertretung
des Klinikums auch eine gemeinsame Vereinbarung zur Konfliktvermeidung und
Konfliktbewältigung auf den Weg, eine für Krankenhäuser bis dahin unübliche
Form der Selbstverpflichtung in Fragen der Unternehmenskultur.
Neben der ambitionierten Initiierung derartiger Dokumente und Leitbilder
waren es vor allem die praktischen Konsequenzen und Aktivitäten des
Ethikprojektes, die für den Alltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spürbar
und relevant wurden: Ethische Themen wurden fortan systematisch in die
pflegerischen
Fort-
und
Weiterbildungen
(z.B.
Stationsleitungslehrgänge)
aufgenommen; eigene Ethikseminare für Mitarbeiter aller Berufsgruppen wurden
veranstaltet, zwei berufsgruppenübergreifende Lehrgänge für Führungskräfte
organisiert sowie das Angebot von Supervision, Coaching und Teamentwicklung
personell verstärkt und ab 2002 als dauerhaftes internes Dienstleistungsangebot
des „Centrums für Kommunikation Information Bildung“ etabliert. Ziel der
Aktivitäten war es, mit dem Ethikprojekt auch die Unternehmenskultur im
beschriebenen Sinne positiv zu beeinflussen.
Um die bisherigen und zukünftigen Aktivitäten zur Ethik im Klinikum
nachhaltig sicherzustellen und weiterzuentwickeln, berief der Klinikumsvorstand
in der Folge ein klinikübergreifendes Ethikkomitee, das „Ethikforum“. Laut seiner
Geschäftsordnung setzt sich das vierzehnköpfige Gremium nicht nur aus internen
Mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchien aus Medizin, Pflegedienst, Zentralen
Diensten und den Servicebereichen zusammen, sondern bindet auch externe
Expertise sein. So wirken eine pensionierte Richterin und ein Vorstandsmitglied
der AOK-Mittelfranken seit seiner Gründung im Ethikforum des Klinikums mit. 181
Entsprechend der international üblichen Arbeitsweisen solcher Gremien, sind
auch in Nürnberg die wichtigsten Aufgaben des sich vierteljährig treffenden
Forums die Veranstaltung von Fort- und Weiterbildungen zu ethischen Themen,
die Entwicklung klinikumseigener ethischer Empfehlungen und Richtlinien sowie
die Initiierung und Begleitung ethischer Angebote, wie der Ethikberatung oder der
Ethik-Cafés. Das unabhängige Forum kann darüber hinaus von Beschäftigten,
Patienten und Angehörigen involviert und um die Befassung bzw. Stellungnahme
zu vorgebrachten Themen gebeten werden, es wird aber auch selbst initiativ,
bestimmt eine eigene Agenda und setzt entsprechende Prioritäten.
181
Klinikum Nürnberg (2007) – siehe Anhang unter 9.2.2.
83
So ist das Ethikforum z.B. von niedergelassenen Ärzten zum klinikumsinternen
Umgang mit dem Thema „PEG-Magensonde“ angefragt worden, es hat die
Initiativen am Klinikum zur Einrichtung und Gestaltung von Sterbezimmern
unterstützt und sich gegenüber der Klinikumsleitung um eine offene Diskussion
des wachsenden Spannungsfeldes zwischen Ethik, Ökonomie und Mitarbeiterzufriedenheit eingesetzt. In der Anfangszeit wurde das Ethikforum irrtümlich von
Seiten verschiedener Kliniken um die Genehmigung von Studien und Forschungsvorhaben ersucht. Dies ist ausdrücklich nicht sein Aufgabengebiet, sondern
Tätigkeitsbereich entsprechender Ethik-Kommissionen.
Insgesamt befindet sich das Ethikforum damit in jenem inhaltlichen Rahmen,
den die internationale Literatur für Klinische Ethikkomitees seit Jahren vorschlägt.
Dem Grunde nach kann sich auch das Ethikforum im Klinikum Nürnberg mit sehr
verschiedenen Themen befassen, sofern dabei Fragen behandelt werden, die im
weitesten Sinne der klinischen Ethik zuzordnen sind. Da es bis heute keine
verbindlichen
Kriterien einer
wissenschaftlichen Untersuchung
Klinischer
Ethikkomitees gibt, fehlt es an überprüfbaren Kriterien für ihre Evaluation.
Letztlich müssen sich sämtliche Einrichtungen im Umfeld eines Krankenhauses –
und damit auch eine solche Institution – daran messen lassen, ob und wie sie sich
auf die Qualität der Krankenversorgung positiv auswirken.
Geleitet wird das Ethikforum derzeit von zwei Vorsitzenden und organisiert
von einer Geschäftsführung. Nach einer intensiven Aufbauphase in den ersten
Jahren hat das Ethikforum wieder verstärkt seit Ende 2009 verschiedene
inhaltliche Impulse gesetzt, so eine Veranstaltung zur Unternehmenskultur, die
Überarbeitung interner Handlungsempfehlungen sowie zwei große öffentliche
Informationsveranstaltungen zum Patientenverfügungsgesetz von 2009 und den
Urteilen des Bundesgerichtshofes im Jahr 2010.
Um neben der klinikspezifischen Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4,
dem hier untersuchten Ethikkreis, auch eine klinikumsweite und zentral
erreichbare Ethikberatung aufzubauen, beauftragte das Ethikforum 2003 zunächst
eine Befragung von Ärzten und Pflegenden zum Thema „Patientenbetreuung und
Entscheidungen am Lebensende“ durch die Medizinethikerin Stella ReiterTheil.182 An der schriftlichen Befragung nahmen Beschäftigte aus den Bereichen
Intensivmedizin, Onkologie, Palliativ-medizin, Geriatrie und Neurologie teil.
182
Reiter-Theil (2003). Es handelt sich um einen internen Ergebnisbericht im Klinikum Nürnberg.
84
Im
Ergebnis zeigte die Befragung über alle Abteilungen und Berufsgruppen
hinweg eine Unzufriedenheit bezüglich folgender Aspekte:
-
- Fehlen schriftlicher hausinterner Leitlinien
-
- Fehlen von Ansprechpartnern
-
- Befürchtung von rechtlichen Konsequenzen
-
- Personalknappheit und Zeitmangel
-
- Kommunikationsschwierigkeiten der Berufsgruppen
Im Hinblick auf die hier benannten Defizite entwickeln das Ethikforum und die
Klinikumsleitung im Jahr 2004 in Anlehnung an die Vorschläge der
Bundesärztekammer gemeinsam mit der Nürnberger Hospizakademie und der
Seelsorge am Klinikum Nürnberg die „Empfehlungen zum ethischen Umgang mit
Schwerstkranken und Sterbenden“.
Nach diesen vorbereitenden Aktivitäten initiierte das Ethikforum 2004 auch die
Einführung der klinikumsweiten Ethikberatung, mit der die Rahmenbedingungen
und letztlich die Qualität gemeinsamer Entscheidungsfindungen in schwierigen
akuten Versorgungssituationen verbessert werden soll. Mit seiner Zentralen
Mobilen Ethikberatung (ZME) hat das Ethikforum für das Klinikum Nürnberg
eine Ethikberatung auf den Weg gebracht, die klinikumsweit und kurzfristig, wenn
nötig auch binnen weniger Stunden, stattfindet und in der speziell geschulte
Mitarbeiter aus Medizin, Pflege, Seelsorge und Sozialdienst aktiv sind.
Die zentralen Ethikberater sind an beiden Standorten jeweils über eine feste
Telefonnummer bzw. einen bekannten Funkpiepser erreichbar. Sie können von
Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen eingeschaltet werden, klären nach
Kontaktaufnahme zunächst Beratungsanlass bzw. Ausgangssituation und initiieren
dann eine Ethikberatung, an der im Regelfall zwei Berater teilnehmen. Einer von
beiden dokumentiert die Beratung anschließend als Ergebnisprotokoll. Sämtliche
Aufgaben rund um die Ethikberatung – vom ersten Telefonkontakt, über die
inhaltliche Vorbereitung der Beratung, die Moderation und Gesprächsführung bis
zur Nachbereitung im Sinne des Protokolls und/oder abschließender oder
weiterführender Gespräche – werden zwar in der Regel während der
Kernarbeitszeit, formal aber außerhalb der Dienstzeit erbracht und eigens vergütet.
Damit bestätigt das Klinikum die Bedeutung, die es diesem Engagement beimisst.
85
Die zentralen Ethikberater des Klinikums wurden entweder durch die geförderte
Teilnahme am Fernlehrgang „Ethikberater/in im Gesundheitswesen“ oder durch
eine mehrtätige Schulung durch die Medizinethikerin Stella Reiter-Theil von der
Universität Basel für diese Aufgabe vorbereitet. Damit sind einige der
Ethikberater/innen konzeptionell im Sinne des oben geschilderten Basler Modells
für Ethikberatung geschult worden.
In den ersten Jahren wurde die zentrale Ethikberatung pro Jahr zu etwa 10 bis
15 Fällen hinzugezogen. Bis heute ist diese Zahl leicht gestiegen und entspricht
damit den Erfahrungen anderer vergleichbarer Kliniken in Deutschland, wie im
sechsten Kapitel der Arbeit noch gezeigt wird. Bei jährlich über 90.000 voll- und
teilstationären Patienten weist dies auf die institutionellen und womöglich auch
„kulturellen Hürden“ hin, die einer breiteren Nutzung vielerorts noch im Wege
stehen. Oft fehlt es bereits an der notwendigen Zeit, die Beteiligten (Mitarbeiter,
Angehörige, Patienten) zu einem gemeinsamen und ungestörten Termin
zusammenzubringen. Daneben erfordert es Selbstbewusstsein, Standvermögen und
eine gewisse Unabhängigkeit, um als ärztliches oder pflegerisches Mitglied eines
Stationsteams eine Ethikberatung im Kollegenkreis trotz der nicht seltenen
Bedenken und Widerstände vorzuschlagen bzw. durchzusetzen. Und drittens bleibt
die Zentrale Mobile Ethikberatung ungeachtet ihrer Informationsbroschüre und der
Informationen im hauseigenen Intranet zunächst ein weitgehend anonymes
Angebot, dessen Akteure in einem Krankenhaus von der Größe des Nürnberger
Klinikums nur langsam bekannt werden.
Dass vereinzelt Mitarbeiter aus Bereichen wie der Palliativmedizin als
Ethikberater eine vergleichsweise große Nachfrage bestätigen, kann durch eine
Vermengung von klassischem palliativmedizinischen Konsil und Ethikberatung
bedingt sein. Im klinischen Alltag wird das „Palliativ-Konsil“, das etwas
grundsätzlich anderes darstellt, nicht selten für eine Ethikberatung gehalten und
auch als solche bezeichnet.
Die Diskussion um das bestmögliche Modell einer Klinischen Ethikberatung
wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit fortgesetzt, zumal das Modell des
Ethikkreises der Medizinischen Klinik 4 in mancher Hinsicht ein Sondermodell
der Klinischen Ethikberatung darstellt.
Die folgende Übersicht stellt abschließend die vom Ethikforum ausgehenden
Aktivitäten am Klinikum Nürnberg dar.
86
Vorstand
Leitungskonferenz
Ethikforum
14 interne und externe Mitglieder vom Vorstand berufen
Aus Medizin, Pflege, Seelsorge, Zentralen Diensten u.a.
1. und 2. Vorsitzender
Geschäftsordnung und Geschäftsführung
ca. vier Treffen im Jahr
bearbeitet und begleitet u.a. folgende Schwerpunktthemen
ZME
Ethikcafé
Grundsätze
Bildung
Initiativen
Zentrale
Mobile
Ethikberatung
KNN/KNS
Angebot
für den
Erfahrungsaustausch
Empfehlungen
z.B. zum
Umgang mit
Sterbenden
Vorträge
oder
Fernlehrgang
Ethikberater
Sterberaum
PEG
Betriebsethik
etc.
Gemeinsame Veranstaltungen von Vorstand und Ethikforum
2010: Zwischen Ethik und Monetik
2011: Führung und Mitarbeitergespräche
Abbildung 1: Übersicht der Aktivitäten des Ethikforums am Klinikum Nürnberg
87
4.2.2. Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
Da zwischen der Einrichtung der Psychosomatik als klinischem Fach und der
Einführung der klinischen Ethikberatung als einzelner ethischer „Dienstleistung“ –
wie eingangs erwähnt – zum Teil gewisse Parallelen bestehen, werden hier die
Phase der Einrichtung der Psychosomatik und ihre Aktivitäten im Bereich der
Liaisontätigkeiten beschrieben und dann die heutige Klinik für Psychosomatik und
Psychotherapie mit ihren Forschungsschwerpunkten dargestellt.
Als eines der ersten Krankenhäuser in Deutschland richtete das damalige
Städtische Krankenhaus in Nürnberg 1980 eine eigenständige psychosomatische
Fachabteilung ein und berief zu deren Leitung den Psychiater Prof. Dr. Walter
Pontzen.
Ähnlich
der
Klinischen
Ethikberatung,
wenngleich
ungleich
umfassender, entstand damit am Städtischen Krankenhaus ein neues klinisches
Angebot, das für viele ungewohnt und exotisch war und das mit einer jahrelangen
Überzeugungs- und Aufbauarbeit verbunden war. Zehn Jahre später erinnert sich
der damalige Chefarzt Pontzen in einer Publikation:
„Als ich 1980 ankam, gab man mir ein ziemlich heruntergekommenes Zimmer,
wie ich später erfuhr, eine Kostbarkeit in der Raumenge des Krankenhauses,
einen ähnlichen Schreibtisch und die Aussicht auf eine Bettenstation. Der
Verwaltungsdirektor fragt mich, ob ich Arzt sei und betrachtet mich, als ob ich
in ihn hineinschauen könnte, in seine dunklen Ecken natürlich. Die meisten
ärztlichen Kollegen empfingen mich nicht gerade enthusiastisch, was mich
nicht wunderte. Die Medizin ist nun einmal biologisch orientiert. Das
Erkennen von psychosozialen Faktoren wird häufig als eine Kunst angesehen,
die man sich leicht aneignen kann, und es herrscht die Meinung vor, der Arzt
benötige keine besondere psychologische Schulung, da er diese Voraussetzung
mit der Berufswahl mitbringe. Ich wurde daher von meinen Kollegen nicht zur
Kenntnis genommen, freundlich begrüßt und nicht mehr beachtet, mit inneren
Zwiespältigkeiten und spitzen Fingern angefaßt und auch, was mich sehr
freute, von einigen leitenden Ärzten, mit denen dann eine Zusammenarbeit in
schöner Art und Weise möglich war, ohne wesentliche Vorbehalte begrüßt.“183
In seinem für die Implementierung neuer „inner-klinischer“ Angebote aufschlussreichen Rückblick betont der langjährige Leiter Walter Pontzen die besondere
Bedeutung der Aufgeschlossenheit der jeweiligen leitenden Ärzte. Die Frage habe
daher weniger gelautet, in welchen medizinischen Fachgebieten und bei welchen
Krankheitsbildern eine psychosomatische Versorgung besonders wichtig und
hilfreich sein könne, sondern welche Abteilung, bzw. welcher Chefarzt dafür
überhaupt aufgeschlossen sei und sich eine Zusammenarbeit vorstellen könne.
183
Pontzen (1990), S. 347.
88
„Eine Konsequenz ist, dem ambulanten Bereich, dem Bereich der Konsultation
und Liaison, ein Übergewicht zu geben gegenüber dem stationärpsychosomatischen Bereich. Denn mit einem im Vordergrund stehenden
stationären Bereich ist eher eine Isolierung als eine Integration erreichbar.
Sehr überspitzt ausgedrückt heißt das, die beste psychosomatische Abteilung
ist die ohne Betten, wobei mir in der derzeitigen Situation der medizinischen
Versorgung in der Institution Krankenhaus durchaus klar ist, daß eine
Bettenstation eine erforderliche Erleichterung darstellt, weil eine klinische
Abteilung ohne Betten im Krankenhaus wenig zählt, eine integrierte stationärpsychosomatische Behandlungsmöglichkeit im Rahmen anderer Abteilungen in
der Regel nicht durchführbar ist und der Psychosomatiker seine Identität, mit
deren Entwicklung er sich zwischen Organiker, Psychosomatiker und oft
Psychoanalytiker sehr schwertut, im ausschließlich ambulanten Bereich nur
schwer wird finden können.“184
Ohne Unterstützung in einer eigenen Abteilung, so Pontzen pointiert, sei er aber
als „missionarischer Einzelkämpfer“ verloren. Wenn der langjährige Chefarzt der
Nürnberger Psychosomatik davon schreibt, sein Fach wolle und könne nicht „Alibi
für eine medizinisch-technische Institution“ sein, die sich einen Psychosomatiker
quasi als „Hofnarren halte“, wird die Anfangszeit der Psychosomatik lebendig.
Pontzen wollte daher eher einen Liaisondienst als einen Konsildienst aufbauen, da
letzterer oft zu Missverständnissen und falschen Erwartungen führe.
Vor diesem Hintergrund förderte die neue psychosomatische Abteilung vor
allem den kontinuierlichen Aufbau eines Liaisondienstes, um „die Behandlung
möglichst in der Hand des Arztes der jeweiligen Station zu belassen, aber in
schwierigen Fällen die psychotherapeutische Betreuung des Patienten zu
übernehmen“ und generell eine regelmäßige Fortbildung des Teams aus Ärzten
und Pflegenden zu gewährleisten. Neben Psychotherapie und Fortbildung, so der
Chefarzt, sollte vor allem die fachliche Beratung der behandelnden Ärzte im
Vordergrund stehen,
„um nach und nach neben der Organpathologie ein Verständnis für die
Bedeutung der Beziehungspathologie etablieren zu können. Dafür ist nach
meiner Auffassung die persönliche Präsenz des psychosomatischen
Mitarbeiters, zumindest in der Halbtagstätigkeit, auf der jeweiligen Abteilung
oder Station erforderlich.“185
Der Aufbau eines Liaisondienstes könne vier bis sechs Jahre dauern, schreibt
Pontzen 1990. Seitdem sind 20 Jahre vergangen; eine Zeit, in der sich die Klinik
für Psychosomatik im oben beschriebenen Sinne konsequent weiterentwickelt hat.
184
185
Pontzen (1990), S. 347.
Ebd., S. 348.
89
Heute bietet die Klinik unter der Leitung von Prof. Dr. Wolfgang Söllner laut
Qualitätsbericht eine wachsende Zahl ambulanter und stationärer Angebote: „Das
Spektrum der Klinik im stationären Bereich umfasst eine Bettenstation mit 26
vollstationären
und
25
tagesklinischen
Plätzen,
wo
Patienten
mit
psychosomatischen Störungen und Erkrankungen über eine Zeit von 2-10 Wochen
behandelt werden.“ 186
In fünf Behandlungsgruppen werden stationäre und tagesklinische Patienten
mit somatoformen oder posttraumatischen Störungen, mit akuten psychischen
Belastungen und Krisen, mit burnout-Syndrom oder als ältere Patienten mit
psychischen und psychosomatischen Problemen behandelt. Daneben wirkt die
Klinik bei verschiedenen tagesklinischen Zentren mit: so der interdisziplinären
Schmerztagesklinik oder der geriatrischen Tagesklinik. In der Selbstbeschreibung
der Klinik im Internet heißt es weiter:
„Neben dem stationären Bereich spielt die Zusammenarbeit mit und in
anderen Abteilungen des Klinikums Nürnberg im Rahmen eines ausgedehnten
Konsiliar- und Liaisondienstes eine wichtige Rolle und ist eine wesentliche
Aufgabe Mitarbeiter unserer Klinik. Dabei können Patientinnen und Patienten
anderer Abteilungen neben der erforderlichen körperlichen Diagnostik und
Therapie ihrer Erkrankung psychotherapeutisch durch Mitarbeiter der Klinik
begleitet werden. Es handelt sich vor allem um Patientinnen und Patienten mit
somato-psychischen Erkrankungen bzw. Anpassungsstörungen, bei denen nach
einer einschneidenden Lebensveränderung, nach einem belastenden
Lebensereignis oder nach einer schweren körperlichen Erkrankung
psychosoziale Funktionen und Leistungen behindert sind oder eine schwere
Belastung zu einem Selbstmordversuch geführt hat.“187
Die psychotherapeutische Behandlung durch die Klinik für Psychosomatik dient
daher der Behandlung der seelischen Störung und fördert ihre Bewältigung. Aus
diesem Grund ist der psychosomatische Konsiliar- und Liaisondienst auch in die
Behandlungen von onkologischen Zentren, Schmerzzentrum und Palliativstation
integriert.188
Vom psychosomatischen Konsiliar- und Liaisondienst im Klinikum Nürnberg
werden so jährlich über 4.500 Patientinnen und Patienten mitbehandelt. 189
186
Von den 26 Betten sind 18 in einem eigenen Gebäude untergebracht und 8 in eine internistischonkologische Station integriert. Diese integrierten psychosomatisch-internistischen Betten stellen
das Bindeglied zwischen dem Konsil-Liaisondiest und der stationären Psychosomatik dar und
setzen den Gedanken einer integrierten Psychosomatik in einem weiteren Schritt in der Praxis um.
187
Siehe unter www.klinikum-nuernberg.de (20.01.2012)
188
Vgl. auch Söllner/Stein (2011).
189
Siehe Qualitätsbericht Klinikum Nürnberg (2010) und unter www.klinikum-nuernberg.de.
90
Neben der Krankenversorgung und den abteilungsbezogenen Fortbildungen im
Rahmen des Konsiliar- und Liaisondienstes betreibt die Klinik für Psychosomatik
eine Reihe von Forschungsvorhaben, von denen hier die Arbeiten zur Förderung
der kommunikativen Kompetenz von Ärzten näher vorgestellt werden.
Die Arbeiten, so Wolfgang Söllner, knüpften an Belegen an, wonach
Krankenhausärzte häufig nicht in der Lage seien, psychische Belastungen und
Störungen ihrer Patienten frühzeitig zu erkennen und dass sie Schwierigkeiten
damit hätten, Probleme in der Kommunikation mit ihren Patienten und deren
Angehörigen selbst wahrzunehmen. Wenn so die Kommunikation zwischen Arzt
und Patient im Alltag misslinge, könne dies negative Auswirkungen in mehrerer
Hinsicht haben: Die Arzt-Patienten-Beziehung als solche verschlechterte sich, die
Zufriedenheit und Compliance des Patienten sinke und zugleich steige die
Arbeitsunzufriedenheit des Arztes. Demgegenüber zeigten einige Studien,190 dass
und wie eine Verbesserung der ärztlichen Gesprächsführung trainiert und erreicht
werden könne. Wolfgang Söllner und Kollegen fassen diese wie folgt zusammen:
„Ihre Ergebnisse legen nahe, einen patientenzentrierten, nichtdirektiven
Kommunikationsstil zu entwickeln, der den Patienten zu einem Partner im
Behandlungsgeschehen macht, seine aktive Mitarbeit an der Behandlung
fördert und sowohl dem Arzt wie auch dem Patienten ein Gefühl der Kontrolle
über die Behandlung vermittelt.“ 191
Für einen solchen Kommunikationsstil, der an den Konzepten der partizipativen
Entscheidungen anknüpft, sollte das Medizinstudium die angehenden Ärztinnen
und Ärzte möglichst früh sensibilisieren und vorbereiten. Das eigentliche Training,
so die Auffassung der Nürnberger Psychosomatiker, könne aber erst während der
praktischen klinischen Tätigkeit mit ihren konkreten Alltagserfahrungen nachhaltig wirksam werden.
Deshalb haben die Nürnberger in Anlehnung an bestehende Trainingskonzepte
an den Universitätskliniken in Basel, Maastricht und Innsbruck seit 2003 ein
„Nürnberger Modell“ entwickelt, dass bei einer Kursgröße von zehn bis zwölf
Teilnehmenden insgesamt 30 Unterrichtsstunden an zwei ganzen und zwei halben
Tagen innerhalb eines Monats umfasst, von zwei erfahrenen Liaison-Praktikern
betreut wird und sich in zwei Trainingsphasen über ca. vier Monate erstreckt. Der
Kurs verfolgt das Ziel, Ärztinnen und Ärzte besser in die Lage zu versetzen,
190
Maguire (1999), Fallowfield (2003) (2004), Razavi (2003), Kiss/Söllner (2006), Langewitz
(2006), Wulsin (2006).
191
Söllner et al. (2007), S. 145.
91
„eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung herzustellen; neben den
somatischen auch die psychosozialen Aspekte des Menschen zu erfassen; die
subjektive Perspektive und das emotionale Befinden des Patienten zu erkunden
und zu beachten; nach emotional belastenden konfliktreichen Gesprächen die
Handlungsfähigkeit als Arzt nicht zu verlieren; Patienten über seine
Erkrankungen und die Behandlung besser zu informieren; gemeinsam mit dem
Patienten Entscheidungen bezüglich der Behandlung abzuwägen und zu
finden; das Vertrauen in die eigene kommunikative Kompetenz im Gespräch
mit dem Patienten zu erhöhen; die aus mangelhafter Kommunikation
resultierenden Belastungen für den Patienten, die Angehörigen und den Arzt
verringern.192
Um den Kurs und das Erreichen dieser Ziele besser einschätzen zu können, erfolgt
zu jedem Seminar eine systematische Evaluation mit einer Selbsteinschätzung des
Lernerfolges und einer Beurteilung der Unterrichtsmethoden. Eine erste
Auswertung von acht der 20 seit 2004 stattgefundenen Kurse bzw. von 78 der 122
teilgenommenen Ärzten zeigt: „Vor dem Seminar fühlten sich 21% der
Teilnehmer sicher im Umgang mit ihren subjektiv „schwierigen“ Patienten; 37%
häufig unsicher oder sehr unsicher und bei den übrigen 42% hielten sich Sicherheit
und Unsicherheit die Waage.“ 193 Nach dem Kurs fühlten sich die Teilnehmer „in
allen erhobenen Bereichen der kommunikativen Kompetenzen“ sicherer.
„Dieser Effekt hielt bis zum Follow-up-Zeitpunkt nach drei Monaten nicht nur
an, sondern verstärkte sich noch. 94% der Teilnehmer konstatierten am Ende
des Kurses und 70% noch nach drei Monaten einen ‚sehr großen‘ oder
‚großen‘ Lernzuwachs. Video-Analysen wurden am Kursende von 94% und
Rollenspiele von 91% der Teilnehmer als ‚hilfreich‘ oder ‚sehr hilfreich‘
empfunden.“194
Die Klinik für Psychosomatische Medizin leistet mit diesen Kursen einen
wichtigen Beitrag bei der Förderung der kommunikativen Kompetenz der
Krankenhausärzte und verstärkt damit die eingangs geschilderte ganzheitliche biopsycho-soziale Sichtweise der Medizin.
Ein solches Angebot, so Wolfgang Söllner, wird gerade dann gut
aufgenommen, wenn die Kursleiter den Ärzten aus der regelmäßigen Kooperation
bekannt seien, d.h. „idealerweise können Mitarbeiter eines psychosomatischen
Liaisondienstes diese Aufgabe übernehmen.“ Gerade diese Verschränkung einer
Zusammenarbeit im Stationsalltag und in der Schulung ist auch für die weitere
Implementierung von Ethikberatungen hilfreich.
192
Söllner et al (2007), S. 149.
Ebd. (2007), S. 152.
194
Ebd. (2007), S. 154.
193
92
4.2.3. Medizinische Klinik 4 für Nieren- und Hochdruckerkrankungen
Der hier untersuchte Ethikkreis ist in der Medizinischen Klinik 4 im Klinikum
Nürnberg beheimatet. In der Klinik werden grundsätzlich alle internistischen
Erkrankungen behandelt, der Schwerpunkt liegt allerdings auf dem Gebiet der
Nephrologie und Hypertensiologie, d.h. unter anderem der Diagnostik und
Therapie aller Nieren- und Hochdruckerkrankungen, der intensivmedizinischen
Therapie von akutem Nierenversagen und Multiorganversagen, der Dialyse
(Nierenersatztherapie) sowie der Vorbereitung zur Organtransplantation und
Behandlung nach Organverpflanzung- und übertragung. Zu den Schwerpunkten
zählen auch die Behandlung und Betreuung von Patienten mit Diabetes mellitus,
die Ernährungsmedizin oder die Kreislaufdiagnostik
Die Medizinische Klinik 4 zählt zu den größten nephrologischen Abteilungen
in Deutschland. Für das genannte Aufgabenspektrum verfügt die Klinik zur Zeit
der Untersuchung über 124 Betten, eine zusätzliche Dialysestation mit 24 Plätzen
und eine Intensivstation mit 14 Beatmungsplätzen. Pro Jahr werden mehr als 5.000
Patienten
behandelt
und
über
10.000
Hämodialysen
durchgeführt.
Die
durchschnittliche Verweildauer lag im Jahr 2009 bei 6,7 Tagen. Sowohl die
Fallzahlen der Klinik als auch der Casemix steigen seit Jahren kontinuierlich an.
Dieser beschreibt die durchschnittliche Schwere der Patientenfälle.
Die folgenden Angaben entsprechen der Darstellung der Klinik im
Qualitätsbericht und im Internet:
„Seit über 40 Jahren wird in der Klinik die Nierenersatztherapie durchgeführt.
Die Klinik hatte für den Aufbau einer adäquaten Dialyseversorgung im
nordbayerischen Raum eine wesentliche Pionierfunktion, sowohl für die
Patienten mit akutem Nierenversagen als auch mit einer chronischen
Nierenerkrankung. Für Patienten, die noch keine Dialysebehandlung
benötigen, ist die Prävention, das heißt das Aufhalten des Fortschreitens der
Nierenerkrankung das wichtigste Ziel. In diesen Fällen soll der Beginn einer
Nierenersatztherapie so weit wie möglich hinausgezögert oder im besten Fall
verhindert werden.
Gelingt dies nicht, werden den Patienten im Bereich der Dialyse alle heute
gängigen Behandlungsverfahren angeboten. Dazu werden die Patienten in der
therapiebegleitenden Dialyseberatung möglichst rechtzeitig vor dem Eintritt
der Dialysepflichtigkeit über alle für sie in Frage kommenden
Nierenersatzverfahren informiert und beraten. Die Medizinische Klinik 4 bietet
dabei sowohl die verschiedenen Verfahren der Hämodialyse als auch der
Peritonealdialyse an.“195
195
Klinikum Nürnberg (2010), vgl. auch www.klinikum-nuernberg.de. (05.11.2011)
93
Die Hämodialyse umfasst folgendes Leistungsprofil:196

Chronische Hämodialyse
o Hämodialyse (HD)
o Hömofiltration (HF)

Auffangdialyse
o Für ambulante oder stationäre Dialysepatienten mit
besonderen Problemen

Plasmaseparation und Immunadsorption
o Bei immunologisch bedingten Erkrankungen

Lipidapharese
o Bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie

Entgiftungsverfahren und Hämoperfusion
Die Peritonealdialyse umfasst dieses Leistungsprofil:

Kontinuierliche ambulante Perionealdialyse (CAPD)

Kontinuierliche zyklische Peritonealdialyse (CCPD)

