Tobias Grage „Motivation, Emotion und Persönlichkeit“ Zusammenfassung Inhalt 0 Motivation und Emotion 1 Gewohnheiten 2 Temperament 3 Affekt und Anreizmotivation 4 Stressbewältigung und Regression 5 Motive 6 Sinn und Ziele 7 Selbststeuerung 8 Zusammenfassung und Integration 9 Korrumpierungseffekt 11 Übersicht: Hemisphärenasymmetrie Seite 2 Seite 10 Seite 20 Seite 30 Seite 43 Seite 56 Seite 72 Seite 89 Seite 106 Seite 114 Seite 117 Dies ist eine Zusammenfassung des Buches “Motivation, Emotion und Persönlichkeit” von Prof. Dr. Julius Kuhl. Bei dem mir vorliegendem Auszug handelt es sich um eine Vorpublikation. Quelle: Prof. Dr. Julius Kuhl (im Druck), Motivation, Emotion und Persönlichkeit, Heidelberg: Springer Verlag Anmerkungen: Die Zusammenfassungen der Erklärungen zum Korrumpierungseffekt werden in Kapitel 9 zusammengetragen. Daher fehlt in jedem Kapitel X das Unterkapitel X.1. Ansonsten entsprechen die Gliederung und die Bezeichnungen der Kapitel und Unterkapitel denen im Buch. In weiteren Subkategorien wurde eine eigene Gliederung verwendet. Mir besonders wichtige Befunde wurden blau hinterlegt. Manchmal sind sie mit eigens erstellten Übersichtstabellen versehen. Der Großteil der Abbildungen und Tabellen sind dem Buch entliehen und tragen grundsätzlich die gleiche Bezeichnung, wie im Buch angegeben (Form: „Abb X.X“ oder Tab. X.X). Bilder, die nicht mit einem solchen Hinweis versehen sind, sind von mir gestaltet. Fragen, Kritik und Kram bitte an [email protected]. http://www.zephyrblog.wordpress.com Wintersemester 2007/08 Universität Osnabrück 1 Kapitel 0: Motivation & Emotion 2 0. Motivation & Emotion Methodische, hirnanatomische und wissenschaftstheoretische Grundlagen 0.1. Die sieben Quellen der Motivation und Emotion a) Behaviorismus • Idee: Psychologie als Wissenschaft muss sich auf das objektiv messbare Verhalten beschränken und die subjektive Erfahrung außen vor lassen • Abschwächung: methodologischer Behaviorismus → Zulassen von theoretischen Begriffen (Emotion, Kognition), wenn sie (möglichst) direkt operationalisierbar sind (= an Messoperation verankerbar) • Kognitive Prozesse wurden wieder „zugelassen“: Wahrnehmung; Aufmerksamkeit; Gedächtnisprozesse b) Der Begriff „Motivation“ • abgeleiteter Term: Die Motivation einer Person bemisst sich anhand ihrer Ziele und die auf die Ziele verwandte Aufmerksamkeit. (NORMAN, 1980) • Problematik: Kognitionen wie Gedanken, Pläne und Absichten sind der bewussten Introspektion stets zugänglich, auch wenn Gefühle und Motivationslagen objektiv nicht festzustellen sind • Idee: „Motivation“ bezeichnet Prozesse, die nicht durch Kognitionen erklärbar sind → Beweis durch die Neurobiologie: Fühler für Motivationszustände, die etwa Ist- und Soll-Werte des Blutzuckerspiegels vergleichen. • Motivation und Emotion bezeichnen eigenständige Prozesse: • Motivation: Wahrnehmung von (subkognitiven) Bedürfnissen, sowie Planung und Durchführung des Handelns auf unterschiedlichen Ebenen der Verhaltensbahnung. • Emotion: bedürfnisorientierte Bewertung von Ereignissen. c) Die Verbindung zwischen Persönlichkeit und Motivation & Emotion • Persönlichkeit: Die Gesamtheit psychischer Prozesse, die das Erleben und Handeln einer „Person“ bestimmen • Es existieren sieben verschiedene Bedeutungen von Motivation und Emotion • (Alltagspsychologie: Wir unterscheiden intuitiv aus dem Kontext heraus, wie Emotion und Motivation gerade gemeint sind.) • Diese verschiedenen Bedeutungen repräsentieren die sieben verschiedenen Ebenen der Gesamtpersönlichkeit (ganzheitliche Perspektive) • Die Ebenen (nach steigender Komplexität geordnet) • Gewohnheiten • Temperament • Affekt und Anreizmotivation • Stressbewältigung • Motive • Denken • Selbstregulation • Dieses Modell ermöglicht eine systematische und empirische Motivations- und Emotionsforschung • Die Idee einer Systematik in der Persönlichkeit geht zurück auf griechische Philosophen der Antike. Sie geriet jedoch aus dem Blickfeld; verschiedene motivations- und emotionspsychologische Theorien beziehen sich nur auf wenige – meist sogar nur auf eine – Systemebene(n) der Persönlichkeit • Diese Systematik der Persönlichkeit soll es ermöglichen die sieben Ursachen für motivations- und emotionspsychologische Phänomene zu ergründen • Beispiel: (zwei der sieben) Ursachen für die Motivation einer engagierten Schülerin • Sie hat gelernt, gewissenhaft ihre Pflicht zu tun (→ Kapitel 1, Gewohnheiten) • Sie findet bestimmte Fächer besonders spannend (→ Kapitel 3, Affekt) • Beispiel: Einfluss der Systemebenen auf die Freude über einen Erfolg • Ein starkes Temperament intensiviert die Emotion (→ Kapitel 2, Temperament) • Hoher Stress verhindert, dass die Emotion auf höheren Ebenen umfassend erlebbar wird (→ Kapitel 4, Stressbewältigung). 3 0.2.Situation und Disposition • In der Motivations- und Emotionspsychologie werden sowohl dispositionelle als auch situative Einflüsse auf das Verhalten und Erleben untersucht. • Die Untersuchung situativer Einflüsse wird eher der Allgemeinen Psychologie zugeschrieben und die der dispositionellen der Differentiellen Psychologie. • Jedoch werden immer häufiger sowohl situative als auch dispositionelle Determinanten gleichzeitig untersucht. a) Individualität • Individuelle Unterschiede werden wenig berücksichtigt • Vorstellung: situative Einflüsse sind wesentlich leichter zu ändern als persönliche. → Falsch, situative Einflüsse wie Armut oder eine kranke Mutter sind nicht leicht zu ändern • Dispositionen müssen nicht notwendig stabil sein; man kann sogar von vornherein nicht entscheiden, ob eine Persönlichkeitseigenschaft stabil ist. Dies muss empirisch untersucht werden • Vgl. mit Fallversuch: Ein fallender Stein muss während des Versuchs eine konstante Masse haben. Ob sich die Masse während des Versuchs ändern wird, kann man nicht bestimmen. Nur durch erneutes Messen kann man untersuchen, ob die Masse stabil geblieben ist • Vorstellung: Man sucht in der Psychologie nach allgemeinen Gesetzen – individuelle Unterschiede machen eine allgemeingültige Psychologie unrealisierbar → Falsch, vgl. erneut mit Fallversuch: Die Allgemeingültigkeit des Fallgesetzes ist direkt von der Berücksichtigung individueller Unterschiede (= Masse) abhängig. → “Wenn man die Unterschiede zwischen den Personen nicht weiter beachtet, tut man so, als handele es sich um Messfehler, also Zufallsschwankungen” (LEWIN, 1935) → Vorschlag: Man erfasst bei einer Untersuchung möglichst viele andere kontextbezogene Variablen. Um zu überprüfen, ob es sich bei den Messschwankungen der abhängigen Variable um Messfehler handelt, könnte man zum Beispiel die Korrelationen zwischen der abhängigen Variable und den zusätzlichen Variablen untersuchen. Korrelieren zwei Variablen ist dies ein Hinweis auf potentielle zusätzliche Einflussfaktoren • Stabile Dispositionen • Das beobachtbare Verhalten kann sowohl von Dispositionen als auch von Situationen abhängen • in der Fremdbeobachtung erklären wir das Verhalten überwiegend dispositionell. • in der Selbstwahrnehmung legen wir dahingegen mehr Wert auf die situativen Einflüsse (JONES & NISBETT, 1971) • Menschen verhalten sich je nach Situation sehr unterschiedlich (MISCHEL, 1968 – Ehrlichkeit von Schülern in verschiedenen Situationen; Korrelationen unter 0,3) → Schlussfolgerung: Es ist nicht sinnvoll situationsübergreifende Eigenschaften zu postulieren. → Kritik: Derart niedrige Korrelationen sind kaum verwunderlich, wenn man einem Forschungsansatz anhängt, der monokausal ist und nur lineare Zusammenhänge zulässt. b) Methodik – Grundlegendes • Validität Ein Versuch ist valide, wenn er das misst, was er messen soll • Korrelation Der Korrelationskoeffizient drückt die Stärke des Zusammenhangs zweier Variablen aus. Er variiert zwischen 1,0 (perfekter gleichsinniger Zusammenhang ) und -1,0 (perfekter antiproportionaler Zusammenhang). Eine Korrelation von 0 deutet an, dass es überhaupt keinen Zusammenhang gibt • Regression Auch ein Regressionskoeffizient drückt den Zusammenhang zwischen zwei Variablen aus. Eine Variable wird als Kriterium (vorherzusagende Variable, y-Achse) und die andere als Prädiktor (x-Achse, auch 'Abszisse' genannt) betrachtet. Je höher die Steigung der Regressionsgeraden ist, desto stärker verändert sich das Kriterium relativ zu Veränderungen des Prädiktors. • Stichprobenabhängigkeit Die Höhe des Korrelationskoeffizienten hängt nicht nur von dem tatsächlichen 4 Zusammenhang der beiden Variablen ab, sondern auch von deren Streuung innerhalb der jeweiligen Stichprobe. → Vgl. mit Abb. 0.1 (im Buch): Würde die Korrelation den tatsächlichen Zusammenhang ausdrücken, würde in einer Stichprobe mit eingeschränkter Streuung der Variablen der Zusammenhang stark unterschätzt werden. • “psychographische Methodik” Die Korrelation ist eine “psychographische” Methode; sie ist nützlich um das gemeinsame Auftreten zweier Phänomene zu verdeutlichen, aber ungeeignet für die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten. Man muss die Idee der einseitigen Untersuchung entweder von situativen oder dispositionellen Einflüssen hinter sich lassen und anfangen die Interaktionen dieser Wirkungsbereiche zu berücksichtigen (LEWINE, 1935) • Kritik an dem Vorhaben persönlichkeitsrelevante Strukturen anhand von korrelativen Zusammenhängen des Phänotyps1 abzuleiten • Beobachtung des Phänotyps reicht nicht aus → analog dazu könnte man annehmen: “alles, was feinkörnig und weiß ist, gehört demselben chemischen Element an” • Hohe Korrelationen können zwischen verschiedenen Dimensionen entstehen → z.B. hohe Korrelation zwischen Gewicht und Körpergröße → Ob zwei korrelierende Variablen unterschiedliche Dimensionen messen, lässt sich durch empirische Dissoziation ihrer Beziehungen zu anderen Variablen nachweisen. • Konvergente Validität2 darf nicht zum Einsparen von Messvariablen führen → Hohe Korrelation beim Höhen- und Geschwindigkeitsmesser eines Flugzeugs → Insbesondere Dissoziationen (Abweichungen von gewöhnlich gemessenen Korrelationen) verdeutlichen Gefahren und Handlungsbedarf • Konstrukte existieren, auch wenn sie nicht beobachtbar sind → Die Schlussfolgerung “Dispositionen existieren nicht; das Verhalten ist situativ variabel” gleicht der Schlussfolgerung “Das parkende Auto hat seinen Motor verloren” • Persönlichkeitsdispositionen liegen hinter dem direkt Beobachtbaren → Borderline Störung: eine einzige Enttäuschung kann dazu führen, dass 20 Jahre glücklicher Ehe nicht ernst genommen oder gar vergessen werden • Faktorenanalyse Statistische Methode, die das Erkennen von Faktoren (Variablengruppen) erleichtert. Die Variablen innerhalb eines Faktors korrelieren höher miteinander als mit Variablen außerhalb des Faktors • “Königsweg” für ein Experiment • unabhängige Variablen (zu prüfende Verursachungsbedingungen) werden systematisch verändert • Versuchspersonen werden den Bedingungen zufällig zugeordnet • Die Ursache für die beobachtbaren Effekte (abhängige Variablen) können so ermittelt werden. c) Methodik – lineare Kausalität • geradlinige Verursachungsrichtung wird vorausgesetzt (Disposition und Situation bewirken das Verhalten, nicht umgekehrt) • Einen Effekt können Situation und Disposition auf vier verschiedene Arten und Weisen beeinflussen/verursacht haben • Das beobachtete Verhalten hängt allein von der Situation ab • Das beobachtete Verhalten hängt allein von der Person ab • Es hängt sowohl von der Situation als auch von der Person ab (additiv) • Es hängt von der Wechselwirkung zwischen Situation und Person ab (multiplikativ) 1 Phänotyp: direkt beobachtbare Erscheinungen 2 Konvergente Validität: zwei (hoch korrelierende) Variablen, die dasselbe Konstrukt/ dieselbe Dimension messen, heißen konvergent valide. 5 • Haupteffekte Tab 0.2 • • • • • Erklärung • Die gesammelten Daten für einen Versuch werden wie folgt in eine Tabelle eingetragen: vertikal und horizontal wird je eine der zu vergleichenden unabhängigen Variablen mit ihren verschiedenen Ausprägungen (“levels”) aufgetragen (hier: die unabhängige Variable “Person” mit den levels “Person 1”, “Person 2”, etc. wird vertikal aufgetragen • Die abhängige Variable wird in die Zellen eingetragen (hier: Freundlichkeit). Es werden pro Zelle – also der Kombination je einer Ausprägung der beiden unabhängigen Variablen – mehrere Messungen durchgeführt. • Die Bedingungen innerhalb einer Zelle sind immer gleich – selbe Situation für die selbe Person. Schwankungen, die hier auftreten, werden als Messfehler bezeichnet. Übersteigen die Schwankungen der Zeilen- oder Spaltensummen hinreichend deutlich die innerhalb der Zellen, spricht man von einem signifikanten Haupteffekt – die abhängige Variable wird von einer oder von beiden unabhängigen Variablen direkt beeinflusst. Varianten – Vgl. mit Abb. 0.2a – Situations- und Personenabhängigkeit Abb 0.2a Nur Haupteffekt der Person • Die Personen sind verschieden freundlich, jedoch ist ihr Verhalten in allen Situationen gleich • Alle Geraden verlaufen (mit denselben Abständen wie in Abb 0.2a) parallel zur x-Achse Nur Haupteffekt der Situation • Die Personen sind gleich freundlich und verhalten sich in verschiedenen Situationen anders • Alle Geraden fallen zusammen Haupteffekte in Person und in Situation (in Abb. 0.2a dargestellt) • Die höchste Freundlichkeit tritt bei der freundlichsten Person auf, in der Situation, in der alle am freundlichsten sind • Die Geraden haben alle die gleiche Steigung, sie verlaufen parallel 6 Wechselwirkung – Situations- und Personenspezifität (kein Haupteffekt!) • Wechselwirkung zwischen zwei Variablen: Die Wirkung einer Variablen hängt vom Zustand der anderen ab. • Linien verlaufen nicht parallel • Disordinale Wechselwirkung Die Geraden kreuzen sich; eine Person ist in dem Seminar am freundlichsten und die andere in der Bibliothek – die Aussage “in dem Seminar herrscht die größte Freundlichkeit” ist sowohl wahr als auch nicht wahr. • Varianzanalyse (ANOVA) • Methode, die den Vergleich zwischen den Schwankungen innerhalb der Zellen und die der Spalten- bzw. Zeilensummen (oder auch der Wechselwirkungen) rechnerisch unterstützt. • Die Varianzanalyse gibt Auskunft über die Signifikanz der Unterschiede mithilfe der F-Statistik. → Der F-Wert ist der Quotient aus den Schwankungen, die durch die unabhängige Variable verursacht werden durch die Varianzanteile (Schwankungen, die auf den Messfehler zurückgehen) → Übersteigt der F-Wert deutlich 1 (dies ist der Fall wenn die Varianzanteile im Verhältnis zu den von den unabhängigen Variablen ausgelösten Schwankungen winzig sind) kann der Effekt signifikant sein → Zu der Varianzanalyse gehört auch die Irrtumswahrscheinlichkeit α, die angibt wie wahrscheinlich es ist, dass man den F-Wert zufällig (aufgrund von Messfehlern) erhalten hat. Es wird gefordert, dass α < 5% ist, sodass – unter der Voraussetzung der berechnete Effekt existiere gar nicht – die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unterschiede zwischen den Ausprägungen einer oder beider unabhängiger Variablen trotzdem auftreten, weniger als 5% beträgt. • Gründe gegen die Annahme, dass aufgrund unterschiedlicher Verhaltensweisen stabile Dispositionen und Motive nicht möglich sind: • Situationsabhängigkeit (siehe 0.2a)): Verhalten ist nicht nur von