Intermittierende Peritonealdialyse (IPD)
o Training der genannten Verfahren nach Katheter
-implantation sowie Vor- und Nachschulung
Seit der Etablierung der CAPD, der sogenannten Bauchfelldialyse, im Jahre 1989
sind ständig etwa 45 Patienten in Betreuung. Die Dialysen der Medizinischen
Klinik 4 beschränken sich also nicht auf die klassischen Verfahren der
Hämodialyse. Das Angebot der Klinik bedingt letztlich ein oft multimorbides
Krankenkollektiv, das mit schwerwiegenden Diagnosen und damit auch mit
schwerwiegenden Entscheidungssituationen konfrontiert ist.
Insofern verwundert es nicht, dass in dieser Klinik die Dialyseberatung zum
Ausgangspunkt der späteren Klinischen Ethikberatung der Medizinischen Klinik
4, dem sogenannten Ethikkreis wurde. Hier wirkten mehrere Faktoren positiv
zusammen: Die Offenheit der ärztlichen und pflegerischen Klinikleitung, das
Interesse und Engagement einzelner Kollegen aus Medizin, Pflege und Seelsorge
sowie nicht zuletzt die gute Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychosomatik
und Psychotherapie.
196
Klinikum Nürnberg (2010), vgl. auch www.klinikum-nuernberg.de. (05.11.2011)
94
4.3. Zusammenfassung
Als Krankenhaus der maximalen Versorgungsstufe mit allen Fächern der Medizin
erfährt auch das Klinikum Nürnberg den von Jahr zu Jahr wachsenden
Leistungsdruck auf die großen Krankenhäuser. Steigende Fallzahlen, sinkende
Verweildauern und erhöhte Schweregrade der Krankheiten prägen den Alltag
vieler Ärzte und Pflegende am kommunalen Großklinikum.
Die Rahmenbedingungen im Klinikum Nürnberg für die Etablierung einer
Klinischen Ethikberatung waren vergleichsweise gut. Die Verantwortlichen
standen dem Thema Ethik von Anfang an aufgeschlossen gegenüber und haben
schon 1998 innerhalb des Klinikums ein umfassendes Ethikprojekt angeregt, aus
dem viele Aktivitäten hervorgingen, u.a. eine Mitarbeiterbefragung, ein EthikCode, regelmäßige Ethik-Fortbildungen, ein Fernlehrgang Ethikberater sowie ein
regelmäßiges Ethik-Cafe als Diskussionsforum für die Beschäftigen.
Auslöser einiger dieser Aktivitäten war 2003 eine interne Befragung zum
Thema „Patientenbetreuung und Entscheidungen am Lebensende“, die u.a. das
Fehlen schriftlicher Leitlinien und Ansprechpartner, rechtliche Unsicherheiten
und Kommunikationsprobleme der Berufsgruppen zeigte. 2004 wurde daher eine
Zentrale Mobile Ethikberatung etabliert, die an beiden Standorten – Klinikum
Nord und Südklinikum – über eine zentrale Vermittlung angerufen und aktiviert
werden kann. Initiiert und begleitet werden viele dieser Aktivitäten vom
Ethikforum, dem 14 Mitglieder verschiedener Berufsgruppen und Hierarchieebenen angehören und das einmal pro Quartal zusammenkommt.
Im Klinikum Nürnberg ist in einem gewissen Sinne die Klinik für Psychosomatik für die Klinische Ethikberatung interessant: bei der Etablierung des
Faches bzw. der Dienstleistung bestehen teilweise Parallelen – der Liaisondienst
kann als strukturelles Vorbild für die Ethikberatung dienen; die hiesige Psychosomatik fördert und erforscht in eigenen Seminaren einen patientenzentrierten,
nichtdirektiven Kommunikationsstil und eine Mitarbeiterin der Psychosomatik
war beim Ethikkreis der 4. Medizinischen Klinik von Anfang an dabei.
Die Medizinische Klinik 4 ist eine der größten Kliniken für Nieren- und
Hochdruckkrankheiten, u.a. mit der gesamten Bandbreite der Intensivmedizin und
Nierenersatztherapie. Sie bietet mit den damit verbundenen schwierigen
Entscheidungen über Einleitung oder Beendigung einer Nierenersatztherapie den
passenden Ort für die Initiative zu einer Ethikberatung, dem „Ethikkreis“.
95
5. Mitarbeiterbefragung zur Klinischen Ethik in der Medizinischen Klinik 4
Seit der Gründung der Ethikberatung durch den internen Ethikkreis im Jahr 1997
hat in der Medizinischen Klinik 4 keine umfassende und systematische Befragung
zum Umgang mit moralischen Fragen im Berufsalltag stattgefunden. Aus Anlass
des zehnjährigen Bestehens des Ethikkreises im Jahr 2007 und als begleitendes
Element zur späteren Untersuchung der bisher stattgefundenen Ethikberatungen
entstand die Idee einer Umfrage aller Mitarbeiter, deren Ergebnisse hier dargestellt
werden.
Die Umfrage zum Thema „Klinische Ethik“ verfolgte unterschiedliche Ziele:
In Bezug auf die Mitarbeiter ging es um die:
- Sensibilisierung der Mitarbeiter und Berufsgruppen für ethische Themen
- Ermittlung von Belastungen durch ethische Konflikte
- Kenntnis über das Kommunikationsverhalten zu ethischen Konflikten
- Ermittlung der Bedürfnisse zur Unterstützung bei ethischen Konflikten
- Kenntnis der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Berufsgruppen
- Datengrundlage für eine Rückmeldung und Diskussion des Themas in der Klinik
In Bezug auf die Beratungen des Ethikkreises und ihre Evaluation ging es um die:
- Ermittlung von Übereinstimmungen und Widersprüchen zur Beratungspraxis
- Kenntnis über subjektive Einschätzungen zur Nutzung des Ethikkreises
- Unterstützung des Ethikkreises in der Klinik und Förderung seiner Nutzung
Insgesamt sollen die Ergebnisse dieser Mitarbeiterbefragung in Korrespondenz mit
der Evaluation der eigentlichen Ethikberatungen konkrete Anregungen generieren
für die Weiterentwicklung von Ethikdiensten in der Medizinischen Klinik 4 und
im Klinikum Nürnberg. Die Ergebnisse der Befragung wurden den Mitarbeitern
der Klinik im Rahmen einer eigenen Veranstaltung vorgestellt und haben
nachweislich
bereits
eines
der
genannten
Ziele
erreicht:
eine
erhöhte
Aufmerksamkeit für das Angebot der Ethikberatung und eine – zumindest für zwei
Jahre – deutlich stärkere Nutzung.
96
5.1. Befragungskollektiv
Als Ergänzung zu den genannten Rahmenbedingungen der Klinik werden hier das
Befragungskollektiv beschrieben sowie die etablierten „Kommunikationswege“
der Klinik. Zum Zeitpunkt der Befragung von Mai bis Juli 2007 waren in der
Medizinischen Klinik 4 insgesamt 196 Mitarbeiter beschäftigt; 144 (73%) von
ihnen im Pflegedienst, 46 (23%) im ärztlichen Dienst und sechs (3%) in anderen
Berufen bzw. Funktionen. 197 Im Pflegedienst waren 38 Mitarbeiter (26%) in
leitender Position als Pflegedienst-, Stations-, Gruppen- oder Bereichsleitung tätig,
im ärztlichen Dienst arbeiteten neun Mitarbeiter (20%) in leitender Position als
Chefarzt oder Oberarzt. 198
Im
Pflegedienst
ist
für
die
Mitarbeiterinnen
und
Mitarbeiter
als
Informationsforum eine monatliche Besprechung der Stationsleitungen etabliert,
im ärztlichen Dienst sind es tägliche Morgenbesprechungen und wöchentliche
Fortbildungsveranstaltungen, zu denen viele Mitarbeiter zusammenkommen. In
unregelmäßigen Abständen finden zusätzlich berufsgruppenspezifische bzw.
-übergreifende Klausuren oder größere Besprechungen statt. In den regelmäßig
stattfindenden Foren wurde auf die Ethik-Befragung hingewiesen, bevor die
Fragebogen mit einem Begleitschreiben 199 in die Postfächer der Mitarbeiter bzw.
auf den Stationen verteilt wurden.
5.2. Befragungsinstrument
Für die vom Verfasser der Arbeit initiierte und mit dem Ethikkreis gemeinsam
organisierte Befragung der Mitarbeiter der Medizinischen Klinik 4 zum Thema
„Ethische Themen im Berufsalltag“ wurde ein an der Medizinischen Hochschule
Hannover bereits erprobter Fragebogen zur Ethik im Klinikalltag verwendet,200 der
in ausgewählten Fragen an die spezifische Situation in Nürnberg angepasst
wurde.201 Der Fragebogen wurde an der MHH bereits getestet. Er enthält zehn
geschlossene Fragen zu ethischen Aspekten im eigenen Arbeitsbereich sowie drei
Fragen zu persönlichen Angaben. Die Fragen mit Gewichtungscharakter enthalten
eine Skala von 1 bis 10.
197
Für die Auswertungen in dieser Arbeit gilt grundsätzlich, dass die angegebenen Prozentangaben
z.T. gerundet sind und sich daher eine geringfügige Abweichung von der Gesamtsumme 100
ergeben kann.
198
Interne Information Klinikum Nürnberg.
199
Siehe Anhang 9.3.1.
200
Neitzke (2007).
201
Fragebogen zur Mitarbeiterbefragung 2007. Siehe Anhang 9.3.2.
97
Inhaltlich erhebt der Fragebogen sowohl die Überzeugung der Befragten
hinsichtlich der Häufigkeit wie auch Intensität und Anlässe ethischer Konflikte bei
den involvierten Personengruppen. Es werden die erlebte und erwünschte
Relevanz
ethischer
Gesichtspunkte
am
Arbeitsplatz
sowie
potenzielle
Ansprechpartner bzw. Ethik-Angebote ermittelt. Im Rahmen der Angaben zur
Person werden Geschlecht, Altersgruppe, Berufsgruppe und die Tätigkeit in
leitender Funktion erhoben.
Aufgrund der zum Teil unvollständig beantworteten Fragebögen wurde jede
Antwort in Bezug gesetzt zur jeweiligen Gesamtzahl der vorliegenden Antworten
pro Frage. Analog zur Auswertung der Ethikberatungen erfolgte auch diese
Auswertung quantitativ-deskriptiv. In den Antworten wird aufgrund der geringen
Fallzahlen keine hierarchiespezifische Differenzierung vorgenommen.
5.3. Ergebnisse
5.3.1. Teilnehmer, Berufsgruppen, Leitungsfunktion
Der Fragebogen zur „Ethik im Arbeitsalltag“ wurde in der Medizinischen Klinik 4
Mitte Mai 2007 an alle Mitarbeiter verteilt, was zum damaligen Zeitpunkt einer
Gesamtverteilung von 196 Fragebögen entsprach. Insgesamt wurden bis Ende Juli
105 Fragebögen (54%) ausgefüllt zurückgegeben: 16% aus dem ärztlichen
Bereich, 75% von Pflegenden, 3% aus anderen Berufsgruppen. Sechs Fragebögen
(6%) enthielten hierzu keine Angaben. Zu einem geringen Teil waren die
Fragebögen unvollständig ausgefüllt.
Bezogen auf die Gesamtzahl der Mitarbeiter haben damit 55% der Pflegekräfte
und 37% der Ärzte der Medizinischen Klinik 4 an der Befragung teilgenommen. In
leitender Funktion in der Medizin waren 3% der insgesamt Befragten tätig bzw.
18% der antwortenden Ärzte; in leitender Funktion in der Pflege waren es 11% der
insgesamt Befragten bzw. 15% der antwortenden Teilnehmenden aus dem
Pflegedienst.
Die teilnehmenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren mit 78%
mehrheitlich weiblich, 22% waren männlich. Die meisten Befragten gehörten zur
Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren (37%), gefolgt von den Altersgruppen
zwischen 40 und 49 Jahren (27%) sowie zwischen 30 und 39 Jahren (26%). Sechs
Mitarbeiter waren zwischen 50 und 59 Jahren (6%) alt. Fünf Befragte machten
keine Angabe.
98
5.3.2. Ethische Konflikte in den letzten zwölf Monaten
Die Frage nach dem Erleben ethischer Konflikte am eigenen Arbeitsplatz
innerhalb des letzten Jahres wurde von 99 der 105 Teilnehmenden (94%)
zustimmend beantwortet, nur vier (4%) verneinten ethische Konflikte in diesem
Zeitraum, und zwei Befragte (2%) machten keinerlei Angabe. Von den 99
Zustimmungen entfallen 16 auf Ärzte, 75 auf Pflegende, acht weitere Antworten
waren nicht eindeutig zuzuordnen. Jeder vierte Arzt gibt an, ethische Konflikte
eher täglich zu erleben, die Hälfte erlebt sie eher wöchentlich, 19% eher monatlich
und 6% seltener. Bei den Pflegenden erleben 14% ethische Konflikte eher täglich,
42% eher wöchentlich, 28% eher monatlich und 16% seltener.
Ethische Konflikte in den letzten
Eher
eher
eher
Täglich
wöchentlich
monatlich
Seltener
Ärztinnen und Ärzte
25%
50%
19%
6%
Pflegende
14%
42%
28%
16%
12 Monaten
Tabelle 9: Ethische Konflikte in den vergangenen 12 Monaten
5.3.3. Persönliche Belastung durch ethische Konflikte
Die Frage „Wie stark belasten diese ethischen Konflikte Sie persönlich in Ihrem
Arbeitsbereich?“ war auf einer Skala von 1 (keine Belastung) bis 10 (sehr starke
Belastung) zu beantworten. Für die Auswertung wurden die Antworten zu drei
Gruppen gebündelt: „keine bzw. leichte Belastung“ (1-3), „mittlere Belastung“
(4-7) und „starke Belastung“ (8-10). Insgesamt antworteten 91 Befragte: 16 Ärzte
(drei von ihnen in leitender Funktion), 73 Pflegende (zehn davon in leitender
Funktion) und zwei Angehörige einer weiteren Berufsgruppe. Danach gaben
jeweils 19% der Ärzte und Pflegenden an, dass sie „keine bzw. eine leichte
Belastung“ empfinden, während 68% der Pflegenden und 65% der Ärzte eine
„mittlere Belastung“ nannten, sowie 13% der Pflegenden und 16% der Ärzte eine
„starke Belastung“.
99
Persönliche Belastung durch
Keine bis leichte
Mittlere
Starke
Belastung
Belastung
Belastung
(1-3)
(4-7)
(8-10)
Ärztinnen und Ärzte
19%
68%
13%
Pflegende
19%
65%
16%
ethische Konflikte
Tabelle 10: Persönliche Belastung durch ethische Konflikte
Die Aufteilung der Ergebnisse nach Altersgruppen zeigt, dass ein Erleben
ethischer Konflikte am Arbeitsplatz im Bereich „mittlerer Belastung“ zumindest
im Rahmen der vorliegenden Befragung mit dem Alter ansteigt – von 51% in der
Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren über 72% in der Gruppe zwischen 30 und
39 Jahren auf 78% in der Altersgruppe zwischen 40 und 49 Jahren.
Neben dieser Beobachtung zeigt sich eine Abnahme der Empfindung „starke
Belastung“ von 20% in der Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren über 16% in
der Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren auf 4% in der Altersgruppe zwischen
40 und 49 Jahren. Die Altersgruppe zwischen 50 und 59 Jahren ist hier aufgrund
der geringen Zahl der Befragten nicht berücksichtigt.
Eine „starke Belastung“ geben insgesamt 15% der Befragten an, wobei der
Anteil der Frauen hier bei 86% liegt sowie der Anteil der Altersgruppe von 20-29
Jahren bei 50%. Alle Befragten, die im Alter zwischen 20-29 Jahren eine „starke
Belastung“ angaben, waren weiblich.
Beim Vergleich der Geschlechter zeigte sich zudem, dass 15% der Frauen eine
„leichte“, 63% eine „mittlere“ und 16% eine „starke Belastung“ angaben, während
20% der Männer eine „leichte“, 70% eine „mittlere“ und 10% eine „starke“
Belastung angaben.
Bereits bei dieser Frage werden erste Übereinstimmungen zwischen den beiden
Berufsgruppen der Pflegenden und Ärzten sichtbar, die sich bei den folgenden
Fragen fortsetzen.
100
5.3.4. Häufigkeit und Wichtigkeit ethischer Konflikte
Zur Einschätzung der Häufigkeit und Wichtigkeit ethischer Konflikte wurden die
Mitarbeiter gefragt, welche inhaltlichen Bereiche in ihrem Arbeitsalltag zu
ethischen Konflikten führen und für wie schwerwiegend sie diese halten. Dabei
wurde im verwendeten Fragebogen bewusst darauf verzichtet, den Begriff
„ethischer Konflikt“ näher zu definieren. Die Befragten sollten, wie schon bei der
Nutzung des Fragebogens an der Medizinischen Hochschule Hannover,
unbeeinflusst von vorgegebenen Definitionen jedes als ethisches Problem
wahrgenommene Thema benennen können.202 In diesem Sinne hatten die MHHAutoren den Fragebogen für eine Bestandsaufnahme ethischer Problem- und
Konfliktfelder entworfen, und in diesem Sinne sollte er auch im Nürnberger
Kontext genutzt werden. Zur Auswahl gestellt wurden folgende Themen, die durch
„Sonstige“ ergänzt werden konnten:
–
Therapiebegrenzung/Therapieabbruch
–
Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
–
Leben künstlich verlängern
–
Patientenwille (Selbstbestimmung)
–
Aufklärung von Patienten
–
Aufklärung von Angehörigen
–
Schweigepflicht
–
Allgemeiner/alltäglicher Umgang mit Patienten
–
Wahrung der Menschenwürde
–
Ethische Probleme in der Pflege
–
Apparatemedizin
–
Aufteilung knapper Mittel
–
Qualität med. Versorgung (z.B. Behandlungsfehler)
–
Umgang mit alten und dementen Menschen
Für die Dimension „Häufigkeit“ wurde zwischen den Antwortmöglichkeiten „nie“,
„eher selten“ und „eher häufig“ unterschieden, bei der Dimension „Wichtigkeit“
zwischen „leichtere Konflikte“ und „schwerwiegende Konflikte“. Zunächst folgen
die Ergebnisse zur Dimension „Häufigkeit“.
202
Neitzke (2007).
101
Wegen der geringen Zahl „sonstiger Mitarbeiter“ (3%), werden hier nur die
Ergebnisse für Mitarbeiter aus Medizin und Pflege wiedergegeben.
Häufigkeit ethischer
nie
eher selten
eher häufig
Konflikte für Ärzte/innen
Therapiebegrenzung/
nicht
angekreuzt
0%
29%
65%
6%
Verzicht auf Wiederbelebung
0%
23%
71%
6%
Dialyseabbruch
12%
59%
18%
12%
Leben künstlich verlängern
6%
65%
24%
6%
6%
59%
24%
12%
Aufklärung von Patienten
6%
41%
53%
0%
Aufklärung von Angehörigen
6%
35%
59%
0%
Schweigepflicht
23%
53%
18%
6%
18%
41%
41%
0%
Wahrung der Menschenwürde
12%
35%
53%
0%
Ethische Probleme in der Pflege
29%
41%
23%
6%
Apparatemedizin
23%
59%
12%
6%
Aufteilung knapper Mittel
18%
23%
53%
6%
18%
65%
18%
0%
6%
35%
59%
0%
Therapieabbruch
Patientenwille/
Selbstbestimmung
Allgemeiner, alltäglicher
Umgang mit Patienten
Qualität der medizinischen
Versorgung/Behandlungsfehler
Umgang mit alten und dementen
Menschen
Tabelle 11: Häufige ethische Konflikte im Krankenhaus – für Ärzte/innen
102
Häufigkeit ethischer
Konflikte für Pflegende
nie
nicht
eher selten
eher häufig
5%
49%
46%
0%
Verzicht auf Wiederbelebung
5%
42%
51%
3%
Dialyseabbruch
13%
65%
23%
0%
Leben künstlich verlängern
6%
45%
49%
0%
10%
49%
40%
1%
Aufklärung von Patienten
10%
51%
37%
2%
Aufklärung von Angehörigen
9%
51%
35%
5%
Schweigepflicht
51%
27%
20%
1%
15%
52%
30%
2%
Wahrung der Menschenwürde
11%
38%
51%
0%
Ethische Probleme in der Pflege
16%
70%
13%
1%
Apparatemedizin
23%
54%
19%
4%
Aufteilung knapper Mittel
39%
39%
19%
2%
21%
67%
10%
1%
5%
35%
59%
0%
Therapiebegrenzung und
-abbruch
Patientenwille/
Selbstbestimmung
Allgemeiner, alltäglicher
Umgang mit Patienten
Qualität der medizinischen
Versorgung/ Behandlungsfehler
Umgang mit alten und dementen
Menschen
angekreuzt
Tabelle 12: Häufige ethische Konflikte im Krankenhaus – für Pflegende
Um die beiden großen Berufsgruppen vergleichen zu können, wurden auch die
prozentualen Mittelwerte bestimmt und jeweils tabellarisch gegenübergestellt.
103
Häufige ethische Konflikte
Rang
Rang
Rang
insgesamt
Medizin
Pflege
1
1
2
(61%)
(71%)
(51%)
2
3
1
(59%)
(59%)
(59%)
3
2
4
(55,5%)
(65%)
(46%)
4
4
2
(52%)
(53%)
(51%)
5
3
8
(4%)
(59%)
(35%)
6
4
7
(45%)
(53%)
(37%)
7
6
3
(36,5%)
(24%)
(49%)
Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
Umgang mit dementen Patienten
Begrenzung und/oder Abbruch einer Therapie
Wahrung der Menschenwürde
Aufklärung von Angehörigen
Aufklärung von Patienten
Leben künstlich verlängern
Tabelle 13: Häufige ethische Konflikte im Krankenhaus – Rang 1 bis 7
Siehe S. 102 (Tabelle 11) und S. 103 (Tabelle 12)
In der Übersicht zeigt sich eine Reihe von Übereinstimmungen in der
Wahrnehmung der Häufigkeit bestimmter ethischer Konflikte aus der Perspektive
der Befragten aus Medizin und Pflege. Es sind hier die sieben meist genannten
Themen aufgeführt. Gerade ethische Konflikte und Entscheidungen am
Lebensende bzw. im Bezug auf das mögliche Lebensende werden offensichtlich
von beiden Berufsgruppen gleich häufig erlebt
Nach den Ergebnissen zur Dimension „Häufigkeit“ sind im Folgenden die
Ergebnisse zur Dimension „Wichtigkeit“ im Sinne der persönlichen Belastung
wiedergegeben. Hier standen die Antwortmöglichkeiten „leichtere Konflikte“ und
„schwerwiegende Konflikte“ zur Verfügung. Aufgrund der geringen Anzahl
„sonstiger Mitarbeiter“ (3% der Befragten), werden auch hier nur die Ergebnisse
der Mitarbeiter aus dem medizinischen Dienst und der Pflege genannt, die im
Anschluss wiederum miteinander verglichen werden.
104
Wichtigkeit bzw. Belastung durch ethische
leichter
Konflikte – für Ärzte/innen
schwer-
nicht
wiegender
angekreuzt
Therapiebegrenzung/Therapieabbruch
23%
76%
0%
Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
53%
47%
0%
Dialyseabbruch
18%
65%
18%
Leben künstlich verlängern
18%
70%
12%
Patientenwille (Selbstbestimmung)
59%
29%
12%
Aufklärung von Patienten
70%
12%
18%
Aufklären von Angehörigen
65%
18%
18%
Schweigepflicht
76%
0%
23%
Allgemeiner alltäglicher Umgang mit Patienten
76%
6%
18%
Wahrung der Menschenwürde
65%
23%
12%
Ethische Probleme in der Pflege
65%
0%
35%
Apparatemedizin
59%
23%
18%
Aufteilung knapper Mittel
35%
41%
23%
Qualität med. Behandlung/Behandlungsfehler
41%
47%
12%
Umgang mit alten und dementen Menschen
59%
23%
18%
Tabelle 14: Wichtige und belastende ethische Konflikte – für Ärzte/innen
Nach der Darstellung der Ergebnisse für die befragten Ärztinnen und Ärzte folgt
die tabellarische Darstellung der Ergebnisse für die Gruppe der Pflegenden.
105
Wichtigkeit bzw. Belastung durch ethische
leichter
schwer-
nicht
wiegender
angekreuzt
39%
56%
4%
50%
44%
5%
Dialyseabbruch
45%
50%
4%
Leben künstlich verlängern
28%
69%
3%
Patientenwille (Selbstbestimmung)
51%
45%
4%
Aufklärung von Patienten
63%
29%
8%
Aufklären von Angehörigen
68%
23%
9%
Schweigepflicht
71%
8%
21%
Allgemeiner alltäglicher Umgang mit Patienten
70 %
19%
11%
Wahrung der Menschenwürde
46%
43%
11%
Ethische Probleme in der Pflege
63%
27%
10%
Apparatemedizin
67%
16%
16%
Aufteilung knapper Mittel
63%
19%
18%
Qualität med. Behandlung/Behandlungsfehler
49%
35%
15%
Umgang mit alten und dementen Menschen
65%
30%
4%
Konflikte – für Pflegende
Therapiebegrenzung/Therapieabbruch
Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
Tabelle 15: Wichtige und belastende ethische Konflikte – für Pflegende
Folgende
Übersicht
zeigt
eine
weitere
Übereinstimmung
der
beiden
Berufsgruppen in der Gewichtung der Schwere und Belastung durch diese
ethischen Konflikte.
106
Schwerwiegende ethische Konflikte
Leben künstlich verlängern
Begrenzung und/oder Abbruch einer Therapie
Dialyseabbruch
Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
Qualität med. Behandlung/Behandlungsfehler
Patientenwille (Selbstbestimmung)
Wahrung der Menschenwürde
Rang
Rang
Rang
insgesamt
Medizin
Pflege
1
2
1
(69 .5%)
(70%)
(69%)
2
1
2
(66%)
(76%)
(56%)
3
3
3
(57.5%)
(65%)
(50%)
4
4
4
(45.5%)
(47%)
(44%)
5
4
5
(41%)
(47%)
(35%)
6
7
5
(36.5%)
(29%)
(45%)
7
(8)
6
(33%)
(23%)
(43%)
Tabelle 16: Schwerwiegende ethische Konflikte im Krankenhaus. Rang 1 – 7
Siehe S. 105 (Tabelle 14) und S. 106 (Tabelle 15)
Wie bereits beim Vergleich der Einschätzung von Häufigkeiten ethischer
Konflikte im Krankenhaus zeigen sich auch bei der Frage nach der Schwere oder
Wichtigkeit ethischer Konflikte bzw. der damit verbundenen Belastung deutliche
Gemeinsamkeiten der großen Berufsgruppen. Auch hier sind es die Themen am
Lebensende, die Fragen zur Begrenzung oder zum Fortführen von Behandlungsmaßnahmen, die von Ärzten wie Pflegenden als besonders schwerwiegend und
damit belastend eingeordnet werden. Alle weiteren Themen werden in deutlichem
Abstand und damit vergleichsweise als weniger schwerwiegend eingestuft.
Als „leichtere Belastungen“ stuften Pflegende die Themen „Schweigepflicht“,
„Allgemeiner und alltäglicher Umgang mit Patienten“ und „Aufklärung von
Angehörigen“ ein, bei den Ärzten waren es ebenfalls die „Schweigepflicht“ sowie
der „Allgemeine und alltägliche Umgang mit Patienten“, bei der „Aufklärung“
allerdings die der Patienten. Bis auf diesen Unterschied wählen demnach Ärzte
wie Pflegende auch bei den „leichteren Belastungen“ aus einer umfangreichen
Liste dieselben Themen aus.
107
5.3.5. Ethische Probleme und Personengruppen
Mit welcher Frequenz entstehen mit welchen Personengruppen ethische Konflikte?
Ethische Konflikte...
Täglich
wöchentlich
Monatlich
seltener
nie
...mit Kollegen/innen aus der
eigenen Berufsgruppe
6%
23%
23%
41%
6%
...mit Kollegen/innen aus
anderen Berufsgruppen
12%
29%
29%
18%
12%
...mit Vorgesetzten aus der
eigenen Berufsgruppe
18%
24%
24%
24%
11%
...mit Vorgesetzten aus
anderen Berufsgruppen
6%
13%
6%
38%
38%
...mit Patienten/innen
25%
19%
19%
38%
0%
...mit Angehörigen von
Patienten/innen
24%
29%
29%
18%
0%
...mit der Verwaltung
18%
6%
12%
35%
29%
...mit anderen (Krankenkasse)
8%
15%
23%
46%
8%
Tabelle 17: Mit welchen Personengruppen erleben Ärzte ethische Konflikte?
Ethische Konflikte...
Täglich
wöchentlich
Monatlich
Seltener
nie
...mit Kollegen/innen aus der
eigenen Berufsgruppe
3%
13%
19%
52%
13%
...mit Kollegen/innen aus
anderen Berufsgruppen
4%
17%
25%
44%
10%
...mit Vorgesetzten aus der
eigenen Berufsgruppe
0%
3%
22%
49%
26%
...mit Vorgesetzten aus
anderen Berufsgruppen
3%
8%
21%
42%
27%
...mit Patienten/innen
6%
14%
19%
45%
14%
...mit Angehörigen von
Patienten/innen
4%
17%
38%
29%
13%
...mit der Verwaltung
0%
0%
6%
24%
69%
...mit anderen (Krankenkasse)
2%
0%
14%
36%
48%
Tabelle 18: Mit welchen Personengruppen erleben Pflegende ethische Konflikte?
108
Bei der Benennung derjenigen Personengruppen, mit denen ethische Konflikte
erlebt werden, zeigen sich zwar Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die genannten
Gruppen, aber auch Unterschiede hinsichtlich der Ausprägung.
Pflegende wie Ärzte erleben an erster Stelle ethische Probleme mit
Angehörigen von Patienten und den Patienten selbst – fast jeder vierte befragte
Arzt (24%) erlebt ethische Konflikte mit Angehörigen und den Patienten sogar
täglich. Jeder zweite Arzt erlebt ethische Konflikte mit diesen beiden Gruppen
mindestens wöchentlich. Bei den Pflegenden stehen ethische Konflikte mit
Patienten oder Angehörigen ebenfalls im Fokus, allerdings erlebt sie hier nur jede
fünfte Pflegekraft wöchentlich.
Mindestens wöchentlich erleben Ärzte ethische Konflikte auch mit den
Vorgesetzen der eigenen Berufsgruppe (42%) und mit Kollegen aus anderen
Berufsgruppen (41%). Hiervon unterscheiden sich die Antworten der Pflegenden
deutlich. So erleben wöchentlich nur 3% der Pflegenden ethische Konflikte mit
den eigenen Vorgesetzen.
Beide Berufsgruppen erleben am wenigsten, d.h. seltener als monatlich oder
nie, ethische Konflikte mit der Verwaltung: 93% sind es bei den Pflegenden und
64% bei den Ärzten. Auch Konflikte mit den Vorgesetzten der anderen
Berufsgruppen erleben beide seltener bis nie: Ärzte jeweils 38% und Pflegende
42% bzw. 27%. Im Hinblick auf ethische Konflikte „mit anderen (Krankenkasse)“
findet sich erneut ein Unterschied. Während sich bei 84 % der Pflegenden seltener
als monatlich oder nie Konflikte finden, sind es bei den Ärzten nur 54%, die dies
so bestätigen.
5.3.6. Ursachen für ethische Konflikte
Auf die Frage „Was halten Sie für die Ursachen dieser Konflikte?“ waren die
folgenden Antworten möglich. Es wurde dabei vorgegeben, nur die wichtigsten
Ursachen anzugeben. Auch hier werden nur die Angaben der großen Berufsgruppen wiedergegeben. Die Tabelle stellt die Ursachen für ethische Konflikte dar,
einerseits unterteilt für Ärzte und Pflegende, andererseits in eine gemeinsame
Rangliste gebracht. Die für beide Berufsgruppen wichtigsten vier Themen, wenn
auch in unterschiedlicher Reihenfolge sind: „Zeitmangel“, „Arbeitsüberlastung“,
„Mangelnde oder schwierige Kommunikation mit Patienten/Angehörigen“ und die
„Unterschiedliche Wahrnehmung bzw. Einschätzung von Situationen“.
109
Ursachen ethischer Konflikte
Rang
Rang
Rang
insgesamt
Medizin
Pflege
1
1
3
(72.5%)
(88%)
(57%)
2
2
2
(59%)
(59%)
(59%)
Mangelnde oder schwierige Kommunikation mit
3
3
1
Patienten/Angehörigen
(56%)
(47%)
(65%)
Unterschiedliche Wahrnehmung/Einschätzung
4
4
4
von Situationen
(47%)
(41%)
(53%)
5
4
6
(43%)
(41%)
(45%)
6
3
11
(39%)
(47%)
(31%)
Unklares Vorgehen,
7
6
5
wie Entscheidungen getroffen werden
(37%)
(24%)
(49%)
Mangelnde oder schwierige Kommunikation im
8
5
7
Behandlungsteam
(36%)
(29%)
(42%)
Probleme durch Ablauf und Organisation
9
3
12
der Krankenversorgung
(33%)
(47%)
(19%)
10
6
8
(30%)
(24%)
(36%)
Zu wenig Einfühlungsvermögen/
11
8
9
Sensibilität von Beteiligten
(23%)
(12%)
(34%)
Bestimmte Anforderungen stehen im Konflikt
11
6
12
mit dem eigenen Gewissen
(23%)
(24%)
(22%)
Ungenügende Ausbildung und Schulung
12
8
10
im Umgang mit ethischen Fragen
(22%)
(12%)
(32%)
13
5
16
(19%)
(29%)
(9%)
14
7
15
(17%)
(18%)
(16%)
15
9
14
(12%)
(6%)
(18%)
16
10
17
(3%)
(0%)
(6%)
Zeitmangel
Arbeitsüberlastung
Personalmangel
Hierarchie-Konflikte
Fehlende Übernahme von Verantwortung
Budgetmangel/Geldmangel
Religiöse oder kulturelle Unterschiede
Mangelndes Wissen
Fehlendes Vertrauen
Tabelle 19: Rangliste der Ursachen ethischer Konflikte im Krankenhaus
110
5.3.7. Wichtigkeit ethischer Konflikte in den Berufsgruppen
Neben der Benennung der Ursachen ethischer Konflikte, waren die Befragten im
Sinne einer Selbst- und Fremdeinschätzung aufgefordert, jeweils für die eigene
und die andere Berufsgruppe einzuschätzen, wie wichtig bzw. ernst ethische
Gesichtspunkte am eigenen Arbeitsplatz von beiden großen Berufsgruppen derzeit
genommen werden. Dazu wurde erneut eine Skala von „sehr unwichtig“ (1) bis
„sehr wichtig“ (10) genutzt, die für die Auswertung wiederum in „unwichtig“
(1-3), „indifferent“ (4-7) und „wichtig“ (8-10) gruppiert wurde. 203
Wichtigkeit ethischer Konflikte
unwichtig
indifferent
wichtig
in den Berufsgruppen –
(1-3)
(4-7)
(8-10)
Ärzte schätzen Ärzte ein
6%
53%
41%
Ärzte schätzen Pflegende ein
0%
59%
41%
aus der Ärzteperspektive
Tabelle 20: Wichtigkeit ethischer Konflikte – aus der Perspektive der Ärzte
Wichtigkeit ethischer Konflikte
unwichtig
indifferent
wichtig
in den Berufsgruppen –
(1-3)
(4-7)
(8-10)
Pflegende schätzen Pflegende ein
1%
50%
49%
Pflegende schätzen Ärzte ein
20%
72%
8%
aus der Pflegeperspektive
Tabelle 21: Wichtigkeit ethischer Konflikte – aus der Perspektive der Pflegenden
So gaben von 17 befragten Ärzten 41% an, ethische Konflikte würden derzeit von
Ärzten und Pflegenden gleich „wichtig“ genommen; 53% der Ärzte meinten, dass
ethische Konflikte von Ärzten und 59%, dass sie von Pflegenden „indifferent“
erlebt werden; 6% der Ärzte gaben an, dass sie von Ärzten als „unwichtig“
eingestuft würden. Dies wurde bei Pflegenden in keinem Fall vermutet.
203
„Indifferent“ verstehe ich nicht als negative Bewertung, sondern als quasi „mittelwichtig“.
111
Aus Sicht der Pflege schätzen von 75 Pflegenden 8%, dass Ärzte ethische
Konflikte als „wichtig“ ansehen, wohingegen dies knapp die Hälfte (49%) von der
eigenen Berufsgruppe vermuteten. 72% der Pflegenden sind der Ansicht, dass
Ärzte eher „indifferent“ eingestellt seien, gegenüber 50% der eigenen
Berufsgruppe. Die Pflegenden meinen, dass 20% der Ärzte ethische Konflikte als
„unwichtig“ betrachten, gegenüber nur 1% der Pflegenden.
5.3.8. Anerkennung der Bedeutung ethischer Konflikte am Arbeitsplatz
Nach der Erhebung der bloßen Beschreibung vermuteter Einstellungen galt die
folgende Frage einer normativen Festlegung: Auf die Frage „Wie wichtig sollten
ethische Konflikte an Ihrem Arbeitsplatz von allen genommen werden?“ antworten
insgesamt 105 Befragte, wobei 17 ärztlich Tätige, 78 Pflegende und drei sonstige
Mitarbeiter ihre Berufsgruppenzugehörigkeit angaben. Von den 105 Antworten
gaben insgesamt 6% an, dass ethische Gesichtspunkte an ihrem Arbeitsplatz
„unwichtig“ sein sollten, 10% gaben „indifferent“ an, 83%, dass sie „wichtig“
genommen werden sollten und 1% machte zu dieser Frage keine Angabe. Für 95
Antworten ist eine Aufteilung nach Berufsgruppen (siehe oben) möglich. Dabei
zeigt sich, dass keiner der befragten Ärzte die Kategorie „unwichtig“ gewählt hat,
18% der Ärzte „indifferent“ bleiben und 82% der Ärzte der Meinung sind, dass
ethische Gesichtspunkte am Arbeitsplatz „wichtig“ genommen werden sollten. Bei
den Pflegenden gaben 6% „unwichtig“ an, „indifferent“ (8%) und „wichtig“
(86%).
5.3.9. Berufliche und private Gesprächspartner für ethische Konflikte
Im Hinblick auf den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit, die Analyse der
Ethikberatungen in der Medizinischen Klinik 4 zwischen 1999 und 2011, ist die
folgende Frage besonders relevant. Unter dem Punkt „Psychosozial bzw.
Ethikkreis“ stellt die Frage ausdrücklich eine Verbindung zum konkreten Angebot
der Ethikberatung in der eigenen Klinik her, da dieses Angebot dort seit vielen
Jahren offiziell unter dem Begriff „Ethikkreis“ bekannt ist.
Gefragt nach den Personen, mit denen ethische Konflikte im Alltag besprochen
werden, zeigen sich wiederum Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den
Berufsgruppen. Die Tabellen geben die Ergebnisse nach Berufsgruppen getrennt
wieder.
112
Ansprechpartner für
ethische Konflikte
Täglich
wöchentlich
monatlich
Seltener
nie
Kollegen/-innen der eigenen
Berufsgruppe
47%
29%
12%
12%
0%
Andere Kollegen/-innen im
Team
41%
24%
18%
18%
0%
Vorgesetzte
19%
19%
13%
38%
13%
Privat in der Familie/
mit Freunden
6%
41%
29%
18%
6%
Fachleute,
z.B. Seelsorger
0%
19%
13%
25%
44%
Psychosozial/Ethikkreis
0%
6%
25%
50%
19%
Andere,
z.B. Krankenkassen
nicht
gewertet
...
...
...
...
Tabelle 22: Mit wem besprechen Ärzte ethische Konflikte? (Die letzte Frage
wurde nicht gewertet, da sie nur von einem Befragten beantwortet wurde).
Ansprechpartner für
ethische Konflikte
Täglich
wöchentlich
monatlich
Seltener
nie
Kollegen/-innen der eigenen
Berufsgruppe
35%
33%
16%
13%
3%
Andere Kollegen/-innen im
Team
10%
31%
24%
27%
8%
Vorgesetzte
4%
14%
21%
44%
17%
Privat in der Familie/
mit Freunden
10%
25%
16%
33%
15%
Fachleute,
z.B. Seelsorger
0%
1%
4%
51%
44%
Psychosozial/Ethikkreis
0%
4%
11%
42%
43%
Andere,
z.B. Krankenkasse
nicht
gewertet
...
...
...
...
Tabelle 23: Mit wem besprechen Pflegende ethische Konflikte? (Die letzte Frage
wurde nicht gewertet, da sie nur von elf Befragten beantwortet wurde.)
113
Über ethische Fragen diskutieren mit den Kollegen der eigenen Berufsgruppe viele
der befragten Ärzte vor allem täglich (47%), viele Pflegenden ebenfalls vor allem
täglich (35%); mit anderen Kollegen im Team sprechen viele Ärzte ebenfalls vor
allem täglich (41%), ein Drittel der Pflegenden dagegen vor allem wöchentlich
(31%). Mit ihren Vorgesetzen sprechen ärztliche Mitarbeiter eher selten über
ethische Konflikte. Die am häufigsten gewählte Kategorie „seltener“ – als
monatlich – gaben 38% der befragten Ärzte an. Auch bei den Pflegenden fällt auf,
dass diese Kategorie mit 44% der Pflegenden am häufigsten gewählt wurde.
In der Familie und mit Freunden sprechen Ärzte vergleichsweise oft über
ethische Konflikte an ihrem Arbeitsplatz. Zumindest wählten 41% der befragten
Ärzte die damit am häufigsten gewählte Kategorie „wöchentlich“. Bei den
Pflegenden war hier die am häufigsten (33%) gewählte Kategorie die „monatliche“
Besprechung. Dagegen sprechen sowohl Ärzte wie Pflegende „selten“ bis „nie“
mit Fachleuten, z. B. Seelsorgern. 25% der befragten Ärzte gaben an, „selten“,
44% „nie“ mit Fachleuten über ethische Konflikte zu sprechen; 44% waren es bei
den Pflegenden, bei denen 51% angaben, dies seltener als monatlich zu tun.
Die Frage nach der Nutzung psychosozialer Gesprächsangebote bzw. des
„Ethikkreises“ war insofern interessant, da es zum Zeitpunkt der Befragung seit
zehn Jahren eine etablierte Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4 gab, deren
Evaluation im nächsten Kapitel folgt. Bei den Ärzten rangierten die Antworten
hier zwischen „monatlich“ (25%), „seltener“ (50%) und „nie“ (19%); bei den
befragten Pflegenden gleichermaßen zwischen „monatlich“ (11%), „seltener“
(42%) und „nie“ (43%). Es ist bemerkenswert, dass die Antwortkategorie „nie“
sowohl bei Ärzten als auch bei Pflegenden ausgerechnet am häufigsten für die
potenziellen Ansprechpartner „Fachleute“ und „Psychosozial/Ethikkreis“ genannt
wird. Keine anderen Gesprächspartner werden so wenig genutzt wie diese
professionellen bzw. kollegialen und innerklinischen Dienstleistungen.
5.3.10. Klinikinterne Ansprechpartner für ethische Fragen
Nach den beruflich oder privat genutzten Ansprechpartnern schließt sich die Frage
an, ob in der Medizinischen Klinik 4 überhaupt genügend Ansprechpartner für
ethische Fragen vorhanden sind. In den folgenden Antworten bestätigen sich
einerseits die oben dargestellten Bedürfnisse, andererseits zeigt sich auch die
Kenntnis über die existierenden Angebote der eigenen Institution.
114
Ansprechpartner
Ärzte/innen
Pflegende
Ja, es gibt genügend kompetente
Ansprechpartner/innen in der Klinik
94%
76%
Nein, ich vermisse kompetente
Ansprechpartner/-innen in der Klinik
0%
20%
Ich benötige keine Ansprechpartner/-innen
in der Klinik
6%
4%
Tabelle 24: Ansprechpartner/-innen für ethische Konflikte
Wenn sowohl Ärzte als auch Pflegende die professionellen Ansprechpartner für
ethische Konflikte innerhalb der Medizinischen Klinik 4 nicht nutzen, liegt dies
nicht an der mangelnden Kenntnis der Möglichkeiten. Beide Berufsgruppen
bestätigen mit großer Mehrheit – bei den Ärzten sind es 16 von 17 Befragten –,
dass es genügend kompetente Ansprechpartner in der Klinik gäbe. Nur ein einziger
von 17 befragten Ärzten gab an, er benötige keine Ansprechpartner in der Klinik.
Bei den Pflegenden ist das Ergebnis ähnlich deutlich. Hier benötigen 4% keine
Ansprechpartner, 20% vermissen solche und 76% bestätigen ihre Existenz in der
Klinik. Bemerkenswert ist, dass immerhin jede fünfte befragte Pflegekraft
feststellt, dass sie kompetente Ansprechpartner in der Klinik vermisse. Ob diese
Aussage nach zehnjährigem Bestehen des klinikeigenen Ethikkreises ein Zeichen
fehlender Information oder mangelnder Wertschätzung ist, bleibt an dieser Stelle
offen.
5.3.11. Wichtige Ethikangebote in der Klinik
Abschließend wurde im Fragebogen erhoben, welche Ethikangebote für Ärzte und
Pflegende im klinischen Alltag wichtig sind. Die möglichen Antworten umfassten
die in der folgenden Tabelle stehenden Themen. Mehrfachantworten waren dabei
ausdrücklich möglich. Dazu wurde erneut eine Skala von „sehr unwichtig“ (1) bis
„sehr wichtig“ (10) genutzt, die für die Auswertung wiederum in „unwichtig“
(1-3), „indifferent“ (4-7) und „wichtig“ (8-10) gruppiert wurde.
115
Welche Ethikangebote sind Ärzten/innen
wichtig?
wichtig
Indifferent
unwichtig
Leitlinien für häufige ethische Probleme in
der Krankenversorgung
35%
41%
24%
Möglichkeit, bei aktuellen ethischen
Entscheidungskonflikten eine ethisch
kompetente Person als Berater zu nutzen
53%
47%
0%
Möglichkeit, zurückliegende Fälle unter
ethischen Gesichtspunkten im Team mit
einer ethisch kompetenten Person zu
besprechen
29%
59%
12%
Regelmäßige Weiterbildungen zu
medizinethischen Fragen
29%
47%
24%
Tabelle 25: Welche Ethikangebote sind für Ärzte/innen wichtig?
Welche Ethikangebote sind Pflegenden
wichtig?
wichtig
Indifferent
unwichtig
Leitlinien für häufige ethische Probleme in
der Krankenversorgung
46%
46%
8%
Möglichkeit, bei aktuellen ethischen
Entscheidungskonflikten eine ethisch
kompetente Person als Berater zu nutzen
78%
16%
6%
Möglichkeit, zurückliegende Fälle unter
ethischen Gesichtspunkten im Team mit
einer ethisch kompetenten Person zu
besprechen
47%
37%
16%
Regelmäßige Weiterbildungen zu
medizinethischen Fragen
52%
40%
8%
Tabelle 26: Welche Ethikangebote sind für Pflegende wichtig?
Auch im Hinblick auf die vorangegangenen zwei Fragen und die Klinische
Ethikberatung des Ethikkreises, die im folgenden Kapitel vorgestellt wird, sind die
Ergebnisse der Fragen nach wichtigen Ethikangeboten aufschlussreich.
116
Insgesamt vermitteln sie den Eindruck, dass Pflegende den Ethikangeboten
aufgeschlossener und interessierter gegenüberstehen. In der Kategorie „wichtig“
liegen ihre Werte in allen Punkten über denen der Ärzte. Gerade Pflegende
schätzen die Möglichkeit der aktuellen Beratung als „sehr wichtiges“ Angebot, das
von einer deutlichen Mehrheit gewünscht wird (78%). Die Reflektion
zurückliegender Fälle gewichten Pflegende dagegen erst an dritter Stelle, aber
immer noch mit fast der Hälfte der Befragten. Die Bedeutung regelmäßiger
Fortbildung zu medizinethischen Fragen wird von Pflegenden als noch wichtiger
angesehen. Auch hierfür gibt jede zweite Befragte die Antwort „wichtig“ an.
Ärzte werten in der Tendenz ähnlich, wenn auch weniger deutlich. 53% der
befragten Ärzte halten die Möglichkeit der aktuellen Beratung für „wichtig“, kein
einziger der befragten Ärzte hält dieses Angebot für „unwichtig“. 29% der Ärzte
wünschten sich eine professionelle Reflektion zurückliegender Fälle, wobei sich
die Ärzte hier mehrheitlich (59%) indifferent zeigten. Die Kategorie „indifferent“
ist insofern zu beachten, da sich dahinter die Unentschlossenen verbergen, die sich
– womöglich aus Gründen sozialer Erwünschtheit – nicht für die Antwort
„unwichtig“ entscheiden, aber auch keine Wichtigkeit feststellen. Diese Gruppe
sollte bei der Planung von Maßnahmen zur Akzeptanzsteigerung im Fokus sein.
Insgesamt lässt sich zeigen, dass – mit Ausnahme der aktuellen Beratung –
jeweils nahezu ein Drittel der Ärzte und nahezu die Hälfte der Pflegenden die zur
Auswahl gestellten Ethikangebote für „sehr wichtig“ hielten.
5.4. Diskussion der Mitarbeiterbefragung
Mit einem Rücklauf von 54% zeigt die Befragung in der Medizinischen Klinik 4
insgesamt eine gute Beteiligung. Mit 75% war der Rücklauf bei den Pflegenden
besonders gut, was auch dem eben geschilderten Interesse der Berufsgruppe an
Ethikangeboten entspricht. Für beide großen Berufsgruppen lassen sich damit aus
der Befragung relevante Tendenzen in Fragen der Wahrnehmung und Haltung
gegenüber ethischen Konflikten und deren Bearbeitung ableiten.
Entgegen den nicht selten geäußerten Differenzen zwischen den beiden großen
Berufsgruppen im Krankenhaus, dem ärztlichen und dem pflegerischen Dienst,
belegen die Ergebnisse der vorliegenden Befragung neben allen Unterschieden
auch ein hohes Maß an Übereinstimmung beider Seiten in Bezug auf das Erleben
und die Bewertung ethischer Fragen im Berufsalltag.
117
Diese Übereinstimmung könnte im Sinne der Förderung und Weiterentwicklung
der gegenseitigen Anerkennung und Kooperation ausdrücklich genutzt werden.
Daher arbeitet die Diskussion die zu findenden Gemeinsamkeiten und
Unterschiede explizit heraus, vergleicht sie mit dem aktuellen Forschungsstand,
stellt Verbindungen her zur Evaluation der Ethikberatungen und sucht nach
Anhaltspunkten, um die ärztliche und pflegerische Kompetenz im Umgang mit
ethischen Konflikten weiter stärken zu können.
5.4.1. Gemeinsamkeiten der Berufsgruppen
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse, dass ethische Konflikte zum Alltag der
beiden großen Berufsgruppen gehören, d.h. von Ärzten zu 75% und von
Pflegenden zu 55% Woche für Woche als solche erlebt werden. Diese hohe
Relevanz übertrifft die Ergebnisse vergleichbarer Untersuchungen,204 wo „nur“
jeder dritte Arzt eine wöchentliche Belastung angab und nur neun Prozent der
Ärzte eine tägliche Belastung. Besonders bemerkenswert erscheint daher, dass in
dieser Befragung jeder vierte Arzt angab, ethische Konflikte täglich zu erleben –
ein Umstand, der vielleicht nicht nur das spezifische Patientenkollektiv der
Nephrologie widerspiegelt, sondern auch auf einige allgemeine, aktuelle und
bereits geschilderte Entwicklungen im Krankenhaus zurückzuführen sein könnte.
Auch wenn dieser Aspekt nicht ausdrücklich abgefragt und in den offenen
Antwortmöglichkeiten nicht explizit erwähnt wurde: die Verkürzung der
Verweildauern könnte sich auch auf das Erleben ethischer Konflikte auswirken.
Bei stationären Aufenthalten von durchschnittlich weniger als einer Woche auch
bei Patienten mit komplexen internistischen Erkrankungen, kann schnell ein
erheblicher Zeitdruck nicht nur auf Diagnostik und Therapie entstehen, sondern
auch auf gravierende existenzielle Entscheidungen, etwa über das Fortsetzen oder
den Abbruch einer Therapie.
Im Zuge der Abrechnung nach diagnosebezogenen Fallpausschalen kommt es
im Krankenhaus nicht nur zu einer hohen zeitlichen Verdichtung ärztlicher,
pflegerischer und sonstiger Leistungen, sondern vermutlich auch zu einem höheren
Zeitdruck bei medizinischen Entscheidungen – selbst wenn diese ethisch
kontrovers sind und vor allem eines bräuchten: ausreichend Zeit.
204
Neitzke (2007).
118
In diesem Zusammenhang sei bereits darauf hingewiesen, dass sich im Rahmen
der nachfolgend untersuchten Ethikberatungen viele der Beratungsprozesse des
„Ethikkreises“ über mehrere Gespräche erstrecken und damit vermitteln, dass
gerade im Rahmen der Dialysebehandlung noch oft die Möglichkeit besteht, sich
den existenziellen Entscheidungen in mehreren Schritten langsam zu nähern.
Insofern ist die hier erwähnte Vermutung zur Verkürzung der Verweildauern und
dem Einfluss auf das Erleben ethischer Konflikte sicher nicht zu verallgemeinern.
Nicht nur die tägliche Relevanz, sondern auch die persönliche Belastung durch
ethische Konflikte zeigt zwischen Medizin und Pflege mehr Übereinstimmung als
Unterschiede: Eine deutliche Mehrheit der Befragten (65% der Ärzte bzw. 68%
der Pflegenden) empfindet eine „mittlere Belastung“, und auch die Angaben zu
einer „leichten“ oder „schweren“ Belastung zeigen bei den Beschäftigten eine
hohe Übereinstimmung.
Die hier genannten Ergebnisse liegen
geringfügig über denen
der
vergleichbaren Befragung an der Medizinischen Hochschule Hannover, die sich
allerdings auf das gesamte Universitätsklinikum und nicht nur auf ein spezifisches
Fachgebiet bzw. eine einzelne Klinik bezog.
Die Altersverteilung bei der Angabe der „mittleren“ und „starken“ Belastung
zeigt mit zunehmendem Alter eine Abnahme der „starken“ Belastung zugunsten
einer gleichzeitigen Zunahme der „mittleren“ Belastung. Während jeder fünfte
Befragte zwischen 20 und 29 Jahren noch eine „starke“ Belastung angegeben
hatte, sank der Wert auf 4% in der Gruppe zwischen 40 und 49 Jahren. Dies
könnte darauf hindeuten, dass ethische Belastungen mit steigendem Alter und
wachsender Berufserfahrung besser gelöst und verarbeitet oder aber stärker
verdrängt werden.
Auch hinsichtlich der Einschätzung von „Häufigkeit“ und „Wichtigkeit“
ethischer Konflikte finden sich bei den beiden großen Berufsgruppen sehr ähnliche
Bewertungen, die sich mit internationalen Ergebnissen decken.205 Grundlage war
hier die Auswahl von insgesamt 15 Themen aus dem stationären Berufsalltag. Als
„eher häufig“ erlebt werden von beiden Berufsgruppen der „Verzicht auf
Wiederbelebungsmaßnahmen“ (VaW), der „Umgang mit dementen Patienten“ und
die „Therapiebegrenzung/Therapieabbruch“ genannt. Diese Themen zählten für
beide Berufsgruppen zu den drei ethisch relevantesten Themen.
205
Hurst (2007).
119
Dabei ist festzustellen, dass sowohl der Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
als auch die Begrenzung oder der Abbruch einer Therapie von Ärzten noch
deutlich häufiger als ethisch konfliktreich erlebt wird als von Pflegenden (71% vs.
51% bzw. 65% vs. 46%). Die stärkere Ausprägung bei Ärzten könnte darin
begründet sein, dass in entsprechenden Fällen allein ihnen die letzte Entscheidung
und damit auch die letzte Verantwortung obliegt.
Bemerkenswert ist die Bewertung der Maßnahme „Abbruch einer Dialyse“:
Hier findet sich auch „in umgekehrter Richtung“ eine hohe Übereinstimmung
zwischen Medizin und Pflege. Der Abbruch wird von 59% der befragten Ärzte
und 65% der befragten Pflegenden als „eher selten“ ethisch problematisch erlebt.
Entweder zeigt sich hier eine Inkongruenz zur vorangegangenen Frage, bei
welcher der Abbruch einer Therapie noch eher häufig als ethisch konfliktreich
erlebt wurde, oder die Entscheidungen rund um den Beginn, das Fortsetzen oder
den Abbruch einer Dialyse werden tatsächlich als weniger belastend empfunden.
Im Idealfall könnten sich hier bereits Entlastungseffekte durch die stattgehabten
Ethikberatungen zeigen. Immerhin hat eine Mehrheit der Beratungen zum Thema
Dialyse stattgefunden. Dies könnte im besten Fall bereits eine spürbare Entlastung
oder auch einen Lerneffekt der beteiligten Mitarbeiter im Umgang mit den oft
schwierigen Entscheidungen rund um die Nierenersatztherapie bewirkt haben.
Bei den Ergebnissen zur „Wichtigkeit“ bzw. „Schwere“ ethischer Konflikte
zeigt sich eine noch weitergehende Übereinstimmung von Ärzten und Pflegenden.
Auch hier sind es Entscheidungen am Lebensende, die als sehr schwerwiegend
und belastend erlebt werden. Ärzte wie Pflegende nennen übereinstimmend vier
von fünfzehn Themen als vorrangig, wobei nur der Rang der Themen wechselt.
Insgesamt waren für beide Gruppen die Themen „Leben künstlich verlängern“,
„Therapiebegrenzung/Therapieabbruch“, „Dialyseabbruch“ und „Verzicht auf
Wiederbelebung“ in dieser Reihenfolge die schwerwiegendsten Probleme.
Auch in der Einschätzung der Ursachen ethischer Konflikte sind sich ärztlich
und pflegerisch Tätige einig. Aus den weiter oben genannten 17 verschiedenen
Ursachen sind für beide Berufsgruppen „Zeitmangel“, „Arbeitsüberlastung“ und
„mangelnde oder schwierige Kommunikation mit Patienten/Angehörigen“ die drei
am häufigsten genannten Ursachen. Dabei wird der Zeitmangel von Ärzten stärker
erlebt, die Arbeitsbelastung von beiden Gruppen gleich stark und die eher
kommunikativen Ursachen stärker von den Pflegenden.
120
Letztere Ergebnisse bestätigen die geschilderte Arbeitsverdichtung in der
stationären Versorgung, und sie unterstreichen die von Pflegenden vielfach
geäußerte Erfahrung, durch ihre alltägliche Nähe zum Patienten die entstehenden
Defizite in der Kommunikation deutlicher rückgemeldet zu bekommen.
Angesichts der dargestellten Entwicklung, insbesondere von Krankenhäusern der
Maximalversorgung, im Hinblick auf Fallschwere, Fallzahlerhöhung und Verweildauerverkürzung, ist das Erleben dieser Ursachen nachvollziehbar.
Die genannten Aspekte wirken bereits für sich, bedingen sich aber auch
gegenseitig. Vergleichsweise niedrig gewertet wurde von beiden Berufsgruppen,
dass „bestimmte Anforderungen in Konflikt stehen mit dem eigenen Gewissen.“
Nur 24% der Ärzte und 22% der Pflegenden sahen hierin Ursachen von ethischen
Konflikten in ihrem Berufsalltag.
Vor allem in der grundsätzlichen normativen Bewertung des Themas „Ethik im
Krankenhaus“ sind sich Medizin und Pflege einig. Gefragt nach der Bedeutung,
die ethische Konflikte am Arbeitsplatz haben sollten, sagen insgesamt 83% der
Befragten, dass sie „wichtig“ genommen werden sollten, wobei die Pflegenden mit
86% die Ärzte mit 82% nur leicht übertreffen.
Selbst wenn sich dieser gemeinsame Wunsch und Anspruch in der Realität
anders darstellen sollte, so bleibt er doch ein potenziell nützlicher gemeinsamer
Ausgangspunkt für entsprechende Maßnahmen der ethischen Sensibilisierung und
allgemeinen Teamentwicklung.
5.4.2. Unterschiede zwischen den Berufsgruppen
Unterschiede zwischen den Berufsgruppen finden sich allerdings auch, z.B. bei der
Benennung von Ursachen ethischer Konflikte: So sehen 47% der Ärzte „Probleme
durch Ablauf und Organisation der Krankenversorgung“ entgegen 19% bei den
Pflegenden. Umgekehrt nehmen 49% der Pflegenden ein „unklares Vorgehen, wie
Entscheidungen getroffen werden“ wahr, was nur von 24% der Ärzte geteilt wird.
Entscheidungsfindung und Organisation scheinen eher unterschiedlich bewertet zu
werden, was die anekdotenhaften Alltagsschilderungen vieler Betroffener bestätigt
und Anlass zu weiterer Klärung gibt: Ist die ärztliche Kritik an Organisation und
Abläufen eher eine selbstkritische Haltung der eigenen Berufsgruppe gegenüber
oder eine Kritik am pflegerischen Partner oder an der Verwaltung? Schließlich
übernimmt der Pflegedienst oft auch organisatorische und steuernde Aufgaben.
121
Jeder zweite der Pflegenden wiederum scheint eine größere Transparenz von
Entscheidungen zu wünschen, was Rückschlüsse auf die verbesserungsfähige
Kommunikation und ggf. auch Kooperation zwischen den Berufsgruppen zulässt
und damit ebenfalls keinen ganz unerwarteten Befund darstellt. 206 In diesem
Zusammenhang ist gerade die „Visitenkultur“ von Bedeutung: Die gemeinsame
Visite wird von vielen Pflegenden als ideale Gelegenheit beschrieben, um die
Kommunikation und Kooperation der Berufsgruppen von Ärzten und Pflegenden
zu verbessern. 207
Daher stellt sich für die stationäre Versorgung allgemein die Frage, ob
gemeinsame Visiten von Ärzten und Pflegenden regelmäßig und zu verlässlichen
Zeiten stattfinden und diese der Klärung weiterer medizinischer oder pflegerischer
Maßnahmen bzw. Entscheidungen dienen, oder ob die Visiten nur unregelmäßig
und eher als Gelegenheit zur ärztlichen Fortbildung genutzt werden. Mit der
praktischen und symbolischen Bedeutung der Visite ist in jedem Fall sensibel und
sorgsam umzugehen, da sich in ihr allzu leicht ein arztfixiertes Verständnis von
Pflege als ausführender und zuarbeitender Hilfstätigkeit manifestieren kann.
Diese Zuspitzung mag dazu dienen, den Empfindlichkeiten gerecht zu werden,
die sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger stark entwickelt haben
und die vielerorts einer konstruktiven Kommunikation und Kooperation von
beiden Seiten entgegenstehen.
Bei der Benennung derjenigen Personengruppen, mit denen ethische Konflikte
erlebt und ausgetragen werden, zeigen sich neben einigen Gemeinsamkeiten auch
deutliche Unterschiede zwischen den beiden großen Berufsgruppen: Pflegende wie
Ärzte erleben danach an erster Stelle ethische Probleme mit Angehörigen von
Patienten – allerdings unterschiedlich stark. Fast jeder vierte Arzt gibt an, ethische
Konflikte sowohl mit Patienten als auch mit Angehörigen täglich zu erleben, was
nur 6% bzw. 4 % der Pflegenden gleichermaßen so einschätzen. Dies könnte darin
begründet sein, dass die Erwartungen von Patienten und Angehörigen an
Erreichbarkeit, Zeit und Mitteilungsbereitschaft von Ärzten besonders groß ist und
sich mehr oder weniger täglich zeigt.
206
Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen (2005), Lecher et al. (2002).
Im Klinikum Nürnberg findet seit Anfang 2009 ein umfassendes Reorganisationsprojekt statt,
die „Struktur- und Prozessoffensive“ (SPO). In diesem Rahmen wurde von März bis September
2010 ein Rahmenkonzept für die Weiterentwicklung der „Interprofessionellen Zusammenarbeit –
Teil 1: Organisation Pflege und pflegenahe Dienste“ erarbeitet. In mehreren Workshops wurden
von Pflegenden und Ärzten auf die wichtige Bedeutung der Visite hingewiesen.
207
122
Auch in Bezug auf die Kollegen aus der je anderen Berufsgruppe zeigt sich ein
Unterschied zwischen Medizin und Pflege. Während nur jede fünfte Pflegekraft
(21%) „täglich“ oder „wöchentlich“ ethische Konflikte mit ärztlichen Kollegen
erlebt, sind es umgekehrt 41% der Ärzte, die „tägliche“ oder „wöchentliche“
ethische Konflikte mit Pflegenden angeben. Dies bestätigt, dass Ärzte diese
Konflikte insgesamt öfter erleben, lässt allerdings Raum für Vermutungen,
weshalb sich dieser Unterschied in der gegenseitigen Wahrnehmung darstellt. Die
Antwort könnte auch sein: Pflegende haben – oder sehen – schlichtweg seltener
ethische Probleme und dies eben auch mit den ärztlichen Kollegen der Station.
Hinsichtlich der eigenen Vorgesetzten unterscheiden sich die Ergebnisse
ebenfalls: Pflegende erleben hier ethische Probleme weder täglich (0%) noch
wöchentlich (3%), Ärzte dagegen sowohl täglich (18%) als auch wöchentlich
(24%). Diese Unterschiede könnten erneut darauf hindeuten, dass der ärztliche
Dienst ethische Probleme insgesamt häufiger erlebt oder dass sich die
Kommunikation von Ärzten mit ihren Vorgesetzen, ob Oberärzten oder Chefarzt,
stärker auf medizinische Fragen und Entscheidungen zu einzelnen Patienten
bezieht, während sich die Präsenz der Vorgesetzen im Bereich der Pflege weniger
auf primär fachliche, also pflegerische wie ethische Belange bezieht, sondern
stärker auf organisatorische Aufgaben des Managements.
In der Einschätzung der Wichtigkeit ethischer Konflikte für die eigene und die
andere Berufsgruppe nehmen Ärzte von sich und der Gruppe der Pflegenden an,
ethische Konflikte in gleicher Intensität und Ausprägung zu erleben. Dies gilt für
die Einschätzung von „wichtig“ ebenso wie für die Einschätzung „indifferent.“
Die befragten Pflegenden dagegen sehen durchaus Unterschiede in der
Gewichtung der beiden großen Berufsgruppen: Aus ihrer Perspektive würden
Ärzte sehr viel seltener ethische Konflikte als „wichtig“ ansehen (8% Medizin vs.
49% Pflege) und jeder fünfte Arzt würde ethische Konflikte sogar als „unwichtig“
betrachten (20% Medizin vs. 1% Pflege).
Diese abweichende Selbst- und Fremdeinschätzung der beiden Berufsgruppen
von Ärzten und Pflegenden deckt sich mit den Beobachtungen der bereits
genannten Mitarbeiterbefragung zu ethischen Fragen an der Medizinischen
Hochschule Hannover.208
208
Neitzke (2007), S.7.
123
Ein weiterer Aspekt unterschiedlicher Sichtweise zeigt sich bei der Einschätzung
und dem Erleben der ökonomischen Rahmenbedingungen der stationären
Versorgung – konkret beim Erleben ethischer Konflikte hinsichtlich der
„Aufteilung knapper Mittel“.
Während 78% der Pflegenden dieses Thema als „nie“ oder „eher selten“
problematisch erleben – was angesichts der steigenden ökonomischen Zwänge in
der Klinik bemerkenswert erscheint – gilt dies nur für 41% der ärztlichen
Mitarbeiter. In der ähnlichen Befragung an der Medizinischen Hochschule
Hannover war die Frage der Ressourcenverteilung häufiger als wichtig eingestuft
worden.209
Die Nürnberger Ergebnisse aus dem Jahr 2007 bestätigen damit die bereits
erwähnten Beobachtungen einer Befragung am Klinikum Nürnberg von 2003,
nach denen finanzielle Einschränkungen noch nicht allgemein als erschwerender
Umstand bei Entscheidungen wahrgenommen wurden.
Mit der Ökonomisierung der Klinik und der Verkürzung der Verweildauern zur
Erzielung bestmöglicher Erlöse werden Fragen der Mittelaufwendung künftig
stärker auf die Mikroebene der Station und des einzelnen Patienten wirken. Die
Erzielung von Erlösen bzw. das Vermeiden von Verlusten und Verschwendung
wird präsenter, was dem Einzelnen die Verantwortung auferlegt, ökonomische und
medizinische bzw. pflegerische Fragen sinnvoll und gewissenhaft zu verbinden.210
5.4.3. Lösungsstrategien beider großer Berufsgruppen
In der Wahrnehmung ethischer Konflikte im Stationsalltag finden sich also neben
zahlreichen Gemeinsamkeiten auch deutliche Unterschiede. Abschließend geht es
im Folgenden um gemeinsame oder unterschiedliche Lösungsstrategien von
Ärzten und Pflegenden.
Über die Kommunikation der beiden Berufsgruppen zeigen die vorliegenden
Befragungsergebnisse, dass Ärzte wie Pflegende ethische Konflikte vor allem mit
den Kollegen der eigenen Berufsgruppe besprechen, in vielen Fällen auch täglich,
wobei Ärzte dabei stärker auch das Gespräch mit den Pflegenden suchen. Dies
bestätigt eine gute regelmäßige Gesprächskultur im unmittelbaren Kollegenkreis,
bedenklich erscheint aber, dass beide Berufsgruppen „seltener“ (als monatlich) bis
„nie“ das Gespräch mit den Vorgesetzen suchen, sondern ethische Konflikte eher –
209
210
Neitzke (2007).
Blum et al. (2008), Isfort/Weidner (2009).
124
und dann vor allem wöchentlich – im privaten Umfeld besprechen. Dies kann für
Ärzte wie Pflegende gezeigt werden, ist bei letzteren aber weniger ausgeprägt.
Auch wenn es verständlich und gut ist, dass ethische Konflikte nicht an der
Stationstür zurückgelassen werden, sondern in angemessener (vertraulicher) Weise
auch mit den nächsten Angehörigen besprochen und verarbeitet werden, lassen
sich hierzu durchaus Fragen formulieren: Sind die eigenen Vorgesetzen für die
Erörterung ethischer Konflikte ausreichend verfügbar und werden sie als fachlich
kompetente Ansprechpartner erlebt?
Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Haltung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegenüber dem Ethikkreis der eigenen Klinik:
Gefragt nach wichtigen Ethikangeboten für den klinischen Alltag, nennen beide
Berufsgruppen mit Abstand als wichtigstes Angebot die „Möglichkeit, bei
aktuellen ethischen Entscheidungssituationen eine ethisch kompetente Person als
Berater hinzuzuziehen“. Gefragt nach den tatsächlich genutzten Ansprechpartnern
werden
ausgerechnet
die
beiden
professionellen
Ansprechpartner,
die
Klinikseelsorge und der hier untersuchte Ethikkreis, sowohl von Ärzten wie auch