Eigenschaften abhängig, sondern auch von der Situation. • Situationsspezifität: Das Verhalten bleibt innerhalb einer personenspezifischen Äquivalenzklasse von Situationen konstant. • Motivationale Komplexität: In einer Person sind gleichzeitig mehrere Motive aktiv. Gewinnt ein Motiv oder eine Handlungstendenz die Oberhand, führt das trotz stabiler Eigenschaften zu einer Veränderung im Verhalten. • Motivationsdynamik: Wenn man einer Handlungstendenz eine Weile lang nachgegangen ist, ist sie fürs erste gesättigt. Die daraus resultierende Verhaltensänderung muss nicht bedeuten, dass das gesättigte Motiv nicht länger vorhanden ist. • Informationsverarbeitungsmodus: Einige Motive und Dispositionen (u.a. Gerechtigkeit) nehmen nur Einfluss auf das Verhalten, wenn hochinferente (komplexe) Stufen der Informationsverarbeitung dominieren (Top-Down-Verarbeitung). Ist diese Top-DownVerarbeitung blockiert, nehmen die Eigenschaften und Motive auch keinen Einfluss auf das Verhalten (Bottom-Up-Verarbeitung, Regression. Siehe Kapitel 4). d) Methodik – nichtlineare Kausalität • komplexes System → viele interagierende Variablen → Intransperenz (einzelne Variablen i.d.R. nicht direkt beobachtbar) → Eigendynamik (Variablen verändern sich auch ohne den Einfluss einer anderen) → keine eindeutige Unterscheidung von abhängigen und unabhängigen Variablen • Kleinstadtsimulation auf dem Computer (DÖRNER ET. AL., 1983) • Die VP sollten die Rolle des Bürgermeisters des komplexen Systems “Kleinstadt” übernehmen. • VP, die stets versuchten einzelne Wirkungszusammenhänge zu analysieren und zu beeinflussen, waren schlechte Bürgermeister (→ wirtschaftliche Entwicklung der Stadt nahm keine gute Entwicklung). → Das Ändern einer einzelnen Variablen wird sich nicht immer gleich auf die anderen Variablen auswirken (→ reziproke (wechselseitige) Beziehung zwischen zwei Variablen) • 7 • Zusammenhang zwischen Leistung und Motivation (KUHL, 1986) Die Motivation der VP wurde durch das Anspruchsniveau gemessen: Es handelt sich um die Leistung, die die VP im nächsten Durchgang erreichen will, nachdem sie über die eben erbrachte Leistung informiert worden ist. • Die Leistung in Abhängigkeit von dem Anspruchsniveau wird in Abb 0.3 durch die Parabel angegeben (nach YERKES & DODSON, 1908) • Das Anspruchsniveau in Abhängigkeit von der Leistung wird durch die Gerade angegeben (LEWIN ET. AL., 1944: A. ist eine monoton steigende Funktion) • Verlauf der Anspruchsniveau-Setzung • In Abb 0.3 durch Pfeile markiert • sukzessive (kontinuirliche) Anwendung folgender Technik: abwechselndes Suchen nach der Leistung in Abhängigkeit vom Anspruchsniveau auf der Parabel und dem Anspruchsniveau in Abhängigkeit von der Leistung auf der Geraden. → Leistung und Anspruchsniveau konvergieren. • Deterministisches Chaos • Wenn angenommen wird, dass die Leistung viel stärker von der Motivation abhängt als in Abb. 0.3 geschildert, indem der Scheitelpunkt der Parabeln erhöht wird, verändert sich der Verlauf der Anspruchsniveau-Setzung • Leistung und Anspruchsniveau pendeln sich nicht wie bisher auf einen Wert ein, sondern schwanken zwischen mehreren Asymptoten • Trotzdem ist das System durch das einfache Modell determiniert • Der Verlauf dieser untypischen Anspruchsniveau-Setzung tauchte im Experiment bei VP auf, die sehr sensibel auf Veränderungen in Motivation und Leistung reagieren (entspricht dem Heben der Parabel, bzw. dem Senken der Geraden). • • • • Abb 0.3 Selbst einfache Wechselwirkungen können nicht aus unserem analytischen Denken heraus oder von den daraus resultierenden unidirektionalen Modellen erfasst werden. → (falsch verstandene) Vereinfachungstendenz dynamisches Denken: Finden einer genuinen (echt, unverfälscht) Einfachheit (hinter der Komplexität des Phänotyps) → Das Finden einer solchen Einfachheit gelingt hier nur mithilfe des nichtlinearen Chaosmodells (durch Verzicht auf vordergründige „Vereinfachungstricks“ und einer Suche nach Wechselbeziehungen der zugrundeliegenden Prozesse, die hinter der Komplexität der Erscheinungen verborgen liegen). Das dargestellte und sehr einfache Modell lässt sich allein aus den empirischen Fluktuationen nicht erschließen. 8 0.3.Neurobiologische Grundbegriffe a) Substraktionsmethode Die normale Aktivität des Gehirns wird separat in einer Kontrollbedingung gemessen und von den Messungen der Hirnaktivitäten während eines Experimentes abgezogen b) wichtige kortikale Hirnregionen • Präfrontaler Cortex (Frontallappen): Verhaltensvorbereitung, sowohl indirekt als auch direkt • Peämotorischer Cortex (Temporallappen): motorische Steuerung • Parietallappen: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit • Primärer visueller Cortex (Okzipitallappen): visuelle Wahrnehmung c) wichtige Neuromodulatoren – Dopamin, Serotonin und Noradrenalin • Im Gegensatz zu den Neurotransmittern übermitteln Neuromodulatoren nicht nur die kurzfristige Übertragung von Aktionspotentiale an den Synapsen, sondern ziehen auch lang anhaltende Aktivierungen ganzer Areale mit sich. • Noradrenerges System (siehe Kapitel 2) • Strahlt vom Hirnstamm aus in viele Regionen • Grundlage für das Temperament • Intensiviert Emotionen im limbischen System • Intensiviert Warhnehmungsleistungen in sensorischen Regionen • Intensiviert Verhalten im motorischen System • Dopaminerges System (siehe Kapitel 3 & 7) • Verbindet Area tegmentalis ventralis und andere affektrelevante Areale mit dem Nucleus accumbens und anderen anreizmotivationsrelevanten Arealen • Mesolimbisches System • Verstärkt Verhaltensbereitschaft, besonders wenn Gewohnheiten, Anreize oder Ziele vorhanden sind • Dopamin (oder auch der positive Affekt) aktiviert entweder den Willen oder die Anreizmotivation d) Faserverbindungen • Faserverbindungen ermöglichen Informationstransfer zwischen (weit voneinander entfernten) Makrosystemen • Fasciculus arcuatus • Fasciculus occipitalis verticalis • Fasciculus longitudinalis superior • oberes Längsbündel • verbindet präfrontale und posteriore Regionen • Bsp.: unbewusste Wahrnehmungen sollen noch vor der Objekterkennung motorische Reaktionen auslösen können • Fasciculus uncinatus • verbindet PFC mit Temporallappen • Bsp.: Versorgung des Willens mit verbalen Instruktionen • EDELMAN: Die Form des Zusammenschaltens von unterschiedlichen Hirnregionen könnte die Grundlage für das Bewusstsein darstellen. 9 Kapitel 1: Gewohnheiten 10 1. Gewohnheiten Assoziationslernen, Objektwahrnehmung und Verhaltenspriming • Objekt – Definition: Ein Objekt ist ein vom Kontext abstrahierter Warhnehmungsinhalt, der in beliebigen Kontexten schnell wiedererkannt werden kann • Schnelle Objektwahrnehmung ist besonders in Gefahrensituationen wichtig • Man muss in der Lage sein in einer Gefahrensituationen schnell und unabhängig vom Kontext die passende Vermeidungsreaktion durchzuführen • Nicht an Sinnesmodalität geknüpft. Im Grunde kann jede Erfahrung, sofern sie vom Kontext abstrahiert wird, zum Objekt werden. • Gewohnheiten sind die einfachste Art der Verhaltenssteuerung • Aufteilung (nach GOODALE & MILNER, 1992) • intuitive Verhaltensroutinen → spontaner Ablauf → sind situationsseitig durch viele Kontextmerkmale modulierbar • automatische Verhaltensroutinen → Ablauf an die bewusste Wahrnehmung eines Objekts gebunden → durch die Bindung an ein Objekt wird ein relativ gleichförmiges Verhalten ausgelöst, das nicht an kontrollierte Prozesse gebunden ist. • Gewohnheiten sind anreizunabhängig • “reine” Gewohnheit – Reiz-Reaktions Kopplung: Bei einem passenden Auslösereiz wird die Reaktion automatisch ausgeführt 1.2. Geschichte: Pawlow, Hull, Skinner, Witkin a) Einführung • Pawlow, Hull und Skinner behandelten starre/automatische Formen der Verhaltenssteuerung (und nicht die intuitive Verhaltenssteuerung (IVS)) • Objekterkennung wurde nicht als eigenständiger Wahrnehmungsprozess untersucht, sondern als Resultat eines solchen vorausgesetzt • Kontiguitätsprinzip • Eine SR-Verknüpfung (Stimulus-Response-Verknüpfung) wird verstärkt, wenn S und R in enger zeitlicher Folge auftreten • Erweiterung: Auch dem S mehr oder weniger ähnliche Auslösereize können mit der R verknüpft werden • SOR-Schema • Erweiterung des SR-Schemas um den Organismus (O) • O beschreibt die nicht beobachtbaren Variablen im Inneren des Organismus. Ermöglicht bzw. erklärt dispositionelle Unterschiede • Lernen (behavioristisch) • Verstärkung der Assoziationen verschiedener S und R durch • klassische Konditionierung (S-S) • Gewohnheitsbildung (S-R) • Bestrafung operanter (=spontaner) Reaktionen (R-S) (Bestrafung ist S und folgt erst nach der spontanen R) • Es wird angenommen, dass solche einfachen Verknüpfungen auf subkortikale Strukturen im Gehirn zurückzuführen sind • Folgende komplexe Formen erfordern auch die Beteiligung des Neocortex • Diskriminationslernen (Reiz X wird belohnt, XY nicht) • Umgewöhnung (Zuerst wird Reiz X belohnt, Y nicht; dann umgekehrt ) • Konfigurationslernen (X und Y werden einzeln entweder nicht belohnt oder belohnt, für XY gilt das entsprechende Gegenteil) • Kritik • Starre und rigide Schemata • Schemata lassen wenig Raum für situative spontane Anpassung der R an die S. → Gewohnheiten werden nur mit Automatisierung (Objektorientierung) assoziiert, nicht mit der IVS b) Klassische Konditionierung – Pawlow – S-S UCS: unconditioned stimulus • PAWLOW entdeckte das Kontiguitätsprinzip UCR: unconditioned response • Experiment zum bedingten Reflex CS: conditioned stimulus • UCS Fleisch löst UCR Speichelfluss aus • Verknüpfung musste nicht gelernt werden, sie trat ohne CR: conditioned response zusätzliche Bedingungen auf. Daher: “unconditioned” 11 Ließ man den CS Glockenzeichen, der die UCR ursprünglich nicht auslöste, dem UCS vorausgehen, kann man ab einer gewissen Zeit die UCR auch ausschließlich mit dem CS auslösen → assoziatives Lernen (wurde neurobiologisch präzisiert: “Cells that fire together wire together” (HEBB, 1949)) c) Instrumentelle Konditionierung – Hull – S-R • Das Bilden neuer Gewohnheiten ist unabhängig von Bedürfnisbefriedigung oder Anreizmotivation (und den daraus hervorgehenden positiven Affekten) jedoch beeinflussen diese Faktoren die Gewohnheit. Sobald etwa eine Bedürfnisbefriedigung (Hunger) hinzukommt, steigt die Lernkurve (der „neuen Gewohnheit“) schneller an. → Wechselwirkung zwischen Bedürfnisbefriedigung und Lerndurchgängen • SER = f SH R ⋅ D ⋅ K • SER: exzitatorisches Potential – Tendenz zur Ausführung des Verhaltens • SHR: Stärke der erlernten Gewohnheit (“habit”) • D: Triebstärke (“drive”) • K: situativer Anreiz • Multiplikative Verknüpfung • Die Tendenz zur Ausführung (SER) sinkt beim Essen auf 0, wenn die Triebstärke D auf 0 zurückgeht, man also satt ist. • Gleiches gilt für K: das Verhalten wird nicht ausgeführt, wenn ein Anreiz weder präsent noch zu erwarten ist. • Latentes Erlernen kognitiver Landkarten (TOLMAN, 1932) • Ratten, die gesättigt (D = 0) ein Labyrinth mit Futternapf erkunden durften, fanden im hungrigen Zustand (D > 0) den Futternapf schneller wieder, als eine Kontrollgruppe ohne Vorerfahrung → Die Erfahrung wurde erst im richtigen Motivationszustand in Verhalten umgesetzt, das Lernen erfolgte jedoch auch ohne einen Bedürfniszustand • Wird von Hulls Modell berücksichtigt d) Neurobiologischer Hintergrund der Konditionierung (von Furchtreaktionen) • Zentralkern der Amygdala erhält Informationen von emotionsauslösenden Sinnessystemen und nimmt selbst Einfluss auf viele Regionen, die an den Auswirkungen von Emotionen beteiligt sind (z.B. den im Hirnstamm gelegenen Locus coeruleus, der kortikale Vigilanzsysteme (Wachsamkeit) aktiviert) • So kann durch die Konditionierung eine Verknüpfung zwischen involvierten Hirnarealen hergestellt bzw. verstärkt werden (in etwa eine Verknüpfung zwischen Zentren der visuellen Objekterkennung im inferiortemporalen Cortex (→ 1.3d)) und den vielen Hirnarealen, die mit Furchtreaktionen assoziiert werden) e) Radikaler Behaviorismus – Skinner • Verhaltensarten • Respondentes Verhalten • Antwort auf einen klar umgrenzten Reiz • Entspricht reiz- bzw. objektgesteuertem Verhalten • Operantes Verhalten • Spontanverhalten • Es ist kein Reiz vorhanden, auf den reagiert wird – vielmehr kommt es darauf an, dass das Verhalten eine Wirkung hat und zum Beispiel neue Reize hervorbringt. • R-S Verknüpfung; wobei der Begriff Reaktion irreführend erscheint, da scheinbar auf nichts reagiert wird – zumindest auf nichts, was mit dem Objektbegriff beschrieben werden könnte. → implizite Auslösereize (nicht von Skinners Modell vorgesehen) • Verstärkungspläne • Begriffe • Positive Verstärkung das Auftreten des Verhaltens wird belohnt, wodurch sich die Häufigkeit des Auftretens erhöht • Negative Verstärkung aversive Reize, die ebenfalls das Auftraten des Verhaltens erhöhen, sofern sie ausbleiben • Kontinuirliche Verstärkung (positiv oder negativ) das Auftreten des Verhaltens wird immer verstärkt • 12 Partielle Verstärkung (positiv oder negativ) das Auftreten des Verhaltens wird erst nach einer Anzahl nicht-verstärkter Durchgänge wieder verstärkt • Zufallsabhängige Aufgabe (klassisches Muster nach SKINNER) • Kontinuirliche Verstärkung sorgt für eine sehr steile Lernkurve, aber auch für eine ebenso steile Löschungskurve (= Schnelligkeit mit der das Verhalten nach Ausbleiben der Belohnung wieder abgelegt wird). • Bei partieller Verstärkung geht das Verhalten weit weniger schnell wieder verloren. • Fähigkeitsbasierte Aufgabe (ROTTER ET. AL., 1961) • Versuche zeigten, dass Skinners klassisches Muster nur für Aufgaben gilt, die auf Zufall und Glück basieren; anders sieht es aus, wenn die Aufgabe sich an die Fähigkeiten der VP richten (z.B. motorische Geschicklichkeitsaufgabe) • Sehr steile Löschungskurve nach partieller Verstärkung • Sehr hohe Löschungsresistenz nach kontinuierlicher Verstärkung → Wird die Leistung subjektiv als von externen Faktoren abhängig (→ Zufall) eingeschätzt, so verliert man ohne Verstärkung schnell das Vertrauen in die Erfolgschancen (erneute Verstärkung), wenn die Verstärkung zuvor kontinuirlich durchgeführt wurde → Wird die Leistung auf die eigene Fähigkeit zurückgeführt, so verändert sich die Einschätzung der eigenen Fähigkeit nicht so schnell, wenn der Erfolg zuvor kontinuierlich verstärkt wurde. f) Einflüsse auf die Gegenwart • Die behavioristischen Lern- und Motivationstheorien sind vor allem bei der Erklärung grundlegender Formen der Verhaltenssteuerung nützlich, sowie der Entwicklung sozialer Lerntheorien • Die im Behaviorismus gepflegte Ignoranz gegenüber nicht operationalisierbaren Begriffen führt mitunter zu Reduktionismus. Bereits Skinner zeigte diese Übersimplifizierung des Menschen, indem er Willensfreiheit mit der Mechanik automatisierter Reaktionen gleichsetze. So ist laut Skinner bereits der Hustenreflex ein Zeichen für Willensfreiheit, da er die Lunge von Fremdkörpern befreie. • Die Forderung nach einer Psychologie, die nur operationalisierbare Begriffe kennt, hat die Entwicklung theoretischer Systeme stark behindert. 