von Pflegenden eher „seltener“ (als monatlich) bis „nie“ genutzt. Dass sich auch
hier wieder die beiden großen Berufsgruppen ähnlich verhalten, lässt das
inhaltliche Ergebnis nicht positiver erscheinen.
Das Ergebnis wirft Fragen auf, auch wenn es die geringe Kommunikation mit
den eigenen Vorgesetzen wiederum relativiert: Gibt es organisatorische,
inhaltliche, atmosphärische, gruppendynamische oder andere Gründe, die dem
Einschalten des Ethikkreises entgegenstehen? Sind die Existenz und das Vorgehen
des eigenen Ethikkreises trotz der internen Werbung auf der Ebene der
Assistenzärzte nicht hinlänglich bekannt? Empfinden Ärzte die Beratung der
Patienten und die gemeinsame Entscheidungsfindung doch als alleinige ärztliche
Aufgabe? Wird die Initiative zum Hinzuziehen des Ethikkreises womöglich mehr
oder weniger ausdrücklich abgelehnt oder gar unausgesprochen sanktioniert? „Das
haben wir doch nicht nötig!“
Im Hinblick auf den Ausbau und die weitere Förderung des Ethikkreises sollte
der gezeigte Befund Anlass sein, diese und weitere Fragen ausdrücklich zu
diskutieren, um nicht mögliche Hemmnisse zu übersehen, die einer intensiveren
Nutzung der Ethikberatung möglicherweise im Wege stehen.
125
5.5. Zusammenfassung des Kapitels
Insgesamt lässt sich das Ergebnis der Mitarbeiterbefragung in der Medizinischen
Klinik 4 am Klinikum Nürnberg im Sommer 2007 wie folgt zusammenfassen:
- Ethische Konflikte gehören für Ärzte und Pflegende zum Alltag.
- Sie werden mehrheitlich als „mittlere Belastung“ erlebt.
- Beide Berufsgruppen nennen ähnliche Themen als häufig und schwerwiegend.
- Diese Themen sind u.a. der Therapieabbruch oder Verzicht auf Wiederbelebung.
- Ärzte haben vor allem Konflikte mit Angehörigen, Patienten und Vorgesetzen.
- Pflegende erleben deutlich seltener ethische Konflikte mit anderen.
- Ärzte wie Pflegende wollen, dass ethische Konflikte ernst genommen werden.
- Beide Berufsgruppen beklagen Zeitmangel, Arbeitsbelastung, Kommunikation.
- Ärzte sprechen über ethische Konflikte vor allem mit Kollegen und dem Team.
- Pflegende sprechen eher mit den eigenen Kollegen über ethische Konflikte.
- Ärzte und Pflegende thematisieren ethische Konflikte auch oft in der Familie.
- Ärzte und Pflegende sprechen darüber kaum mit ihren Vorgesetzen.
- Ärzte und Pflegende wissen durchaus von Experten in der eigenen Klinik.
- Beide Gruppen suchen selten bis nie bei Konflikten Kontakt zu diesen Experten.
- Ärzte und Pflegende finden theoretisch die aktuelle Fallberatung wichtig.
Die ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter der Medizinischen Klinik 4 zeigen
insgesamt eine ausgeprägte Wahrnehmung ethisch-moralischer Konflikte und
diskutieren diese nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Umfeld.
Dieses Interesse deckt sich mit der vergleichsweise großen Beteiligung an der
Befragung selbst. Viele der hier genannten Ergebnisse zeigen große Übereinstimmung mit der Mitarbeiterbefragung an der MHH im Jahre 2005.
In der Medizinischen Klinik 4 finden sich deutliche Gemeinsamkeiten bei
Ärzten und Pflegenden in der Bewertung ethischer Konflikte in der Krankenversorgung. Erstaunlich ist allerdings die Diskrepanz zwischen Theorie und
Praxis. Was theoretisch gewusst, begrüßt und gewünscht wird, wird praktisch
nicht nachgefragt und genutzt. Diese Diskrepanz kann unterschiedlich begründet
sein. Vielleicht stehen die Ursachen ethischer Konflikte – Zeitmangel,
Arbeitsdruck, Kommunikationsdefizite etc. – zugleich ihrer Lösung im Weg. Wie
eine solche Lösung aussehen könnte, zeigt die jetzt folgende Evaluation der
Ethikberatung durch den Ethikkreis.
126
6. Evaluation der Ethikberatungen des Ethikkreises: 1999 bis 2011
6.1. Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4
Mit seiner Entstehung und Geschichte bildet der Ethikkreis der Nephrologie auch
die Entwicklung der modernen Medizin und Intensivmedizin ab, insbesondere der
Nierenersatztherapie. Gerade die Möglichkeiten der Dialyse bedeuteten von
Anfang an neben hilfreichen Therapieoptionen auch schwerwiegende Konflikte –
in den 1960er Jahren zunächst die eingangs genannten Entscheidungen über
wenige Dialyseplätze, heute etwa die heiklen Entscheidungen über das Fortführen
oder Beenden einer Therapie. Diese für beide Seiten, Patienten und Angehörige
wie Ärzte und Pflegende, belastende Situation hat im Klinikum Nürnberg ein
Beratungsangebot hervorgebracht, das durch das Engagement der Mitarbeiter und
die Befürwortung der ärztlichen bzw. pflegerischen Leitung möglich wurde und
inzwischen seit fünfzehn Jahren aktiv ist. Als Würdigung der beteiligten Personen,
sind diese im Folgenden namentlich genannt.
6.1.1. Entstehungsgeschichte
Bereits 1989 initiierte der Oberarzt Dr. Bernd Höffken das Dialyseberatungsteam,
das er gemeinsam mit der Krankenschwester Heidi Stephan sukzessive aufbaute
und das 1991 um eine Mitarbeiterin der Seelsorge, Pfarrerin Ulrike Klein, einen
Mitarbeiter des psychosozialen Dienstes, Sozialarbeiter Roland Haselbauer, und
eine Mitarbeiterin der Klinik für Psychosomatik, Dr. Perdita Dobe-Tauchert,
erweitert wurde. Ab dem Jahr 1999 kam Pfarrer Richard Schuster dazu.
Aufgabe der Dialyseberatung war es, bei schwierigen Entscheidungen allen
Beteiligten beratend und begleitend zur Seite zu stehen. Die verantwortliche
Pflegekraft hatte mit einer speziellen Weiterbildung zur Beratung von Patienten
die dafür notwendige Qualifikation erworben. Mit dem Ausscheiden von Bernd
Höffken im Jahr 2002 übernahm Oberarzt Dr. Michael Leidig dessen Aufgaben,
später kamen mit Hannelore Kraska-Junker und Pflegemanager Christof Oswald
zwei weitere Pflegekräfte hinzu.
Schon damals umfasste die Dialyseberatung folgende Aufgaben:
- Medizinische Information
- Aufklärung über die verschiedenen Nierenersatzverfahren
- Berufliche Beratung
- Psychosoziale Fragen
127
In den Jahren 1992 und 1995 gaben zwei besonders schwierige und belastende
Einzelfälle den Anlass für ein außerordentliches Beratungsgespräch, zu dem die
Dialyseberatung jeweils auch Ärzte, Pflegende, Patienten und Angehörige einlud.
Über das erste Gespräch, das eine besondere Rolle auf dem Weg zur dauerhaften
Ethikberatung spielte, berichtet die Krankenschwester Heidi Stephan:
„1992 führten wir in unserer Klinik erstmals eine Ethikberatung in großem
Kreise durch. Der Patient mit allen diabetischen Spätfolgen (Amputationen,
schwere Einschränkung der Herzleistung, starke Sehschwäche und
Kreislaufprobleme an der Dialyse) war ausgelaugt durch mehrere Jahre
Dialyse und hatte keine Kraft mehr, er wollte die Behandlung beenden und
äußerte diesen Wunsch bei jeder Dialyse. Trotz mehrerer Gespräche war er
nicht von diesem Wunsch abzubringen. In einer Beratung mit Angehörigen,
Ärzten und Pflegenden von Station und Dialyse sowie unserem
Dialyseberatungsteam konnten wir uns zur damaligen Zeit aus Angst vor
juristischen Konsequenzen nicht zu einem klaren Abbruch der Behandlung
entscheiden. Der Beschluss dieser Besprechung (Ethikberatung) war die
Entscheidung, eine ,Dialyse nach Laborwerten‘ durchzuführen.“211
Die „Dialyse nach Werten“ begann oft dann, wenn eine Dialyse für die Patienten
zur kaum erträglichen Belastung geworden war. Zunächst wurden einzelne
Dialysen ausgelassen, was bereits zum starken körperlichen Abbau und zum Tod
führen konnte. Bei akuter Überwässerung oder zu hohem Kaliumgehalt folgte eine
verkürzte Dialyse, dann wurde erneut ausgesetzt. Zur juristischen Absicherung der
verantwortlichen Ärzte wurden fortlaufend Laborparameter bestimmt. Die
„Dialyse nach Werten“ war aus vielen Gründen problematisch: Den Patienten
wurde nur vordergründig geholfen. Sie erhielten zwar weniger Dialysen, erholten
sich aber kaum und litten unter einem verlängerten Leiden und Sterben.
Angeregt durch den Kongress „Medizin und Gewissen“ im Oktober 1996
unterstützten schließlich der damalige Chefarzt Prof. Dr. Bernd Sterzel und der
Pflegedienstleiter Werner Ruder einen Vorschlag der Dialyseberatung, bewilligten
die notwendigen Ressourcen und schafften damit die Voraussetzung dafür, neben
der Dialyseberatung auch eine dauerhafte Klinische Ethikberatung einzurichten.
So entstand 1997 der Ethikkreis der „4. Med.“, der sich vor allem den schwierigen
Entscheidungen bei akuten und chronisch Kranken widmete und dabei nicht nur zu
Fragen der Dialyse hinzugezogen wurde.
211
Aus der unveröffentlichten Abschlussarbeit Heidi Stephans im Fernlehrgang Ethikberater im
Gesundheitswesen: „Kritische Betrachtung der Vorgeschichte, Entwicklung und Arbeitsweise des
Ethikkreises der Medizinischen Klinik 4 am Klinikum Süd in Nürnberg“. Mit freundlicher
Genehmigung der Autorin.
128
6.1.2. Selbstverständnis
Zum Start der neuen Ethikberatung formulierten die Beteiligten ein klinikinternes
Informationsblatt zur „Zielsetzung des Ethikkreises“,212 in dem es 1997 heißt:
„Die langjährigen Erfahrungen von einigen Arbeitskollegen im Dialysebereich
und auf der Intensivstation wollten wir auch anderen Stationen der
Medizinischen Klinik 4 anbieten. Als Konfliktfelder kristallisierten sich an
unserer Klinik heraus: Dialyseabbruch, Dialysebeginn, Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen.“
Die Gruppe legt damit Anliegen und Themen offen. Ihrem Selbstverständnis nach
beschreibt sie sich als ein Beraterkreis, der gerufen werden kann, wenn es um eine
Hilfestellung in Konfliktfällen geht, um die Vermittlung bei Entscheidungsfindungen oder um einen Beistand in schwierigen Situationen. Weiter heißt es:
„Nur auf Anfrage einer Station werden wir aktiv. Wir sind kein übergeordnetes
Gremium, das Entscheidungen trifft, sondern wir machen ein Gesprächsangebot, damit die Situation geklärt wird und eine getroffene Entscheidung von
allen getragen werden kann. Wir bieten eine konfliktzentrierte Beratung an.
Die letzte Entscheidung bleibt bei den Behandlern.“
Mit dem wichtigen letzten Satz war auch die Frage der Verantwortung geklärt.
6.1.3. Strukturen
Der Ethikkreis ist interdisziplinär zusammengesetzt und bewusst hierarchiefrei.
Zwei Jahre nach dem Start gehören ihm seit 1999 Jahren sieben Mitarbeiter an,
- die verantwortliche Pflegekraft der Dialyseberatung
- ein Pfarrer der evangelischen Klinikseelsorge
- eine Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin/Psychosomatik
- ein Internist und Oberarzt
- zwei weitere Mitarbeiter/innen aus dem Pflegedienst
- eine Diabetesberaterin
Die ersten vier der Kollegen beraten regelmäßig. Der Ethikkreis trifft sich einmal
im Monat zu inhaltlichen, organisatorischen und fallbezogenen Klärungen, und
einmal pro Woche lädt die Dialyseberatung zu einer Fallbesprechung ein, an der
auch Kollegen des Ethikkreises teilnehmen und sich gegenseitig supervidieren.
212
Dies umfasst ein vierseitiges Leitbild, das neben einer Standortbestimmung auch die Schwerpunkte der bisherigen Beratungsarbeit nennt und das Thema Behandlungsabbruch näher erläutert.
Das Papier mit den Piepser-Nummern der Beteiligten diente als klinikinterne Information.
129
6.1.4. Abläufe
Das Angebot des Ethikkreises steht allen Personen offen, die am Behandlungsund Betreuungsprozess beteiligt sind (u.a. Patienten, Angehörigen, Pflegenden,
Ärzten). Es wird innerhalb der Klinik mit einem Faltblatt beworben. 213 Darin heißt
es zum Ablauf:
„Wie gehen wir vor? Nachdem wir gerufen werden, kommen wir
normalerweise zu zweit und nehmen Kontakt auf mit dem, der uns gerufen hat;
mit dem verantwortlichen Arzt; mit den zuständigen Pflegekräften; mit dem
Patienten; bei Bedarf mit den Angehörigen.“214
Ein besonderes Charakteristikum des Nürnberger Ethikkreises ist seine große Nähe
zum Stationsalltag. Die Schwester der Dialyseberatung besucht täglich sowohl die
Dialysestation als auch die Normalstationen und steht damit in regelmäßigem
Kontakt zu den pflegerischen und ärztlichen Kollegen. Die hier typischen
Krankheiten (z.B. Diabetes mellitus, chronisches Nierenversagen) bringen es mit
sich, dass sie viele Patienten bereits seit Jahren persönlich kennt, begleitet und
ihren Krankheitsverlauf eng mitverfolgt.
Die Initiative zu einer Ethikberatung entsteht oft während der täglichen Visiten
der Dialyseberaterin, wenn diese von Ärzten oder Pflegenden darauf hingewiesen
wird, dass sich bald die Notwendigkeit einer Ethikberatung abzeichnen könnte.
Dabei sprechen sie häufiger Ärzte als Pflegende an, insbesondere Stationsärzte.
Pflegende werden ebenfalls aktiv, zeigen aber in der Regel eher Zurückhaltung,
u.a. aus Unsicherheit. Bei vielen Kontakten wird deutlich, dass die Möglichkeit
einer Ethikberatung im Rahmen der Visite erörtert worden ist. 215
Wenn die konkrete Anfrage einer Ethikberatung erfolgt ist, kontaktiert die
Schwester der Dialyseberatung zunächst eine weitere Person aus dem Ethikkreis.
Sofern die Patienten nicht längst bekannt sind, informieren sich beide im Sinne der
Auftragsklärung vorab bei den jeweiligen Ärzten und Pflegenden nach dem
medizinischen und pflegerischen Stand der Patienten, den Handlungsoptionen,
ihren Prognosen und dem sozialen Umfeld. Das Beratungsgespräch selbst, das
meist ohne die verantwortlichen Ärzte und Pflegenden stattfindet, führen oft zwei
Berater – möglichst unterschiedlichen Geschlechts – und in einer möglichst
ungestörten Atmosphäre.
213
Siehe Anhang 9.3.5.
Es handelt sich um ein sechsspaltiges mehrfarbiges Faltblatt, das regelmäßig auf Stationen
ausgelegt wird und in größeren Abständen aktualisiert wird.
215
Persönliche Mitteilung der Dialyseberaterin im Rahmen eines Interviews im November 2010.
214
130
Bei bettlägerigen Patienten in Zweibettzimmern werden die jeweils anderen
Patienten für den Zeitraum des Gesprächs in ein anderes Zimmer oder auf den
Gang gefahren. Wenn die Patienten mobil sind, findet das Gespräch gesondert in
einem anderen Raum statt. Zu Beginn des Gesprächs stellen sich die Berater
zunächst in ihrer Rolle vor, wobei die Institution und der Begriff „Ethikkreis“
immer explizit genannt werden, um allen Beteiligten den Rahmen des Gesprächs
transparent zu machen.
Eine eindeutige Rollenverteilung der Beratenden gibt es nicht, im Gegenteil:
Beide Berater ergänzen sich im Verlauf des Gesprächs, indem sie es der Situation
überlassen, zu wem der beiden der Patient oder die Angehörigen schneller einen
Kontakt und die notwendige Nähe aufbauen. Gerade bei Patienten, die nur noch
mühsam kommunizieren können, eher müde oder geschwächt sind und am
Gespräch eventuell nur mit geschlossenen Augen teilnehmen können, spielt selbst
der Klang der Stimme der Berater eine wichtige Rolle, vor allem in der
persönlichen Kontaktaufnahme und den ersten Gesprächsmomenten.
„Wir vergessen da auch oft unsere eigentliche Profession“, so die
Dialyseberaterin Heidi Stephan über ihre Gesprächsführung im Rahmen der
Ethikberatung. Beide Berater sind durch die entsprechende Vorinformation von
Ärzten, Pflegenden und der Krankenakte in der Lage, den Patienten und ihren
Angehörigen oder Betreuern medizinische Fragen und Fragen zur Prognose zu
beantworten. Häufig berühren die Fragen den Sterbeprozess und das Sterben
selbst: „Wie lange wird es dauern?“ – „Wird es Schmerzen machen?“ – „Was
werde ich davon mitbekommen?“
Das Gespräch des Ethikkreises endet meist mit einer ausdrücklichen
Empfehlung. Der Ethikkreis spricht zunächst mit dem behandelnden Team, um
ihm nach der Beratung eine konkrete Empfehlung zu geben, die auch schriftlich in
der Akte dokumentiert wird. Im Anschluss daran, in der Regel noch am selben
Tag, wird ein Protokoll verfasst, das vom Protokollanten und grundsätzlich auch
vom zweiten Berater unterzeichnet und in der Krankenakte abgeheftet wird. In der
Regel wird das Ethikprotokoll auch im Entlassungsbrief ausdrücklich erwähnt.
Die Ethikberatung im Rahmen des Ethikkreises kann damit gelegentlich den
Charakter eines „Ethik-Konsils“ erhalten, was dem eigentlichen Selbstverständnis
des Ethikkreises allerdings weniger entspricht, da so die gemeinsame Reflektion
aller Beteiligten eher weniger befördert wird.
131
Im Sinne der Empfehlung heißt es in der schriftlichen Mitarbeiterinformation:
„Wir können Hilfestellung in Konfliktfällen mit Patienten geben; als
Außenstehende die unterschiedlichen Sichtweisen eines Problems
wahrnehmen; durch Gespräche mit den Beteiligten zu einer Entscheidung
beitragen; Beistand in schwierigen Situationen leisten; die juristischen Aspekte
einbringen und Ihnen eine Empfehlung für das weitere Vorgehen mit dem
Patienten geben.“216
Damit, so der Ethikkreis weiter, spare das behandelnde Team aus Ärzten und
Pflegenden „Zeit und Energie durch die Klärung einer Situation“, „können
zeitraubende Gespräche mit Patienten und Angehörigen“ abgenommen werden,
„aufreibende,
wiederkehrende
Einzeldiskussionen
wegfallen“
und
somit
patientenorientierte Entscheidungen das Behandlungsteam entlasten.
Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 strebt ausdrücklich eine Entlastung
des übrigen Personals an, was Vor- und Nachteile mit sich bringt und im weiteren
Verlauf der Arbeit noch diskutiert wird. Diese Funktion der Entlastung der
Mitarbeiter und in gewisser Weise auch „Burn-out“-Prophylaxe wurde bei der
Befragung von Ärzten und Pflegenden an der Medizinischen Hochschule
Hannover ebenfalls bestätigt.
6.1.5. Standardisierte Entscheidungshilfen
Hier sei auch die Erarbeitung von Leitlinien erwähnt, die zu den klassischen
Aufgaben217 Klinischer Ethikkomitees gehört und auch vom „Ethikkreis“ geleistet
wurde. Der Einsatz einer „Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung“ (VaW),
angelehnt an ein Verfahren am Erlanger Universitätsklinikum, wurde vom
Pflegemanager Christof Oswald 2004 für die Medizinische Klinik 4 adaptiert und
im Rahmen eines Projektes eingeführt. Nach einer neunmonatigen Erprobung der
VaW-Anordnung und einer anschließenden Evaluation wurde sie ab 2005 in der
Regelversorgung der Klinik etabliert.218
Die Entwicklung praxisrelevanter Standards und Entscheidungshilfen ist für
die nachhaltige Unterstützung der eigentlichen Ethikberatung hilfreich. Ihre
Bekanntgabe und Vermittlung im Zuge von Fortbildungen und Informationsveranstaltungen dient zugleich der internen Öffentlichkeitsarbeit für das
eigentliche Angebot der Ethikberatung.
216
Aus der Mitarbeiterinformation, Siehe Anhang 9.3.5.
McGee (2001).
218
Oswald (2008) sowie Oswald (2009) als Evaluationsstudie.
217
132
6.2. Evaluationsmethode
6.2.1. Anzahl und Form der Beratungsprotokolle
Die systematische Auswertung der Ethikberatungen in der Medizinischen Klinik 4
am Klinikum Nürnberg bezieht sich auf den Zeitraum zwischen Januar 1999 und
September 2011. Für diesen Zeitraum liegen 262 schriftlich dokumentierte
Protokolle vor, wobei zum Teil ein einzelnes Protokoll mehrere Beratungen bzw.
Einzelgespräche dokumentiert. Die Beratungen des Ethikkreises wurden in den
ersten beiden Jahren 1997 und 1998 nicht schriftlich festgehalten und erst ab 1999
dokumentiert, wenn auch zunächst nur uneinheitlich. Die ersten beiden Protokolle
stammen vom Januar und April 1999 und wurden auf einem offiziellen Formular
der Medizinischen Klinik 4 geschrieben, bezeichnenderweise einem Konsilantrag.
Sie sind handschriftlich verfasst, etwa zehn Zeilen lang und namentlich
unterschrieben. Name und Vorname der Patienten sind genannt, allerdings ohne
weitere Angaben zu Geburtsdatum oder Haupt- und Nebendiagnosen. Für die hier
vorgestellte Untersuchung wurde jeweils das Geburtsdatum, sofern es fehlte, aus
den Krankenakten nachermittelt.
Das erste nicht-handschriftliche Protokoll stammt vom Oktober 2000 und
wurde auf einem Blankopapier dokumentiert, d.h. auf keinem offiziellen
Briefbogen oder Formular der Klinik oder des Klinikums. Die Wahl des
Formblattes bleibt zunächst uneinheitlich, bis der Ethikkreis seit 2003 mit nur
wenigen Ausnahmen den Briefbogen der „Medizinischen Klinik 4“ benutzt und
darauf ausdrücklich als „Ethikkreis“ firmiert. Für die Wiedererkennung der
Protokolle im klinischen Alltag und für ihre Akzeptanz sind diese Aspekte der
Dokumentation von Bedeutung und deshalb ausdrücklich erwähnt.
Die Protokolle wurden überwiegend von vier Personen geschrieben, etwa die
Hälfte von der verantwortlichen Pflegekraft der Dialyseberatung. Nahezu alle 262
Protokolle wurden handschriftlich von den teilnehmenden Kollegen des
Ethikkreises unterschrieben. Keines der Protokolle trägt eine Unterschrift anderer
Gesprächsteilnehmer.
Die
Protokolle
verteilen
sich
entsprechend
der
folgenden
Tabelle
ungleichmäßig auf die untersuchten Jahre. Zu Beginn fanden vergleichsweise
wenige Beratungen statt oder wurden als solche dokumentiert, in den Jahren 2007
und 2008 bewirkte vermutlich die klinikinterne, im vorangegangenen Kapitel
beschriebene Befragung den deutlichen Anstieg der Beratungen.
133
60
48
50
46
40
33
29
30
Anzahl der Beratungen
24
18
20
10
7
2
4
5
21
20
5
19
99
20
00
20
01
20
02
20
03
20
04
20
05
20
06
20
07
20
08
20
09
20
10
20
11
0
Abbildung 2: Anzahl der Protokolle pro Jahr (2011 bis 30.09.2011)
In die Untersuchung wurden diejenigen Protokolle einbezogen, die ein stattgefundenes Beratungsgespräch dokumentieren. Fünf Protokolle geben lediglich den
Klärungsprozess der Vorbereitung der Beratung wieder, z.B. ein Informationsgespräch mit Ärzten oder Pflegenden. Das eigentliche Beratungsgespräch mit
Mitgliedern des Ethikkreises fand dann nicht statt, da die Patienten unmittelbar
nach dem Vorbereitungsgespräch verstarben. Diese Protokolle wurden daher nicht
berücksichtigt. Andere Gründe für einen abgebrochenen Beratungsprozess fanden
sich nicht.
Vor diesem Hintergrund schließt die vorliegende Untersuchung des Ethikkreises der Medizinischen Klinik 4 von den 262 Protokollen insgesamt 257
Protokolle ein.
6.2.1. Auswertungsbogen
Für ihre Auswertung wurden die weitgehend unstrukturierten Protokolle zunächst
chronologisch nummeriert und auf der Grundlage eines für die Untersuchung
entworfenen Auswertungsbogens 219 analysiert. Der Bogen umfasst neben dem Jahr
der Protokollierung drei Kategorien von Angaben:
219
Auswertungsbogen siehe Anhang 9.3.3.
134
Kategorien
Personenbezogen
Einzelaspekte
Geschlecht und Alter
Fragestellung der Beratung, Orientierungsfähigkeit des Patienten,
Fallbezogen
Gesprächsbezogen
Patientenwille, Patientenverfügung, Teilnehmende, Gesprächsanzahl
Gesprächsverlauf, Konsensbildung, Empfehlungen
Tabelle 27: Aufbau des Auswertungsbogens
Die Unterscheidung in fallbezogene und gesprächsbezogene Angaben erfolgt zur
besseren Beurteilung des Gespräches selbst. Wegen des begrenzten Umfangs
vieler Protokolle war eine etwa semantische Untersuchung der Beratungen nicht
möglich. Um dennoch einen differenzierten Eindruck von den Protokollen zu
ermöglichen, werden sie auszugsweise zitiert. Um inhaltliche Verfälschungen zu
vermeiden, wurden die Auszüge redaktionell nicht bearbeitet.
6.3.
Ergebnisse
6.3.1. Geschlecht und Alter der Patienten
Die Verteilung der Geschlechter ist nahezu ausgewogen. 51% der Patienten waren
männlich, 49% weiblich. In der Altersverteilung ergibt sich folgendes Bild: 39%
der Patienten gehörten zur Altersgruppe zwischen 80 und 89 Jahren, gefolgt von
30% der Patienten zwischen 70 und 79 Jahren. Lediglich 5% der Patienten waren
49 Jahre alt oder jünger, 7% der Patienten allerdings auch über 90 Jahre alt.
Abbildung 3: Anzahl der Ethikberatungen je Altersgruppe
135
6.3.2. Fragestellungen in der Ethikberatung
Zur quantitativen Erfassung der wesentlichen Fragestellungen wurden nach einer
Sichtung der Protokolle zunächst sechs inhaltliche Schwerpunkte gebildet, wobei
auch mehrfache Zuordnungen zu diesen Schwerpunkten möglich waren. Ihre
Festlegung orientierte sich am untersuchten Patientenkollektiv. Es ergaben sich
dabei folgende Themen:
- Fragen zur Dialyse
- Allgemeine Therapiefragen
- Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen (VaW)
- Ernährung bzw. Anlegen einer Magensonde (PEG)
- Fragen der Pflege bzw. Unterbringung in Heim oder Hospiz
- Sonstige Themen
Zu den 257 untersuchten Protokollen wurden anhand des Auswertungsbogens
insgesamt 312 thematische Zuordnungen und Anlässe getroffen, allein 181 (d.h.
70% der Protokolle) zum Thema „Dialyse“, gefolgt von 52 Zuordnungen zu
„Allgemeine Therapiefragen“, 25 zu „Ernährung/PEG“, 22 zu „Verzicht auf
Wieder-belebungsmaßnahmen/VaW“, 17 zum Thema „Pflege, Heim, Hospiz“ und
15 weitere Zuordnungen zu „sonstigen Themen“.
Sonstige
15
Heim/Hospiz
17
VaW
22
Ernährung/PEG
25
Allg. Therapie
52
Dialyse
181
0
10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150 160 170 180 190 200
Abbildung 4: Anzahl der Fragestellungen pro Themenschwerpunkt
136
6.3.3. Teilnehmende Gesprächspartner
Die Ethikberatungen des Ethikkreises finden wie beschrieben zweigeteilt statt:
Zunächst führen die Ethikberater ein Informations- oder Vorgespräch mit den
involvierten Ärzten und Pflegenden, von denen in vielen Fällen auch die Initiative
zur Ethikberatung ausgeht. Dann folgt das eigentliche Beratungsgespräch, das
entsprechend der Protokolle von beiden Seiten in unterschiedlichen Besetzungen
geführt wird. Die häufigsten Konstellationen auf Seiten der Anfragenden sind:
-
Patient und Angehörige (z.T. als Betreuer)
33%
-
allein Angehörige (z.T. als Betreuer)
27%
-
allein Patient
14%
-
Patient, Angehörige und Mitarbeiter
10%
-
allein Mitarbeiter (von der Station)
5%
-
Angehörige und Mitarbeiter
7%
-
andere Settings
4%
Gesehen wird jeder Patienten und an mehr als der Hälfte der Ethikberatungen
(57%) nimmt der Patient auch selbst teil. Die dabei ermittelten Einschränkungen
sind Gegenstand des nächsten Abschnitts.
Auf Seiten des Ethikkreises verteilt sich die Teilnahme für den Zeitraum von
Januar 1999 bis September 2011 auf insgesamt sieben Personen (vier Ärzte, zwei
Pflegekräfte und ein Seelsorger), von denen eine der Pflegekräfte, der Seelsorger
und zwei Ärzte ca. 90% der Ethikberatungen durchgeführt haben. Über die größte
Erfahrung verfügt die für Dialyseberatung verantwortliche Pflegekraft. Sie ist in
230 der 257 Protokolle (89%) als Teilnehmende genannt und hat viele der
Gespräche dokumentiert, wobei sehr viele Protokolle gemeinsam verfasst werden.
Die Teilnahme des Ethikkreises an den 257 untersuchten Ethikberatungen
gliedert sich wie folgt. Die Ärzte des Ethikkreises sind dabei nicht als Behandler,
sondern als Ethikberater tätig. Die Gespräche finden fast immer zu zweit statt.
-
Pflegekraft/Seelsorger
46% der Beratungen
-
Pflegekraft/Arzt
32% der Beratungen
-
Seelsorger/Pflegekraft/Arzt
-
Arzt/Seelsorger
-
andere Konstellationen
9% der Beratungen
10% der Beratungen
137
3% der Beratungen
6.3.4. Orientierung und Kontaktfähigkeit der Patienten
Da an mindestens jeder zweiten Ethikberatung auch die Patienten selbst
teilnehmen, ist eine mögliche körperliche oder geistige Einschränkung ihrer
Teilnahme in Betracht zu ziehen. Aus den Protokollen ist erkennbar, dass die
Fähigkeit zu Orientierung und Kontaktaufnahme in 43% der Fälle gegeben war.
Diese Fähigkeit wurde entweder ausdrücklich erwähnt oder konnte aus den
Gesprächsschilderungen indirekt geschlossen werden:
„Am Anfang war Frau B. noch kontaktfähig und örtlich und zeitlich
orientiert.“ (Protokoll 17)
In 19% der Fälle waren laut Protokollen die Orientierung und Kontaktfähigkeit der
Patienten nur eingeschränkt vorhanden:
„Sie selbst ist kontaktierbar, kann sich aber nicht mehr äußern.“
(Protokoll 57)
„Herr B. wirkte urämisch und teilweise auch desorientiert.“ (Protokoll 62)
„Wir versuchten zunächst Kontakt mit dem Patienten aufzunehmen, der sich
jedoch sehr schwierig gestaltete, weil Herr M. sehr schwerhörig und weil er in
seiner geistigen Beweglichkeit sehr eingeschränkt ist. Er äußerte jedoch seine
Zufriedenheit, forderte energisch Kaffee und Kuchen und bot keinerlei
Anzeichen, dass er keine Dialyse wollte.“ (Protokoll 92)
In 26% der Gespräche waren laut Beratungsprotokollen die Orientierung und
Kontaktfähigkeit der Patienten nicht gegeben bzw. nicht möglich:
„Der Patient war zu diesem Zeitpunkt schon dement.“ (Protokoll 71)
„[...]führten wir ein ausführliches Gespräch mit dem Ehemann von Frau E.
(zugleich ihr Betreuer) über das weitere medizinische Vorgehen bei seiner
Frau. Sie selbst war nicht mehr kontaktfähig. Auf einfache Aufforderungen,
z.B. die Augen zu öffnen, hat sie nicht eindeutig reagiert.“ (Protokoll 40)
„Hier war der Patient nicht kontaktfähig. Wiederholt war es bei versuchter
Kontaktaufnahme zu einem scheinbaren Wahrnehmen der Gesprächspartner
gekommen. Nach kurzer Zeit hat der Patient aber jeweils die Augen
geschlossen. Eine augenblickliche Willensäußerung war nicht zu eruieren.“
(Protokoll 29)
In weiteren 12% der Fälle fanden sich in den Protokollen zu den Aspekten
Orientierung und Kontaktfähigkeit keine eindeutig verwertbaren Aussagen. Sie
fehlten entweder vollständig oder waren missverständlich und zu einem kleineren
Teil auch widersprüchlich formuliert.
138
6.3.5. Kenntnis des Patientenwillens
In Ergänzung der Frage nach Orientierung und Kontaktfähigkeit der Patienten
stellte sich die Frage nach dem Vorliegen bzw. der Kenntnis eines ausdrücklichen
Patientenwillens. Dieser galt bei der Auswertung der Protokolle dann als bekannt,
wenn er durch den teilnehmenden Patienten im Gespräch selbst geäußert, von den
Angehörigen oder Betreuern indirekt geschildert und gemutmaßt wurde oder wenn
er in Form einer Patientenverfügung vorlag – mit der Einschränkung, dass weder
der mutmaßliche Wille noch eine Äußerung im Rahmen einer Patientenverfügung
stets mit der vorliegenden Situation eindeutig übereinstimmen muss, was in vielen
Gesprächen wiederum zu Kontroversen führen kann.
In mehr als der Hälfte der untersuchten Protokolle (58%) wird der
Patientenwille im hier genanten Sinne als „bekannt“ und „eindeutig“ beschrieben:
„Heute führten wir mehrere Gespräche mit Frau T. hinsichtlich weiterer
medizinischer Maßnahmen bei fortgeschrittener pAVK durch. Frau T. äußerte
mehrfach klar, dass sie keine weiteren Maßnahmen (diagnostischer oder
operativer Art) wünscht und umgehend wieder ins Pflegeheim zurückverlegt
werden möchte. Hingegen wünscht sie die weitere Durchführung ihrer
chronischen Dialysebehandlung.“ (Protokoll 102)
In 19% der Fälle galt der Patientenwille als „ambivalent“ und „uneindeutig“:
„Herr D. schwankt in seinen Aussagen sehr. So äußerte er, dass er nicht mehr
könne, er auf keinen Fall in das von der Nichte avisierte Heim gehen wolle. Zu
einer exakten Aussage jedoch, die Dialyse zu beenden, konnte sich der
Patienten nicht durchringen. Diese Ambivalenz ist dem Patienten jedoch
bewusst. Sein letzter Satz war die Bitte um Entschuldigung, dass er sich nicht
entscheiden könne.“ (Protokoll 11)
„Herr H. ist uns schon seit mehreren Wochen bekannt und es wurden [...] viele
Gespräche geführt, in denen er schon immer sehr schwankend war und
konkrete schon gefasste Entscheidungen mehrmals änderte.“ (Protokoll 184)
„In dem heutigen Gespräch zeigte sich der Patient aggressiv und uneinsichtig,
er äußerte nur immer wieder den Wunsch, dass er sterben wolle, dazu sollten
wir ihm auch verhelfen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen werde, werde
er sich sofort aufhängen. Er leide, könne nicht mehr laufen, nicht mehr
schlafen und keinen Urin lassen. Sein Sohn bestätigte, dass der Vater sterben
wolle, sie stünden auch hinter dem Wunsch des Vaters, damit ist auch der
Bruder gemeint und die Ehefrau, die auch schwer herzkrank ist. Auffallend
war, dass der Patient immer wieder die gleichen Worte gebrauchte, so dass
der Schluss nahe liegt, dass der Patient urämisch so verändert ist, dass eine
Einschätzung seiner Geschäftsfähigkeit sehr schwer fällt, trotzdem schien der
Patient am Schluss nachdem ihm mehrfach erklärt worden war, dass sein
Zustand reversibel sein könnte, ins Nachdenken gekommen zu sein.“
(Protokoll 79)
139
In 23% der Fälle wird der Patientenwille als „unbekannt“ festgehalten oder es
fehlten in den Protokollen entsprechende Angaben bzw. Informationen:
„Ein schriftlicher Wille des Patienten liegt nicht vor. Die Patientenverfügung
wurde laut Aussage der Familie von seinen Angehörigen verfasst. Der Patient
war zu diesem Zeitpunkt schon dement. Ein mutmaßlicher Wille zum
Dialyseabbruch wurde vom Patienten nicht geäußert. Auch in anderen Dingen
überließ er die Entscheidungen seiner Ehefrau.“ (Protokoll 71)
6.3.6.
Patientenverfügungen
Lückenhaft sind die Protokolle bezüglich der Angaben zum Vorliegen einer
Patientenverfügung. Erst seit der Überarbeitung des Dokumentationsbogens
„Ethikkreis“ im Jahr 2009 wird das Vorliegen einer Patientenverfügung im
Protokoll systematisch abgefragt und festgehalten. Insgesamt findet sich daher in
67% der Fälle keine Erwähnung einer Verfügung oder einer Vorsorgevollmacht
und nur in 16% der Fälle wird das Vorliegen einer Patientenverfügung
ausdrücklich bestätigt. In 17% der Fälle wird das Fehlen einer Verfügung erwähnt.
6.3.7. Anzahl der Beratungsgespräche
In der überwiegenden Zahl der Fälle (64%) hat die eigentliche Ethikberatung
innerhalb eines einzigen Gesprächs stattgefunden, in fast jedem dritten Fall (29%)
waren es zwei bis drei Gespräche und in 7% der Fälle mehr als drei
Beratungsgespräche. Der umfangreichste Beratungsprozess fand im Sommer 2011
statt mit insgesamt neunzehn Einzelgesprächen innerhalb von acht Wochen.
Schätzungsweise beziehen sich die hier ausgewerteten 257 Protokolle auf etwa
430 einzelne Beratungsgespräche. Grundsätzlich versuchen die Ethikberater, den
Kontakt auch nach dem Beratungsprozess in geeigneter Form zu halten.
6.3.8. Gesprächsverlauf
Der Gesprächsverlauf kann den Charakter und das Grundverständnis der Beratun g
widerspiegeln, sofern er sich aus den Protokollen angemessen nachvollziehen
lässt. Angesichts der zum Teil sehr kurzen und prägnanten Protokolle, die weniger
Verlaufs- als Ergebnisprotokolle darstellen, ist dies – wie oben beschrieben – nur
eingeschränkt möglich. Dennoch enthalten die vorliegenden Protokolle hilfreiche
Informationen und weiterführende Hinweise: In der Mehrheit (59%) vermitteln sie
einen unstrittigen Gesprächsverlauf, 36% der Beratungen verliefen dagegen
kontrovers und 5% waren nicht eindeutig zuzuordnen.
140
Unstrittig meint hier einen Verlauf der Beratung, in dem sich bei den Beteiligten
weder intra- noch interpersonelle Konflikte oder Ambivalenzen zeigen, die das
Gespräch prägen und einer gemeinsamen oder vom Patienten gefällten
Entscheidung entgegenstehen. Bei unstrittigen Gesprächsverläufen scheint die
Beratung eher der Bestätigung bzw. Vergewisserung und/oder Dokumentation
vorliegender Haltungen zu dienen, wie auch in den folgenden drei Fällen:
„Wie schon in vorherigen Kontakten angesprochen, empfand Frau R. die
Dialyse immer als Belastung. Im Rückblick scheint Frau R. in den Wochen vor
ihrer Einlieferung ins Krankenhaus von Bekannten und der Familie Abschied
genommen zu haben. Sie wollte nie ein Pflegefall sein. Es wurde deutlich, dass
Frau R. in ihrem augenblicklichen Zustand keine weiteren lebensverlängernden Maßnahmen und keine Dialyse mehr will. Die Familie bittet
auch ausdrücklich darum, nur noch schmerzstillende und ihr Leid lindernde
Medikamente zu verabreichen.“ (Protokoll 47)
„Nachdem die Dialyse am Vortag wegen schlechten Blutdrucks abgebrochen
werden musste und sich der gesundheitliche Zustand weiter verschlechterte,
wollten alle Beteiligten von weiteren Behandlungen und Dialysen absehen.
Schon beim letzten Krankenhausaufenthalt sprach die Patientin zu ihrer
Familie, dass es doch besser gewesen wäre, wenn sie hätte sterben können. Die
Familie wünscht keine weitere Diagnostik und Therapie.“ (Protokoll 170)
„Der Patient wurde uns als sehr selbstbestimmend beschrieben, was sich a uch
in den klaren Festlegungen der Patientenverfügung zeigt. Alle Beteiligten
(Ärzte, Familie und Ethikkreis) sind gemeinsam der Meinung, dass die in der
Patientenverfügung beschriebene Situation eingetreten ist und die weitere
Behandlung eingestellt werden sollte.“ (Protokoll 168)
Gegenüber diesen unstrittigen Ethikberatungen verliefen 36% der protokollierten
Gespräche bzw. Beratungen kontrovers. Unter kontroversen Gesprächen sind hier
solche zu verstehen, in deren Verlauf unterschiedliche oder auch gegensätzliche
Auffassungen der Beteiligten sowie ihre Ambivalenzen sichtbar wurden und teils
bestehen blieben. In den als kontrovers bezeichneten Gesprächen:
- zeigen sich gegensätzliche Vorstellungen:
„Frau W. gab uns gegenüber an, dass ihr Exehemann, mit dem sie jedoch
immer noch eine gute Beziehung hält, ihr gegenüber Todeswünsche
ausgesprochen habe. Er wünsche auch nicht, reanimiert zu werden, so wie er
nicht an irgendwelchen Schläuchen hängen wolle. [...] Nachdem mit Frau W.
ein Gespräch geführt worden war, meldete sich der gemeinsame Sohn und
sprach sich gegen eine VaW-Anordnung aus. Er befürwortete, dass bei seinem
Vater alle möglichen Behandlungsmaßnahmen durchgeführt werden sollten,
was im Gegensatz zu oben angeführten Willensäußerungen stand.“
(Protokoll 63)
141
- finden auffallende Themenwechsel statt:
„Seit sie im betreuten Wohnen lebt und vermehrt in den letzten Wochen
äußerte sie häufig, nicht mehr leben zu wollen. Dabei sprach sie nie von einem
Dialyseabbruch. Im gemeinsamen Gespräch mit der Patientin fragten wir
konkret nach einer VaW. Die Patientin reagierte unruhig und wechselte das
Thema.“ (Protokoll 138)
- wird ein besonderer Entscheidungsdruck aufgebaut:
„Wir erhielten den Auftrag, mit dem Sohn und Bevollmächtigten der Patientin
zu sprechen, weil der trotz einer aussichtslosen Situation auf eine weitere
Dialyse und eine Verlegung auf eine Intensivstation gedrängt hatte. Wir
führten ein Gespräch mit dem Sohn und anschließend mit der Patientin. Im
dem Gespräch zeigte sich, dass der Sohn unter einem massiven Druck von
Seiten der Mutter steht, sie zu retten.“ (Protokoll 160)
- findet offensichtlich Verdrängung statt:
„Wir wurden von der Station gerufen, um mit der Familie des Herrn S. über
die Aussichtslosigkeit seiner Erkrankung und seinen mutmaßlichen Willen zu
weiteren Dialysen zu eruieren. Zunächst hatten die vier Kinder des Patienten
große Schwierigkeiten, die Verdrängung der schweren Erkrankungen
aufzugeben. Im Laufe des Gespräches konnten sie sich mit dem Sterben des
Vaters auseinander setzen und ihre Trauer zulassen.“ (Protokoll 139)
- gibt es eine starke Zurückhaltung bzw. Abwehr des Patienten:
„Frau E. gab an, dass der Patient mit ihr nicht sprach, so dass sie keine
Informationen erhielt bezüglich des weiteren Vorgehens. Auch mit uns sprach
der Patient wenig, er äußerte auf Nachfragen nur mit Ja und Nein, wobei eine
große Aggressivität spürbar war.“ (Protokoll 180)
- zeigen sich psychische Auffälligkeiten:
„Inhalt der Beratung war ihre Ablehnung jeglicher Behandlung. In dem
Gespräch hatten wir den Eindruck, dass Frau V. trotz ihrer starken
Willensäußerungen, die Behandlung abzubrechen, nicht gefühlskongruent sei.
Wir hatten die Vermutung, Frau V. sei depressiv und baten, einen Psychiater
hinzuzuziehen und vorerst die Behandlung weiter zu führen.“ (Protokoll 154)
- gibt es medizinische Verständnislücken:
„Inhalt der Beratung war die Information zur Dialyse und die Frage des
Dialysebeginns. Frau S. wehrte sich vehement gegen die Dialyse und ließ keine
Argumente zu. Es war sehr schwer, einen Zugang zu ihr zu finden. Auch die
Tochter war anfangs gegen die Dialyse, verstand aber im Laufe des
Gespräches die Lebensbedrohung.“ (Protokoll 157)
Da ein erheblicher Anteil der Ethikberatungen in diesem Sinne kontrovers verlief,
stellt sich zwangsläufig die Frage, mit welchem Ergebnis die Gespräche endeten
und ob es zu einer gemeinsamen Konsensbildung kam.
142
6.3.9. Konsensbildung
In 89% der Fälle bestand den Protokollen zufolge in bzw. nach den Beratungen
des Ethikkreises ein ausdrücklicher Konsens zwischen den Beteiligten oder konnte
ein solcher im Verlauf mehrerer Gespräche erreicht werden. Konsens meint dabei
am Gesprächsende eine übereinstimmende Einschätzung der Gesamtsituation –
wie im diesem Fall, wo sich aber der Patient selbst aktuell nicht mehr äußern
konnte.
„Zu der konkreten Situation der Weiterbehandlung hier im Krankenhaus hat
sich der Patient direkt nie geäußert, wie er auch sonst nie über Gefühle oder
das Sterben sprach. Viele indirekte Hinweise in seinem Verhalten und seinem
vorher gelebten Weltbild weisen aber darauf hin, dass er mit einer PEGAnlage, die zu einer Verlängerung seiner jetzigen Situation führen würde, nicht
einverstanden wäre. Dies entspricht auch der einhelligen Meinung seiner
Kinder und seiner Familie. Empfehlung: Keine PEG-Anlage. Verlegung ins
Hospiz, Ziehen der Magensonde dort. Subcutane Gabe von Infusionen zur
Durstlinderung.“ (Protokoll 29)
Manchmal braucht Konsensbildung Zeit. Das folgende Protokoll dokumentiert
zwei Ethikberatungen, durch die sich erst im Verlauf einer Woche eine gemeinsam
getragene Entscheidung langsam entwickelte:
„[...] führten wir ein Gespräch mit Herrn J. und mit seinem Neffen (Betreuer),
Herrn B.. Zunächst wirkte der Patient müde und abwesend, auf Ansprache
öffnete er die Augen und war ansprechbar, gab Angaben zum Befinden und
antwortete auf unsere Fragen. Besonders stark reagierte er auf die Fragen zur
Beziehung zu seinem Neffen. Er drückte sein Vertrauen ihm gegenüber deutlich
aus. Wir sprachen die Dialyse an, zunächst schloss er die Augen und reagierte
nicht. Überraschenderweise sagte er dann sehr klar, er könne sich nicht
vorstellen, drei mal in der Woche zu dialysieren, wäre aber im Moment mit
einem mal einverstanden, um es zu versuchen. Auch der Neffe stimmte dem
Versuch einer Dialysebehandlung zu. Für ihn war es eine Entlastung, dass
Herr J. selbst eine Aussage getroffen hat. Empfehlung: Herr J. wird weiter von
uns begleitet. Der Betreuer kümmert sich um einen Hospizplatz. Je nach
Zustand des Patienten sollte über die weitere Dialyse in den nächsten Tagen
noch einmal beraten werden.“ (Protokoll 54)
Im gleichen Protokoll ist eine acht Tage später erfolgte Beratung dokumentiert:
„Wir führten heute ein erneutes Gespräch mit Herrn B. und Dr. NN.
Übereinstimmend stellten wir fest, dass sich der Zustand und die Kontaktierbarkeit von Herrn J. im Vergleich zur letzten Woche deutlich verschlechtert
hat. Nach unserem Eindruck zieht sich der Patient seit letztem Freitag immer
mehr zurück, reagiert nicht mehr auf Ansprache. Schon in der letzten Woche
berichtete uns der Neffe, dass Herr J. lebensverlängernde Maßnahmen sowie
eine Magensonde oder PEG ablehne, wenn dadurch nur sein Sterbeprozess
verlängert würde. Übereinstimmend fanden wir, dass jetzt der Zeitpunkt
eingetreten ist, den der Neffe uns beschrieben hat.“ (Protokoll 54)
143
2% der Protokolle waren hier nicht beurteilbar, in 9% war eine Konsensbildung
laut Dokumentation nicht möglich. Zur Illustration folgen hier drei Beispiele.
Beispiel 1: 28jähriger geistig behinderter Patient. Entscheidung zur Dialyse
„Zunächst wurde die Familie des Patienten über Ablauf der Dialyse,
Shuntanlage (usw.) aufgeklärt. Die Mutter konnte die Bedenken der Klinik,
dass die Dialyse aufgrund der Panik und Abwehr von J. (bei körperlichen
Untersuchungen und Blutabnahme müssen ihn jedes Mal mehrere Personen
festhalten) zum Wohl von J. nicht durchführbar sei, nachvollziehen. Der Vater
wünscht dagegen einen Versuch mit der Dialyse. Auf mehrfache Anfrage
konnte der Vater zustimmen, bei der nächsten Blutabnahme anwesend zu sein.
Dabei musste J. von fünf Personen festgehalten werden, weil er sich stark
sträubte. Der Vater meinte anschliessend, dass er die Situation nicht so
schlimm empfunden hätte. Eine Pflegerin (des Heimes von J.) bestätigte uns,
dass die Blutabnahmen auch dort regelmäßig so ablaufen würden und
keinerlei Gewöhnungseffekt stattfände. Da es in diesem Gespräch nicht zu
einer Einigung kam, wollten sich alle Beteiligten [...] zu einem neuen Termin
treffen um zu einer Klärung zu kommen.“ (Protokoll 27)
Beispiel 2: 57jähriger Patient, fragliche Fußamputation
„Mit Herrn S. führten wir ein Gespräch. Es zeigte sich deutlich, dass Herr S.
eine Einschränkung seiner geistigen Fähigkeiten hat. So kann Herr S. seinen
jetzigen lebensbedrohlichen Zustand kognitiv nicht erkennen, sondern meint,
dass sich der Zustand der Füße verbesserte, solange sie sich noch bewegen.
Eine Amputation lehnt er strikt ab, durchgängig mehrfach, auch vor Zeugen.
Der Betreuer stimmt der Amputation zu. Wir empfehlen: Kontaktaufnahme mit
dem Vormundschaftsgericht, um diesen Widerspruch zwischen Patienten und
Betreuerwillen klären zu lassen, inwieweit wir zur Akzeptanz des Patientenwillens verpflichtet sind oder ob der Betreuerwille zählt.“ (Protokoll 44)
Beispiel 3: 87jähriger Patient, fraglicher Dialyseabbruch
„Herr H. äußerte sich zufrieden über die Dialyse, erkundigte sich, wie er von
zu Hause aus an die Dialyse gelange, wie lange er noch in der Klinik
dialysieren müsse und wie häufig und lange er bei Dr. NN dialysieren müsse.
Er habe die Dialyse gut vertragen, was auch die Dialysestation bestätigt. Nach
dem Wochenende legte Herr H. ein Schreiben vor, in dem er nochmals auf
seine Patientenverfügung aufmerksam machte, und im Gegensatz zu den
Äußerungen der Vorwoche beschrieb, dass er die Dialysebehandlung körperlich nicht durchstehen könne. Dies sei im Einverständnis mit seiner Familie
niedergeschrieben worden. [...] führten wir nochmals ein Gespräch mit Herrn
H., in dem der Patient stereotyp und emotionslos seinen Wunsch, die Dialyse
abzubrechen wiederholte. Gerade diese Emotionslosigkeit ist auffallend. Sie
steht in deutlichem Gegensatz zu dem lebendigen Interesse an der Dialyse in
der Vorwoche. Geradezu gebetsmühlenartig wiederholt der Patient seinen
Abbruchwunsch. Der Patient wurde noch einmal über die Todesfolge bei
Dialyseabbruch aufgeklärt. Da er jedoch bei vollem Bewusstsein ist und
geschäftsfähig, muss seinem Willen entsprochen werden. (Protokoll 77)
144
6.3.10. Empfehlungen
In fast allen Beratungen (96%) standen am Ende eine oder mehrere konkrete
Empfehlungen. Wie in den Protokollauszügen zum Thema Konsens gezeigt,
konnte auch in Fällen mangelnder Konsensbildung eine Empfehlung erfolgen. Nur
in 4% der Beratungen ist eine solche Empfehlung nicht vermerkt.
Zwei der Beratungen ohne Empfehlung seien hier als Beispiele erwähnt. Im
ersten Fall handelt es sich um das zweite überhaupt dokumentierte Protokoll. Trotz
eindeutiger Haltung des Patienten im Fall der fraglichen Fortsetzung einer Dialyse
ist hier keine Empfehlung genannt – vermutlich war sie erfolgt, nur nicht explizit
schriftlich festgehalten. Im zweiten Fall hatten sich ein Patient und seine Familie
dafür entschieden, eine bestehende Dialysebehandlung abzubrechen, um trotz
eindringlicher Informationen und Hinweise von Dialyseteam und Ethikkreis, nach
Hause entlassen zu werden. Auch hier wurde keine Empfehlung dokumentiert.
In Anbetracht
der oft komplexen medizinischen,
pflegerischen
und
psychosozialen Situation vieler Patienten enden nicht alle Beratungen mit einer
einzigen Empfehlung. Daher sind in den 257 untersuchten Protokollen insgesamt
331 Empfehlungen enthalten. Diese Empfehlungen wurden für den Auswertungsbogen zu 16 Einzelthemen gebündelt, denen die Empfehlungen dann zugeordnet
wurden.
Abbildung 5: Empfehlungen in der Ethikberatung – Übersicht (N: 331)
145
Mindestens 287 der 331 Empfehlungen (87%) beziehen sich auf Entscheidungen
im Zusammenhang mit dem Lebensende – dies sind die Empfehlungen zum
Beginnen, Fortführen oder Beenden einer Dialyse, zum Befürworten oder
Ablehnen einer VaW-Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen,
zum Legen einer Magensonde (PEG) zur künstlichen Ernährung, zur Überweisung
in Hospiz oder Palliativmedizin bzw. zur Fortsetzung weiterer Gespräche
bezüglich eines Therapieendes.
Damit bestätigt der inhaltliche Schwerpunkt der Empfehlungen die
beschriebenen Fragestellungen und korrespondiert mit den Ergebnissen der
Mitarbeiterbefragung und bestätigt auch diese.
Fragestellungen und Anlässe der
Beratungen
Anzahl der
Anlässe
Anzahl der
Empfehlungen
Dialyse
181
163
Verzicht auf Wiederbelebung (VaW)
22
27
Ernährung / PEG
25
20
Andere Therapien
52
46
Pflegeheim / Hospiz / Palliativstation
17
31
Sonstige
15
-
Weitere Beratung bzw. Gespräche
30
Einschalten Vormundschaftsgericht
2
Andere Empfehlungen, z.B. Intensivstation
12
Gesamtzahl
312
Tabelle 28: Fragestellungen der Beratungen und ihre Empfehlungen
146
331
Die Differenz zwischen der Anzahl der Fragestellungen und der Anzahl der
Empfehlungen pro Themenschwerpunkt ist darauf zurückzuführen, dass im
Verlauf vieler Gespräche zu der eigentlichen Ausgangsfrage weitere relevante
Aspekte hinzukamen und damit auch die Zahl der Empfehlungen beeinflussten.
Von besonderem Interesse sind die insgesamt 163 Empfehlungen bezüglich der
Dialyse, da sich hier bestimmte Entscheidungstendenzen des Ethikkreises i n
Bezug auf das Fortführen oder Beenden von Behandlungen zeigen könnten. Das
Ergebnis ist bemerkenswert ausgewogen: Es finden sich 81 Empfehlungen zur
Fortsetzung oder dem Beginn einer Dialyse und 82 zum Abbruch.
Im Sinne einer Empfehlung zur Fortsetzung von Behandlungen wurde eine
VaW-Anordnung (Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen) in
vier Fällen ausdrücklich abgelehnt, in 23 Fällen wurde die VaW-Empfehlung
ausgesprochen. In 23 Fällen wurde eine Fortführung sonstiger Behandlungen
empfohlen, in 23 Fällen wurde sie nicht empfohlen. Zweimal wurde die Anlage
einer Magensonde (PEG) empfohlen, in 18 Fällen dagegen abgelehnt.
Zu den Themen Dialyse, Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen (VaW),
Legen einer Magensonde (PEG) und sonstigen Therapien, bei den es eher um
Fragen am Lebensende, d.h. um das Fortführen oder die Beendigung
medizinischer oder pflegerischer Prozeduren ging, wurden wie erwähnt 287
Empfehlungen abgegeben. Davon sind mindestens 177 Empfehlungen (62%) eher
einer Empfehlung zum Verzicht bzw. zur Beendigung einer Behandlung
zuzuordnen,
110
Empfehlungen
(38%)
eher
dem
Fortführen
von
Therapiemaßnahmen. Insofern ist allgemein eine gewisse Tendenz erkennbar, bei
Entscheidungen am Lebensende eher den Verzicht zu empfehlen, wobei dies
speziell bei den Entscheidungen für oder gegen eine Dialyse gerade nicht gilt.
Angesichts der häufig sehr dynamischen Krankheitsverläufe enden nicht alle
Beratungsprotokolle mit einer abschliessenden Empfehlung der Ethikberater. In 30
Protokollen (12%) wird daher von den Beratern die Empfehlung für ein weiteres
Gespräch ausgesprochen.
Zur schnellen Orientierung zeigt abschließend die folgende Abbildung die
wichtigsten der hier dargestellten Ergebnisse der Ethikberatungen des Ethikkreises
in einer Übersicht.
147
46 % der EB durch
Pflege & Seelsorge
(45%)
Weiblich
49%
32% der EB durch
Pflege & Medizin
(50%)
Männlich
9% der EB durch
Pflege/Seels./Med.
(50%)
257 Ethikberatungen (EB)
(1999 – 2011)
51%
3% der EB durch
sonstige, z.B. allein
(50%)
0-59 60-69 70-79 80-89 >90J.
12% 12%
EB mit Patient
57%
allein mit Patient
14%
10% der EB durch
Seelsorge/Medizin
(50%)
30%
39%
7%
EB ohne Patient
43%
mit Patient/Familie
33%
Patient/Familie/Stat.
10%
kontaktfähig (kf)
43% aller Patienten
eingeschränkt kf
19% aller Patienten
allein mit Familie
27%
div. andere Settings
16%
nicht kf
26% aller Patienten
uneindeutig:12%
mit Pat-Verfügung
16%
ohne Pat-Verfügung
17%
keine Angabe
67%
Patientenwille
bekannt/eindeutig
58%
Ambivalent
19%
unbekannt: 23%
Gesprächsverlauf
unstrittig
(59%)
Dialyse
Fortsetzen:
Abbruch:
81x
82x
Wiederbelebung
Nein zur VaW: 4x
Ja zur VaW:
23x
kontrovers
(36%)
Konsens
89%
Empfehlungen
96%
Anlegen einer PEG
Ja:
2x
Nein: 16x
uneindeutig: 5%
Therapie fortsetzen
Ja:
23x
Nein: 23x
Weitere Beratung
Ja: 30x
Abbildung 6: Übersicht zu den wichtigsten Ergebnissen der Ethikberatungen
148
6.4. Diskussion der Protokollanalyse
Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes bezieht sich die folgende
Diskussion vorrangig auf die Analyse der Ethikberatungen, stellt aber auch
Verbindungen mit der Auswertung der Mitarbeiterbefragung her. Zunächst
erörtere ich die Anzahl der Beratungen und ihre spezifischen Rahmenbedingungen, anschließend orientiere ich mich an den in Kapitel 3.3.3.
dargestellten Voraussetzungen erfolgreicher Ethikberatung – dem Zugang zur
Beratung, der Qualifikation der Beratenden, dem Gesprächsverlauf, der
Dokumentation und der Evaluation. In diesem Zusammenhang diskutiere ich auch
die anlassgebenden Themen und untersuche die Rolle des Patienten und seiner
Willensäußerung im Rahmen dieses Beratungsmodells. Wegen des zentralen
Aspekts der Arbeit, der Verwirklichung einer gemeinsamen Entscheidungsfindung
(„shared-decision-making“) auf der Basis einer informierten Zustimmung
(„informed consent“), ist gerade der Gesprächsverlauf bzw. Beratungsprozess als
solcher wichtig, um die Spezifika dieser Nürnberger Variante einer patienten- und
mitarbeiterorientierten Ethikberatung aufzuzeigen.
6.4.1. Datengrundlage
Die vorliegende Auswertung der 257 schriftlich dokumentierten Ethikberatungen
aus den Jahren 1999 bis 2011 basiert auf einem vergleichsweise seltenen
Datenbestand. National wie international liegen bislang fünfzehn Auswertungen
Klinischer Ethikberatungen vor, allerdings zum Teil mit geringen Fallzahlen
(N=22) wie die Tabelle 33 zeigt. Zwar wird eine steigende Zahl Klinischer
Ethikinstitutionen und Ethikdienste an Krankenhäusern einschließlich klinischer
Ethikberatung beschrieben, die Anzahl der Beratungen pro Institution und Jahr ist
jedoch meist gering und die Dokumentation nur teilweise systematisch.
Auch im Nürnberger Ethikkreis begann die Protokollierung der Beratungen
erst zwei Jahre nach ihrem Beginn und ist bis heute nur teilweise zu Inhalt,
Struktur oder Umfang standardisiert. Es ist nachvollziehbar, dass dieses neue
Angebot nicht von Anfang an systematisch dokumentiert wurde, für eine künftige
Qualitätssicherung ist eine Standardisierung aber unverzichtbar und daher
empfehlenswert. Die folgende Tabelle zeigt einen Überblick über vergleichbare
Arbeiten zu Klinischen Ethikberatungen aus den vergangenen 25 Jahren.220
220
Swetz (2007).
149
Untersuchung
Beratungen
Studienzeitraum
La Puma (1987)
27
1985 – 1986
Brennan (1988)
73
1974 – 1986
La Puma et al. (1988)
51
1986 – 1987
Perkins (1988)
44
1984 – 1985
La Puma et al. (1992)
104
1988 – 1989
Andereck (1992)
44
1985 – 1991
Orr, Moon (1993)
46
1990 – 1991
Schenkenberg (1997)
150
1987 – 1996
Waisel et al. (2000)
39
1998
Schneidermann et al. (2003)
551
2000 – 2002
Forde et al. (2005)
31
1996 – 2002
Swetz et al. (2007)
255
1995 – 2005
Fukuyama et al. (2008)
22
2006 – 2007
Nilson (2008)
53
2002
Opel et al. (2009)
71
1996 – 2006
Aktuelle Arbeit (2011)
257
1999 – 2011
Tabelle 29: Übersicht zu Studien, Zeiträumen und Beratungsfällen 221
Viele dieser Studien analysieren lediglich einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren.
Nur die Arbeiten zu Ethikberatungen einer pädiatrischen Klinik (Opel 2009) und
in der Mayo Klinik (Swetz 2007) umfassen einen Zeitraum von einem Jahrzehnt.
Insofern zeigt die Tabelle auch den vergleichsweise langen Untersuchungszeitraum in Nürnberg und den entsprechend großen Datenbestand.
Obgleich die Anzahl der Nürnberger Beratungen vergleichsweise hoch ist,
erscheint die Anzahl der Protokolle bzw. Beratungen pro Jahr eher niedrig. Im
Studienzeitraum von 1999 bis 2011 wurden durchschnittlich 18 Ethikberatungen
pro Jahr registriert. Sowohl die niedrigste Anzahl pro Jahr (zwei im Jahr 1999) als
auch die höchste Anzahl (48 im Jahr 2008) stellen Ausnahmen dar. Insgesamt
zeigt die von Jahr zu Jahr kontinuierlich steigende Anzahl der Protokolle, dass die
Ethikberatung im achten Jahr nach Beginn ihrer Einführung mindestens einmal im
Monat stattfand, im zehnten Jahr etwa alle zwei Wochen und während zwei Jahren
sogar fast wöchentlich.
221
Vgl. Literaturliste. Alle genannten Arbeiten sind für die Diskussion ausgewertet und angeführt.
150
Den Angaben der Beteiligten zufolge sind in Nürnberg in den ersten Jahren
einzelne Ethikberatungen nicht dokumentiert worden. Das Gesamtbild wird
allerdings durch diese Einschränkung nicht wesentlich verändert.
In den Jahren 2007 und 2008 nahm die Anzahl der Beratungen plötzlich zu und
verdoppelte sich nahezu, vermutlich ausgelöst durch die klinikweite Befragung
zum Umgang mit ethischen Themen im Stationsalltag im Sommer 2007. Diese
Befragung rief besondere Aufmerksamkeit hervor und führte den Mitgliedern des
Ethikkreises zufolge auch subjektiv zu steigenden Nachfragen. Der Effekt hat sich
ab 2009 zwar wieder zurückgebildet, mittelfristig könnte sich das Niveau in der
Medizinischen Klinik 4 bei jährlich 20 - 25 Beratungen etablieren. Die Anzahl der
jährlichen Beratungen in Nürnberg liegt damit im Rahmen vergleichbarer
Angebote in den USA oder Europa.
6.4.2. Methode der Untersuchung
In Umkehrung der oft verwandten Methode, über qualitative zu quantitativen
Analysen zu gelangen, basiert diese Arbeit zunächst auf einer quantitativdeskriptiven Methode, die durch offene Begleitinterviews und persönliche
Mitteilungen ergänzt wurde. Da es bei der Ethikberatung an standardisierten und
publizierten Evaluationsinstrumenten fehlt, stellt der hier benutzte Auswertungsbogen kein veröffentlichtes oder validiertes Instrument dar, sondern wurde eigens
für die vorliegenden Protokolle konzipiert. Seine Struktur hat sich jedoch an den in
der vorangegangenen Tabelle genannten Publikationen angelehnt.
Insgesamt liefern die hier untersuchten Beratungen ein aufschlussreiches Bild
über die bisherigen Beratungen durch den Nürnberger Ethikkreis und geben
hilfreiche Hinweise für ihre Weiterentwicklung bzw. für das allgemeine
Verständnis von Ethikberatungen. Auf der Grundlage des Analysebogens lassen
sich gerade in Bezug auf die Beratungsmodelle, ihre Patientenorientierung und
klinische
Relevanz
Erkenntnise
sowie
gewinnen
und
den
eigentlichen
Fragen
für
Beratungsverlauf
wissenschaftliche
zahlreiche
Folgeprojekte
formulieren. Eine wissenschaftliche Begleitung Klinischer Ethikberatung scheint
dringend geboten, zumal die Verbreitung der Ethikberatung in Deutschland von
Jahr zu Jahr zunimmt, eine angemessene systematische Evaluation dieses
Angebotes aber – wie erwähnt – auch im deutschsprachigen Raum weiterhin fehlt.
151
Eine 2010 publizierte internationale Metaanalyse von Jan Schildmann zu
Forschungsmethoden und Erfolgskriterien Klinischer Ethikberatung belegt die
geringe Anzahl von Veröffentlichungen zu Evaluationsfragen und damit das
weitgehende
Fehlen
einer
differenzierten
Grundlage
für
weiterführende
wissenschaftliche Debatten.222 Die Arbeit ging der Frage nach, „which outcomes
of evaluation studies on clinical ethics consultation have been published in the
literature?“ Als Schlüsselbegriffe wurden „outcome“, „clinical ethics consultation“
und „evaluation studies“ definiert. Im Rahmen einer PubMed-Analyse für den
Zeitraum von 1970 bis 2007 erfüllten von 159 Erstfunden letztlich nur 14 Arbeiten
die Einschlusskriterien. Diese Arbeiten – einige sind in Tabelle 33 bereits erwähnt
– lassen sich methodisch wie folgt unterscheiden.