1.3. Verhaltensroutinen: Genau oder impressionistisch? a) Intuitive Verhaltenssteuerung • Ganzheitlich-parallele Verarbeitung sehr vieler Informationen in Echtzeit • So kann das Verhalten an viele Randbedingungen angepasst werden → Beispiel: Säuglinge erlernen das Greifen (gleichzeitige Berücksichtigung der eigenen Position, die Entfernung zum Objekt, Körperwahrnehmung, etc.) • Umfasst auch die Antizipation zukünftiger Zustände (Bsp.: das Verfolgen eines Objektes mit den Augen (tracking)) → Enorme Integrationsleistung (IVS leistet mehr Verarbeitungskomplexität als analytische Intelligenz) • Vgl. mit klassischen Computeralgorithmen, die der sequentiellen Logik der analytischen Intelligenz nachempfunden sind und modernen Herangehensweisen mit aNNs (artificial neural networks), die der IVS ähneln • Flexible Verhaltenssteuerung: Gewohnheiten, die nicht an feste Abläufe gebunden sind • Impressionistischer Charakter: das Liefern von Ungefährlösungen bei lückenhaften Informationen • In aNNs sind fehlende Informationen aufgrund der Fülle an Informationen und der parallelen Verarbeitung weit weniger schlimm, als in sequentiell arbeitenden Systemen • Vage und ungenau • Unbewusst • IVS wird nicht immer durch bewusste Reize ausgelöst und entzieht sich der bewussten Kontrolle – sie wird als spontan empfunden • Die begrenzte Verarbeitungskapazität des Bewusstseins würde gar nicht ausreichen, die Leistung der IVS zu bewerkstelligen • Die impliziten Reize, die die IVS „auslösen“, sind nicht als Objekt erfassbar und setzen sich aus vielen Einzelinformationen zusammen • 13 • Die IVS ist weitgehend unabhängig von bewusster Kontrolle einzelnen auslösenden Objekten Bedürfnissen und Anreizen rigiden Reaktionsgewohnheiten Empirischer Beleg der IVS (BARGH ET AL., 1996) • • • • • VL Beobachtung unabhängige Variable abhängige Variable Schlussfolgerung • Überblick Bargh et al. Priming auf Unhöf lichkeit erzeugt Unhöflichkeit Art des Primings Latenzzeit des unhöflichen Verhaltens IVS ist unabhängig Priming Die VP wurden in drei Gruppen eingeteilt Die VP der experimentellen Gruppe, sollten Sätze aus negativen Wörtern wie “aggressiv”, “unhöflich”, “rücksichtslos” bilden. So wurden die VP auf Unhöflichkeit geprimt (unterschwellige (subliminale) oder kurzzeitige Darbietung von verhaltenssteuernden Reizen – die Wörter waren nach dem Bilden der Sätze nicht länger bewusst). • Die anderen beiden VP-Gruppen wurden entweder nicht geprimt oder mit positiven Wörtern auf Höflichkeit geprimt. • Verhaltenstest • Der VL simulierte ein Gespräch mit einer anderen Person • Die VP der experimentellen Gruppe unterbrachen den VL viel häufiger bzw. mit viel geringerer Latenzzeit, als die übrigen Gruppen • Schlussfolgerung → Priming regt einfache Verhaltensroutinen an, ohne eine Involvierung höherer Formen der Verhaltenssteuerung. → Die IVS ist von diesen Formen der Verhaltenssteuerung unabhängig – sie wird durch implizite Reize ausgelöst. b) Objektwahrnehmung • Gestaltpsychologen lieferten erste Erklärungsversuche für die Objektwahrnehmung • Objekte entstehen in der bewussten Wahrnehmung durch die Integration viele Aspekte, die zunächst einzeln verarbeitet werden • Gesetz des gemeinsamen Schicksals (KOFFKA, 1935) • Kontaktprinzip: Oberflächen werden als miteinander verbunden wahrgenommen, wenn sie sich gemeinsam bewegen • Kohäsionsprinzip: Oberflächen werden als miteinander verbunden wahrgenommen, wenn sie auf dem gleichen Objekt liegen • feature integration • Theorie zum Ablauf der Zusammenführung von Merkmalen zu einem Objekt • In einem ersten Schritt werden die Merkmale (Größe, Farbe, etc.) unbewusst und parallel verarbeitet • Im zweiten Schritt, der (bewusste) Aufmerksamkeit erfordert, werden die zu einem Objekt gehörenden Merkmale zusammengefügt • Die Objektwahrnehmung hat Gemeinsamkeiten mit der bewussten Zielsetzung und dem Planen (siehe Kapitel 6 und 7) • sequentieller Charakter • Analyse und Abstraktion → das Zusammenfügen der einzelnen Merkmale ist eine Abstraktion, die das Objekt vom Kontext abhebt → allerdings ist die Integrationsleistung der Objektwahrnehmung im Gegensatz zu der von Denken und Planen in den seltensten Fällen rückgängig zu machen; Merkmale die zu einem Objekt verschmolzen sind, können nicht automatisch wieder einzeln wahrnehmbar werden • Objektwahrnehmung ist objektiv – sie wird nicht durch Ziele, Wünsche oder Erwartungen beeinflusst • • 14 • Sind Depressive mehr in der Objektwahrnehmung? (ALLOY & ABRAMSON, 1979) VL Beobachtung unabhängige Variable abhängige Variable Schlussfolgerung Überblick Alloy & Abramson Depressive haben bessere Kontrollerw artung Einteilung: Depressive und Nicht-Depressive subjektive Kontrollerw artung Wünsche beeinflussen die Wahrnehmung VP hatten die Aufgabe ein Licht zum Aufleuchten zu bringen, dies konnte durch Drücken oder Nichtdrücken einer Taste funktionieren – die VP sollten herausfinden, wie sehr das Aufleuchten durch Drücken oder Nichtdrücken kontrollierbar war • Tatsächlich hatten die VP keine wirkliche Kontrolle über das Aufleuchten, es folgte einem festgelegten Schema: das Licht leuchtete unabhängig von der Aktion der VP (Drücken oder Nichtdrücken) entweder in 25% oder in 75% aller Fälle auf. • Nichtdepressive VP überschätzten ihren Einfluss auf das Aufleuchten, wenn dies häufig (75%) erfolgte wesentlich stärker als bei dem sporadischerem Aufleuchten (25%) • Depressive VP hatten eine viel bessere Kontrollerwartung → Depressive lassen sich nicht so stark von ihren eigenen Wünschen leiten. Dies ist auf den blockierten Zugang zum integrierten Selbst zurückzuführen (siehe Kapitel 7) → Wünsche verzerren die Wahrnehmung • Bestätigung des Befundes (GOLLWITZER & KINNEY, 1989; PUCA,2001; BECKMANN & KUHL, 1984) • VP trauten sich in einer planenden Bewusstseinslage (Entscheidung ist bereits getroffen, Umsetzung wird geplant) schwierigere Aufgaben zu und schätzten Erfolgschancen höher ein, als in einer abwägenden Bewusstseinslage (objektives Abwägen von Entscheidungsalternativen) • nach Entscheidung wird die gewählte Alternative aufgewertet. Nutzen dieses Aufwertungseffekts: Steigerung der Motivation für die gewählte Aufgabe • Dominanz • Alle Merkmale, die nicht zum gerade vorherrschenden Objekt gehören, werden unterdrückt • Die bewusst wahrgenommene Objektgestaltung schließt eine andere Gestaltung solange aus, bis diese andere die Vorherrschaft über das Bewusstsein erlangt c) Objektwahrnehmung und Verhaltenssteuerung • Genaue und sequentielle Verhaltenssteuerung, die an einzelne Objekte gebunden ist • Rigide und unflexibel → Pathologische Fixierung auf diese Form der Verhaltenssteuerung führt zu Zwangserkrankungen. Auffällig an Patienten ist hierbei die erhöhte Aktivität der Basalganglien: eine Gruppe subkortikaler Nuclei, die mitunter an der Ausführung automatisierter Verhaltensroutinen beteiligt sind (SCHWARTZ ET AL., 1996). • Gesetz der spezifischen Determination (ACH, 1935) • Wird eine Handlungsabsicht an eine konkrete Auslösebedingung geknüpft , wird sie viel zuverlässiger ausgeführt. • Die Auslösebedingungen sind Objekte: die Handlungsabsicht wird also an bewusste Wahrnehmungsinhalte gekoppelt (nicht implizite) • Die Konkretisierung bringt nicht nur Vorteile (→ Steigerung der Ausführungswahrscheinlichkeit) mit sich → Wird eine Bedingung unabsichtlich verletzt, sinkt die Umsetzungsstärke rapide (z.B.: der Plan um 9 Uhr einkaufen zu gehen, wird durch einen Telefonanruf um 9 Uhr gestört. Nach dem Telefonat ist die Handlungsabsicht eventuell bereits vergessen worden). • Diese Durchführungsintentionen bedürfen nicht einmal mehr der willentlichen Kontrolle → VP mit Läsion im PFC (→ Beeinträchtigung zentraler Selbststeuerungsfunktionen) zeigten während einer Go/No-go-Aufgabe3 eine Beschleunigung der Reaktionsinitiierung • Schlussfolgerung: automatisierte Verhaltensroutinen können an bewusste Vorstellungen von konkreten Auslösebedingungen geknüpft werden. • 3 Bei einer Go-No Go Aufgabe soll der Proband nur auf einen von zwei wiederkehrenden Reizen reagieren. Für gewöhnlich wird mit einer solchen Aufgabe die Fähigkeit zur Unterdrückung einer nicht-adäquaten Reaktion untersucht/getestet. 15 Verbindung der Objektwahrnehmung mit der IVS Höhere Koordinationsprozesse (Selbststeuerung, etc.) setzen Aufmerksamkeitsfilter, die auf einer elementaren Wahrnehmungsebene intentionsrelevante Merkmale hervorheben → VP sollten zwischen Nichtwörtern und Wörtern unterscheiden. Die Entscheidung wurde viel schneller getroffen, wenn die Wörter sich auf vorher gebildete Handlungsabsichten der VP bezogen. Diese Verkürzung der Reaktionszeit ist dabei zu kurz, als dass sie durch bewusste Prozesse hätte vermittelt werden können (AARTS ET AL., 1999) • Die Ausführungsbedingungen (also die wahrzunehmenden Objekte) werden vom expliziten Format des Vorsatzes in das implizite Format der IVS transportiert • Die Genauigkeit und Zuverlässigkeit dieses Systems beruht auf der bewussten Herkunft des zu erreichenden Ziels: da das Ziel durch die bewusste Objektwahrnehmung gebildet wurde, ist es klarer formuliert, als Ziele die rein intuitiv entstehen d) Neurobiologischer Hintergrund Die beiden Arten grundlegender Verhaltenssteuerung sind an zwei unterschiedliche Wahrnehmungssysteme gekoppelt • Objektorientierung: ventrales “Was”-Wahrnehmungssystem • bewusst • visuell: V1, V2, V4, inferiortemporale Areale • Objekterkennung (inferiortemporale Areale) [und Farbwahrnehmung (V4)] • vom subjektiven Kontext abgelöste objektive Wahrnehmung • Wiederankopplungsprozess zwischen Objektwahrnehmung und tatsächlicher Verhaltenssteuerung erforderlich • IVS: unbewusstes sensu-motorisches Wahrnehmungssystem • Das dorsale “Wo?”-Wahrnehmungssystem ist maßgeblich an der IVS beteiligt • visuell: V1, V2, MT, intraparietale Regionen • räumliche Wahrnehmung (MT – middle temporal), Aufmerksamkeit (PPC – Posterior parietal cortex), auch frontale motorische Areale, [Bewegungserkennung (MT), sowie sensorimotorische Integration und Einfluss auf das Arbeitsgedächtnis (PFC)] • intuitives, egozentrisches Wahrnehmungssystem • Unmittelbarer Zugriff auf Verhaltenssteuerung → Wiederankopplung nicht erforderlich, da die impliziten Kontextrepräsentationen bereits Teil eines senu-motorischen Netzwerks sind • Neglect: Vernachlässigung der kontraläsionalen Körperhälfte (BISIACH ET AL., 1990) • Patienten haben die Aufgabe auf einer horizontalen Linie die Hälfte mit einem Zeiger zu markieren, indem sie den Zeiger von einem Endpunkt auf die Mitte zubewegen • Da die kontraläsionale Körperhälfte vernachlässigt wird, wird die kontraläsionale Hälfte der Linie als viel kürzer empfunden, was dazu führt, dass die Hälfte der Linie von den Patienten viel weiter in Richtung der ipsiläsionalen Seite markiert wird • Dieser Effekt ist deutlich reduziert, wenn die Patienten den Zeiger nur durch Handbewegungen in die entgegengerichtete Richtung kontrollieren konnten, wenn also eine an der Handlungssteuerung beteiligte unbewusste Wahrnehmungskomponente hinzugeschaltet wird • visuelle Objektagnosie (Läsion des ventralen Systems, GOODALE & MILNER, 1992) • Patientin war nicht in der Lage ein Glas, das vor ihr stand, zu erkennen oder ihre Finger entsprechend der Größe des Glases zu spreizen • Wurde sie aber gebeten nach dem Glas zu greifen, spreizten sich automatisch ihre Finger in der Distanz, die der Breite des Glases entsprach → Es existieren zwei verschiedene Wahrnehmungssysteme → Das bei der Patientin intakte dorsale System ist verantwortlich für die Spezifikationen der Handlungsdurchführung (Idee: “Wie” statt “Wo” System) 1.4. Emotion: Objekterkennung und intuitive Verhaltenssteuerung a) Allgemeines • Verhaltenssteuerung auf der Ebene der Gewohnheiten funktioniert ohne Emotionen und Stimmungen; dennoch gibt es enge Verflechtungen • Die Benennung einer Emotion ist im Grunde eine Form der Objekterkennung • Emotionen sind sehr komplexe Muster körperlicher, kognitiver, situativer und verhaltenssteuernder Merkmale • • 16 Ihre Benennung / ihre Repräsentation erfordert Parallelverarbeitung → Es müsste einen natürlichen Zusammenhang zwischen IVS und Emotionen geben → Tatsächlich sind Emotionen ein Stück weit Beispiele für die IVS (Freude ist verbunden mit automatisch abrufbarem Aufsuchungsverhalten, Furcht mit Fluchtverhalten, etc.) (FRIJDA, 1986) • IVS wird durch positiven Affekt gebahnt • Positive Stimmung erleichtert intuitives Verhalten → Die Feinabstimmung von Mutter-Kind Interaktionen scheint besser zu gelingen, wenn Mutter und Kind in positiver Stimmung sind (PAPOUŠEK & PAPOUŠEK, 1987) • Das Aufgehen in einem intuitivem Verhalten steigt die positive Stimmung → Ahmt man das intuitive Ausdrucksverhalten von VP unauffällig nach, entsteht Sympathie und die soziale Interaktion wirkt flüssiger (CHARTRAND & BARGH, 1999) • Plausibel, da man es sich in positiver Stimmung (also frei von Bedrohung, etc.) leisten kann auf alle Kontextaspekte der Verhaltenssteuerung zu achten. • Umgekehrt ist man in einer etwa durch Gefahr induzierten negativen Stimmung auf die zuverlässige Fokussierung der Gefahr oder einen anderen zu vermeidenden Aspekt angewiesen • Flow (CSIKZENTMIHALYI, 1975) • Während man Handlungen ausführt, die auf dem ganzheitlichen Wahrnehmen beruhen (Klavirspielen, Tennisspielen), ist es nachteilig, wenn man sich einseitig auf die bewusst wahrnehmbaren Einzelheiten konzentriert. Der Fokus auf die Objektwahrnehmung unterdrückt viele Wahrnehmungsaspekte, die für die Handlung wichtig sind • Es gilt der Intuition zu vertrauen. • Wenn dies gelingt, erhöht die IVS den positiven Affekt – ein objektvergessenes Fließen entsteht b) Intuitives Verhalten und Stimmung • Begriffe • Affekt ist der Oberbegriff für Stimmung und Emotion • Emotionen sind kürzer und intensiver als Stimmungen (“Figuren im bewussten Erleben”, MORRIS) • Stimmungen wirken globaler und diffuser als Emotionen (“Hintergrund des bewussten Erlebens”, MORRIS) • Zusammenhänge mit dem intuitivem Verhalten • Stimmungen werden intuitiv erlebt – sie färben eher den Hintergrund unseres Bewusstseins ein als bewusst hervorzutreten • Unbewusstheit Stimmungen haben meist keinen (expliziten) Auslöser, was sich in ihrem langsamen Entstehen bemerkbar macht (Emotionen entstehen blitzschnell auf einen Auslöser hin) • Vagheit und Flexibilität Stimmungen lassen sich nicht in Kategorien einteilen (→ vgl. mit den Basisemotionen, 1.4c)) • Parallelität die Gesamtstimmung resultiert aus einer ganzheiltlichen und kumulativen Integration von einzelnen Stimmungen, die die positive oder negative Valenz einer Komponente angeben (CACIOPPO ET AL., 1999) • Weitere Aspekte • Langzeitwirkung & Zusammenhang zwischen Stimmungen und positivem Affekt Stimmungen halten über Stunden hinweg an. Eine Stimmung kann sogar über Tage hinweg stetig ansteigen (→ Nähe zum Wochenende) oder jahreszeitenabhängig sein (in vielen Menschen erreicht positiver Affekt im Frühjahr seinen Hoch- und im Winter den Tiefpunkt. Ähnliche Schwankungen für den negativen Affekt sind nicht bekannt (SMITH, 1979).) → pathologische Übersteigung des Wintertiefpunkts – Winterdepression (SAD): Lustlosigkeit und Niedergeschlagenheit ausgelöst durch Verlust des positiven Affekts (HIGGINS, 1987; WATSON & CLARK, 1992) • Emotionsansteckung • Emotionen können ohne bewusste Kontrolle durch ihr Wahrnehmen bei anderen hervorgerufen werden • Das Beobachten aggressiven Verhaltens von Kindern mit Aggressionsneigung löst in ihnen selbst aggressives Verhalten aus (DODGE & CRIK, 1990) • 17 Erklärungsversuch mit Objektwahrnehmung