zwölf der gefundenen Arbeiten nutzten einen quantitativen Ansatz,

zwei arbeiteten qualitativ in Form halb-strukturierter Interviews.
Auch die Zielgruppen und Studienteilnehmer der 14 Arbeiten unterscheiden sich
deutlich. Die beiden qualitativen Studien erkunden die Erfahrungen und
Zufriedenheit von ärztlichen Mitarbeitern mit der Ethikberatung,223 fünf der zehn
quantitativen
Arbeiten
ermitteln
die
Perspektiven
von
Patienten
und
Gesundheitspersonal,224 drei der quantitativen Studien nur die Sicht der
Mitarbeiter 225 und eine der quantitativen Arbeiten befragte Patienten und
Angehörige zu ihren Erfahrungen mit der Ethikberatung.226 Zwei der Arbeiten sind
randomisiert-kontrollierte Studien, auf die bereits im dritten Kapitel hingewiesen
wurde.
Über die Darstellung und Begründung des methodischen Vorgehens innerhalb
der 14 untersuchten Arbeiten zur Klinischen Ethikberatung – clinical ethics
consultation (CEC) – stellt der Autor nüchtern fest:
„The publications identified in this review neither provide information on the
process of operationalizing the criteria to evaluate CEC nor do they indicate
values regarding content validity or reliability of the instruments used in the
studies.“227
222
Schildmann (2010).
Perkins (1998), Forde (2005).
224
Schneidermann (2000), (2003) und (2006), Cohn (2007), McClung (2007).
225
La Puma (1988) und (1992), Orr/Moon (1993).
226
Orr (1996).
227
Schildmann (2010), S. 209.
223
152
Während Mitte der 90er Jahre bereits gezeigt werden konnte, dass national wie
international vergleichsweise viele Arbeiten zu Implementierung, Arbeitsweisen
und Häufigkeit – also zu strukturellen und prozessualen Aspekten – der Klinischen
Ethikberatung veröffentlicht wurden,228 konzentrierte sich Schildmann in seiner
hier zitierten Arbeit erstmals auf die konkreten klinischen Auswirkungen von
Ethikberatungen.
„The focus of this study on outcomes reflects the current awareness and
interest in clinical medicine to judge the value of interventions on the basis of
their impact on clinical practise. Moreover, outcomes are frequently used to
justify the resources allocated to health care services. In this respect providers
of CEC frequently are already, and probably increasingly will be, asked to
present the practical impact of their work.“229
Auch wenn „practical impact“ begrifflich vage bleibt, ist der Bedarf an konkreten
Aussagen über die Wirkung und die Relevanz von Ethikberatungen offensichtlich.
Umso wichtiger erscheint es, angemessene Methoden zur Evaluation Klinischer
Ethikberatung zu entwickeln und zu diskutieren. In den bisherigen Publikationen,
so die Metaanalyse, könnten subjektive und objektive Kriterien zur Bewertung
unterschieden werden. Subjektive
Kriterien würden die Bewertung der
Teilnehmenden wiedergeben, objektive Kriterien dagegen Parameter wie
Intensivtage, Beatmungsstunden, Mortalität oder Kosten messen. Eine der Studien
analysierte mögliche finanzielle Auswirkungen der Ethikberatung. 230
Die Frage, ob sich die Ethikberatung dieselben Kriterien auferlegen sollte, die
im Sinne einer evidenz-basierten Medizin gelten, bleibt aus meiner Sicht zu
diskutieren. Es gibt durchaus Gründe, die dagegen sprechen, weshalb ich das
Thema in den Schlussfolgerungen am Ende der Arbeit noch einmal aufgreife.
Auch die hier vorliegende Arbeit zeigt hinsichtlich ihrer Methodik eine Reihe
von Limitationen. So untersucht sie weder die klinische Relevanz der Beratungen
durch den Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4, noch hinterfragt sie die Relevanz
oder Wirkung der Beratung für die teilnehmenden Ärzte und Pflegende, wie
Patienten, Angehörigen oder Betreuer. Hier bietet sich an, durch künftige Studien
– etwa in Form retrospektiver qualitativer Interviews – das Gesamtbild der
Beratungsanalyse noch abzurunden. Analog zu anderen Studien ist es hierzu
erforderlich, die Beteiligten nach einer angemessenen Zeit erneut zu kontaktieren.
228
Tulsky/Fox (1996).
Schildmann (2010), S. 211.
230
Schneidermann (2003).
229
153
Die folgende Übersicht von Schildmann zeigt beispielhaft derartige Erfolgskriterien, wie sie in den von ihm analysierten quantitativen Studien genutzt und
von den Teilnehmern bewertet wurden.
Einschätzung der Ethikberatung durch die
Zahl der Studien,
Teilnehmenden bezüglich:
die dies erheben:
Gesamtbewertung der Ethikberatung
9
Analyse/Klärung der ethischen Themen in der Beratung
7
Einfluss der Ethikberatung auf die medizinische Behandlung
7
Informations- und Fortbildungsgewinn durch die Beratung
6
Leistung einer (emotionalen) Unterstützung durch die Beratung
4
Lösung eines ethischen Konflikts durch die Beratung
3
Konflikthaftigkeit der Beratung selbst
3
Respekt gegenüber den Werten der Teilnehmenden
2
Fairness der Beratung
1
Hilfestellung durch die Meinungsbilder in der Beratung
1
Verbesserung der Kommunikation zwischen den verschiedenen Parteien
1
Einverständnis der Teilnehmenden mit der Entscheidung der Beratung
1
Möglichkeit, eigene Ansichten in der Beratung zu präsentieren
1
Tabelle 30: Erfolgskriterien für die Ethikberatung, nach Schildmann (2010)231
Dieser Metaanalyse zufolge verlangen eine Reihe ihrer Befunde nach weiterer
Beobachtung bzw. Klärung: etwa die Tatsache, dass in den Evaluationen
Klinischer Ethikberatung erst allmählich auch die Perspektive der nicht-ärztlichen
Teilnehmenden berücksichtigt und untersucht wurde oder dass wiederholt eine
Diskrepanz bestand zwischen einer positiveren Wahrnehmung und Akzeptanz der
Ethikberatung durch das Gesundheitspersonal und durch Patienten und
Angehörige. 232 Diesen Fragen auch für das Kollektiv der Ethikberatungen durch
den Nürnberger Ethikkreis nachzugehen, könnte interessante weitere Erkenntnisse
ergeben.
231
232
Übersetzung einer Tabelle aus der Arbeit von Schildmann (2010).
Mc Clung (1996).
154
6.4.3. Zugang, Teilnehmende und Initiative
Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 wurde inspiriert durch die Erfahrungen
in der Dialyseberatung der Klinik, die sich Patienten mit drohender oder
bestehender Dialysepflichtigkeit
widmet und diese vor allem in ihrer
Krankheitsbewältigung begleitet. In dieser Tradition steht auch die Ethikberatung
der Klinik, die damit den Patienten – und seine Angehörigen – ausdrücklich in den
Mittelpunkt stellt. Ausgehend von dieser Orientierung am Patienten und seinen
Bedürfnissen, stellt sich für die Ethikberatung die Frage nach der konkreten
Teilnahme des Patienten an der Beratung, nach seiner Orientierung und
Kontaktfähigkeit und der direkten oder indirekten Kenntnis des Patientenwillens
bzw. dem Vorliegen einer Patientenverfügung. Für die weitere Bewertung der
Beratungen sind mir diese Aspekte wichtig, da ich die informierte Teilnahme bzw.
Vertretung des Patienten als ein wesentliches Kriterium für den Erfolg und die
Sinnhaftigkeit der Beratung erachte.
Vor diesem Hintergrund ist positiv zu werten, dass an jeder zweiten Beratung
des Ethikkreises auch der Patient selbst physisch teilgenommen hat – entweder
allein, gemeinsam mit Familienangehörigen oder in Einzelfällen auch mit anderen
Personen, z.B. einem Betreuungsbevollmächtigten. Den Protokollen zufolge waren
die Patienten in fast jedem zweiten aller dokumentierten Fälle (43%) auch
orientierungs- bzw. kontaktfähig und konnten so aktiv an den Beratungen
teilnehmen sowie ihre Vorstellungen, Wünsche oder Ängste selbst artikulieren. In
fast jedem fünften Fall waren die Patienten nur eingeschränkt kontaktfähig und in
26% der Fälle nicht kontaktfähig. Damit haben auch einige eingeschränkt
kontaktfähige Patienten an einer Ethikberatung teilgenommen, was aber dem
Selbstverständnis von Ethikberatungen und dem Ethikkreises entspricht: im
Zweifelsfall eher die Einbindung der Patienten zu versuchen, als sie
auszuschließen.
Für die zentrale Frage dieser Arbeit ist entscheidend: In Dreiviertel aller
untersuchten Fälle war der Wille der Patienten bekannt, auch wenn er in jedem
fünften Fall ambivalent und uneindeutig war. Ambivalente wie eindeutige
Präferenzen der Patienten waren daher sowohl durch die indirekte Schilderung von
Angehörigen oder Betreuern als auch durch die persönliche Schilderung durch die
Patienten selbst bekannt und konnten im Zuge der Beratung berücksichtigt
werden.
155
Allerdings hat sich auch gezeigt, dass jede dritte Beratung nur mit Angehörigen
und dem Team stattfinden konnte, so dass damit der Patientenverfügung oder
Betreuungsvollmacht eine besondere Bedeutung zukommt. Bedenklich erscheint
daher, dass in über 80% der Fälle eine Patientenverfügung oder Vollmacht nicht
erwähnt oder vorhanden ist und nur in wenigen Fällen ausdrücklich bestätigt wird.
Wenngleich im Einzelfall Patientenverfügungen oder Betreuungsvollmachten
vorgelegen haben können und lediglich nicht ausdrücklich erwähnt wurden,
verweist die große Zahl fehlender Dokumente doch auf ein weiterhin anhaltendes
Defizit bezüglich ihrer Verbreitung und Anwendung. 233
Insgesamt zeigt die Auswertung der Protokolle, dass die Ethikberatungen in
einem Rahmen stattfanden, der in vielen Fällen eine orientierte und bewusste
Teilnahme der Patienten grundsätzlich ermögliche. Neben der Entlastungsfunktion
für das ärztliche und pflegerische Personal stellt diese Orientierung an den
Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen ein wesentliches Merkmal der
Beratungen durch den Nürnberger Ethikkreis dar. Hier wird der Teilnahme des
Patienten und seines familiären Umfelds sowie der Ergründung und Umsetzung
seines Willens besondere Bedeutung beigemessen. Damit versucht der Ethikkreis
die Autonomie des direkt oder indirekt beteiligten Patienten und damit das
„shared-decision-making“ auf der Basis eines „informed consent“ zu stärken.
Die Initiative zur Beratung durch den Ethikkreis geht offensichtlich auch in
Nürnberg vor allem von Ärzten aus. Diese subjektiven Beobachtungen der Berater
wird gerade durch die Protokolle der letzten zwölf Monate (1. Oktober 2010 bis
30. September 2011) bestätigt. Demnach kam von 35 Beratungen in diesem
Zeitraum die Initiative zu 80% von Ärzten. Dies bestätigt auch die bisherige
Literatur, nach der einerseits eine ärztliche Skepsis gegenüber der Ethikberatung
beschrieben wird, andererseits auch die oft mehrheitliche Initiative zur Beratung
durch Ärzte.234 Dies gilt vor allem dann, wenn Ärzte in ihrer Ausbildung mit
ethischen Fragen konfrontiert wurden oder sich in der Thematisierung ethischer
Kontroversen geübt fühlen. 235 Weitere Hintergründe zu den Haltungen von Ärzten
und Pflegenden werden unter dem Aspekt „Entwicklungspotenzial“ diskutiert.
233
Siehe aber auch die kritische Diskussion zur möglichen „vorauseilenden“ Therapielimitierung
durch den Einsatz von Patientenverfügungen (self-fulfilling prophecy), vgl. dazu Erbguth (2008).
234
Fox (2007), Gill (2004), Schenkenberg (1997), La Puma (1987), (1988) und (1992), Nilson
(2008).
235
Hurst (2007).
156
6.4.4. Qualifikation
Ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Gelingen von Ethikberatungen ist die
Qualifikation der Beratenden. Diese ist im Nürnberger Ethikkreis durch den
Dreiklang aus Aus-, Fort- und Weiterbildung, Supervision und Erfahrung sichergestellt. Für den Mitarbeiter der Seelsorge gehört die Beratungskompetenz zur
Grundausbildung, die Kolleginnen und Kollegen der Pflege und Medizin verfügen
über verschiedene Fort- und Weiterbildungen, in denen die Beratungskompetenz
einen wichtigen Stellenwert einnimmt, und insbesondere die Pflegekraft der
Dialyseberatung, die an fast allen Ethikberatungen teilnimmt, hat eigens den
Fernlehrgang „Ethikberater/in im Gesundheitswesen“ absolviert. Sie alle nehmen
zudem regelmäßig an Fallsupervisionen teil und blicken auf eine nunmehr über
zehnjährige Erfahrung zurück. Insofern verfügt der Nürnberger Ethikkreis
bezüglich der Qualifikation über sehr gute Voraussetzungen, die er im Sinne der
„Kernkompetenzen für Ethikberatung“ 236 kontinuierlich aufrecht erhält.
6.4.5. Gesprächsverlauf
Die Diskussion des Gesprächsverlaufs berücksichtigt die anlassgebenden Themen
der Beratung, den eigentlichen Verlauf der Gespräche bzw. den Beratungsprozess,
den erzielten Konsens sowie die Empfehlungen. Auch die Unterscheidung von Rat
und Beratung bzw. das Spezifikum des Nürnberger Ethikkreises wird hier erörtert.
6.4.5.1. Themen und Fragestellungen
Die Auswertung der 257 Beratungsprotokolle des Nürnberger Ethikkreises zeigt,
dass die Geschlechts- und Altersverteilung der Patienten erwartungsgemäß ist und
auch das oft multimorbide Patientenkollektiv einer internistischen Klinik mit
Schwerpunkt Nephrologie widerspiegelt.
Auch die Beratungsanlässe entsprechen den Erwartungen: 181 von 312
Anlässen beziehen sich auf das Thema Dialyse, wobei Mehrfachnennungen
möglich waren. Dieser Beratungsschwerpunkt ist einerseits auf das Fachgebiet der
Klinik zurückzuführen, andererseits darauf, dass eine in der Ethikberatung sehr
aktive Mitarbeiterin für die Dialyseberatung verantwortlich ist, woraus sich in
positiver Hinsicht gewisse Synergie-Effekte ergeben dürften. Dennoch ist die
Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4 keine „erweiterte Dialyseberatung“.
236
ASHB (1998), (2011).
157
Die Vielzahl der unterschiedlichen Beratungsanlässe spricht eher für einen breiten
Einsatz des Ethikkreises. Seit seiner Entstehung hat sich die Beratung zu einem
Angebot entwickelt, das nicht nur zu wenigen Themen und von wenigen
„Insidern“ genutzt wird. Diese Einschätzung wird auch von den beteiligten
Beratern geteilt, die auf Beratungsnachfragen aus dem Dialysebereich, von
unterschiedlichen Allgemeinstationen und der Intensivstation berichten. 237
Auch die Themenvielfalt bestätigt den breiten Einsatz, etwa zu Fragen des
„Verzichts auf Wiederbelebungsmaßnahmen“, der „Ernährung bzw. PEG“ oder
der „Überweisung in Pflege, Heim oder Hospiz“. Insgesamt lässt sich feststellen,
dass den Klinischen Ethikberatungen in der Mehrzahl konkrete und zeitkritische
Anlässe zugrunde lagen, sie aber auch aufgrund sonstiger Therapiefragen und zu
einer Vielzahl anderer Fragestellungen eingeholt wurden. Diese Erfahrungen
werden auch international von nahezu allen in Tabelle 33 genannten Studien
bestätigt.
Entsprechend den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragung aus dem Jahr 2007
stehen auch in der Analyse der Beratungen insgesamt Fragen zum Fortführen oder
Einstellen von Behandlungen im Vordergrund. Ärzte wie Pflegende hatten sie als
besonders häufig und besonders schwerwiegend wie auch belastend eingestuft.
Dass diese Themen zum häufigsten Ausgangspunkt für die Anforderung einer
Klinischen Ethikberatung werden, ist nachvollziehbar. Mitarbeiterbefragung und
Protokollauswertung zeigen hier eine deutliche Übereinstimmung. Gerade in
diesen Fällen scheint vielen an einer gemeinsamen Entscheidungsfindung gelegen
zu sein – nicht zuletzt im Sinne der Patienten.
6.4.5.2. Kontroverse und Konsens
Die Teilnahme des Patienten an den Beratungen und seine kognitiven Fähigkeiten
sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Beratung ihre Funktion der
gemeinsamen Entscheidungsfindung entfalten kann. In den Beratungsgesprächen
selbst sind es dann vor allem ihr Verlauf, der Umgang mit Kontroversen und die
Fähigkeit einer tragfähigen Konsensbildung, die über einen ersten Erfolg oder
Misserfolg einer Beratung entscheiden; nachhaltige Erfolgskriterien bleiben hier
vorerst unberücksichtigt.
237
Interview des Autors mit der Krankenschwester Heidi Stephan, November 2010.
158
An dieser Stelle sei noch einmal an den besonderen Charakter der Beratungen
durch den Nürnberger Ethikkreis erinnert: Die zweiteilige Beratung sieht jeweils
ein Informations- und Vorgespräch der Berater mit den verantwortlichen Ärzten
und Pflegenden vor, bevor das eigentliche Beratungsgespräch folgt.
Die Mehrzahl dieser eigentlichen Ethikberatungen (64%) fand innerhalb eines
Kontaktes statt und die Gespräche verliefen dabei überwiegend (59%) unstrittig,
wobei unstrittig einen Verlauf der Beratung bzw. des Gespräches meint, in dem
sich im Gespräch weder intra- noch interpersonelle Konflikte wie die dargestellten
Beispiele für Ambivalenzen, Verdrängung, Entscheidungsdruck, Themenwechsel,
psychische Auffälligkeiten oder medizinische Unkenntnis zeigen, die einer
gemeinsamen oder vom Patienten gefällten Entscheidung entgegenstanden.
Der hohe Anteil der so gemeint unstrittigen Gesprächsverläufe könnte den
Eindruck vermitteln, dass es einer Ethikberatung womöglich gar nicht bedurft
hätte. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Beratung nicht notwendigerweise eine
Meinungsverschiedenheit der Teilnehmenden oder eine Ambivalenz des Patienten
und damit eine konflikthafte Situation oder Kontroverse zum Ausgangspunkt
haben muss. Sie kann vielmehr auch der gemeinsamen Vergewisserung in einer
schwierigen Entscheidungssituation dienen und die so getroffene Entscheidung
dauerhafter und damit belastbarer machen.
Kontrovers und konflikthaft verliefen dagegen 36% der Gespräche, was den
Ergebnissen anderer Untersuchungen vergleichbar ist.238 Damit ist gemeint, dass
die jeweiligen Protokolle einen Gesprächsverlauf dokumentieren, der – wie weiter
oben beschrieben – sowohl inhaltliche Differenzen widerspiegelt als auch
atmosphärische Störungen. Die angeführten Auszüge und Zitate aus den
Beratungsprotokollen geben davon einen deutlichen Eindruck. Der folgende
Auszug zeigt noch einmal beispielhaft eine solche Kontroverse und konflikthafte
Beratungssituation sowie ihre weitere Entwicklung. Er setzt die Passage fort, die
in Kapitel 6.3.9. zitiert wurde (S. 144). Dort wurde die Ethikberatung mit einem
87jährigen Patienten wiedergegeben, der dialysepflichtig geworden war, sich im
Zustand einer voranschreitenden Urämie jedoch weigerte, die Dialyse – trotz
Shuntanlage – tatsächlich zu beginnen und aufgrund verschiedener Beratungsgespräche dann offensichtlich „ins Nachdenken gekommen“ war.
238
Siehe u.a. Swetz (2007) und Nilson (2008).
159
„Dahingegen äußerte der Sohn immer wieder, dass der Vater sterben wolle
und er es auch respektiere, der Sohn machte nicht den Eindruck, dass er
verstünde, dass die Urämie sich verbessern könnte. Er fragte auch nicht nach,
welche Chancen sein Vater habe, ob und wie lang man dialysieren müsste, bis
man eine Besserung erkennen könnte, er wiederholte zu stereotyp, dass der
Vater in einem schlechten Zustand sei und daher nicht mehr dialysieren könne
und wolle. [...]“
Einen Tag später am Vormittag:
„Erneutes Gespräch mit Herrn H., heute ist der Patient sehr zugänglich, so
wie ich ihn vor vier Wochen kannte. Auf meine Frage, wie es ihm heute ginge,
meinte er, nach den gestrigen Gesprächen musste er viel nachdenken. Er fragte
mich nach den verschiedenen Details der Hämodialyse und meinte, am
Nachmittag wollte er noch mal mit seinem Sohn sprechen und sich dann
entscheiden.“
Am Nachmittag desselben Tages:
„Bei unserem erneuten Kontakt erzählt Herr H., der Sohn sei schon weg, aber
er selbst habe sich für die Hämodialyse entschieden und dies seinem Sohn und
(telefonisch) seiner Ehefrau mitgeteilt. Herr H. wirkt ausgeglichen und erzählt,
dass die Familie die Entscheidung begrüßt und froh ist, dass er noch bei ihnen
bleiben will.“ (alle drei Auszüge aus: Protokoll 79)
Die hier und bereits in Kapitel 6.3.9. zitierten Passagen der Beratung zeigen einige
Aspekte, die in vielen der dokumentierten Beratungen sichtbar werden und den
prozesshaften Charakter vieler Beratungen vom Ethikkreis unterstreichen:
- eine Tendenzentscheidung ist seit längerem getroffen (hier: Shuntanlage)
- Ambivalenzen und eine Abkehr von der Entscheidung kommen auf
- krankheitsbedingte Veränderungen wirken sich auf den Patienten aus
- Familienangehörige (hier der Sohn) bauen starken Entscheidungsdruck auf
- medizinische Informationen sind für die Meinungsbildung oft wichtig
- Entscheidung und Beratung benötigen mehrere Tage und Gespräche
Im zitierten Fall führte das zunächst kontroverse Gespräch dazu, dass sich der
Patient in einem Folgegespräch nachdenklich und interessiert zeigte, weitere
Informationen zur Dialyse und zu seiner Prognose erbat und sich letztlich für den
Versuch einer Dialyse entschied. Der kontroverse Verlauf erlaubt daher keine
Prognose für die spätere Entscheidung – im Gegenteil: Kontroverse Gesprächsverläufe, sofern sie nicht zu anhaltenden Blockaden und Differenzen führen,
können den Weg zu einem belastbaren Entschluss bahnen.
160
In diesem Fall war es dem Ethikkreis wichtig, die medizinische Prognose
deutlicher sichtbar zu machen, um nicht voreilig dem aus ärztlicher Sicht
fragwürdigen Patientenwillen zu folgen – viele Gesprächsverläufe belegen die
Bedeutung einer engen Begleitung der Patienten und Angehörigen während der
sich oft zuspitzenden Situation der Entscheidungsfindung. In diesem Sinne zeigen
auch andere Studien die Bedeutung von Konflikten zwischen behandelndem Team
und Familie bzw. innerfamiliäre Konflikte. 239 So erklärt sich auch, dass in jedem
dritten Protokoll von mindestens zwei bis drei Gesprächen berichtet wird. Bei
etwa zwei Drittel dieser mehrteiligen Beratungen lagen kontroverse Gesprächsverläufe zugrunde, bei einem Drittel war kein kontroverser Verlauf erkennbar.
Die Tatsache, dass es im Verlauf der Ethikberatung zu einem ausdrücklichen
Gesprächsergebnis und einer Konsensbildung gekommen ist, lässt Rückschlüsse
auf den Prozess der Gesprächsführung zu. Eine Aussage zur argumentativen
Stringenz und zur moralischen Bewertung des jeweiligen Konsenses ist nicht
möglich. Im Extremfall können hypothetisch auch Konsensfindungen erfolgen, die
den allgemein verbreiteten Werten und Normen der jeweiligen Gemeinschaft oder
Gesellschaft diametral entgegenstehen. Die Konsensfindung allein ist damit kein
Gütekriterium einer Ethikberatung. Sie sagt weniger aus über das Ergebnis der
Beratung als über den Beratungsprozess und die stattgehabte Prozessqualität.
Im Nürnberger Ethikkreis wird das eigentliche Beratungsgespräch nicht strikt
standardisiert geführt, etwa mit der Einhaltung einer strengen Reihenfolge wie im
eingangs geschilderten Nijmwegener Modell. Aber es werden dennoch alle dort
genannten Dimensionen berücksichtigt bzw. zur Sprache gebracht und vor allem
wird der Position bzw. dem Willen des Patienten ausreichend Raum gegeben und
besondere Bedeutung beigemessen. Eines der Protokolle zeigt dies besonders
anschaulich. Im Konflikt zwischen Patient und Familie legt das Beratungsteam in
einem Vorgespräch mit Angehörigen ausdrücklich Wert darauf, den Willen des
Patienten zum Ausgangspunkt der eigentlichen Ethikberatung zu machen:
„Die Familie machte deutlich, den Willen des Vaters akzeptieren zu wollen.
Zugleich machten sie aber deutlich, dass sie die Entscheidung nicht teilen könnten.
Sie wünschten, dass wir sie unterstützen, den Vater zu weiteren Dialysen zu
drängen. Wir vereinbarten, im Gespräch mit dem Patienten selbst, zuerst ihn zu
Wort kommen zu lassen und ihm zuzuhören. [...] Herr K. betonte seine
Verbundenheit mit der Familie und dass er trotzdem die Dialyse abbrechen
werde.“ (Protokoll 214)
239
Swetz (2007).
161
6.4.5.3. Empfehlungen
Fast alle Ethikberatungen (96%) endeten nicht nur mit einer Konsensbildung,
sondern münden in eine oder mehrere Empfehlungen des beratenden Teams.
Besondere Beachtung verdienen die Empfehlungen zur Dialyse, da es sich dabei
um eine der häufigsten Behandlungsprozeduren der Klinik handelt. Daher stellt
sich die Frage, ob bei den dialysebezogenen Empfehlungen des Ethikkreises
bestimmte Tendenzen erkennbar sind: Ist die Verteilung zwischen eher
zustimmenden und eher ablehnenden Empfehlungen ausgewogen oder berät der
Ethikkreis auffallend häufig in eine bestimmte Richtung?
Das Ergebnis interessiert nicht zuletzt die Mitglieder des Ethikkreises selbst,
weil es nach über zehnjähriger Beratungspraxis hierzu allenfalls Vermutungen,
aber keine objektiven Erhebungen gibt. Bemerkenswert ist, dass die untersuchten
Protokolle im Ergebnis eine bemerkenswert gleiche Verteilung zwischen der
Empfehlung zum Dialyseabbruch (82) und der Empfehlung zum Beginn oder zu
einem Fortsetzen der Dialyse (81) zeigen. Diese Ausgewogenheit ist sekundär
auch für den „Ruf“ bzw. das „Image“ des Ethikkreises wichtig, unterstreicht sie
doch seine inhaltliche oder „ideologische“ Unabhängigkeit. Damit entspricht die
Initiierung einer Beratung nicht der vorweggenommenen Entscheidung. Sie ist
kein „Feigenblatt“ für den Therapieabbruch.
Unabhängig von den Empfehlungen zur Nierenersatztherapie lässt sich aus den
Protokollen des Ethikkreises insgesamt eine gewisse Tendenz hinsichtlich der
Beendigung von Behandlungsmaßnahmen ableiten. Diese Tendenz ist allerdings
nicht so deutlich, dass sie negative Auswirkungen auf das „Image“ des Kreises und
seine Empfehlungen hätte. Die beschriebene Instrumentalisierung Klinischer
Ethikberatung zur Herbeiführung und Übermittlung schwieriger Entscheidungen
beim Therapieabbruch kann mit den vorliegenden Daten nicht bestätigt werden.
Die hier gelebten partizipativen Entscheidungen entsprechen auch den
Vorstellungen der Renal Physicians Association (RPA) und der American Society
of Nephrology (ASN). Beide Verbände haben im Jahr 2000 in ihren Leitlinien
„Shared Decision-Making in the Appropriate Initiation of and Withdrawl from
Dialysis“ formuliert.240 Damals war das Instrument der Ethikberatung zu neu, als
dass es explizit erwähnt worden wäre. Dem Geist und den Zielen der Klinischen
Ethikberatung entsprechen die 2010 erneut überarbeiteten Leitlinien sehr wohl.
240
Renal Physicians Association and American Society of Nephrology (2000) und (2010).
162
6.4.5.4. Rat und/oder Beratung?
Für den Nürnberger Ethikkreis wie auch für andere Ethikberatungen, ist es bislang
nicht gelungen, das eigentliche Gespräch genauer zu evaluieren und zu
analysieren. Hier könnten ausführliche Verlaufsprotokolle oder im Idealfall auch
Tonmitschnitte eine differenzierte inhaltliche und sprachliche Analyse von
Gesprächsverläufen erlauben. Aufgrund der vorliegenden Protokolle ist es kaum
möglich, eine semantische Textanalyse durchzuführen, um etwa Hinweise auf das
Beratungsverständnis der Beratenden („Patient ist uneinsichtig“) oder auch der
Patienten und Angehörigen („Er möchte, dass die notwendigen Entscheidungen
von den Ärzten getroffen werden“) und ihre darauf gründende Kommunikation zu
erhalten. Insofern bleibt die Beratungssituation selbst eine – gelegentlich als
„black-box“ 241 bezeichnete – „Unbekannte“.
Letztlich stellen sich immer dieselben Fragen: Erfolgt eine Beratung oder wird
ein Rat erteilt? Ist der gefundene Konsens das Ergebnis von Kommunikation im
Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung („shared-decision-making“) oder
eher von paternalistisch geprägten Gesprächssituationen? Werden Beratung und
Begleitung durch den Ethikkreis und seine Empfehlungen von den Ratsuchenden –
Patienten, Angehörige oder Teammitglieder – und den Beratenden selbst als eine
Art nicht hinterfragbarer „Expertenrat“ oder aber Konsil empfunden? Oder ist das
Beratungsangebot dem Grunde nach ergebnisoffen und hierarchiefrei?242
Sowohl die Protokolle als auch ergänzende mündliche Mitteilungen zeigen,
dass es sich beim Nürnberger Ethikkreis um eine Mischung aus „Rat“ und
„Beratung“ handelt. Von Seiten der Station (Ärzten wie Pflegenden) wird die
Ethikberatung als eine Dienstleistung im Sinne eines Konsils erbeten – auch in den
letzten Jahren wird immer wieder der offizielle Konsilantrag als Protokollbogen
genutzt. Das eigentliche Beratungsgespräch dient dann der gemeinsamen
Entscheidungsfindung mit Patienten und Angehörigen und nutzt das vorher
erhobene Wissen sowie die Einschätzung der behandelnden Ärzte und Pflegenden.
Persönlich nehmen diese aber nur in etwa jedem zehnten Fall an der Ethikberatung
teil. Damit unterscheidet sich die Beratungsform des Ethikkreises von vielen
anderen Formen der Ethikberatung, und die Vorteile dieses (Sonder-)Modells gilt
es gegenüber den Nachteilen abzuwägen.
241
Frewer (2008), S. 59.
Vgl. auch Scofield (2008).
242242
163
Als nachteilig erscheint die mangelnde Teilnahme der Ärzte und Pflegenden am
eigentlichen Beratungsgespräch, da so ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen und
pflegerischen Versorgung – psychosoziale Begleitung und Beratung – an andere
Personen delegiert wird. Dies könnte langfristig die Zuständigkeit der
verantwortlichen Ärzte und Pflegenden auf die medizinischen und pflegerischen
Aspekte der Versorgung reduzieren, die moralischen, psychischen und sozialen
Aspekte vernachlässigen und damit das auf Vertrauen, Nähe und Empathie
basierende Arzt-Patienten-Verhältnis verändern sowie letztlich auch wichtige
kommunikative Lerneffekte in schwierigen Entscheidungssituationen verhindern.
Dieser Tendenz könnte insofern Vorschub geleistet werden, da die beteiligten
Ärzte – wie in der Befragung gezeigt – die schwierige und oft schlechte
Kommunikation mit Patienten und Angehörigen als belastend beschreiben. Sollte
sich hier eine Tendenz zur Vermeidung durchsetzen, könnte diese im schlechtesten
Fall durch das Angebot der Ethikberatung noch verstärkt und verfestigt werden.
Mit einer Delegation der Beratung und der oft als schwierig erlebten
Kommunikation mit Patienten und Angehörigen an andere „klinische Experten“
könnte sich auch im psychosozialen Bereich die fachliche „Aufspaltung“ des
Patienten und die damit einhergehende Spezialisierung fortsetzen. Dem Anspruch
einer ganzheitlichen Betrachtung und Begleitung des Patienten, wie sie die
psychosomatische Medizin beschreibt, und einer „sprechenden Medizin“ würde
damit wohl entgegengewirkt.
Die Vorteile des Modells der „geteilten Beratung“ sind aber ebenso
offensichtlich: Unter den genannten Rahmenbedingungen des Krankenhauses
findet diese Form der Ethikberatung nicht nur in der Theorie, sondern auch
praktisch und in relevanter Anzahl statt. Denn die Vereinbarung einer Beratung
setzt nicht nur die flexible und kurzfristige Verfügbarkeit der Beratenden voraus,
sondern vor allem die der anderen Teilnehmer, nicht zuletzt der ärztlichen und
pflegerischen Mitarbeiter. Gerade letztere finden aber auch wegen der
geschilderten Arbeitsverdichtung im klinischen Alltag immer weniger Zeit für
ausführliche Gespräche jenseits der Stationsroutine. Das zweiteilige Beratungsangebot entlastet dagegen spürbar (es wurde mit diesem Argument auch
eingeführt) und liefert zugleich eine fundierte Empfehlung, die alle wesentlichen
Dimensionen – medizinisch, pflegerisch, rechtlich, psychosozial – berücksichtigt.
164
6.4.5.5. Modell „Ethikkreis“
Im Sinne der eingangs vorgestellten Modelle von Ethikberatung entspricht der
Nürnberger Ethikkreis damit am ehesten einem Prozessmodell wie dem
Nijmwegener Modell, allerdings mit ständiger Zuordnung von Ethikberatern zu
einer definierten Klinik. Gerade die Möglichkeit der engen Begleitung und
direkten Verortung des Ethikkreises in der Medizinischen Klinik 4, die tägliche
Nähe der Mitarbeiter des Ethikkreises zu den ärztlichen und pflegerischen
Kollegen auf den Stationen sowie der informelle Kontakt („Man sitzt beim Essen
zusammen“), tragen sehr dazu bei, dass der Ethikkreis bereits frühzeitig von
potenziellen Patienten für eine Ethikberatung erfährt, um diese dann bei Bedarf
eng und zeitnah begleiten zu können. Dies kommt einem Alleinstellungsmerkmal
gleich, das den Ethikkreis von anderen Ethikberatungen unterscheidet und ihn
gleichsam als ein Sondermodell erscheinen lässt.
Hier zeigt sich auch die im Kapitel 3 beschriebene Nähe von Ethikberatung
und Psychosomatik. Bei der Implementierung der Psychosomatik hat sich auch im
Klinikum Nürnberg vor allem das Modell des Liaisondienstes als erfolgreich
erwiesen, da es eine größtmögliche Nähe des Psychosomatikers zu „seiner“ zu
versorgenden Klinik eröffnet. Ähnlich ist es in der Ethikberatung. Auch hier kann
die dauerhafte Zuordnung klinischer Ethikberater zu definierten Kliniken oder
Stationen die Barrieren gegenüber der Ethikberatung abbauen und eine alltägliche
Nähe aufbauen helfen. Für die wissenschaftliche Diskussion um die Modelle der
Ethikberatung ist der Vergleich mit der Psychosomatik hilfreich.
Im Rahmen der Modelldiskussion stellte 2009 eine qualitative Analyse für die
USA die grundsätzliche Frage, ob es „ein favorisiertes Modell Klinischer
Ethikberatungen für Krankenhäuser“ geben solle.243 Die Medizinethikerin Eva
Winkler interviewte dafür fünf Vorsitzende Klinischer Ethikkomitees an
Lehrkrankenhäusern der Harvard Medical School in Boston, die jeweils über eine
etwa 20jährige Erfahrung verfügten und drei verschiedene Beratungsmodelle
nutzten: den einzelnen Ethikberater, das große Ethikkomitee und das Ethikkomitee
mit Konsildienst. Den drei Modellen, so die Autorin, lagen sehr unterschiedliche
Ziele zugrunde: vom „Patientenanwalt“ bis zum „Gewissen der Institution“.
243
Winkler (2009).
165
In Abhängigkeit von den Zielen bewertete die Wissenschaftlerin die Erfahrungen
an den fünf Lehrkrankenhäusern u.a. aufgrund folgender Erfolgskriterien:
1. Verfügbarkeit und Effizienz
2. Einbeziehung aller Betroffenen
3. Repräsentation diverser Ansichten
4. Verantwortungszuschreibung 244
Eine der drei Beratungsformen, so resümiert die Autorin, vereine die Vorteile der
anderen beiden Modelle auf sich, ohne unter deren Schwächen zu leiden. Sie gibt
demnach dem kleinen Konsilteam als Beratungsdienst den Vorrang,
1. da dieses schnell verfügbar sei,
2. flexibel alle Beteiligten einbeziehen könne
3. die Verantwortung für seine Empfehlung nicht verwässere.
„Das große Ethikkomitee hat zwar den Vorteil einer breiten Repräsentation, ist
jedoch nicht flexibel genug und schwer zur Verantwortung zu ziehen. Die anderen
beiden Modelle gleichen sich gegenseitig in ihren Stärken und Schwächen aus: In
Bezug auf die Flexibilität sind sie gleichwertig. Im Hinblick auf die
Attributierbarkeit von Verantwortung ist der einzelne Ethikberater überlegen und
in der Frage der Qualität ist eher das Konsilteam mit zuschaltbarem Ethikkomitee
überlegen, da die Qualität des ersten Modells ausschließlich von den Fähigkeiten
des jeweiligen Ethikexperten abhängt.“ 245
Wenngleich diese Untersuchung lediglich fünf ausgewählte Interviews umfasst,
erscheint sie doch schlüssig hinsichtlich der vorgeschlagenen Kriterien Klinischer
Ethikberatung und ihrer Bewertung. Angewandt auf den Ethikkreis, lässt sich
dieser am ehesten dem hier zitierten Modell des Konsilteams zuordnen, in
gewisser
Weise
mit
einer
„übergeordneten“
Steuerungsgruppe,
dem
siebenköpfigen Ethikkreis, der auch Supervisionsfunktionen übernimmt. Dies
entspricht
zudem
der
eingangs
erwähnten
Empfehlung
der
Zentralen
Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO), die 2007 einem dezentralen
Modell den Vorrang gab, das weder „Tribunalcharakter“ noch „Einzelkämpfer“
entwickle.
244
245
Winkler (2009), S. 316.
Ebd., S. 319.
166
Für den Nürnberger Ethikkreis lässt sich vor diesem Hintergrund zusammenfassend festhalten, dass er

sehr schnell verfügbar ist

alle Beteiligten – zweistufig – einbezieht

konträre Ansichten ausdrücklich berücksichtigt (kontroverse Verläufe)

die Verantwortung für seine eigene Empfehlung trägt und dokumentiert

die „eigentliche“ Verantwortung bei den Ärzten und Pflegenden belässt
Auf der Grundlage dieser methodischen Einordnung des Ethikkreises bezüglich
des Zugangs, der Qualifikation und des eigentlichen Gesprächsverlaufes, folgen
nunmehr Überlegungen zur Dokumentation und Evaluation der Beratung.
6.4.6. Dokumentation
Die Dokumentation der Beratungen durch den Ethikkreis ist im Hinblick auf den
langen Zeitraum der Untersuchung bemerkenswert konsequent und vollständig.
Die Protokolle erfüllen analog den AEM-Empfehlungen246 die Funktion einer
externen wie internen Dokumentation. Sie liefern die geforderten konkreten
Anhaltspunkte für einen „Ergebnisbericht“ und werden zur Qualitätssicherung
sowohl im Büro des Ethikkreises als auch bei den Krankenunterlagen abgelegt.
Die Form der Protokolle wurde über die Jahre weiterentwickelt. Heute
enthalten die Protokolle in ihrem ersten Teil eine Check-Liste zur schnellen
Erfassung wichtiger personen- und anlassbezogener Daten. In ihrem zweiten, dem
Hauptteil, wird der Gesprächsverlauf – mehr oder weniger – ausführlich
wiedergegeben. Dieser Teil endet mit einer ausdrücklichen Empfehlung bzw. der
expliziten Bemerkung, dass keine Empfehlung erfolgte.
Für die Zukunft könnte es sinnvoll sein, die Beschreibung der aktuellen
medizinischen, pflegerischen und sozialen Situation stärker zu standardisieren, um
der Darstellung der ethischen Fragestellung und des Gesprächsverlaufs größeren
Raum zu geben. Gerade der Gesprächsverlauf, etwa die genaue Beschreibung
einer konkreten Auflösung einer Kontroverse, ist für die Einschätzung dessen, was
die Ethikberatung im Grunde gelingen lässt, aufschlussreich und sollte noch
stärker betont werden.
246
AEM (2010).
167
Eine wichtige Konsequenz dieser Arbeit sollte auch die Weiterentwicklung der
Dokumentation sein. Gemeinsam mit dem Ethikkreis und der Zentralen Mobilen
Ethikberatung könnte am Klinikum Nürnberg eine möglichst einheitliche
Dokumentationsform entstehen, die eine gemeinsame Evaluation der Beratung von
ZME und Ethikkreis erlaubt. Für eine solche Dokumentation wird in Anlehnung
an die Empfehlungen der Akademie Ethik in der Medizin vorgeschlagen, die in
Tabelle 31 genannten Aspekte zu berücksichtigen und in einem späteren
Evaluationsbogen ausdrücklich abzufragen. Die Herausforderung ist es dabei, eine
angemessene Form zwischen einer narrativen Variante, die wichtige Zwischentöne
vermittelt, und einem Formular zum schnellen Ankreuzen zu entwickeln. In jedem
Fall sollte eine Dokumentation die folgenden Aspekte berücksichtigen:
1.
Aspekte der Ethikberatung
Detailfragen
Initiierung der Beratung
wann? wie? von wem? (Berufsgruppe, Hierarchie)
Station/Dialyse/Intensiv/IMC
2.
Zum Patienten
Name, Geschlecht, Alter, Hauptdiagnose
Wichtige Nebendiagnosen
3.
Zur ethischen Fragestellung
Um welche ethische Fragen geht es?
4.
Zur aktuellen Situation
medizinisch, pflegerisch
psycho-sozial, rechtlich
5.
Zu Wertvorstellungen, Willen und
Patientenverfügung
Wünschen des Patienten
Vollm acht/Betreuung
Mutmaßlicher Wille
6.
Zum Gesprächsverlauf
unstrittiger oder kontroverser Verlauf?
Wie ließen sich Divergenzen auflösen?
Gab es eine Wende im Gespräch?
Wodurch wurde diese Wende ausgelöst?
7.
Zum Gesprächsergebnis
Konsens und Empfehlungen
Sonstige Vereinbarungen
8.
Bereitschaft für Interview
ggf. am Ende des Gesprächs direkt kurz und
angemessen nachfragen, ob Bereitschaft besteht,
in nächster Zeit einige Fragen zu diesem
Beratungsangebot zu beantworten.
Tabelle 31: Vorschlag zur Dokumentation von Ethikberatungen
168
6.4.7. Evaluation und Entwicklungspotenzial
Auch in Nürnberg entwickelte sich die Klinische Ethikberatung erst über Jahre zu
einem anerkannten und regelmäßig genutzten Instrument, und selbst in der
Medizinischen Klinik 4 könnte das Angebot noch stärker genutzt werden. Die
dargestellte Mitarbeiterbefragung für Pflegende wie Ärzte liefert hier eine Reihe
von Hinweisen: So wünschten sich beide Berufsgruppen mehrheitlich, „bei
aktuellen ethischen Entscheidungskonflikten eine ethisch kompetente Person als
Berater hinzuzuziehen“. Auch stellten die befragten Ärzte und Pflegenden die
gleichen Ursachen ethischer Konflikte heraus: Nach den Faktoren „Zeitmangel“
und „Arbeitsüberlastung“ nannten sie als drittwichtigsten Auslöser ethischer
Konflikte die „mangelnde oder schwierige Kommunikation mit Patienten und
Angehörigen“.
Es lässt sich darüber streiten, ob mangelnde Kommunikation für sich einen
ethischen Konflikt darstellen kann – auslösen oder verstärken kann sie ihn in
jedem Fall. Angesichts der genannten Einschätzungen ist es allerdings erstaunlich,
dass 65% der befragten Ärzte und 85% der Pflegenden angeben, den Ethikkreis
seltener als monatlich oder nie zu nutzen. Damit ist trotz eines formulierten
Bedarfs ausgerechnet der Ethikkreis für die Befragten der am seltensten genutzte
Ansprechpartner für ethische Konflikte.
In dieser erstaunlichen Erkenntnis liegt aber auch eine Chance. Der Ethikkreis
schöpft sein Potenzial noch nicht annähernd aus, was die Aufmerksamkeit auf
diejenigen lenkt, die in der Mitarbeiterbefragung aus dem Jahr 2007 einer
Beratung bei aktuellen Entscheidungskonflikten „indifferent“ gegenüberstanden.
Bei den Ärzten waren es auch hier immerhin 47% der Befragten. Daher sollten
künftig alle organisatorischen Möglichkeiten geprüft werden, die den Ethikkreis
und sein Einschalten noch attraktiver machen. Es sollten sowohl für Ärzte wie für
Pflegende solche Fortbildungen gefördert werden, die gerade für schwierige
Gesprächssituationen Kompetenz und Souveränität vermitteln – etwa die
genannten Kommunikationsseminare der Psychosomatik oder die sogenannten
„breaking-bad-news“-Seminare.247 Schließlich steigt bei Ärzten die Nachfrage von
Beratungen mit der eigenen Ethikkompetenz. 248
247
Diese Seminare werden vom Fortbildungsinstitut cekib am Klinikum Nürnberg und vom Institut
für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg angeboten.
248
Du Val (2004), Hurst (2007).
169
Die Gründe für die gezeigte Diskrepanz zwischen ermitteltem Bedarf und
tatsächlicher Nutzung können vielfältig sein. An einer mangelnden Kenntnis oder
Information über das klinikeigene Angebot der Ethikberatung dürfte es jedenfalls
weniger liegen. Schließlich besteht das Angebot seit vielen Jahren und ist damit
insbesondere den langjährigen Oberärzten bekannt; es wird auf den Stationen
schriftlich beworben und ist in Gestalt der Dialyseberaterin auch persönlich im
Klinikalltag präsent.
Aber es ist vermutlich weniger die mangelnde Kenntnis als das mangelnde
Vertrauen in eine Beratungskonstellation, die gerade Ärzte vielfach zögern lässt.
Wie mehrfach beschrieben wurde,249 spielt schon bei der Implementierung der
Widerstand von ärztlicher Seite oft eine wichtige Rolle. Dabei wird vielfach die
Sorge um den Verlust der alleinigen Entscheidungskompetenz angeführt.
Die Zurückhaltung von Ärzten gegenüber der Ethikberatung begleitet das
Thema seit seinen Anfängen und ist vielfach publiziert. So sind diejenigen, die ein
solches Angebot explizit nicht nutzen, oft der Meinung, ethische Probleme selbst
lösen zu können bzw. müssen.250 In den USA zeigt eine Befragung von 229 Ärzten
in der Ausbildung zum Internisten, Chirurgen, Anästhesisten und Pädiater die drei
häufigsten Gründe für das Scheitern einer Anforderung von Ethikberatung: der
mögliche Ärger mit dem diensthabenden Arzt, das vermutete Missverhältnis von
Aufwand und Nutzen und der etwaige Kontrollverlust bei Entscheidungen.251
Anders bewerten diejenigen Ärzte das Angebot, die eine Ethikberatung konkret
kennengelernt und selbst daran teilgenommen haben. Schon Ende der 1980er Jahre
konnte mehrfach gezeigt werden, dass Ärzte die Ethikberatung hilfreich finden, 252
insbesondere dann, wenn es zu Änderungen des Behandlungsregimes kommen
sollte oder gekommen war. 253 In einer Studie zur Bewertung der Ethikberatung
von Patienten und Gesundheitspersonal fanden die Beratung immerhin 96% der
Ärzte und 95% der Pflegenden hilfreich. 254 Die bereits vermutete Zurückhaltung
von Pflegenden gegenüber dem Einschalten des Ethikkreises könnte darin
begründet sein, dass moralische Konflikte für sie weniger relevant sind als für die
Ärzte oder bei Ärzten kein wirkliches Interesse an ethischen Fragen vermutet wird.
249
Dörries (2003), Strech (2010).
Orlowski (2006).
251
Gacki-Smith (2005).
252
La Puma (1988).
253
Orr (1996).
254
McClung (1996).
250
170
Wer eine geringe Akzeptanz für eine Ethikberatung im eigenen Stations- oder
Klinikbereich vermutet oder erlebt, wird sich schwer tun, diese vorzuschlagen oder
einzufordern. Die Befragung in der Medizinischen Klinik 4 zeigt in diesem
Zusammenhang, dass 41% der befragten Ärzte angaben, wöchentlich mit anderen
nicht-ärztlichen Kollegen des Teams über ethische Konflikte zu sprechen, während
dies nur 21% der Pflegenden angaben. Vielleicht üben Pflegende im Gespräch mit
Ärzten eine derartige Zurückhaltung, dass sie die Möglichkeit einer Ethikberatung
gar nicht in Betracht ziehen: wenn auf der Station keine offene Gesprächskultur
gepflegt wird, fällt es umso schwerer, außenstehende Ethikberater in schwierige
Entscheidungen einzubeziehen. Ob die hier vermutete Zurückhaltung auf
Verhaltensweisen der „anderen“ Berufsgruppe zurückgeführt werden kann, bleibt
spekulativ. In jedem Fall ist die Zurückhaltung von Pflegenden kein Nürnberger
Phänomen, sondern wird auch andernorts beschrieben. 255
Auf einen Zeitmangel sollte sich die Zurückhaltung beim Einschalten der
Ethikberatung eher weniger zurückführen lassen. Ist doch das Charakteristikum
des Nürnberger Ethikkreises, dass er nicht das aufwändige gemeinsame Gespräch
aller Beteiligten erfordert, sondern in zwei Schritten – Informationsgespräch mit
verantwortlichen Ärzten und Pflegenden und eigentliches Beratungsgespräch mit
Patienten und Angehörigen – eine Lösung herbeizuführen sucht. Ärzte wie
Pflegende können in diesen Prozess mit vergleichsweise geringem Aufwand ihre
fachliche und psychosoziale Sicht einbringen und den zeitaufwändigen
Gesprächen dennoch fern bleiben. Insofern sollte der oft genannte „Zeitfaktor“ als
Hinderungsgrund für die Ausweitung der Ethikberatungen in diesem Fall nicht
gelten.
Mit der Klinischen Ethikberatung steht letztlich ein Instrument zur Verfügung,
das einem wichtigen Grundprinzip der Medizin entspricht („informed consent“),
den Wandel in den Erwartungen vieler Patienten aufgreift („shared-decisionmaking“) und in einem System hoher Arbeitsverdichtung sinnvolle Entlastung
verspricht. Umso mehr verwundert es, dass dieses Instrument bis heute keine
intensivere Evaluation erfährt. Sowohl Ärzte und Pflegende wie auch Patienten
und Angehörige sollten die Gelegenheit erhalten, die die beiden aussagekräftigsten
Fragen zu beantworten: Was hat es gebracht? Würden Sie das Instrument
weiterempfehlen?
255
Siehe u.a. Nilson (2008).
171
Wie bereits beschrieben, liegen aus fast 40 Jahren nur 14 Publikationen vor, die
sich dezidiert mit klinischen Auswirkungen der Beratung befassen. Dies legt den
Verdacht nahe, dass es methodische Hürden gibt, die einer breiten Evaluationsforschung entgegenstehen, oder dass andere Gründe eine stärkere wissenschaftliche Begleitung der Klinischen Ethikberatung hemmen. Die wenigen Beratungsfälle vielerorts dürften kein hinreichender Grund sein, da – wie in vielen Studien
gezeigt – auch kleine Fallzahlen erste Erkundungen ermöglichen.
Für künftige Evaluationen des Ethikkreises und anderer Ethikberatungen sollte
sich an die vorliegende Arbeit eine qualitative Befragung von anfordernden Ärzten
und Pflegenden bzw. teilnehmenden Patienten und Angehörigen anschließen.
Damit könnten für letztere die kurz-, mittel- und langfristigen Wirkungen und für
die Mitarbeiter die mögliche Entlastung sowie deren Einstellungen und
Bedürfnisse bezüglich der Ethikberatung ermittelt werden. Eine Evaluation der
Ethikberatung sollte sich dabei an den Bedürfnissen von Ärzten, Pflegenden,
Patienten und Angehörigen orientieren und nicht nur an ökonomischen Größen
oder vermeintlich harten Kriterien wie der Mortalität oder den Behandlungstagen.
Studien dieser Art führen die Klinische Ethikberatung in die falsche Richtung und
öffnen der unreflektierten Instrumentalisierung ethischer Konflikte Tür und Tor.
Die Ethikberatung der Nürnberger Ethikkreises wurde initiiert angesichts der
zunehmenden Gewissensfragen bei den schweren Entscheidungen zu Fortführung
oder Beendigung einer Dialyse, und sie wurden inspiriert durch einen Nürnberger
Kongress, der bewusst das Prinzip des „informed consent“ in seiner Bedeutung
unterstrichen hat. In dieser Tradition sind eine künftige Forschung und Praxis am
Klinikum Nürnberg und in anderen Krankenhäusern wünschenswert.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Anzahl der Beratungen des Ethikkreises
überdurchschnittlich hoch ist und dass ein Potenzial von 40 bis 60 Beratungen pro
Jahr bei entsprechend unterstützenden Maßnahmen durchaus realistisch erscheint.
Abschließend ein kleines Zahlenspiel zur Anregung: Würde für die Medizinische
Klinik 4 als grobe Kennzahl eine Ethikberatung pro Intensivbett und Dialyseplatz
definiert, entspräche dies 38 Beratungen pro Jahr. Auf die letzten Jahre angewandt,
hätte die Klinik für das Jahr 2009 gut die Hälfte (55%) erreicht, für 2007 sogar
126% und für 2008 noch 121%. Die Berechnung quantitativer Ziele mag in diesem
Kontext ungewohnt erscheinen, sie kann aus den genannten Gründen aber Sinn
machen und sollte daher rechtzeitig und differenziert vorbereitet werden.
172
6.4.8. Entwicklung von Vergleichen und Kennzahlen
In diesem Zusammenhang lohnt der Vergleich von sechs Universitätskliniken und
zwei kommunalen Großkrankenhäusern, bei denen die für 2009 ermittelten
Ethikberatungen256 mit den vollstationären Patientenzahlen ins Verhältnis gesetzt
werden. Der Vergleich dient nur der Orientierung. Er lässt die je unterschiedlichen
Beratungsmodelle, „Zählweisen“ der Beratungen und auch die unterschiedlichen
Strukturen der Klinken, etwa bei der Anzahl der Intensivbetten, der Geburten,
Frühgeburten oder beim Schweregrad der Erkrankungen, unberücksichtigt.
Krankenhaus
Beratungsmodell
Beratungen
Patienten
Ungefähres
pro Jahr
pro Jahr
Verhältnis
Ev. Krankenhaus
Bielefeld
Meist berät ein Mitglied des
Ethikberatungsdienstes
(14 Personen)
46
ca. 47.000
1 : 1.021
Universitätsklinik
Erlangen
20 Mitgl. des KEK beraten,
jeweils zu 2 - 3 Patienten,
AG Ethikberatung
25
ca. 65.000
1 : 2.600
Med. Hochschule
Hannover
17 Mitgl. des KEK beraten,
jeweils zu dritt (med., pfleg.
und externe Perspektive)
56
ca. 55.000
1 : 982
Universitätsklinik
Marburg
Einzelner Ethikberater
(Arzt) bietet Ethikvisiten an,
keine größeren Beratungen
Siehe Text
ca. 44.000
1 : 278
Universitätsklinik
Jena
12 Mitgl. des KEK beraten,
jeweils zu zweit (ein Arzt),
als „Ethikkonsil“ bezeichnet
10
ca. 51.000
1 : 5.100
Universitätsklinik
Mannheim
Mitgl. des KEK beraten
zu dritt, maximal zu viert
8-10
ca. 66.000
1 : 7.333
Klinikum
Nürnberg
Insgesamt ca.15 Berater,
die zentral angefordert,
zu zweit beraten
12
ca. 93.000
1 : 7.750
Universitätsklinik
Tübingen
AG Ethikberatung/KEK,
fünf Berater moderieren auf
Station Fallbesprechungen
30
ca. 62.000
1 : 2.066
Ethikkreis
Med. Klinik 4
Nürnberg
Zweistufige Beratung,
siebenköpfiges Team,
beraten mind. zu zweit
21
ca. 5.000
1 : 238
Tabelle 32: Ethikberatungen 2009 im Krankenhausvergleich
256
Die Angaben wurden über persönliche Mitteilungen oder die Homepage der Kliniken ermittelt.
173
Der Vergleich zeigt zumindest einige Unterschiede auf, wenngleich die große
Vielfalt der Modelle, die hierzulande praktiziert wird, und auch die Dynamik, mit
der sich die Ethikberatung mancherorts ausgebreitet bzw. etabliert hat, nicht
erkennbar sind. So hat sich das Angebot am Evangelischen Krankenhaus in
Bielefeld binnen weniger Jahre von zwölf Beratungen im Jahr 2006, über 14 in
2007, 27 in 2008 auf immerhin 46 Beratungen im Jahr 2009 entwickelt. 257
Dagegen feierte das Angebot an der Medizinischen Hochschule Hannover im
Dezember 2010 bereits sein zehnjähriges Bestehen und führt die „Liste“ mit
jährlich 56 Beratungen an, wobei hier eigene Einschlusskriterien gelten dürften.
Die Ethik-Konsile am Universitätsklinikum Marburg sind in diese Tabelle nur
bedingt zu integrieren. In Marburg wird im Rahmen der Ethik-Visiten der Kontakt
zu jedem einzelnen Patienten gezählt, was mit den Ethikdiensten anderer Kliniken
wenig vergleichbar ist und daher zu noch größeren Verzerrungen führt.
Wie erwähnt, soll die Bestimmung der Relation zwischen Ethikberatungen und
stationären Patienten nur der Orientierung dienen und für die grundsätzliche Idee
einer Generierung von „Kennzahlen“ werben. Daraus eine „Rangliste“ der
aktivsten Standorte der Ethikberatung ableiten zu wollen, würde zu kurz greifen.
Die Angebote selbst sind nur schwer vergleichbar, von der Vergleichbarkeit der
gesamten Kliniken ganz zu schweigen. Dennoch erlaubt die hier vorgeschlagene
Relation zwischen Ethikberatung und Fallzahlen einen ersten Eindruck vom
Umfang der Aktivitäten und ihrem Verhältnis zur Gesamtversorgung.
Damit ist nicht gemeint, dass die Klinische Ethikberatung ihre Berechtigung
nur durch große Fallzahlen sicherstellt – im Gegenteil. Die gelingende Moderation
und Begleitung einer schwierigen Entscheidung bei einem schwerkranken oder
sterbenden Patienten und seinen Angehörigen ist in jedem (Einzel-)Fall eine
wichtige Hilfestellung, die für die Verarbeitung dieser persönlichen, familiären
oder beruflichen Situation von bleibender Bedeutung sein kann. Die Relevanz der
Ethikberatung lässt sich nicht zuerst in Zahlen bemessen. Die Ethikberatung kann
sich bereits durch die erfolgreiche Begleitung weniger Fälle bewähren und für ein
öffentliches oder freigemeinnütziges Krankenhauses sinnvoll sein; zumal dann,
wenn sie der praktische Ausdruck der meist in Leitbildern formulierten Werte ist.
257
Kobert (2010). Der Klinische Ethikberater des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld gibt
seit 2005 einen jährlich erscheinenden Bericht heraus, der auf knapp 50 Seiten vorbildlich über
verschiedene Aktivitäten des Klinischen Ethikkomitees, seiner Arbeitsgruppen und weiterer
Initiativen informiert.
174
Vielleicht gibt es analog anderen „Faustregeln“ auch für die Ethikberatung eine
einfache Formel, die zum Aktivitätsgrad Klinischer Ethikdienste valide Aussagen
zuließe und diese im Hinblick auf die Anzahl der Beratungen vergleichbar machen
würde. Eine solche – mehr volkstümliche als wissenschaftlich basierte –
„Daumenregel“ soll es früher beispielsweise für die Anzahl der Verstorbenen pro
Krankenhaus und Jahr gegeben haben. Sie lautete kurz und prägnant: es sterben im
Krankenhaus pro Jahr etwa so viele Patienten wie das Krankenhaus Betten hat.
Die Suche nach einer angemessenen Formel oder Kennzahl für die Beurteilung
der Anzahl ethischer Beratungen im Krankenhaus ist weder theoretische Spielerei
noch akademische Übung; sie ist ein sinnvoller strategischer Schritt, um mögliche
Diskussionen um die Ausgestaltung dieses besonderen Angebots zu versachlichen.
Angesichts des wachsenden Kostendrucks in den Kliniken werden derartige
Diskussionen unweigerlich zunehmen und damit auch die Ethikberatung wie viele
andere Dienstleistungen vielleicht vermehrt auf den Prüfstand geraten.258
Zur weiteren Diskussion einer Kennziffer für die anzustrebende Zahl von
Ethikberatungen pro Krankenhaus bieten sich je nach Schwerpunkt der Klinik
bzw. der vorhandenen Beratung zum Beispiel folgende Strukturmerkmale von
Krankenhäusern an, um sie zur Anzahl der Ethikberatungen in Relation zu setzen:
-
Anzahl der Betten von Intensivstationen und/oder Palliativstation
-
Anzahl der Dialyseplätze
-
Anzahl der Geburten oder Frühgeburten pro Jahr
-
Casemix-Index der Klinik (Schweregrad der Erkrankungen)
Würde man diese Merkmale auf die oben genannten Krankenhäuser übertragen,
ergäbe sich vermutlich ein interessantes Bild.
Insgesamt zeigt sich, dass der Ethikkreis einer Fachabteilung im Klinikum
Nürnberg ebenso viele oder mehr Ethikberatungen im Jahr durchführt wie andere
Krankenhäuser
insgesamt.
Sollte
das
Modell
des
abteilungsbezogenen
Ethikkreises im Klinikum Nürnberg allein dort auf die Fächer Onkologie (inkl.
Palliativstation), Geriatrie und Neurologie ausgeweitet werden, könnten im
Klinikum Nürnberg mehr als 100 Ethikberatungen pro Jahr stattfinden. Auf
weitere Fachkliniken ausgedehnt, hat das Modell ein Potenzial von mehreren
hundert Beratungen pro Jahr, was einer flächendeckenden Versorgung gleichkäme.
258
Schildmann (2010).
175
6.5. Zusammenfassung des Kapitels
Entstanden aus der Dialyseberatung, bildete sich der Ethikkreis der Medizinischen
Klinik 4 bereits 1997 und bot sich Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen an,
um Hilfestellung in Konfliktfällen zu geben, bei Entscheidungen zu vermitteln und
Beistand in schwierigen Situation zu leisten. Hieraus entwickelte sich das Angebot
einer Klinischen Ethikberatung, die bis heute von sieben Mitarbeitern aus Pflege,
Medizin und Seelsorge getragen wird. Die Beratung erfolgt mindestens zu zweit
und besteht meist aus zwei Teilen: einem Gespräch mit den betreuenden Ärzten
und Pflegenden, um den Hintergrund differenziert zu klären; und einem zweiten
Gespräch mit Patienten und Angehörigen, der eigentlichen Ethikberatung. Deren
Ergebnis wird dokumentiert und dem Behandlungsteam übermittelt, das am
Beratungsgespräch selbst nicht notwendigerweise teilnehmen muss.
Auf der Grundlage von 262 Beratungsprotokollen aus den Jahren 1999 bis
2011 wurde die bisherige Beratungspraxis mittels eines eigens entworfenen
Analysebogens deskriptiv-quantitativ ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass an jeder
zweiten Beratung der Patient selbst teilgenommen hat, wenn auch nur zu 43%
kontaktfähig. Der Patientenwille war in 58% der Fälle direkt oder indirekt bekannt
und eindeutig, in 19% der Fälle war er ambivalent. 59% der Gespräche verliefen
unstrittig, 36% dagegen kontrovers. In 89% der Beratungen konnte ein Konsens
erzielt werden, in 96% wurde eine Empfehlung ausgesprochen. Insgesamt wurden
331 Empfehlungen gegeben. Von den 163 Empfehlungen zur Dialyse votierten 81
für eine Fortsetzung und 82 für eine Beendigung; ein Ergebnis, das die
Ausgewogenheit der Beratungen durch den Ethikkreis deutlich bestätigt.
Aus den meist kurzen Protokollen lassen sich keine Gesprächsverläufe
nachvollziehen. Daher bleiben leider der Kern dessen, was sich im Verlauf der
Gespräche vollzieht, und die Genese von Meinungsänderungen unklar. Wohl aber
lässt sich zeigen, dass der Ethikkreis mit seinen Ethikberatungen ein patientenorientiertes Angebot etabliert hat, das in fast allen Fällen zu einem Konsens führt.
Ob die gefundenen Entscheidungen letztlich hilfreich, belastbar und dauerhaft
waren, können nur künftige Befragungen aller Beteiligten zeigen.
Die besondere Nähe des Ethikkreises zu den Kolleginnen und Kollegen der
Klinik – ähnlich wie bei einem Liaisondienst – scheint ein erfolgversprechendes
Modell von Ethikberatung zu sein und sollte weitere Verbreitung finden. Für die
Aktivitätsmessung von Ethikberatungen bieten sich verschiedene Kennzahlen an.
176
7. Schlussfolgerungen
Aus den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragung zum Thema „Ethik“ im Sommer
2007 und der Auswertung der Protokolle des Ethikkreises für den Zeitraum von
1999 bis 2011 lassen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen ableiten. Sie folgen
der Frage, welche Rahmenbedingungen dazu beitragen, das für sinnvoll erachtete
Angebot der Ethikberatung weiter zu verbreiten und dabei die Bedürfnisse der
Patienten und Angehörigen wie der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
gleichermaßen zu berücksichtigen. Auch wenn letztlich der Patient im Mittelpunkt
steht, bedarf es doch eines Rahmens, der die patientennah arbeitenden Pflegenden
und Ärzte darin unterstützt, ihre physisch und psychisch oft belastende Arbeit mit
einem hohen Maß persönlicher Arbeitszufriedenheit leisten zu können.
Die Ethikberatung hat das Potenzial, ein besonderes Angebot einer Klinik
darzustellen, das mit einer hohen Patientenorientierung verbunden ist und
Empathie, Wertschätzung und Zuwendung vermittelt. Was Patienten unmittelbar
beurteilen können, ist neben der Termintreue, Sauberkeit und dem Essen
besonders der Umgang der Mitarbeiter untereinander und ihnen gegenüber. Dies
drückt sich in einfachen Fragen aus: „Hat man sich Zeit für mich genommen?“,
„Wurden meine Fragen gehört und beantwortet?“, „Wie wurde ich behandelt?“
Vor diesem Hintergrund kann die Ethikberatung für diejenigen, denen sie
zuteil wird, eine wichtige Erfahrung und Hilfe sein, die ihnen bei der Verarbeitung
von Krankheit oder Krankheitsbegleitung hilft und eine innere Bindung zu Ärzten
und Pflegenden entstehen lässt. Gerade für Angehörige von verstorbenen Patienten
spielen die Gespräche und Rituale, die sie im Krankenhaus erfahren, für die
weitere Bewältigungs- und Trauerarbeit eine wichtige Rolle.
In jedem Fall sollten das Angebot des Ethikkreises und die dafür notwendigen
Ressourcen auch künftig aufrechterhalten werden. Die Zeit und das Engagement
der dienstältesten Pflegekraft und des teilnehmenden Seelsorgers bilden das
notwendige Fundament, auf dem der Kreis seine Aktivitäten der Beratung und
Supervision konsequent aufbauen und fortentwickeln kann. Der sprunghafte
Anstieg der Beratungen in den Jahren 2007 und 2008 belegt, dass klinikinterne
Maßnahmen zum Thema Ethik die Nachfrage derartiger Angebote deutlich
steigern können. Insofern scheint es empfehlenswert, vergleichbare Aktivitäten
auch künftig zu initiieren, ob als klinikinterne Fortbildungen oder Forschung.
177
Um die Akzeptanz und Nutzung der Ethikberatung weiter zu fördern, könnten die
Mitglieder des Ethikkreises darauf achten, gerade neuen ärztlichen Mitarbeitern
das Angebot der Ethikberatung ausdrücklich zu erläutern und sie auch für eine
persönliche Teilnahme zu motivieren. Wie bereits gezeigt, bewerten Ärzte, die
bereits Erfahrungen mit der Klinischen Ethikberatung gesammelt haben, diese
deutlich positiver.
Die Initiative zur Gründung des Ethikkreises an der Medizinischen Klinik 4
war ein Glücksfall, der engagierten Ärzten und Pflegenden und einer weitsichtigen
kooperativen Leitung zu verdanken ist. Ob dieser Glücksfall auch zum Standard
für das gesamte Klinikum Nürnberg werden kann, ist sorgfältig abzuwägen.
Angesichts der zahlreichen Implementierungshürden im Klinikalltag (z.B.
Entscheidungshoheit, Zeitmangel, Teamdissens) sind alle Schritte hilfreich, die
eine Schwellenangst gegenüber der Beratung reduzieren. So könnte eine stärkere
Zuordnung der Ethikberater der „Zentralen Mobilen Ethikberatung“ (ZME) am
Klinikum Nürnberg an definierte einzelne Abteilungen die potenzielle höhere
Anonymität und Distanz einer zentralen Dienstleistung verringern und damit ein
größeres Vertrauen in das Angebot der Ethikberatung ermöglichen.
Eine solche Zuordnung – etwa als Ethischer Liaison-Dienst – sollte mit den
Mitgliedern der ZME diskutiert und im Rahmen von Pilotprojekten in geeigneten
Kliniken erprobt werden. Aufgrund ihrer spezifischen Patientengruppen würden
sich beispielsweise die Kliniken für Onkologie, Geriatrie, Neurologie oder
Neurochirurgie bzw. die internistischen Intensivstationen anbieten. Im Rahmen
einer Erprobung könnten Ärzte und Pflegende der Kliniken zunächst intensiv über