scheitert: emotionale Ansteckung ist auch bei Neugeborenen beobachtbar. Wie sollen sie in der Lage sein einen bestimmten Gesichtsausdruck (als Repräsentation für die Emotion) zu identifizieren und dann auch noch dieser Objektwahrnehmung die passenden motorischen Prozesse zuzuordnen, die die Repräsentation der Emotion nachahmen? → Emotionale Ansteckung und Nachahmung sind Formen der IVS • Hier ist eine Erklärung möglich: Babys werden mit genetisch vorbereiteten sensu-motorischen Programmen geboren. Die unbewusste Wahrnehmung verhaltensrelevanter Kontextmerkmale ist Teil sensu-motorischer Prozesse (→ 1.3d)) • Selbstrepräsentation in der IVS • Experimente bezüglich der Mutter-Kind-Interaktion haben gezeigt, dass bereits Säuglinge über eine kognitive Repräsentation des eigenen emotionalen Ausdrucksverhaltens verfügen, die ebenfalls die Reaktionszeit der Mutter beinhaltet. • Dies lässt sich zeigen, indem man Mutter und Kind trennt und die Interaktion über Monitore stattfinden lässt, während sich Mutter und Kind in verschiedenen Räumen befinden. Verzögert man die Übertragung der Reaktion der Mutter um Sekundenbruchteile, beginnt das Kind zu quengeln → Das Kind kennt intuitiv das eigene Signal und hat eine Erwartung mit welcher Verzögerung die Reaktion der Mutter erscheinen wird. c) Objektwahrnehmung und Emotion • Emotionen können blitzschnell durch ein Objekt ausgelöst werden (Unfall, stinkende Speise, etc.) • Sie lassen sich in klar abgrenzbare verbale Kategorien einteilen • Zusammenhänge mit der Objektwahrnehmung • Kontextbefreitheit eine Emotion kann wie ein Objekt vom Kontext unabhängig identifiziert werden. So können konsistente Reaktionen an die Emotion geknüpft werden. • Zuverlässigkeit die Zuverlässigkeit der Objektwahrnehmung ist besonders in Situationen entscheidend, die von negativen Emotionen begleitet sind (→ Gefahrensituationen) • negative Valenz von Objekten hat man mit einem Objekt vermeidungswürdige Erfahrungen gemacht, ist es umso wichtiger es wiederzuerkennen • Unauflösbarkeit Wie Objekte können Emotionen nicht beliebig in ihre Komponenten zerlegt und dann neu zusammengesetzt werden • Weitere Aspekte • Zusammenhang zwischen Emotionen und negativem Affekt • Emotionen sind für die Objektwahrnehmung am wichtigsten, wenn sie negativer Natur sind und Gefahr o.ä. signalisieren • es gibt mehr Kategorien für negative als für positive Emotionen (PLUTCHIK, 1980) • dennoch kann sich die Objektwahrnehmung mit positiven Emotionen verbinden, auch wenn das Anstreben solcher positiv valenzierter Objekte meist bedeutet, dass das Erreichen des Objekts nicht selbstverständlich oder gefährdend ist. • Basisemotionen → Freude, Furcht, Ärger, Traurigkeit, Ekel, Liebe und Überraschung (JOHNSON-LAIRD & OATLY, 1989; SHAVER ET AL., 1987) • Evolutionsbiologische Funktion (etwa: Furcht → Vermeidung, Freude → Reproduktion) • Mimik kulturübergreifend konnten große Übereinstimmungen in der Identifikation von Emotionen durch Merkmale der Gesichtsmimik aufgezeigt werden • Jedoch können verschiedene Personen mit dem gleichen Begriff für eine Emotion auf jeweils verschiedene Muster physiologischer, kognitiver und verhaltensseitiger Merkmale verweisen. In Kurz: Es ist nicht sichergestellt, dass Personen, die denselben Begriff verwenden, auch dasselbe meinen. • Emotionale Reaktionen können durch das Konditionieren erlernt werden: die Kontiguität eines neutralen Reizes zu einem Angst induzierendem Reiz belegt den neutralen Reiz • 18 selbst mit einer Furchtreaktion → Kleiner Albert • CS weiße Ratte durch zeitliche Nachbarschaft mit UCS lauter Hammerschlag • Ließ therapeutische Idee der Gegenkonditionierung aufkommen: das Verknüpfen eines Angstreizes an neutrale oder positive Reize • Idee ist nicht sehr vielversprechend, andere Therapieformen verhelfen zu wahrer Bewältigung und Selbstwachstum (→ 7.4) 1.5. Anwendung: Psychodrama, Erkenntnisphilosophie und die kluge Else a) Räumlichkeit • Die IVS ist mit ihrer Kopplung an das dorsale Wahrnehmungssystem mit der räumlichen Aufmerksamkeit verknüpft. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Verhaltenssteuerung von einer Spezifizierung räumlicher Parameter abhängt und letztendlich in einer Handlung resultiert, die man zumeist auch als intendierte Bewegung im Raum auffassen kann • Soziale Beziehungen werden ebenfalls in räumlichen Koordinaten repräsentiert • Psychodrama Wenn Menschen Bezugspersonen räumlich zueinander darstellen sollen, haben sie meist eine gute Vorstellung von einer Distanz, die gut zur Beziehung des jeweiligen Menschen passt (MORENO, 1989) • Menschen mit Läsionen in den Bereichen des Gehirns, die für die räumliche Aufmerksamkeit verantwortlich sind (parietaler Cortex, POSNER & ROTHBART, 1992), fehlt die Eigenschaft zur Empathie (KOLB & W ISHAW, 2003) b) Philosophie • Intuitive Wahrnehmung der Umgebung wird mit Fortbewegung assoziiert (Schöpfungsmythen über wandernde Wesen, die Merkmale der Umgebung benannten; Spazierengehen als Mittel gegen Ängste und Depressionen) → An Handlungsausführung gebundene Erkenntnisform • Descartes machte aus der Objekterkennung den Maßstab der wahren Erkenntnis (“Wenn das Wachs einer Kerze unter Hitze Form, Konsistenz, etc. verändert, was ist dann das 'wahre' Wachs?” – auf der Suche nach kontextbefreiten Objekten, die immer wieder identifiziert werden können) • Rituale • Archetypen C. G. Jungs • In Menschen angelegte Urbilder des Lebens • Beispiele für die intuitive Wahrnehmungswelt • Die Archetypen sind dann erfahrbar, wenn Menschen ritualisiertes Verhalten ausüben • Jung zeigte, dass der Kontakt zu den in den Archetypen enthaltenen Urerfahrungen Menschen helfen kann, zu sich selbst zu kommen • Rituale sind “psychische Akkus” • Gesunde Rituale, also Rituale die nicht Zwängen gleichkommen, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Selbstkontakt haben • Werden Rituale mit einem persönlichen Sinn verbunden, sind sie in der Lage den Kontakt zum Selbst herzustellen → In Phasen guten Selbstkontaktes werden Rituale mit persönlichem Sinn und Bedeutung “geladen” und in regressiven Phasen “entladen”, damit wir den Selbstkontakt nicht verlieren c) Märchen – Die kluge Else • Das Erblicken einer Kreuzhacke löst in Else eine regelrechte Panikattacke aus, da sie befürchtet die Hacke könnte – sofern sie jemanden heiratet, ein Kind mit ihrem Mann hat und das Kind zum Bierholen geschickt wird – ihr Kind erschlagen • Angst induzierte Mechanisierung des Verhaltens nimmt Überhand – Zwanghaftigkeit → Denken und Handeln verliert den Bezug zur Realität → Auseinandersetzung mit Ängsten, etc. wird durch automatisch-mechanischer Denkund Verhaltensroutinen verhindert → Zugang zum integrierten Selbsterleben ist erschwert • Zwangssymptome beruhen darauf, dass die Verhaltenssteuerung nicht mehr davon beeinflusst wird, ob Handlungen oder ihre Ergebnisse Interesse und Neugier wecken, ob sie den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechen und ob sie allgemein als sinnvoll erachtet werden 19 Kapitel 2: Temperament 20 2. Temperament Impulsives Verhalten und Erregungsregulation • Temperament ist eine globale Motivationsquelle, die Emotionen und Verhalten energetisiert, ohne aber nur situationsblind ständig Energie für Handlungen zu liefern • Das globale Erregungsniveau Es steigt an, wenn Unerwartetes auftaucht und sorgt damit für Neugier und Explorationsverhalten, die darauf ausgerichtet sind sich das Neue vertraut zu machen, sodass das Erregungsniveau auf ein mittleres angenehmes Level zurückfallen kann. • Die Richtung der Emotion oder des Verhaltens, also das Anreizobjekt, das Ziel oder der Sinn werden von höheren Stufen der Verhaltenssteuerung geliefert • Die in Kapitel 1 beschriebenen Gewohnheiten werden aus einer unspezifischen Motivationsquelle gespeist. • Hull bezeichnete diese Quelle mit D (drive; siehe 1.2c)). Er war der Ansicht, dass Bedürfnisse und Anreizmomente das allgemeine Triebniveau erhöhen. • ARAS – Aufsteigendes Retikuläres (= netzwerkartiges) Aktivierungs-System (MORUZZI & MAGOUN, 1949) • Psychophysiologischer Grundlage für diese Triebstärke • Es handelt sich um ein Netzwerk von Neuronen, dass von Sinneswahrnehmungen energetisiert wird und rückwirkend die sensorischen und motorischen Zentren energetisiert • Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen zwei Varianten der Verhaltenssteuerung • Motorische Aktivierung → Erhöht Handlungsbereitschaft → Erhöht positiven Affekt (falls vorhanden) → Aktiviert Ziele (falls vorhanden) • Sensorische Erregung → Senkt Wahrnehmungsschwellen (in der Objektwahrnehmung) und intensiviert damit das Erleben → Intensiviert Selbstwahrnehmung → Erhöht negativen Affekt (falls vorhanden) • Negativer Affekt führt aus der Handlung heraus in das Erleben hinein • E-motion: aus der Bewegung herausführen • Die Gesamtaktivität dieser beiden Abteilungen wird an alle Hirnregionen verteilt, die für Handlungsvorbereitung und -durchführung bzw. Wahrnehmung und Erleben verantwortlich sind. • Dies betrifft alle Systemebenen • Die Neuromodulatoren Dopamin und Noradrenalin (siehe 0.3c)) sorgen für die Modulation durch Aktivierung und Erregung auf allen Systemebenen. Abb 2.1 21 2.2. Geschichte: Pawlow, Eysenck, Berlyne a) Pawlow • Für Pawlow war sensorische Erregung ein verhaltensaktivierendes globales Konstrukt • Pawlow fielen bei seinen Konditionierungsversuchen mit Hunden individuelle Unterschiede der Hunde im Bereich des allgemeinen Erregungszustandes und in der Labilität des Nervensystems auf • Um dies näher zu untersuchen induzierte er eine experimentelle Neurose • Auf einen Reiz wurde eine bahnende Reaktion konditioniert (z.B. Futter) • Auf einen sehr ähnlichen Reiz wurde eine hemmende Reaktion konditioniert (z.B. keine Futtergabe) • Diese konträren Reize wechselten sich schnell ab • Pawlow entdeckte vier verschiedene Typen, die sich an die klassische Unterscheidung zwischen vier Temperamenten knüpfen lassen • Erregungstyp [ + |(-)]: auf positiven (bahnenden) Reiz konditionierte Reaktion überwiegt (cholerisch) • Hemmungstyp [(+)| - ]: auf neg. (hemmenden) Reiz konditionierte Reaktion überwiegt (melancholisch) • schwerfällig-ruhiger Typus [(+)|(-)]: beide Reaktionen bleiben erhalten (phlegmatisch) • lebhaft-neugieriger Typus [ + | - ]: beide Reaktionen bleiben erhalten (sanguinisch) b) Eysenck • Entwickelte die Big Three • Extraversion – Erregbarkeit des Nervensystems • Neurotizismus – Labilität des Nervensystems • Psychotizismus – Antisoziale und egoistische Persönlichkeit • Weiterentwicklung zu den Big Five (MCCRAE & COSTA, 1987)4 • Extraversion (Extraversion – kontaktfreudig & lebenslustig) • Neurotizismus (Neuroticism – ängstlich & überempfindlich) • Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness – ordentlich & besonnen) • Liebenswürdigkeit (Agreeableness – friedfertig & gutmütig) • Offenheit für Erfahrung (Openness – phantasievoll & gebildet) • Idee: die drei bzw. fünf Faktoren stellen die verschiedenen Grundlagen für persönlichkeitsrelevante Adjektive dar; sie sind quasi die Primzahlen der Persönlichkeit, aus deren Kombination alle anderen Adjektive resultieren • Eysenck verwendete Pawlows Begriffe der Labilität und Erregbarkeit des Nervensystems, berücksichtigte allerdings nicht die Unterscheidung zwischen motorischer Aktivierung und sensorischer Erregung • Es gibt ein mittleres Erregungsniveau, das als angenehm empfunden wird • Extravertierte sind impulsiver und aktiver, da sie generell ein niedriges Erregungsniveau haben, welches sie hochregulieren wollen (hohe Aktivierung, niedrige Erregung) • Introvertierte hingegen meiden Aufregungen und andere Situationen die das ohnehin schon erhöhte Erregungsniveau des Hirnstamms noch weiter erhöhen (niedrige Aktivierung, hohe Erregung) • Bestätigung Eysencks Annahmen zur Extraversion (GEEN, 1984) VL Beobachtung unabhängige Variable • • • • Überblick Geen Introvertierte haben erhöhte Herzrate bei Lautstärke Extrovertierter (und vv.) Einteilung in Introvertierte & Extrovertierte; Lautstärke abhängige Variable Herzrate Schlussfolgerung Introvertierte haben erhöhtes Erregungsniveau VP wählten selbst Lautstärke eines Hintergrundgeräusches Introvertierte und Extravertierte haben eine etwa gleich starke Herzrate von 75 Schlägen pro Minute Allerdings wählten Introvertierte eine geringere Lautstärke als Extravertierte Hat der VL die Lautstärke hingegen so eingestellt, dass die Lautstärke für einen 4 Die (englischen) Anfangsbuchstaben der Big Five lassen sich zu „ocean“ umstellen – fürs bessere Merken :) 22 Introvertierten der von einem Extravertierten entsprach (und umgekehrt), ergab sich bei den introvertierten VP eine signifikante Hebung der Herzrate auf 85 Schläge/Minute und bei den extravertierten VP eine signifikante Senkung der Herzrate auf unter 70 Schläge/ Minute • Kritik an Eysenck • Andere Befunde (→ MATTHWES ET AL., 1990) unterstützen die These, dass das Erregungsniveau Introvertierter nicht global erhöht ist. Es sei also nicht richtig, dass sie zu jeder Tageszeit und in jeder Situation ein erhöhtes Erregungsniveau haben; vielmehr beruhe die Introversion neben hohem Erregungsniveau auch auf hoher Bestrafungssensibilität. • Eysenck postulierte eine negative Korrelation zwischen Extraversion und Erregbarkeit • Überprüfung dieser Behauptung (MATTHWES ET AL., 1989) • Eine positive Korrelation wurde zwischen der Extraversion und einem Maß für Erregbarkeit gefunden, was Eysenck widerlegen soll • Allerdings handelte es sich bei dem Maß für Erregbarkeit tatsächlich um einen Kennwert für motorische Aktivierung, nicht sensorische Erregung • Damit bestätigten sie sogar Eysencks Postulat, was allerdings auf einer Varianz von nur 5% zwischen Extraversion und Aktivierung beruht (Eysenck postulierte neben der geringen Erregung eine hohe Aktivierung für Extravertierte) → Es ist wichtig darauf zu achten wie Begriffe operationalisiert werden! • Eysenck war auf wissenschaftliche Sparsamkeit bedacht und beschränkte sich auf nur drei Persönlichkeitsfaktoren • Dies erreichte er durch eine großzügige Faktorenanalyse • Bei einer Faktorenanalyse werden Faktoren aus einer Korrelationsmatrix gebildet. Und zwar bilden die (Persönlichkeits-)Merkmale, die stärker miteinander korrelieren als mit anderen Merkmalen, einen Faktor • Geht man dabei wie Eysenck großzügig vor, fasst man auch Merkmale, die nicht so stark miteinander korrelieren, bzw. die einen nicht so deutlichen Korrelationsabstand zu anderen Merkmalen haben, zu Faktoren zusammen. • Das resultierende Persönlichkeitsmodell Eysencks war zwar sehr einfach, entpuppte sich aber als Vereinfachungsillusion • Die Nachteile seiner Übersimplifizierung zeigen sich auch in der Unterscheidung zwischen Extraversion und Introversion: diese Unterscheidung vernachlässigt andere Kombinationen aus Aktivierung und Erregung (hohe bzw. niedrige Aktivierung und Erregung). Nur die häufigsten Kombinationen wurden zu festen Faktoren zusammenfügt; der Rest wurde vernachlässigt. c) Berlyne • Leitfrage Berlynes: Wann wird die Aufmerksamkeit aufgesetzt, was sind die motivationalen Bedingungen der Aufmerksamkeitszuwendung? • Ähnliche Hypothese wie bei Eysenck: Es gibt ein mittleres Erregungsniveau, dass als optimal und angenehm empfunden wird • Theorie der Ästhetik • Kunstwerke bieten ein Wechselspiel zwischen Beruhigung und Erregung • Der Betrachter / Hörer richtet auf die Teile des Kunstwerks die größte Aufmerksamkeit, die bei ihm das mittlere Erregungsniveau nicht allzu deutlich verlassen • Hypothese der Einflussfaktoren, die auf die Erhöhung des Erregungsniveaus einwirken • Es ist nicht der Fall, dass alle Reize gleichermaßen das Erregungsniveau erhöhen • besonders stark wird das Erregungsniveau von Ungereimtheiten, Erwartungsverletzungen, komplexen Wahrnehmungsvorlagen und Überraschungen in der Wahrnehmungswelt erhöht. • VP betrachteten Vorlagen länger, wenn sie Diskrepanzen enthalten (z.B. ein Auto mit Löwenbeinen anstelle von Hinterrädern • Berlyne vermutete, dass die VP die längere Inspektionszeit nutzten, um sich das Objekt vertrauter zu machen, was die Diskrepanz reduziert • Die Inspektionszeit wurde für Berlyne zu einem Maß der spezifischen Neugierde (die Tendenz ein neuartiges Gebilde näher zu explorieren bis es vertraut ist) • So löst der Reiz, der zu Beginn zu viel Erregung bot, nun das optimale Erregungsniveau aus oder wirkt bei noch längerer spezifischer Exploration beruhigend oder gar langweilig • Eine zweite Art von Neugierde – die “diverse Neugier” – besteht aus der spontanen Exploration der Umgebung 23 Allerdings unterschied Berlyne nicht zwischen motorischer Aktivierung und sensorischer Erregung. Man kann die zwei Arten der Neugierde an die beiden Komponenten des Temperaments knüpfen: Hinter der diversen Neugier steckt die motorische Aktivierung, die aus der unspezifischen Aktivierung von Verhaltensroutinen heraus diese Form der Neugier steigert. Die sensorische Erregung ist verantwortlich für die spezifische Neugier, da die Intensivierung der Objektwahrnehmung die Exploration spezifischer Objekte erhöht d) James & Cannon • Wir sind traurig, weil wir weinen (JAMES-LANGE) • Die körperlichen Anzeichen von Emotionen (z.B. flaues Gefühl im Magen, Unterbrechung des Atemrhythmus) sind die Ursachen für Emotionen • Beispiel: Angst • Sobald ich merke, dass mein Herz schneller schlägt, entsteht das Gefühl der Angst • die Rückmeldungen des Körpers und das Verhalten (verkrampfte Lippen, Flucht vor einem Verfolger) sind die Angst • Die Theorie ist nicht plausibel. Sie impliziert, dass es für jede Emotion ein charakteristisches Muster physiologischer Merkmale gibt. Dies ist jedoch empirisch nicht bestätigt. → Im Experiment induzierte Freude (durch freundlichen VL, positive Rückmeldung) unterschied sich in den 14 physiologischen Variablen nicht von der Kontrollbedingung (Zahl-Zuordnungsaufgabe). Alte Befunde von anderen Emotionen (Furcht, Ärger) konnten nicht repliziert werden; teilweise sogar gegensätzliche Ergebnisse (STEMMLER, 1989) → Eine Patientin mit kompletter Lähmung der Gesichtsmuskulatur zeigte keinerlei Beeinträchtigung des emotionalen Erlebens und verfügte auch über empathische Fähigkeiten (KEILLOR ET AL., 2002) • Allerdings existieren auch Befunde, die nahelegen, dass physiologische Veränderungen Emotionen erzeugen (STRACK ET AL., 1988) • VP sahen einen Cartoon während sie einen Bleistift zwischen den Zähnen hielten (Mundstellung soll Lächeln ähneln) • Sie empfanden den Cartoon mit Bleistift zwischen den Zähnen lustiger als in der Kontrollbedingung: das halten des Bleistifts in der nichtdominanten Hand • Der Cartoon wurde weniger lustig bewertet, wenn die VP den Bleistift zwischen den Lippen hielten (was einen am Lächeln beteiligten Muskel hemmte) → Offensichtlich eine Folge reziproker Verbindungen im Gehirn: Emotionen lösen physiologische Prozesse aus und werden umgekehrt auch von ihnen beeinflusst (KUHL, 1983) • Wir weinen, weil wir traurig sind (CANNON-BORD) • Notfallreaktionstheorie • Emotionen sind zentralnervöse Zustände, die erlebbare physiologische Auswirkungen haben • Diese Auswirkungen bereiten den Körper auf die erwarteten Anforderungen vor (z.B.: Ärger und Furcht erzeugen Flucht- oder Kampfverhalten) 2.3. Globale Energie: Aktivierung und Erregung a) Temperament – Definitionen • Oberbegriff für sensorische Erregung und motorische Aktivierung • Alltagssprache: Jemand hat Temperament, wenn er impulsiv und spontan ist • Literatur: “Temperament definiert sich durch persönlichkeitsrelevante Merkmale, die genetisch verankert sind.” Demzufolge wäre Intelligenz Teil des Temperaments • STRELAU, 1983: Temperament nennt man die grundlegenden und stabilen Persönlichkeitsmerkmale, die den formalen Aspekt des Verhaltens ausmachen (→ zeitliche und energetische Komponente). → Keine Unterscheidung zwischen sensorischer Erregung und motorischer Aktivierung b) Trennung von Aktivierung und Erregung • Motorische Akivierung und sensorische Erregung beruhen auf neuroanatomisch, biochemisch und funktional unterschiedlichen Teilsystemen des Gehirns (PRIBRAM & MCGUINESS, 1975 & 1992) • Die motorische Aktivierung bahnt die Verhaltensbereitschaft und die sensorische Erregung die Wahrnehmungsbereitschaft; beide mit jeweils eigenen Neurotransmittern • 24 Trennung experimentell & empirisch bestätigt • Erhöhung der sensorischen Erregung beeinflusst motorische Bereitschaftspotentiale nicht (HACKLEY & VALLE-INCLAN, 1998) • Faktorenanalyse von Selbsteinschätzungen ergab vier Faktoren, die je zwei komplementäre Pole der beiden Komponenten bildeten (globale Aktivierung, Deaktivierung, Erregung, Entspannung; THAYER, 1967) • Es existieren Schwierigkeiten beim Zuordnen von subjektiven Zuständen zu psychophysiologischen Kennwerten • Einerseits konnten einheitliche Änderungen von Kennwerten wie Herzrate oder Muskelspannung in Abhängigkeit von Aktivierungsbedingungen festgestellt werden (SCHNORE, 1959) → Idee eines globalen Erregungskonzeptes • Andererseits gibt es Dissoziationen zwischen einigen Kennwerten. Während zum Beispiel bei allen Aufgaben eines Experimentes die Hautleitfähigkeit anstieg, erhöhte sich die Herzrate nur bei einigen von ihnen und sank bei den verbleibenden. Die VL folgerten eine Dissoziation zwischen Herzrate und Hautleitfähigkeit (LACEY & LACEY, 1970) → Dieser Befund lässt sich vielleicht sogar mithilfe einer näheren Analyse der Aufgaben erklären: Vergleicht man die Aufgaben, während derer die Herzrate stieg mit denen, während derer sie sank, stellt man fest, dass die Herzrate als Maß für den Aktivierungsindex dienen könnte. Die Hautleitfähigkeit stellt das Maß für sensorische Erregung dar. c) Aktivierung – T+ • Zusammenfassung • Globale (= unspezifische) Aktivierung, die gespeist wird von körperlicher Aktivität, positiven Anreizen und instrumentellen Motiven • Durch globale Aktivierung gebahntes Verhalten bahnt diverse Neugier • Objektungebunden → Verhalten scheint willkürlich und launisch, da auch bei gehäuftem Auftreten eines Objekts nicht damit gerechnet werden kann, dass dasselbe Verhalten auftritt • Aktivierung vieler Verhaltensroutinen (→ globale, unspezifische Aktivierung) • Affekte können die Aktivierung erhöhen (und vv.) → Dabei bleibt Verhalten, das von motorischer Aktivierung energetisiert wird, klar unterscheidbar von Verhalten, das durch positive Anreize gebahnt wird, weil die Affekte im Gegensatz zur motorischen Aktivierung objektloyal sind. • C. G. Jung (→ 6.2a)) • Menschen, deren Verhalten überwiegend durch motorische Aktivierung gebahnt wird, wirken aufgrund der Objektungebundenheit impulsiv und opportunistisch • Hier ist eine Ähnlichkeit mit Jungs Theorie, der Opportunismus und Augenblickslaunen Extravertierten zuschrieb, zu finden: Jung klassifizierte Extravertierte als Einpasser, die sich nicht objektloyal sondern wie das Fähnlein im Wind verhalten • Laut Jung beziehen Extravertierte ihre Libido (= globale Aktivierung, näheres im Abschnitt über Freud → 3.2a)) mehr aus dem Objekt als aus dem Subjekt → Da die dominierende globale Aktivierung der Extravertierten objektunspezifisch ist, entscheidet sich jedesmal neu durch welches Objekt der Extravertierte angesprochen wird → Es gibt offensichtlich Dissoziationen zwischen Affektmaßen (Valenz) und Temperamentsmaßen • Aktivierung und Leistung (MATTHEWS ET AL., 1990) • unabhängige Variable Überblick Matthew s et al. Hohe subjektive Aktivierung bedeutet hohe Leistung subjektive Aktivierung abhängige Variable Leistung Schlussfolgerung globale Aktivierung bahnt IVS VL Beobachtung • • VP sollten verschwommene Ziffern erkennen. Damit richtet sich die Aufgabe an das unbewusste dorsale Wahrnehmungssystem der intuitiven Verhaltenssteuerung, das auch mit unvollständigem Input gut arbeiten kann Eine hohe subjektive Einschätzung der eigenen motorischen Aktivierung bedeutete hohe Leistung und zwar unabhängig von Tageszeit und Introvertiertheit oder Extravertiertheit. 25 Die Leistungssteigerung verschwand, wenn die sensorische Erregung überprüft wurde – wenn die Leistung also mit der subjektiven Einschätzung der sensorischen Erregung verglichen wurde. • Die Leistungssteigerung verschwand ebenfalls, wenn die Aufgabe daraus bestand klar erkennbare Ziffern zu benennen, was eindeutig das bewusste ventrale Wahrnehmungssystem der Objekterkennung anspricht → globale Aktivierung bahnt IVS • Gehemmtheit • Erwachsene, die ,als sie zwei Jahre alt waren, als scheu und gehemmt eingeschätzt worden waren, zeigten beim Betrachten von fremden i.U. zu bekannten Gesichtern eine erhöhte Aktivität der Amygdalae (→ 1.2d), SCHWARTZ ET AL., 2003) • Die Amygdalae spielen eine Rolle in der Entstehung von Furchtreaktionen, indem sie Angst mit bestimmten Objekten und Verhaltenseffekten verschalten (LEDEUX, 2000) d) Erregung – T• Zusammenfassung • Sensorische Erregung erleichtert die Objektwahrnehmung (BORADBENT & GREGORY, 1965) • Objektloyal • Behindert die Wahrnehmung peripherer Kontextmerkmale (EASTERBROOK, 1959) • Führt ab einem gewissen Niveau zu Vermeidungsreaktionen (GEEN, 1984) • Bahnt Erregung die bewusste ventrale Verhaltenssteuerung? • Warum konnte der oben erwähnte Befund (MATTHEWS ET AL., 1990) keinen Zusammenhang zwischen subjektiver Erregung und Leistung feststellen? → Diese Bedingung erfordert sowohl die Objektwahrnehmung als auch die IVS: Zuerst muss das Objekt – die Ziffer – erkannt werden und anschließend soll so schnell wie möglich die passende Taste betätigt werden • In einem anderen Experiment war nur die Objektwahrnehmung gefordert, ohne die Involvierung der IVS (BROADBENT & GREGORY, 1965) → In MATTHEWS ET AL.'s Experiment involvierte die zweite Versuchsbedingung sowohl IVS als auch OES (klar erkennbare Zahlen benennen). • VL Beobachtung unabhängige Variable Überblick Broadbent & Gregory Beschallung erhöht Leistung Beschallung (Maß für die Erregung) abhängige Variable Leistung Schlussfolgerung Erregung fördert die Objektw ahrnehmung VP sollten sich erkannte Ziffern merken und brauchten sonst nicht weiter darauf zu reagieren • Anschließend sollten die Ziffern als Objekte – also frei vom Kontext – wieder erinnert werden • In einer Bedingung wurde die Beschallung erhöht, während sich die VP erinnerte. Dies erhöhte die Leistung. → Eine hohe sensorische Erregung fördert die Objektwahrnehmung → Erregung und Angst (die Hauptursache für erhöhte Erregung) verengen die Aufmerksamkeit. Nur noch Dinge im Zentrum der Aufmerksamkeit (→ aufgabenrelevantes) wird wahrgenommen Bereitschaftspotentiale und Temperament (STAHL, RAMMSAYER & GIBBONS, 2007) • • unabhängige Variable Überblick Stahl, Rammsayer & Gibbons Introvertierte verabeiten Reize schneller Extrovertierte reagieren schneller Einteilung in Extrovertierte & Introvertierte abhängige Variable Latenz des Bereitschaftpotentials Schlussfolgerung Erregung und Aktivierung beruhen auf unterschiedlichen hirnanatomischen Systemen VL Beobachtung • • VP wurden in eine introvertierte und eine extravertierte Gruppe eingeteilt und zwar so, dass die beiden Gruppen sich bezüglich ihres Neurotizismuswertes nicht unterscheiden Während die VP eine Go-Nogo Aufgabe bearbeiteten, wurden ereigniskorrelierte Bereitschaftspotentiale gemessen. • Lateralisierte Bereitschaftspotentiale (LRP): Vorbereitungs- und Aktivierungsprozesse von Bewegungen; jeweils messbar über den zu den Körperhälften kontralateral gelegenen motorischen Cortices. 26 Ereigniskorrelierte Potentiale (EKP): ereigniskorrelierte Potentiale sind Potentiale, die durch eine ereignisbezogene Synchronisation vergleichbar gemacht wurden. Sie werden berechnet, indem man das synchronisierte EEG über vielen Versuchsdurchgängen mittelt. Auf diese Weise wird das Rauschen des Spontan-EEGs reduziert. Die lateralisierten, ereigniskorrelierten Bereitschaftspotentiale dienen hier zur Unterscheidung zwischen Reaktionsvorbereitung und Reizverarbeitung, da sie an zwei unterschiedlichen Ereignissen orientiert sein können: → stimulus-locked averaging: Die Bereitschaftspotentiale werden so gemittelt, dass alle Durchgänge mit der Präsentation des Reizes beginnen. → response-locked- averaging: Die Bereitschaftspotentiale werden an der Reaktion synchronisiert. • • Abb. 2.3 Introvertierte haben eine schnellere Reizverarbeitung → hohe sensorische Erregung bahnt visuelle Objekterkennung • Extravertierte reagieren schneller → hohe motorische Aktivierung bahnt intuitive Verhaltenssteuerung • Motorische Aktivierung und sensorische Erregung sollten nicht mit derselben Skala gemessen werden in Form ihrer beiden Pole (Introversion und Extraversion) → verschiedene hirnanatomische Systeme (GOODALE & MILNER, 1992) • Komplexe Aufgaben (HUMPHREYS & REVELLE, 1984; MATTHEWS ET AL., 1990) • Werden die Aufgaben komplizierter als Aufgaben, die bloßes Objekterkennen oder die IVS fordern, wird eine Wechselwirkung zwischen subjektiver (oder induzierter) Aktivierung und Tageszeit auf der einen Seite und Extra- vs. Introversion auf der anderen Seite beobachtbar • Extravertierte erzielen morgens bei hoher subjektiver Aktivierung eine höhere Leistung als bei niedriger subjektiver Aktivierung • abends ist der gleiche Effekt bei Introvertierten beobachtbar • Wechselwirkung konnte repliziert, aber nicht experimentell erklärt werden 2.4. Emotion: Aktivierung und Erregung a) Motorische Aktivierung und Emotion (WHITE ET AL., 1981) • Männliche VP wurden teilweise motorisch aktiviert und teilweise nicht. • Im Anschluß sollten sie die Attraktivität einer Studentin beurteilen, die in einer Bedingung selbstbewusst & attraktiv und in einer anderen langweilig & unattraktiv wirkte • Die VP mit motorischer Aktivierung beurteilten die Studentin in der selbstbewusst-&-attraktivBedingung positiver bzw. in der langweilig-&-unattraktiv-Bedingung negativer als die nicht aktivierte Kontrollgruppe → Motorische Aktivierung intensiviert verhaltensnahe Maße für positive und negative Valenz b) Sensorische Erregung und Emotion • Erregung intensiviert gleichermaßen positive und negative Valenzen • Emotionen erhöhen die Erregung • 27 2.5. Anwendung: Entspannung, Postmoderne und Brüderchen & Schwesterchen a) Überaktivierung & Übererregung • Starke Überaktivierung führt zu einer übersteigerten Impulsivität & Ruhelosigkeit und verhindert eine Kontrolle starker Impulse • Starke Übererregung führt zu der Entwicklung von Angstsymptomen • Schwierigkeiten • Generell hoch erregbare Menschen haben Schwierigkeiten, wenn sie (statt sich auf ein Objekt zu konzentrieren) auf den gesamten Kontext achten müssen. So zum Beispiel wenn sie in einem empathischen Austausch