das Angebot informiert werden, bevor dann die abteilungsbezogenen „KlinikEthiker“ ihren Dienst aufnehmen.
Die hier am Beispiel des Ethikkreises der Medizinischen Klinik 4 untersuchte
besondere Aktivität im Bereich der Klinischen Ethikberatung im Klinikum
Nürnberg ist vor dem eingangs geschilderten historischen Hintergrund besonders
bemerkenswert. Sie passt daher nicht nur zur Stadt Nürnberg als historischem Ort
des Nürnberger Ärzteprozesses und heutiger Stadt der Menschenrechte, sondern
auch zum Klinikum Nürnberg als ihrem Kommunalunternehmen. In diesem Sinne
– und aufgrund der hier vorgestellten positiven Evaluationsergebnisse – sind die
Klinischen Ethikberatungen auf Dauer wichtig und unterstützenswert und
bedürfen einer weiteren wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation.
178
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228. Weizsäcker Vv (1986-2005) Gesammelte Schriften. BD 9. Suhrkamp,
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Untersuchungsbericht
mit
Empfehlungen,
(unveröffentlicht).
Nürnberg. Interner
Hamburg/Bremen
231. Wehkamp K-H (2001): Die Bedeutung der Ethik für die
Unternehmensentwicklung und -beratung. In: Wolf/Dörries (2001), S. 202214.
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194
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Nürnberger Gesundheitswesens im späten 19. und 20. Jahrhundert. Tümmels,
Nürnberg.
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Ethikberatung für Krankenhäuser geben? Erfahrungen aus den USA. In:
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Baader/Schultz (1980), S. 120-131.
240. ZEKO/Zentrale Ethikkommission an der Bundesärztekammer (2006):
Stellungnahme Ethikberatung in der klinischen Medizin. In: Deutsches
Ärzteblatt 103:A 1703-1707.
195
9. Anhang
9.1. Allgemeine Dokumente
9.1.1. Hippokratischer Eid 259
Hippokratischer Eid
Ich schwöre, bei Appollon dem Arzt und bei Asklepios und Hygieia und
Panakeia sowie allen Göttern und Göttinnen, dass ich nach bestem Vermögen
und Urteil diesen Eid und die Verpflichtung erfüllen werde: denjenigen, der
mich diese Kunst lehrte, meinen Eltern gleich zu achten, mit ihm den
Lebensunterhalt zu teilen und ihn, wenn er Not leidet, mit zu versorgen. Seine
Nachkommen werde ich meinen Brüdern gleichstellen und, wenn sie es
wünschen, sie die ärztliche Kunst lehren ohne Entgelt und Vertrag. Ratschlag
und Vorlesung und alle übrigen Belehrungen werde ich meinen und meines
Lehrers Söhnen mitteilen, wie auch den Schülern, die durch ärztlichen Brauch
durch einen Vertrag gebunden und durch einen Eid verpflichtet sind, sonst aber
niemanden.
Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken,
nach bestem Vermögen und Urteil. Ich werde sie bewahren vor Schaden und
willkürlichem Unrecht. Ich werde niemand, auch nicht auf seine Bitte hin, ein
tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Ich werde auch nie einer
Frau ein abtreibendes Zäpfchen geben. Rein und heilig werde ich mein Leben
und meine Kunst bewahren. Ich werde nicht schneiden, nicht einmal den
Blasenstein, sondern es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist.
In welche Häuser ich auch immer kommen werde, ich will zu Nutz und
Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes
und jeder Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von
Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung sehe
oder höre, oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen,
werde ich, soweit man es nicht weitersagen darf, verschweigen und als ein
Geheimnis betrachten. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze,
möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg zuteil werden und Ruhm bei allen
Menschen bis in ewige Zeiten; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde,
das Gegenteil.
259
Frewer et al. (2009), S. 303.
196
9.1.2. Nürnberger Kodex (1947)260
Zulässige medizinische Versuche
1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.
Das heißt, daß die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muß,
ihre Einwilligung zu geben; daß sie in der Lage sein muß, unbeeinflußt durch
Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der
Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu
machen; daß sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend
kennen und verstehen muß, um eine verständige und informierte Entscheidung
treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, daß der
Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge
und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die
Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und
Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit
oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht
und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem,
der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche
Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben
werden kann.
2. Der Versuch muss so gestaltet sein, daß fruchtbare Ergebnisse für das Wohl
der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel
oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich
oder überflüssig sein.
3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und
naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem
aufzubauen, daß die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des
Versuchs rechtfertigen werden.
4. Der Versuch ist so auszuführen, daß alles unnötige körperliche und seelische
Leiden und Schädigungen vermieden werden.
5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug
angenommen werden kann, daß es zum Tod oder einem dauernden Schaden
führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der
Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.
6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die
humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu
tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von
Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
260
Mitscherlich/Mielke (1960), S.272-273.
197
8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen
durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen
Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder
durchführen.
9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den
Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht
hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
10. Im Verlauf des Versuchs muß der Versuchsleiter jederzeit darauf
vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm
verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines
sorgfältigen Urteils vermuten muß, daß eine Fortsetzung des Versuches eine
Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur
Folge haben könnte.
198
9.1.3. Nürnberger Kodex 1997 261
Zum 50. Jahrestag der Verkündung des Urteils im Nürnberger Ärzteprozess
und des Nürnberger Kodex
Präambel
Im Gedenken an die Opfer gewissenloser Menschenversuche, des
Massenmordes an psychisch kranken und behinderten Menschen und anderer
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren sich deutsche Ärztinnen und
Ärzte im Nationalsozialismus schuldig gemacht haben,
im Bewußtsein der Verantwortung, welche der Nürnberger Kodex von 1947
und die „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme
wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ von 1931 allen Forschenden
auferlegen,
eingedenk der Ambivalenz des medizinischen Fortschritts und seiner
möglichen Gefahren für die Menschlichkeit und getragen von dem Wunsch,
Kranke und Heilkundige vor der Bedrohung durch kommerzielle und andere
fremdnützige Interessen zu schützen,
bekennen sich Ärztinnen und Ärzte sowie alle anderen Menschen, die durch
ihre berufliche Tätigkeit in Beziehung zu Patienten stehen, zu ihrer
persönlichen Verantwortung für das gesundheitliche Wohl des Individuums
und zur Verwirklichung einer menschlichen Medizin und erklären:
1. Voraussetzungen des Medizinversuches (Punkt 1 Nürnberger Kodex 1947)
„Die freiwillige Einwilligung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.
Das heißt, daß der Betreffende die anerkannte Fähigkeit haben muß, seine
Einwilligung zu geben. Er muß in der Lage sein, eine freie Entscheidung zu
treffen, unbeeinflußt durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder
irgendeine andere Form der Beeinflussung oder des Zwangs. Er muß genügend
Kenntnis von und Einsicht in die wesentlichen Fakten des betreffenden
Versuchs haben, um eine verstehende und aufgeklärte Entscheidung treffen zu
können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, daß der Versuchsperson
vor der Annahme ihrer zustimmenden Entscheidung das Wesen, die Dauer,
und der Zweck des Versuchs klargemacht werden; sowie die Methode und die
Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und
Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit
oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht
und die Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt
jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies sind
persönliche Pflichten und persönliche Verantwortungen, welche nicht
ungestraft auf andere übertragen werden können.“
261
Kolb et al. (2002), S.460-466.
199
2. Der „informed consent“ als eine Grundlage des Gesundheitswesens
Die freiwillige und informierte Einwilligung des Patienten nach bestmöglicher
Aufklärung („informed consent“) ist eine prinzipielle Grundlage aller
Behandlungen im Gesundheitswesen, aller Heilversuche und aller
medizinischen Experimente am Menschen. Nur im Falle von Notfallbehandlungen kann diese Zustimmung nachträglich eingeholt werden. Alle
medizinischen Versuche, die einen Nutzen für andere als die Versuchspersonen
haben sollen, bedürfen der freiwilligen und informierten Einwilligung in
besonderem Maße. Anerkannte Heilbehandlungen sowie Heilversuche, die
einen Nutzen für die betreffende Person haben sollen, können bei nichteinwilligungsfähigen Menschen durchgeführt werden, wenn ersatzweise die
informierte Einwilligung des gesetzmäßigen Vertreters nach dessen
bestmöglicher Aufklärung vorliegt. Sie dürfen aber nicht durchgeführt werden,
wenn der Betroffene sich in Ausübung seines natürlichen Willens widersetzt.
An nicht-einwilligungsfähigen Menschen dürfen medizinische Versuche ohne
Nutzen für die Betroffenen nicht durchgeführt werden. Sie sind an die
persönliche, nicht ersetzbare Einwilligung gebunden. Einzige Ausnahme sind
noch nicht-einwilligungsfähige Kinder, die Wesen und Bedeutung des
Versuches noch nicht zu beurteilen vermögen. Für sie können die gesetzlichen
Vertreter die Einwilligung zu einem Medizinversuch geben. Medizinversuche
an Menschen in Gefängnissen oder psychiatrischen Einrichtungen sind
unzulässig, auch wenn die Betroffenen einwilligungsfähig sind.
3. Art des Menschenversuches
Die Achtung vor der Würde des Menschen ist oberstes Gebot jeder
medizinischen Forschung; auch die Freiheit der Forschung findet hier ihre
klaren Grenzen. Dies gilt sowohl für den Heilversuch als auch für das nichttherapeutische Experiment. Für den Schutz von Versuchsteilnehmern muß
umso entschiedener gesorgt werden, je abhängiger die betroffenen Personen
sind und je weniger sie in der Lage sind, ihre Rechte selbst zu verteidigen.
Dazu bedarf es unter anderem eines beständigen offenen Dialogs zwischen
Versuchsleiter und Versuchsperson. Die volle Verantwortung für den Versuch
bleibt stets beim Versuchsleiter. Versuche am Menschen müssen stets so
angelegt sein, daß sich von ihnen ein gesundheitlicher Gewinn für konkrete
Personen oder Personengruppen erwarten läßt, der durch andere Methoden
nicht erreichbar ist. Die Versuchsergebnisse sind wahrheitsgetreu und
vollständig zu veröffentlichen. Menschenversuche müssen auf bekanntem
Wissen aufbauen und dieses nutzen, um unnötige Versuche zu vermeiden.
Unnötige körperliche Eingriffe und Belastungen müssen von den betroffenen
Personen ferngehalten werden. Menschenversuche müssen so durchgeführt
werden, daß die Versuchsteilnehmer jederzeit die Weiterführung des Versuchs
verweigern können. Die Entwicklung von Forschungspräferenzen und die
Durchführung von Forschungsprojekten bedürfen gesellschaftlicher
Transparenz. Wissenschaftler müssen sich frühzeitig mit den ethischen und
sozialen Folgen ihres Tuns auseinandersetzen. Die Finanzierung von
Forschungsprojekten muß von der Realisierung eines solchen begleitenden
Dialogs mit der Öffentlichkeit abhängig gemacht werden. Ethikkommissionen
200
müssen in einem demokratischen Verfahren eingesetzt und nach paritätischem
Prinzip nicht nur mit Fachleuten, sondern auch mit sachkundigen Laien,
Vertretern von Betroffenenverbänden oder Selbsthilfegruppen besetzt werden.
Entscheidungen der Ethikkommissionen sind für die Antragssteller
verbindlich.
4. Fortpflanzungsmedizin und Pränataldiagnostik
Medizinische und biotechnische Entwicklungen ermöglichen in zunehmendem
Maße, Elternschaft, Schwangerschaft und Geburt technisch zu kontrollieren
und zu manipulieren. Dadurch werden die Eltern einer großen Belastung
ausgesetzt und schwangere Frauen mit Entscheidungszwängen konfrontiert.
Die gesellschaftliche Tendenz zu einer „Eugenik von unten“ und die
Aussonderung von Menschen mit zu erwartenden Behinderungen werden
verstärkt. Vorgeburtliche Untersuchungen, die gezielt nach Fehlbildungen oder
genetischen Abweichungen beim Ungeborenen suchen, gehören nicht in die
Routine der Schwangerenvorsorge. Vor Inanspruchnahme solcher
Untersuchungen muß den Frauen eine von den Anbietern pränataler Diagnostik
unabhängige Beratung zur Verfügung stehen, wobei die Konsequenzen der
Untersuchung aufgedeckt werden. Werdenden Eltern muß das „Recht auf
Nicht-Wissen“ erhalten bleiben, ohne daß sie soziale und finanzielle
Konsequenzen befürchten müssen. Die Methoden der künstlichen Befruchtung
dürfen nur angewandt werden, um langfristige und auf andere Weise nicht zu
behandelnde Unfruchtbarkeit zu beheben. Nicht zulässig ist die
Präimplantationsdiagnostik zur Selektion von Embryonen mit zu erwartenden
Behinderungen. Ebenso sind die kommerzielle Beschaffung und Übertragung
fremder Keimzellen und Embryonen sowie die Leihmutterschaft unzulässig.
Abzulehnen ist auch die mißbräuchliche Verwendung menschlicher
Embryonen zur verbrauchenden Forschung, zur Klonierung, zur Chimärenund Hybridbildung.
5. Gendiagnostik
Genetische Tests können individuelle gesundheitliche Risiken aufzeigen, aber
auch Merkmale identifizieren, die zwar ohne eindeutigen Krankheitswert sind,
aber einen stigmatisierenden Effekt haben. Sie können das Leben der
betroffenen Menschen und ihrer Familien durch Vorhersagen schwer belasten.
Genetische Tests sind psychisch invasive Eingriffe und streng an die
informierte Einwilligung zu binden. Sie sollen nur dann durchgeführt werden,
wenn sie ärztlich angezeigt sind, und wenn die betroffenen
Familienangehörigen ausführlich und sachkundig über die Konsequenzen eines
belastenden Testergebnisses wie auch über Alternativen zur Testung beraten
worden sind. Betroffene haben Anspruch auf soziale und psychologische
Betreuung. Gentests stellen Wissen zur Verfügung, dessen Vertraulichkeit
gesichert sein muß.
201
Ihr Gebrauch für kommerzielle oder bevölkerungspolitische Zwecke ist
auszuschließen. So darf niemand genötigt werden, einen Gentest vornehmen zu
lassen. Genetisches Wissen darf nicht in diskriminierender und rassistischer
Absicht verwendet werden.
6. Gentherapie
Der eingeengte Blick auf die Gene versperrt die Sicht auf die vielfältigen
Facetten des Phänomens Krankheit, auf soziale und psychische Aspekte und
krankmachende
Konsum-,
Arbeitsoder
Umweltfaktoren.
Die
wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Genoms kann dazu beitragen,
Krankheiten ursächlich zu behandeln. Sie birgt aber auch die Gefahr der
Menschenzüchtung sowie der Enteignung und kommerziellen Ausbeutung
menschlicher Körpersubstanz in sich. Die jetzt noch experimentelle somatische
Gentherapie darf nur bei schweren Krankheiten und sorgfältigster
wissenschaftlicher Prüfung der damit verbundenen Risiken sowie nach
Ausschöpfung aller alternativen Behandlungsverfahren angewandt werden.
Genetische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen – seien sie Behandlungsabsicht oder Nebenwirkung somatischer Gentherapie – haben schwerwiegende,
nicht absehbare Konsequenzen für nachfolgende Generationen. Sie sind
deshalb nicht zu rechtfertigen. Genetisches Wissen muß auch in Zukunft allen
Menschen zur Verfügung stehen. Menschliche Gene werden entdeckt, nicht
erfunden. Sie sind deshalb nicht patentierbar.
7. Transplantationsmedizin
Die Transplantation von Organen und Geweben darf nur zur Lebensrettung
oder zur Behebung schwerer Leidens- und Krankheitszustände angewandt
werden. Transplantationen zu experimentellen Zwecken sind abzulehnen.
Einen Anspruch auf fremde Organe oder fremdes Gewebe gibt es nicht. Jeder
Mensch hat auch über den Tod hinaus ein Recht, über seinen Körper selbst zu
bestimmen. Die Spende eines Organs oder von Gewebe darf nur aufgrund
freier, informierter und persönlicher Einwilligung und aus dem Motiv der
Hilfsbereitschaft erfolgen. Eine Ersatzeinwilligung von Vertrauenspersonen ist
dann gerechtfertigt, wenn diese von den Betroffenen ausdrücklich dazu
beauftragt wurden. Die Verpflanzung von Organen und Geweben von
Menschen, die ihre persönliche Einwilligung nicht gegeben haben oder die aus
wirtschaftlicher Not zur Spende gezwungen waren, ist unzulässig. Eine
Nachweispflicht über die freiwillige und informierte Einwilligung zur
Entnahme muß international eingeführt werden. Der Hirntod ist nicht mit dem
vollendeten Tod des Menschen gleichzusetzen. Der Hirntod kann allenfalls als
Entnahmekriterium für Organe auf der Basis der freiwilligen und informierten
Einwilligung gelten. Die Organ- und Gewebsentnahme bei noch nicht
einwilligungsfähigen Kindern ist an die freiwillige und informierte
Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter gebunden. Menschen, die
aufgrund ihres Alters selber einwilligen könnten, die aber einwilligungsunfähig
sind wegen einer Erkrankung oder Behinderung, sind vor der Entnahme von
202
Organen und Geweben, auch vor der Entnahme regenerierbaren Gewebes oder
eines paarigen Organs, geschützt. Eine Transplantation von Gehirngewebe ist
nicht zu rechtfertigen, wenn sie die geringste Gefahr in sich birgt,
Individualität und Persönlichkeit des Menschen in Frage zu stellen. Die
Transplantation von Fötalgewebe ist abzulehnen, weil sie auf die Entscheidung
zum Schwangerschaftsabbruch Einfluß nehmen kann und verhindert, daß die
für den Fötus schmerzloseste und für die Schwangere schonendste Methode
des Schwangerschaftsabbruchs gewählt wird. Der Handel mit Organen und
Geweben ist durch internationale Übereinkommen zu unterbinden.
8. Sterbebegleitung und Sterbehilfe
Sterben ist ein Teil des Lebens, in dem der Mensch, besonderer liebevollmitfühlender Begleitung und leidensmindernder medizinischer Hilfen bedarf.
Voraussetzung hierfür ist die bestmögliche Kommunikation zwischen dem
Sterbenden und den Begleitpersonen sowie aller Begleitpersonen
untereinander. Eine humane Medizin und ein humanes Gesundheitswesen
geben Hilfen beim Sterben, aber keine Hilfen zum Sterben. Ziel ist es, ein
Sterben in Würde zu ermöglichen. Bei Menschen, bei denen der Tod in kurzer
Zeit zu erwarten ist, können lebenserhaltende Maßnahmen abgebrochen oder
unterlassen werden, wenn dies dem erklärten Willen, ersatzweise dem
mutmaßlichen Willen des Betreffenden entspricht. Der mutmaßliche Wille
kann nur aufgrund eines vorherigen ernsthaften Dialogs festgestellt werden. In
Zweifelsfällen ist immer für den Lebenserhalt zu entscheiden. Ebenso sind bei
Vorliegen des erklärten oder des mutmaßlichen Willens leidensmindernde
Maßnahmen, insbesondere eine angemessene Schmerztherapie, zu ergreifen,
auch wenn diese eine Lebensverkürzung bewirken könnten. Maßnahmen,
deren Absetzung auch bei nicht Sterbenden zum Tode führen, wie
Körperpflege, Freihalten der Atemwege, Flüssigkeitszufuhr und die jeweils
notwendige Ernährung, sind in jedem Falle zu gewährleisten. Sie können nur
durch den unmittelbar erklärten Willen des Betroffenen abgebrochen werden,
nicht durch den mutmaßlichen Willen. Maßnahmen mit dem Ziel der
vorzeitigen Lebensbeendigung und die Hilfe bei der Selbsttötung sind strikt
abzulehnen, auch wenn diese vom Patienten erwünscht werden. Unheilbar
kranke Menschen sowie Patienten im Wachkoma sind keine Sterbenden. Alle
Behandelnden, die Umgang mit unheilbar Kranken und Sterbenden haben, sind
verpflichtet, sich palliativmedizinisch fortzubilden. Dies schließt die
Befähigung ein, mit den Betroffenen in einen ehrlichen und einfühlsamen
Dialog über ihr Befinden und über ihre Behandlung zu kommen.
9. Medizin und Ökonomie
Menschen, die krank sind oder anderweitig Hilfe benötigen, haben das
uneinschränkbare Recht auf gute Behandlung und Versorgung. Kranke und
speziell chronisch kranke Menschen werden im Rahmen von Sparpolitik und
Kosten-Nutzen-Rechnungen unvertretbaren sozialen Risiken ausgesetzt. Die
Solidariät mit den kranken und schwachen Menschen ist der Gradmesser für
203
die Menschlichkeit einer Gesellschaft. Das Leben von Menschen läßt sich nicht
gegen andere Güter aufrechnen. Für eine angemessene Gesundheitsversorgung
und für die Sicherung des Sozialsystems sind die notwendigen Mittel
bereitzustellen. Die Solidargemeinschaft ist so zu gestalten, daß die
Versorgung der sozial Benachteiligten gerade in Krisenzeiten sichergestellt ist.
Die Wahrung des Rechts auf gute medizinische Behandlung und Pflege des
einzelnen Patienten verbietet es, die solidarischen Beitragspflichten der
Gesunden zu reduzieren oder aufzuheben. Die im Gesundheitswesen tätigen
Menschen weisen offen und selbstkritisch auf Mängel und Fehlentwicklungen
hin und informieren über die Qualität ihrer Arbeit und deren Nutzen für die
Patienten und die Gesellschaft. Maßnahmen am Patienten, die nur
kommerziellen Zwecken dienen, dürfen nicht durchgeführt werden.
10. Medizin in einer Welt
Die im Gesundheitswesen tätigen Menschen tragen über nationale und
ethnische Grenzen hinweg Verantwortung für alle Kranken und
Hilfesuchenden. Für die Opfer von Armut, Kriegen, Vertreibung und Folter
sind medizinische, psychische und soziale Hilfen national und international
auszubauen. Die im Gesundheitswesen tätigen Menschen beteiligen sich nicht
an Maßnahmen, die Folterungen unterstützen, oder an der Vollstreckung von
Todesurteilen. Der Ausbeutung von Menschen im Namen der Medizin ist
Einhalt zu gebieten. Die medizinische Versorgung der Mehrheit der
Weltbevölkerung entspricht keineswegs dem erreichten Stand medizinischen
Wissens. Der Fortschritt der Medizin muß sich auch an der Gerechtigkeit der
Verteilung medizinischer Ressourcen messen lassen. Die Diskrepanz zwischen
dem darniederliegenden Gesundheitswesen in zahlreichen armen Ländern und
der teuren Hochleistungsmedizin in den reichen Staaten ist zum Wohle der
armen Länder zu verringern, um für alle Menschen ein größtmögliches Maß an
Gesundheit zu erreichen.
Nürnberg, am 20. August 1997
204
9.2. Klinikum Nürnberg
9.2.1. Ethik-Code Klinikum Nürnberg 262
Entsprechend dem Nürnberger Ärztekodex von 1947 steht der Patient im
Mittelpunkt aller Dienstleistungen. Die Beachtung ethischer Grundsätze soll
sicherstellen, dass die Patienten/innen des Klinikums Nürnberg stets mit
höchster Fachkompetenz behandelt und betreut werden. Die ethische
Selbstverpflichtung und Reflexion soll verdeutlichen, dass jede Intervention
am Patienten in einem Spannungsfeld von widerstreitenden ethischen
Prinzipien (z. B. bei der Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen)
stehen kann. Auch zwischen medizinischen und ökonomischen Gesichtspunkten sind Spannungen unvermeidbar. Sie müssen in jedem Einzelfall
individuell und kooperativ ausgetragen werden. Wirtschaftlichkeit und Ethik
sind dabei kein Gegensatz. Vielmehr dient der möglichst effiziente und
effektive Umgang mit Ressourcen auch der möglichst optimalen Patientenversorgung.
Die unmittelbare Verantwortlichkeit von Ärzten und Pflegekräften gegenüber
jedem einzelnen Patienten ist im Klinikum Nürnberg Grundlage aller
Entscheidungs- und Handlungsprozesse. Die Achtung der Würde jedes
einzelnen Patienten umfasst den Schutz sowie den Respekt vor dessen
Autonomie. Dazu gehören immer bestmögliche Aufklärung, Information und
Achtung der Patientenrechte.
Entscheidungen in jedweden Krankheitsverläufen müssen transparent gemacht
werden; das Wohl des Patienten steht immer im Vordergrund, auch wenn dies
mit betrieblichen Zielen kollidiert.
Diagnostische und therapeutische Entscheidungen sind leitliniengeprägt. Das
Klinikum strebt evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen an, um die für den
Patienten erforderliche diagnostische und therapeutische Entscheidung auf
derzeitigem Wissensniveau zu erzielen. Ziel ist eine Medizin nach Maß, die
dem Patienten nützt und seiner individuellen Krankheits- und Lebenssituation
gerecht wird. Auch die Einführung neuer diagnostischer und therapeutischer
Methoden wird sich an den Grundsätzen evidenzbasierter Medizin und Pflege
orientieren.
Im unmittelbaren Umgang mit Patienten, insbesondere mit leidenden oder
sterbenden Menschen sind die Gebote der Achtsamkeit und Behutsamkeit
vorrangig zu befolgen. Die Vermeidung von Schädigung mit Schmerzen,
Unannehmlichkeiten, Peinlichkeiten, Beunruhigungen sind ein wichtiger Teil
unserer Sorge für den Patienten. Grundsätze der Gleichbehandlung aller
unserer Patienten bedeuten, dass in jedem Einzelfall für den betroffenen
Patienten versucht wird, die bestmögliche Entscheidung zu treffen und dass
jedwede Benachteiligungen wegen des Geschlechts, der Nationalität, Hautfarbe
oder sozialen Herkunft eines Patienten unterbleiben.
262
Klinikum Nürnberg (2006), S. 33-34.
205
9.2.2. Mitglieder des Ethikforums (Stand: Oktober 2011)
Dr. Dirk Debus,
Oberarzt der Hautklinik
Dr. Susanne Dietze,
Anästhesistin der Klinik für Anästhesiologie
Prof. Dr. Frank Erbguth,
Leitender Arzt der Klinik für Neurologie, 1. Vorsitzender des Ethikforums
Roland Fichtner,
Leitung der Abteilung Personalmanagement
Elke Härtel,
Vorsitzende der Personalvertretung
Christina Lehner,
Vertrauensperson der Schwerbehinderten, Mitarbeiterin im Ethikcafé
Norbert Kettlitz,
Vorstandsmitglied AOK Mittelfranken, externes Mitglied
Pfarrerin Ulrike Klein,
ev. Seelsorge am Klinikum Nürnberg Nord, Mitarbeiterin in der ZME
Stephan Kolb,
Leitung des Bereichs Unternehmensentwicklung, Geschäftsführer Ethikforum
Christof Oswald,
Stationsleitung in der Klinik für Nephrologie, Mitarbeiter im Ethikkreis Med. 4
Martin Roettinger,
Krankenpfleger Klinik für Psychiatrie, Mitarbeiter in ZME und Ethikcafé
Pfarrer Richard Schuster,
ev. Seelsorge Klinikum Nürnberg Süd, 2. Vorsitzender des Ethikforums
Elisabeth Senft-Wenny,
pensionierte Richterin, externes Mitglied
Adriane Yiannouris,
Pflegerische Stationsleitung, Klinik für Kardiologie, Koordinatorin der ZME
206
9.2.3. Empfehlungen zum Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden
207
208
209
210
9.2.4. VaW-Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen
211
212
9.3. Medizinische Klinik 4
9.3.1. Informationsschreiben zur Mitarbeiterbefragung
213
9.3.2. Fragebogen der Mitarbeiterbefragung
214
215
216
9.3.3. Auswertungsbogen zur Ethikbefragung
217
9.3.4. Beispielprotokolle der Ethikberatung
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220
221
9.3.5. Informationstexte zum Ethikkreis für Mitarbeiter
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224
9.3.6 Informationsblatt zum Ethikkreis für Patienten
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226
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