mit einer anderen Person sind oder wenn sie sich im Nachhinein an ein Detail erinnern wollen, dass sie im Augenblick des Erlebens als nebensächlich eingestuft haben • Generell hoch aktivierte Menschen haben Schwierigkeiten starke Gewohnheiten zu unterdrücken. So zum Beispiel wenn sie sich das Rauchen abgewöhnen wollen oder wenn sie innehalten sollten, um ein Problem genau zu überdenken oder um ein Ziel auf Selbstkongruenz zu überprüfen. → Die Schwierigkeiten mit dem Innehalten beim Problemlösen und der Überprüfung der Selbstkompatibilität mit einem Ziel können zu einer Persönlichkeitsstörung führen: Jegliches Verhalten (eigenes & fremdes) wird notorisch negativ bewertet, ohne zu merken, dass der eigene Aktionismus den Selbstkontakt verhindert. Zum Selbstkontakt gehört die Fähigkeit des empathischen Nachspürens welche Entstehungsbedingungen eigenes und fremdes Verhalten hat. Des weiteren ist die Ergründung sinnvoller und selbstkompatibler Verhaltensalternativen Teil des Selbstkontakts (KUHL, 2001). • Verschiedene Entspannungstechniken wirken unterschiedlich auf Überaktivierung und Übererregung. Anscheinend ist es so, dass im Falle einer Überaktivierung progressive Muskelentspannung und im Falle der Übererregung autogenes Training sehr gute Erfolge erzielen b) Postmoderne Beliebigkeit • Behauptungen psychologischer Analysen (u.a. JUNG, 1936; FRANKL, 2002) • Die postmoderne Beliebigkeit geht auf die Wertebeliebigkeit und -vielfalt sowie die Beeinträchtigung in der Entwicklung starker Persönlichkeiten zurück, die ihrerseits auf Überaktivierung und Übererregung (also Überstimulation des Temperaments) beruhen • Diese Symptome resultieren aus einer unzureichenden Selbstentwicklung → Zum Beispiel können Menschen positive Autoritäten deshalb nicht anerkennen, weil sie in ihnen eine Abstufung oder Benachteiligung der eigenen Person oder anderen sehen (narzisstische Kränkung). Dies ist auf eine latent schwache Selbstsicherheit zurückzuführen, die auch mit einer aufgeplusterten Sicherheit des bewussten Ichs einhergehen kann • Verknüpfung zum Temperament • Aus stetiger Überaktivierung heraus entsteht eine Beeinträchtigung in der Entwicklung fester Anreizbindungen → Aufgrund der Objektungebundenheit der globalen Aktivierung wird das Verhalten opportunistisch – egal was gerade angeregt wird, wird durch die globale Aktivierung verstärkt → Verstärkt postmoderne Beliebigkeit • Abschwächung der erlebnisorientierten Funktionen der sensorischen Erregung → Erschwert Kontakt mit der Selbstwahrnehmung als Teil des erlebnisorientierten Systems in Abb. 2.1 c) Märchen – Brüderchen und Schwesterchen • Starke Herausbildung beider Seiten des Temperaments • Könnte in starker Spaltung handlungsorientierter und erlebnisorientierter Funktionen der Persönlichkeit resultieren • Schwesterchen • Erlebnisorientierte psychische Kräfte • Kommt aufgrund übergroßer Angst nicht ins Handeln • Brüderchen • Handlungsorientierte psychische Kräfte • Immense Impulsivität des Brüderchens verhindert Bewältigung von Angst und Erregung auf der Erlebnisseite • Ursachen der Spaltung 28 Plötzliche Bestrafung frühkindlicher Autonomieversuche Sexueller Missbrauch Borderline Störung • Spaltung zwischen verhaltensaktivierenden und selbstwahrnehmungsfördernden Kräften • Patienten verfügen über kein zusammenhängendes Selbstbild, welches die Befriedigung vitaler Bedürfnisse organisieren könnte (KERNBERG, 1980; ROHDE-DACHSER, 1989) • Ursache für die Persönlichkeitsstörung wird in frühkindlichen Traumata, die durch die Bestrafung erster Autonomieversuche charakterisiert sind, vermutet → Die Bestrafung dieser Versuche seitens des Elternteils ist u.a. auf die Angst des Elternteils zurückzuführen, das Kind würde sich irgendwann nicht nur physisch sondern auch innerlich von ihm entfernen. • • • 29 Kapitel 3: Affekt und Anreizmotivation 30 3. Affekt und Anreizmotivation Belohnung und Bestrafung • Definition von Affekt5: • Der Begriff „Affekt“ bezeichnet einen Prozess, der bei Auftreten bestimmter Auslösebedingungen Annäherungs- oder Meidungsverhalten bahnt. Dieser Prozess ist nicht bewusstseinspflichtig, nicht repräsentational (→ subkognitiv), sowie nicht notwendigerweise von höheren kognitiven Bewertungsprozessen beeinflusst. • Affekte zeigen Bedürfnisschicksale an • Ein positiver Affekt weist darauf hin, dass ein Bedürfnis befriedigt wurde → Meldung befriedigungsorientierter Bedürfnisse • Der negativer Affekt weist auf ein frustriertes Bedürfnis hin → Meldung vermeidungsorientierter Bedürfnisse • Affekte im Behaviroismus • Positiver und negativer Affekt werden “Belohnung” und “Bestrafung” genannt • Diese Begriffe beschränken Affekte auf ihre äußerlich beobachtbaren Aspekte; dennoch erinnern sie an die enge Verknüpfung zwischen Emotion und Motivation • Bedürfnisse • Bedürfnisse haben einen subkognitiven und subaffektiven Kern • Sie können als eine Diskrepanz zwischen einem organismischen Sollwert und einem durch Fühler registrierten Istwert aufgefasst werden • Neurobiologische Fühler für Bedürfnisse befinden sich im Hypothalamus, der nicht zwischen positivem und negativem Affekt differenziert • Bedürfnisse können das Verhalten steuern. → Dies konnte PAWLOW durch Versuche mit Hunden, deren Großhirnrinde entfernt wurde, zeigen: z.B. verließ ein solcher Hund einige Stunden nach der Fütterung seinen Schlaf und lief solange umher, bis er wieder gefüttert wurde. Danach sank er wieder in den Schlaf zurück. PAWLOW deutete diese Bewegung als unbestimmte Nahrungsbewegung; er konnte während dieser Bewegungen einen Speichelfluss bei den Hunden feststellen. Da nichts in der Außenwelt die Bewegung und Sekreation hervorgerufen hat, ging PAWLOW von einer inneren Reizung aus. • Bedürfnisse gehen Affekten voraus. → Dies konnte dadurch gezeigt werden, dass Bedürfnisse Verhaltenroutinen immer noch direkt steuern können, wenn im Zustand extremer Regression (→ 4.3c)) alle höheren Wege der Verhaltensbahnung abgeschaltet sind • Anreiz • Wurde ein Bedürfnis befriedigt, ergibt sich ein positiver Affekt, der an das bedürfnisbefriedigende Objekt konditioniert wird → durch die Kontiguität von positivem Affekt und befriedigendem Objekt wird eine neue Assoziation gebildet (→ 1.2a)) • Ein solches Objekt wird zu einem Anreiz • Positiver und negativer Affekt sind nicht zwei Pole einer gemeinsamen Dimension. Es handelt sich um zwei trennbare Affektdimensionen. 3.2. Geschichte: Freud, Lewin, Gray a) Freud – Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Affekten • Freuds Begriff des Triebs stimmt so ziemlich mit dem Begriff des Bedürfnisses überein. • Libido: psychische Energie, die sich an Objekte heften kann (Objektbesetzung) • Wird die Libido an nachteilige (z.B. sozial unverträgliche) Objekte geheftet, können psychische Störungen (Neurosen) entstehen → Bindung sexueller Energie an Kinder • Zentrale Annahme: die Person sucht mit Libido besetzte Objekte auf, um den eigenen Triebzustand zu reduzieren • Ein Trieb besteht für Freud aus den folgenden Komponenten • Drang (→ motorisches Moment) • Ziel (= Reduzierung des Triebzustands) • Objekt, welches aufgrund von Erfahrung in der Lage zu sein scheint, den Trieb zu befriedigen • Quelle (→ körperliche Grundlage. Etwa:Ist-Soll-Wertdiskrepanz des Blutzuckerspiegels bei Hunger) 5 Definition entlehnt aus „Motivation und Persönlichkeit“ von Julius Kuhl; erschienen 2001 beim HogrefeVerlag. 31 Freud zufolge ist jeder Trieb letztendlich auf den Fortpflanzungstrieb zurückzuführen Das triebreduzierende Objekt wird durch das Auslösen des positiven Affekts mit selbigem besetzt. Analog dazu löst eine Frustration einer Triebbefriedigung negativen Affekt aus, mit dem das für die Frustration verantwortliche Objekt besetzt wird • Freudsche Versprecher • „Hinter jedem Versprecher verbirgt sich ein unbewusster Wunsch, der befriedigt werden will“ • Versprecher sind motiviert (MOTLEY ET AL., 1985) • Die ausschließlich männlichen VP sollten Wortpaare schnell vorlesen • Die Wortpaare wurden so konzipiert, dass sie beim Vorlesen leicht eine Verwechslung der Anfangsbuchstaben auslösen können • Drei Versuchsbedingungen • Anregung erotischer Bedürfnisse – die VP vollführten das Experiment in Anwesenheit einer aufreizend gekleideten VL • Anregung von Angst – Ankündigung eines leichten Stromschlages • Kontrollgruppe • Die VP der Angst anregenden Bedingung versprachen sich häufig, wenn der Versprecher semantischen Bezug zur Angst hatte: so wurde aus „sham dock“ „damn shock“ • In der Erotik-Gruppe traten gehäuft Versprecher auf, wenn sie einen semantischen Bezug zu Sex hatten: aus „sappy hex“ wurde „happy sex“ b) Lewin – Ursache der Lokomotion: motivationale Kräfte • Lebensraum: Gesamtheit psychisch wirksamer Fakten • Lokomotion: zielgerichtete Bewegung im Lebensraum • • • • Abb. 3.2 Lebensraum ist topologisch • Die Entfernung zwischen zwei Objekten ist bestimmt durch die Anzahl der zu überwindenden Grenzen • Diese Idee beinhaltet einen wichtigen psychologischen Aspekt: Die Motivation für eine Handlung ist von der Anzahl der dafür erforderlichen Handelsschritte abhängig → Hier ist w3 die beste Alternative, da die Person P so mit den wenigsten Handlungsschritten zum Ziel Z gelangen kann → Beleg: Die Reaktionszeit einer VP bis zur ersten Reaktion in einer Folge von Handlungsschritten ist proportional zu der Anzahl von Handlungsschritten (KLAPP & ERWIN, 1976) Die Verlängerung der Reaktionszeit beruht darauf, dass das Gedächtnis für Absichten eine Hemmungskomponente enthält. Beim Bilden einer Absicht soll oder darf noch nicht gehandelt werden. Diese Hemmungskomponente kann durch positiven Affekt aufgehoben werden (KUHL & KAZÉN, 1999 → 8.2e)) • Das Erinnern von Absichten (ZEIGARNIK, 1927) • Misserfolgsängstliche und Depressive erinnern sich besser an unerledigte Absichten als an erledigte • positiv gestimmte VP erinnern sich jedoch besser an erledigte Absichten → Wenn Schwierigkeiten oder Frustrationen überwunden werden müssen – also wenn der positive Affekt gehemmt ist – ist das Gedächtnis für Absichten aktiv, denn in solchen Situationen ist es entscheidend, dass Absichten aktiv gehalten werden. 32 Im Gegensatz dazu stehen Situationen, die keine Schwierigkeiten bei der Ausführung bieten – typisch für den positiven Affekt: hier ist es nicht notwendig Absichten aktiv zu halten, da die Handlung direkt ausgeführt werden kann Feldtheorie • Momentan wirksame psychologische Kräfte werden als Vektoren im Lebensraum dargestellt • Orte positiver Valenz sind mit einem Vektor beschrieben, der vom Ort der Person im Lebensraum auf das Objekt gerichtet ist. Dies drückt den Aufforderungscharakter (Anreiz) eines positiv valenzierten Objekts aus. • Orte negativer Valenz sind durch eine vom Objekt wegweisende Vektorenschar gekennzeichnet. Dies bedeutet, sollte sich die Person innerhalb eines solchen Ortes befinden (oder es sich vorstellen), dass die motivationale Richtung maximal unbestimmt ist. Eine Vermeidungstendenz ist nur darauf ausgelegt vom Objekt wegzuführen, ohne eine optimale Vermeidungsrichtung festzulegen. → • Abb. 3.3 Ambivalenzkonflikt • Objekt G ist gleichzeitig positiv und negativ valenziert → es besteht ein Ambivalenzkonflikt zwischen dem Aufsuchen und Vermeiden von G • Der Konflikt bringt die Person zu dem Ort N im Lebensraum, an dem die Kräfte des Aufsuchens und des Vermeidens im Gleichgewicht sind • Nun könnte die Person oszillierende Aufsuchungs- und Vermeidungsbewegungen machen oder G mit dem gleich bleibenden Abstand GN umkreisen • Beispiel: Aufsuchen der Brandung bis zum Punkt P, dann aufgrund zu intensivem Hör- und Sichtkontakt der Wellen Vermeidungsbewegung zu N c) Gray – Kopplung der emotionalen Affekte an die Verhaltenssteuerung • Gray behauptete, dass Affekte bedeutender für die Erklärung von Persönlichkeitsmerkmalen seien als das von Eysenck postulierte Modell der Erregungsdimensionen (→ 2.2b)). • Er postulierte zwei Persönlichkeitsdimensionen: Impulsivität, die das Verhalten durch Belohnungssensibilität bahnt und Ängstlichkeit, die das Verhalten durch Bestrafungssensibilität bahnt. • Eysencks Dimension der Extraversion wird hier durch die Kombination hoher Impulsivität und niedriger Ängstlichkeit beschrieben. Die zweite Dimension Eysencks – der Neurotizismus – ist durch hohe Impulsitivät und Ängstlichkeit gekennzeichnet. • 33 In Grays System fehlt allerdings eine Unterscheidung zwischen der Bahnung negativen Affekts (→ Angst/Schmerz) und der Hemmung positiven Affekts (→ Frustration). 3.3. Anreizmotivation: Verhaltensbahnung und Verhaltenshemmung a) Aufsuchen und Vermeiden – Überblick • Positiver Affekt hat eine verhaltensbahnende- und negativer Affekt eine verhaltenshemmende Wirkung (GRAY, 1987; NEUMANN ET AL., 2003) • Heute ist vor allem die Unterscheidung zwischen Aufsuchungs- und Vermeidungsverhalten wichtig (ELLIOT, 2008). Eine Faktorenanalyse ergab zwei Faktoren (ELLIOT & TRASH, 2002): • Aufsuchungsfaktor: Gruppierung von Maßen für Extraversion, positivem Affekt und Sensibilität für Belohnung • Vermeidungsfaktor: Gruppierung der Kennwerte für Neurotizismus, negativen Affekt und Bestrafungssensibilität → Reaktionszeiten für Aufsuchungsbewegungen (Tastendruck → Vergrößerung des gezeigten Wortes auf dem Bildschirm) waren kürzer, wenn es um ein positives Wort wie „freundlich“ handelte, als bei negativen Wörtern wie „aggressiv“. Das Gegenteil war der Fall, wenn die VP durch eine Vermeidungsbewegung reagieren sollten (Tastendruck → Verkleinerung des gezeigten Wortes) (WENTURA ET AL., 2000) b) Aufsuchen • Neurobiologischer Hintergrund • Die Aktivität des Belohnungssystems im Gehirn (u.a. mediales Vorderhirnbündel & Nucleus accumbens) wird erhöht, wenn man auf Reize stößt, die entweder neuartig und ungefährlich wirken oder aufgrund früherer Erfahrungen als Anreize identifizierbar sind. • Die Erhöhung der Aktivität geschieht im Belohnungssystem durch Dopamin. • Die Komponenten des Belohnungssystem sind (auf unterschiedliche Arten und Weisen) an der Bahnung lokomotorischer Funktionen beteiligt • Sucht • Dopamin ist für die Belohnungswirkung verschiedener Motivationsquellen verantwortlich. So zum Beispiel sexuelle Vereinigung, das Trinken im durstigen Zustand (WISE & ROMPRÉ, 1989), aber auch Aktivitäten mit Suchtpotential (GRANT & KIM, 2001) • Die euphorischen Effekte von Kokain resultieren durch eine erhöhte Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt. Durch das Kokain wird die Wiederaufnahme des Dopamins nach dessen Ausschüttung verhindert. An der Wirkung fast aller verbreiteten Drogen ist Dopamin in irgendeiner Form beteiligt. • Die Suchtwirkung von Drogen ist darauf zurückzuführen, dass sie die verhaltensbahnenden Teile des Belohnungssystems direkt stimulieren. Natürliche Anreize hingegen lösen zudem auch angenehme sensorische Empfindungen aus (STEWART ET AL. 1984) und involvieren höhere Ebenen der Motivation (→ Ziele, Sinnerleben, etc. – FRANKL, 2002) • Drogen wehren den negativen Affekt ab, verschaffen aber – wie die natürlichen Abwehrmechanismen ohne Beteiligung höherer geistiger Funktionen (wie etwa Leugnen, Grübeln, etc. → 4.2d)) – nur kurzzeitig Erleichterung. Damit der negative Affekt richtig verarbeitet werden kann, werden höhere Funktionen wie Sinnstiftung und Selbstkonfrontation benötigt, weil sie den Affekt dauerhaft in relativierende und bewältigungsaktive Strukturen einbinden (→ Kapitel 7.3c)). • Paradoxe Konditionierung (ROBBINS ET AL., 1997) • Die Drogenabhängigkeit weitet sich durch Konditionierung von der eigentlichen Einnahme ausgehend aus und wird mit Kontextmerkmale des Einnehmes assoziiert (→ Umgebung, innere Zustände, Vorbereitungshandlungen) • Diese Kontextmerkmale führen dann noch vor der eigentlichen Einnahme bereits zu einer ähnlichen Wirkung wie die der Substanz • Allerdings können diese konditionierten Kontextmerkmale auch das Gegenteil der primären Drogenwirkung auslösen (paradoxe Konditionierung) • Serotoninwiederaufnahmehemmer (Serotoninagonisten) haben eine antidepressive Wirkung und werden bei Depressionen, Zwangserkrankungen, etc. eingesetzt. Jedoch ist die psychische Wirkung von Serotonin mit Verhaltenshemmung verknüpft. • Opponent-Process Theorie (SOLOMON, 1980) • Die positive-hedonischen Effekte einer psychoaktiven Substanz lösen eine langsam wachsende Gegenbewegung mit negativ-hedonischer Wirkung aus (hedonisch: Bewertung eines Objekts nach intrinsischen und extrinsischen Werten). • 34 Die Gegenbewegung setzt später ein, hält wesentlich länger und sorgt somit resultierend für eine negative Stimmung → Entzugserscheinungen • Die Gegenbewegung beruht vielleicht darauf, dass die verhaltensbahnende Wirkung irgendwann auch ohne die Lust vermittelnde Komponente andauert – ganz wie bei anreizunabhängigen Gewohnheiten → Kapitel 1 (ROBINSON & BERRIDGE, 2000) • Die Verlagerung entspricht der Theorie der funktionellen Autonomie der Motive (ALLPORT, 1937): Das Mittel zum Zweck wird selbst zum Zweck • Homöostase Erklärung für die Gegenregulation bei gestörtem Gleichgewicht im Transmittersystem: jede Abweichung wird ausgeglichen, bis der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist → Anreizmotivation • Antidepressiva (MATUSSEK, 1978) • Antidepressiva wirken erst nach einigen Wochen • Wenn das Antidepressivum eingenommen wird, welches als Serotoninagonist wirkt, erhöht sich die Serotoninkonzentration im synpatischen Spalt • Allmählich nimmt die Anzahl der Serotoninrezeptoren ab, damit die resultierende Wirkung in der Postsynapse gleich bleibt • Daher wirken Antidepressiva erst, wenn aufgrund der hohen Serotoninkonzentration die Rezeptordichte abgenommen hat • Therapiemotivation • Viele Therapien werden abgebrochen, weil die Patienten das Vertrauen in ihre Wirksamkeit verlieren. • So wirken Therapiemaßnahmen für viele analytische Menschen esoterisch, da sie in etwa nicht einsehen inwiefern Übungen für die Körperwahrnehmung helfen sollen eine Essstörung zu therapieren. • Dopamin z.B. bahnt Verhalten nicht nur über den mesolimbischen Pfad (→ Bahnung von anreizmotiviertem, instrumentellem Verhalten), sondern auch über den mesocortikalen Weg im PFC (→ erreicht so auch höhere Systeme, die an Verhaltensvorbereitung und Selbstkompatibilitätsprüfung beteiligt sind) • Man muss den Patienten nicht die komplizierten gegenregulativen Verschachtelungen des Transmittersystems erklären; folgendes Modell genügt: Das große Netzwerk der Selbstwahrnehmung im Gehirn registriert und integriert alle möglichen Prozesse (Körperwahrnehmungen, Wünsche, Gefühle, u.v.m.). Wenn beispielsweise Selbstäußerungen in der Kindheit nicht hinreichend von anderen bestätigt oder wahrgenommen werden, wird das System der Selbstwahrnehmung gehemmt. Wird ein solch großes Netzwerk gehemmt, sind eine Menge hemmender Überträgersubstanzen (→ in etwa Serotonin) erforderlich, die dann an anderen Stellen fehlen könnten (KAPUR & REMINGTON, 1996). Im Falle von Serotonin ist es so, dass dessen Einfluss im Hypothalamus den Appetit hemmt (STALLONE & NICOLADIS, 1989). So kann es zu Heißhungerattacken kommen, wenn man die Selbstwahrnehmung hemmt; also in etwa wenn man fremdbestimmbar ist und viele Dinge mit sich machen lässt oder macht, die man selbst nie wählen würde. • Dies lässt sich auf viele psychische Störungen übertragen, zu deren Therapie sich die Verabreichung von Serotoninagonisten als hilfreich erwiesen hat: Migräne (LESTON, 1996), Essstörungen (FAVA ET AL, 1989), Depressionen (DEPUE & SPOONT, 1986), Zwangsstörungen (INSEL, 1992) und die Borderline-Störung (MARKOVITZ & WAGNER, 1995) Anreizmotivation • Verhalten wird anreizunabhängig gelernt, wird aber nicht ohne sie ausgeführt (→ 1.2.c)) • Anreize sind externe Quellen der Verhaltenskontrolle, dessen Nutzen sich für eine Person aus der bewusst erlebten Wertigkeit des Anreizes ergibt (und nicht etwa aus dem tatsächlich-objektiven Nutzen des Anreizes) • Anreizmotivation ist ein Beispiel für extrinsische Motivation → Definitionen beziehen sich auf extrinsische Momente wie Objekte, Zielzustände oder Zielaktivitäten • • 35 Anreizmotivation ist mit instrumentellen Tätigkeiten verknüpft, die ausgeführt werden, um das Anreizobjekt zu erreichen (beispielsweise das Suchen einer Futterstelle) → Ein attraktiver Anreiz (= extrinsische Belohnung) macht einen unzureichenden Tätigkeitsanreiz wieder wett Ist der objektive Anreiz schwach, steigt dessen subjektive Wertigkeit sehr rasch mit wachsendem objektiven Wert an. Ist der objektive Anreiz bereits stark, nehmen bei weiterem Anstieg des objektiven Wertes die Zunahmen der subjektiven Wertigkeit schnell ab (Beispiel: wenn man 5€ hat, bedeutet ein Zuwachs um 10€ einen erheblichen stärkeren Zuwachs an subjektivem Wert, als wenn man bereits 50€ hat) → Antiproportionaler Zusammenhang zwischen dem Zuwachs an subjektivem Wert und dem objektivem Wert Exponentieller Zusammenhang zwischen dem Zuwachs des subjektiven Anreizes und der (zeitlichen) Distanz zum Ziel → Erklärt das Phänomen der Präferenzumkehr → • • Abb. 3.4 Ist man zeitlich von dem Erreichen zweier Anreize weit entfernt (Zeitpunkt t0), kann man gut den (tatsächlich) attraktiveren von beiden bestimmen • Ab dem Zeitpunkt tk ist aber die Nähe zum Erreichen von A1 so gering, dass die subjektive positive Valenz des Anreizes die des eigentlich attraktiveren A2 übersteigt. • Beispiel: in den Urlaub fahren (A1) oder für ein Haus sparen (A2)? • Im Intervall t1 setzt sich die höhere Präferenz des Hauses durch • Im Intervall t2 allerdings kehrt sich die Präferenz aufgrund der zeitlichen Nähe zum Erreichen des möglichen Urlaubs um. • Man sollte beachten, dass dieses Phänomen nicht nur durch simple Anreizmechanismen vermittelt wird (LOGUE, 1988). So könnte ab dem Zeitpunkt tk trotzdem die Präferenz auf A2 liegen, da es beispielsweise als willentlich präferiertes Ziel durch Top-down-Prozesse wie Selbstmotivierung verstärkt wird (KUHL, 1988 → 7.3c). Bittet man VP sich, während einer mentalen Rotationsaufgabe, vorzustellen, dass zu rotierende Gebilde würde nach dem Lösen der Aufgabe ihnen gehören, so waren zusätzlich zu den hinteren rechtsparietalen Hirnregionen (→ verantwortlich für die mentale Rotierung) Zusammenhänge mit rechtspräfrontalen Regionen nachweisbar (→ rechtshemisphärische Bereiche des Stirnhirns [Frontallappen] sind beim Lösen von Aufgaben aktiv, die die Selbstwahrnehmung und -regulation involvieren → 7.2c)). (IVANITZKY, 1994) Negativer Anreiz • Hypothese: Verluste bringen einen größeren (negativen) Anreiz als Gewinne. • VP wurde ein Gegenstand geschenkt, den sie an andere VP verkaufen konnten. Dabei verlangten sie höhere Preise, als sie boten – der Verlust wiegt schwerer als der Gewinn: der positive Wert des Gegenstands, den er zu Erhalt hatte, kehrt sich durch den Verlust nicht nur ins negative um, sondern erscheint im Verlust noch wertvoller. Offensichtlich werden positive und negative Anreize auf Ebene der Anreizmotivation vermittelt: die negative Anreiz- oder Nutzenfunktion steigt mit wachsendem objektiven Nutzen rascher als die positive (KAHNEMAN ET AL., 1990). • • 36 Jedoch werden Einflüsse höherer Regulationsebenen missachtet: • Das Selbst setzt selektive Aufwertungsprozesse in Gang, sobald etwas selbst gewählt wurde bzw. man etwas „sein eigen“ nennt (LANGER, 1975): Eigenes wird gegenüber fremden aufgewertet. • Dies ist der Selbstmotivierung das eigene weiterhin zu pflegen und zu verwenden oder aber der Reduzierung der kognitiven Dissonanz dienlich (BECKMANN & KUHL, 1984). (kognitive Dissonanz: innerer Konflikt, der durch untereinander unvereinbare Kognitionen entsteht. Hier: Dissonanz zwischen dem selbst gewählten und dem, was andere haben oder machen, sofern das selbst gewählte geringer oder gleich bewertet wird wie das, was die anderen machen oder haben.) • Demnach geht es in der oben erwähnten Studie nicht um den negativen Anreiz des Verlustes, sondern um die Steigerung des positiven Anreizes von Gegenständen, die dem Selbst zugerechnet sind, vermittelt durch selbstregulative Prozesse. Bezugsrahmen • Weiterer Einfluss auf die Wirkung von Anreizen • Gestaltpsychologie: Die Wirkung eines Anreizes ist auch von seiner Nähe zu einer als optimal empfundenen Stärke abhängig. Dieses Optimum kann entweder systemintern festgelegt sein (in etwa als das mittlere Erregungsniveau) oder durch bisher gemachte Erfahrungen (d.h. der Wert, an den man sich gewöhnt hat: das Adaptionsniveau) (HEBB, 1949; HELSON, 1964) → VP legten Hände in ein der Körpertemperatur angepasstes Wasserbecken, bis sie sich daran gewöhnt hatten (→ induziertes Adaptionsniveau). In mehreren Versuchsreihen sollten die VP dann ihre Hände in stufenweise kältere oder wärmere Wasserbecken halten. Kleine Abweichung vom Adaptionsniveau sorgten für die Zunahme des subjektiv eingeschätzten positiven Affekts. Ab einer kritischen Abweichung nahm die Einschätzung des positiven Affekts ab (HABER, 1958) → Laufgeschwindigkeit von Ratten (Maß für Anreizwirkung) nahm ab, wenn die Futtermenge im Vergleich zur Gewöhnungsphase abnahm (Beispiel: von 256 auf 16 Kügelchen). Die Anreizwirkung (→ Laufgeschwindigkeit) war dabei geringer, als bei Ratten, die von Anfang an die reduzierte Futtermenge bekamen (Crespi-Effekt; CRESPI, 1942) • Bezugsrahmen in der Leistungsmotivation • Das entscheidende Kriterium ist der Selbstbewertungsstandard: der subjektive Anreiz und dessen Auswirkungen auf die Motivation sind abhängig von der Diskrepanz zwischen dem Leistungsergebnis und Höhe & Art der verwendeten Bezugsnorm (KUHL, 1978b; RHEINBERG, 1980, 2001). • Studenten wurden nach einer Klausur gefragt, welche Zensur sie erwarten. War die Zensur dann wesentlich besser oder schlechter als erwartet, war die Zufriedenheit viel besser bzw. schlechter, als wenn die Zensur zu der angegebenen Selbstbewertung gepasst hätte (SHEPPERD & MCNULTY, 2002) • Extravertierte und positiver Affekt • Die Sensibilität für den verhaltensbahnenden positiven Affekt scheint bei Extravertierten höher zu sein als bei Introvertierten • Extravertierte zeigen stärkere Effekte, wenn experimentell ein positiver Affekt induziert wird als Introvertierte. Introvertierte reagieren jedoch nicht dementsprechend stärker auf negative Affekte (LARSEN & KETLAAR, 1991). → Stützt die Annahme, dass positiver und negativer Affekt zwei unterschiedliche Dimensionen bilden • kybernetischer Regelkreis • Homöostase • Nach dem Regelkreismodell wird versucht lebenswichtige Zustände durch eine Feedbackschleife konstant zu halten, die aus Vergleichen und Gegenmaßnahmen besteht. • Beispiel: erhöhte Körpertemperatur • Informationen von Thermorezeptoren werden im Hypothalamus zu einem Ist-Wert integriert und dort mit dem Sollwert (~ 37°C) verglichen (BIRBAUMER & SCHMIDT, 2003). • • 37 • Wird eine Diskrepanz in Form von Übererwärmung festgestellt, werden verschiedene Gegenmaßnahmen eingeleitet, um die optimale Temperatur wiederherzustellen: Schweißabsonderung, Erweiterung der Blutgefäße oder willentliche Maßnahmen der Abkühlung). c) Vermeiden • Neurobiologischer Hintergrund • Bestrafungseffekte werden im Septum und im Hippocampus vor allem durch GABA-erge Substanzen beeinflusst (GRAY, 1987). • Die Amygdalae sind an der Konditionierung negativer Affekte beteiligt (LEDOUX, 2000) • Durch das Bestrafungssystem werden Hilflosigkeitssymptome wie globale Verhaltenshemmung und Entwicklung von Magengeschwüren vermittelt. Dies ist auf die cholinerge (→ durch ACh vermittelte) Ansteuerung des Hippocampus über das mediale Septum zurückzuführen (KELSEY & BAKER, 1983: stark reduzierte Vermittlung der Hilflosigkeitssymptome bei Unterbrechung der beteiligten Strukturen). • Funktionsmerkmale • Bestrafung verliert an Wirkung, wenn die subjektive Distanz der „Bestrafungsquelle“ zunimmt. → Stützt These von zwei Dimensionen, sobald Belohnung und Bestrafung in Konkurrenz treten • Negativer Affekt ist ebenfalls auf Objekte konditionierbar (→ Amygdalae; LEDOUX, 1995) • Asymmetrie von Belohnungs- und Bestrafungswirkungen • Zurückführbar auf die Beiteiligung höherer Kognitionen, die konditionierte Affekte hemmen können (→ 4.3b)) • Vermeidungsmotivation wächst bei Annäherung an ein ambivalentes Ziel schneller als Aufsuchungsmotivation (→ 3.2b)) • Überlegenheitseffekt bei subjektiver statt räumlicher Annäherung (Cacioppo et al., 1999) • Die VL waren darauf bedacht die Grenze, an der die Vermeidungsmotivation stärker wird als die Aufsuchungsmotivation, nicht zu überschreiten • VP sollten drei Objekte bewerten • hypothetische Person – bekam leicht positive Bewertung • imaginärer Fisch „Aguaphore“ – neutral • fiktives Insekt „Entophore“ – leicht negativ • Subjektive Annäherung an die Objekte durch affektiv neutrale Information; z.B. „Das Entophore hat sechs Beine“. Anschließend wurden alle drei Objekte tendenziell positiver bewertet → Überlegenheitseffekt positiver Anreize bei subjektiver Annäherung • Schlussfolgerung: Abb 3.3 (Ausschnitt) Das Belohnungssystem hat eine niedrigere Schwelle – es spricht bereits bei kleinen Intensitäten an • Das Bestrafungssystem hat eine höhere Steigung – mit abnehmender Zieldistanz steigt Vermeidungsmotivation wesentlich rascher als die Aufsuchungsmotivation. Die Asymmetrie von Belohnungs- und Bestrafungswirkungen kann nicht allein durch die Beteiligung höherer Kognitionen erklärt werden • Auch Tiere zeigen den Überlegenheitseffekt positiver Anreize. • • 38 Nachweis durch ereigniskorrelierte Potentiale (ITO & CACIOPPO, 2000) VP sollten Bildvorlagen emotional bewerten Sensibilität für negative Valenzen wurde im EEG durch ereigniskorrelierte Potentiale wenige hundert Millisekunden nach Reizdarbietung nachgewiesen • ereigniskorrelierte Potentiale wurden auch festgestellt, wenn die VP die nicht die Bildvorlagen bewusst emotional bewerteten, sondern in etwa lediglich zählen sollten wie viele Menschen auf dem Bild zu sehen sind • Das Bestrafungssystem und der damit assoziierte negative Affekt sind nicht so gut erforscht wie die Funktionsmerkmale des Belohnungssystems • Die Auswirkungen des Bestrafungssystems sind viel komplizierter als die des Belohnungssystems. • Unter anderem ist dies bedingt durch die Vielfalt von Abwehrmechanismen, mit denen negativer Affekt bekämpft werden kann (→ 4.2d)) • Vergleich mit Ambivalenzkonflikt in LEWINS Feldtheorie (→ 3.2b) & Abb 3.3): Die Aufsuchungswirkung eines Anreizobjektes hat einen eindeutigen Vektor, wohingegen die Vermeidungsbewegungen in alle Richtungen von dem Objekt wegführen. Die Aufsuchungsbewegung ist aufgrund ihrer Eindeutigkeit kognitiv ökumenischer verarbeitbar. • Verknüpfung der Unterschiede mit den Hemisphären • Die lineare Verarbeitungscharakteristik des Belohnungssystems ist mit der linken Hemisphäre (LH) assoziiert. Die rechte Hemisphäre (RH) spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle: sie verfügt über die Informationen, die auf dem Weg zum Ziel relevant sind (quasi die Informationen, die auf dem Vektor selbst liegen) (TUCKER & WILLIAMSON, 1984). Die präfrontalen Regionen der LH werden durch den positiven Affekt aktiviert (DAVIDSON ET AL., 1993). Dies entspricht der kognitiven Reduktion auf das jeweils anstehende Verhalten oder Ziel (→ 6.3b)) • Das Bestrafungssystem benötigt eine parallele Verarbeitung, falls während einer Vermeidungshandlung nicht die nächstbeste sondern die intelligenteste Handlungsalternative gewählt werden soll. Daher ist das Bestrafungssystem mit der RH assoziiert, die polysemantisch ist und ganzheitlich-parallel arbeitet. Die RH hat damit eine komplexere Verarbeitungscharakteristik als die LH. Es kommt bei einer Vermeidungshandlung darauf an, so schnell wie möglich (→ parallel) viele Möglichkeiten abzuwägen. Die RH wird durch negativen Affekt aktiviert, nicht da sie an der Entstehung desselbigen beteiligt ist, sondern weil sie zur intelligenten Bewältigung negativen Affekts bereitgestellt wird (ROTENBERG, 2004). • Ob überhaupt eine Vermeidungshandlung durchgeführt werden soll, ist nicht festgelegt. Es existieren (auch bei Tieren) aktive und passive Formen der Vermeidung (GRAY, 1987). 3.4. Affektive Vermittlung von Belohnung und Bestrafung a) Verknüpfung mit Emotionen & Stimmungen • Affekte sind Vermittler der Auswirkungen von Belohnung und Bestrafung • Somit sind Stimmungen und Emotionen in großem Maße an der Regulation von Bedürfnisbefriedigung und Handlung beteiligt b) Negativer und positiver Affekt stellen jeweils eine eigene Dimension dar • Neurobiologisch unterschiedliche Systeme (→ 3.3 b) & c)) • Es gibt evolutionsbiologische und entwicklungspsychologische Belege für die Unabhängigkeit von positivem und negativem Affekt (→ geschlechtsspezifische Unterschiede in positiven affektiven Dispositionen; z.B. haben Frauen im Durchschnitt mehr Wärme als Männer. Evolutionsbiologische Überlegungen sehen in der höheren Wärme die Ermöglichung für das besonders hohe parentale Investment von Frauen (MACDONALD, 1992)) • Mit dem eindimensionalen Modell können das gleichzeitige Auftreten beider Affektarten nicht erklärt werden; z.B. die gemischten Gefühle wenn man sich zu einem Menschen hingezogen fühlt und gleichzeitig sauer auf ihn ist. • • • 39 Das gleichzeitige Auftreten von positivem und negativem Affekt im Alltag (LARSEN ET AL., 2001) • Drei Feldstudien wurden durchgeführt • Freude und Traurigkeit treten häufig gemeinsam kurz nach bestimmten konkreten Ereignissen auf; z.B. nach einem Kinobesuch, nach dem Studienabschluss • Positiver und negativer Affekt schlossen sich nur aus, wenn die VP typische Situationen wie einen normalen College-Tag beurteilen sollten • Experimentelle Induktion des gleichzeitigen Auftretens (LARSEN ET AL., 2004): die VP hatten gemischte Gefühle, wenn sie entweder zwar Geld gewonnen haben, aber mehr hätten gewinnen können (7 statt 11$) oder wenn sie zwar Geld verloren haben, jedoch noch mehr hätten verlieren können • Die Befunde weisen darauf hin, dass das eindimensionale Modell eine kognitive Abstraktion darstellt, dass durch eine binäre Logik charakterisiert ist: das gleichzeitige Auftreten beider Affektarten konnte nur im Experiment gezeigt werden, wenn die Untersuchungsbedingungen nah genug am konkreten Emotionserleben waren Selbstdiskrepanztheorie (HIGGINS, 1987) • Nachweis einer Dissoziation zwischen negativen Emotionen – A- – wie Angst, Erregung & Nervosität und gehemmten positiven Emotionen – (A+) – wie Lustlosigkeit, Niedergeschlagenheit oder Depression • Nachweis gelang durch die Induktion zweier Arten der Selbstdiskrepanz • Bei den Experimenten wurde das wirkliche Selbst anhand von Adjektiven, mit denen sich die VP selbst beschrieb, gemessen. Das geforderte Selbst (→ das Erfüllen von Normen) wurde durch Adjektive gemessen, die die VP meinten haben zu müssen. Das Idealselbst (→ das Streben nach Idealen) wurde durch Adjektive gemessen, die die VP meinten haben zu wollen) • Diskrepanzen zwischen dem wirklichen Selbst und dem geforderten Selbst sind mit Bestrafung verbunden. Dies beruht auf der Beobachtung, dass nach diesen induzierten Diskrepanzen negative Affekte wie Angst oder Nervosität ausgelöst wurden • Diskrepanzen zwischen dem wirklichen Selbst und dem idealen Selbst sind mit der Dämpfung des positiven Affekts verbunden. Dies zeigte sich dadurch, dass die VP ihre Stimmung mit Adjektiven wie „lustlos“ und „niedergeschlagen“ einschätzten. • • Abb. 3.7 40 c) Vereinfachung der beiden orthogonalen Dimensionen zu einer bipolaren gemeinsamen Dimension im bewussten Denken • Der analytische und sprachliche Charakter des Bewusstseins (→ mit LH assoziiert (SPRINGER & DEUTSCH, 1997)) reduziert die Bedeutungsvielfalt vieler kognitiver Inhalte auf einen Inhalt oder eine Dimension – so auch die beiden Arten des Affekts. Beispiel: Bei der bewussten Wahrnehmung mehrdeutiger Wörter wie „Bank“ ist nur noch die in den Kontext passende Bedeutung präsent. Werden die Wörter jedoch nur unterschwellig gezeigt (Darbietungszeit < 100 ms) sind beide (bzw. alle) Bedeutungen präsent (MARCEL, 1983). • Das bewusste analytische Denken hat eine Tendenz zu einer binären Logik (→6.3b)). Die Welt wird nach dem Entweder-oder-Prinzip gesehen (ROTENBERG, 2004). • Der Ausschluss von Zwischentönen und Alternativen erinnert an das OES (→ 1.3b)). • Die Reduktion auf das aktuell wesentliche ist selbstredend auch hilfreich und notwendig 3.5. Anwendung: Reframing, Hedonismus und der Trommler a) Forschung • Vieles bezüglich der Beziehung zwischen positivem und negativem Affekt ist unbekannt. • Die Bedingungen wann sich positiver und negativer Affekt gegenseitig hemmen und wann sie gleichzeitig auftreten können, sind unbekannt b) Affekte als Thema einer Therapie • Wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist mit gleichzeitig auftretenden positiven und negativen Affekten umzugehen, kann es wie in der Borderline-Störung passieren, dass man einen Menschen entweder nur durch und durch gut finden kann oder aber ihn absolut verteufelt (KERNBERG, 1980). • Die Integration positiver und negativer Affekte kann in einer Therapie durch ein vertrauensund liebevolles Verhältnis zum Therapeuten (GILLIGAN, 1997) oder durch eine Abschwächung des analytischen Bewusstseins (FRANKL, 2002) erreicht werden. • Die Fähigkeit der Integration, die diesen Menschen fehlt, wird als Teil des integrierten Selbst angesehen (→ 7.1d); SHOWERS & KLING, 1996) • positive refraiming • Bei einem Patienten sollen negative durch positive Reaktionen ersetzt werden; z.B. wird ein Patient ständig von negativen Erinnerungen an seine Frau geplagt, die ihn verlassen hat • Hier wird die gedankliche Tendenz zum wechselseitigen Ausschluss von positivem und negativem Affekt nützlich • negative werden durch positive Gefühle verdrängt (positive refraiming): der Patient soll, wenn er von negativen Erinnerungen geplagt wird, üben an eine schöne Erinnerung mit ihr zu denken; etwa einen unbeschwerten Sommertag in den Bergen, den die beiden erlebt haben. c) Hedonismus • Auf Lustmaximierung reduzierte Lebensweise • Entspricht einer Vereinseitigung der Anreizmotivation, wenn diese von höheren Formen der Verhaltensbahnung abgekoppelt ist • Erweiterter Hedonismus: scheinbar lustfeindliches Verhalten kann auch auf Lustmaximierung zurückzuführen sein; in etwa wenn altruistisches Verhalten lediglich das Bedürfnis nach Nutzenmaximierung für das Leben in einem großen sozialen Verbund befriedigt. • Die neurobiologische Grundlage für den erweiterten Hedonismus stellt die dopaminerge Vermittlung der Verhaltenssteuerung dar: sowohl die nigrostriatale Bahnung anreizunabhängiger Gewohnheiten als auch die mesocortikale Bahnung der Selbststeuerungsfunktionen beider Hemisphären • Unterscheidung zwischen analytischer und ganzheitlicher Form des Umgangs mit Lust → In etwa Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft (Kant) → Siehe Kapitel 5 (Motive & Ziele), 6 (Ich & Selbst) und 7 (Selbstkontrolle & Selbstregulation) d) Märchen – Trommler • Dieses Märchen beschreibt die Vor- und Nachteile einer Persönlichkeit, die durch ein besonders aktives Belohnungssystem geprägt ist • Der Trommler ist ein positiver Mensch, der ohne große Schwierigkeiten durchs Leben kommt. → Freude und positiver Affekt bahnen spontanes Verhalten • Der Trommler spielt einem Riesen im Wald den starken Mann vor (Riese im Wald könnte ein Symbol für das Unbewusste sein) 41 Trommler rutscht immer wieder vom Glasberg (= Schwierigkeit) ab und überwältigt das Hindernis letztendlich nur durch einen Trick, indem er einen Zaubersattel ergattert, der ihn ohne weitere Anstrengungen auf den Berg fliegt Kritisch wird es für ihn erst, wenn er eine tiefere Liebesbeziehung entwickeln möchte. Darin lässt sich eine Schwierigkeit oberflächlicher Spaß- und Freudetypen sehen: eine tiefe (Liebes-)beziehung lässt sich durch Spaß und Freude allein nicht verwirklichen → unausweichliche Schwierigkeiten leiten einen unangenehmen Lernprozess ein • Diese Schwierigkeiten überwältigt er nur, indem er seine Alles-unter-KontrolleHaltung aufgibt und er im Schoß der Geliebten einschläft. • Der Schlaf, in den sich der Trommler fallen lässt, ist ein häufiges Symbol für das Unbewusste → Einseitiges und unbeschwertes Trommlergehabe resultiert aus einem Defizit in der Fähigkeit sich fallen lassen zu können. • Ist diese Fähigkeit gewonnen, bildet dies nur die Grundlage für den Trommler. Nur wenn er die entfremdenden Seiten seiner Geliebten nicht leicht auf die Schulter nimmt und sie schönredet, sondern sich ihnen stellt, kann er ihr wahres „königliches“ Wesen erkennen Allerdings laufen Trommlernaturen immer Gefahr rückfällig zu werden. Im Märchen reicht die bloße Nähe zu den Eltern, die für das fehlende Sich-Fallen-Lassen-Können des Trommlers verantwortlich sind, um rückfällig zu werden. • Dies ist mit dem Prinzip der emotionalen Ansteckung der IVS erklärbar (→ 1.4b)), die durch positiven Affekt gebahnt wird • Ansteckungsgefährdend sind im Märchen alle Erfahrungen, die den Hedonismus (→ das Belohnungssystem) bedienen • Der Aufstieg zur Ebene der personalen Begegnung (→ Kapitel 7) ist dennoch möglich, vor allem wenn in Trommlernaturen die wahre Liebe entfacht ist und die Entwicklungsschritte gemeinsam gemeistert werden. • • • 42 Kapitel 4: Stressbewältigung und Regression 43 4. Stressbewältigung und Regression Top-down- versus Bottom-up-Steuerung • Progression & Regression • Neurobiologen sind der Ansicht, dass die Hauptaufgabe des Neocortex darin besteht unpassendes zu hemmen; z.B. die Hemmung des Aussprechens von Wissen, wenn es nicht zum Kontext passt → ständiges lautes Ausrufen „Die Erde ist rund“ auf der Straße. • Diese Hemmung wird durch höhere Systeme vermittelt und blockiert stammesgeschichtlich ältere und einfachere Systeme → top-down – von oben nach unten • Die Top-down-Steuerung (= Progression) kann durch Stress gehemmt werden; man spricht von Regression (FREUDSCHER Begriff) • Steuerungsrichtung • Würden die Motivations- und Emotionsquellen aus den vorangegangenen Kapiteln unser Verhalten dominieren, so würde dies die kontextabhängige Steuerung unseres Erlebens und Verhaltens erschweren, weil die zuvor behandelten Quellen für Motivation und Emotion ziemlich kontextblind sind • Wenn eine differenzierte (→ intelligente) Berücksichtigung des Kontextes sinnhaft erscheint, werden Gewohnheiten und Anreizmechanismen abgeschwächt → Top-downSteuerung. Beispiel: Das Aufsuchen von Nahrung ist von inneren und äußeren Kontextmerkmalen abhängig wie etwa Bedürfnisse, Werte, soziale Normen und kulturelle Aspekte • Die Steuerungsrichtung (top-down oder bottom-up) kann sich situationsbedingt umkehren • Neurastehnie – Nervenschwäche (JANET, 1903) • Funktionsanalytische Erklärung für Freudschen Regressionsbegriff • Die Patienten, die unter Neurastehnie litten, zeigten eine Abschwächung oder den totalen Abbau bestimmter psychischer Operationen, wohingegen andere von der Nervenschwäche unberührt blieben: sie waren noch immer gut ausgebildet oder waren sogar übermäßig ausgeprägt. • Es wurde geschlussfolgert, dass mentale Aktivitäten hierarchisch angeordnet sind und die Patienten zu den höheren Ebenen kaum einen oder gar keinen Zugang mehr hatten • Nicht-pathologische Regression • Es existieren dispositionelle und situative Unterschiede in der Verhaltens- und Erlebenssteuerung • Verhalten und Erleben beruhen immer auf dem aktuellen Kräfteverhältnis zwischen den elementaren Ebenen (Kapitel 1-3) und den psychisch höheren Ebenen (Kapitel 5-7) • bottom-up Steuerung ist gegeben, wenn die Steuerung von unten nach oben fließt. Beispiel: Prüfungsangst ist stärker als das Ziel sich auf das konzentrierte Durcharbeiten des Lehrbuchs zu besinnen. Beispiele motivationaler bottom-up Steuerung: (1) zwei Jugendliche auf einer Beerdigung fangen an zu Kichern und sind nicht in der Lage es zu kontrollieren; (2) ein Konzertbesucher kann ein reflexartiges Verhalten wie das Räuspern nicht unterdrücken • top-down Steuerung bedeutet, dass die Steuerung von oben nach unten fließt. Beispiel: Ein Zoobesucher erschrickt trotz akuter Raubtierphobie nicht bei Erblicken eines Tigers hinter Gittern. Dies ist ebenfalls ein Beispiel für die erwähnte Kontextsensitivität psychisch höherer Systeme: Die Angst vor Raubtieren wird gehemmt/„abgeschaltet“, da sie im Kontext der Schutzfunktion des Käfigs nicht angebracht ist. Dadurch können komplexere Emotionen wie Neugier und Interesse entstehen. 4.2. Geschichte: Freud • Freud kennzeichnete die Regression als die wichtigste Erkenntnis seiner Psychoanalyse • verschiedene Neurosen lösen eine Regredierung auf frühere Entwicklungsstufen aus. Freud sah in diesem Regredieren den Wunsch der Patienten, die mit Frustration oder Angst konfrontiert waren, besonders lustvoll erlebte Phasen der eigenen Entwicklung erneut zu erleben oder aber die nicht ausreichend erfahrene Befriedigung während Kindheitsphasen nachzuholen a) Topologie des Bewusstseins • Unterteilung in Bewusstsein, Unterbewusstsein und Vorbewusstsein. Das Vorbewusste enthält Inhalte, die bewusst werden können – es aber nicht sind, weil der Zensor (quasi das Gewissen) den Inhalt nicht zulässt. 44 Strukturmodell – drei Instanzen der Psyche, die an der Angstentstehung beteiligt sind Es: enthält unbewusste Triebe Überich: moralische Instanz; verbietet sozial unakzeptierte Triebwünsche Ich: Vermittler zwischen Es und Überich; es sucht sozial akzeptable Formen der Triebbefriedigung b) Psychosexuelle Entwicklungsphasen • Orale Phase (0 bis 1½ Jahre) • Die Orale Phase ist dadurch geprägt, dass die wichtigste Region der Bedürfnisbefriedigung der Mund darstellt. Säuglinge neigen oft dazu Dinge ungeprüft in den Mund zu stecken – alles ist auf Saugen, Lutschen und Nahrungsaufnahme ausgerichtet • Regressionen zu dieser Phase sind durch den oralen Charakter gekennzeichnet: Es geht um alle formen der libidinösen Bedürfnisbefriedigung, an denen im weitesten Sinne der Mund beteiligt ist (Abhängigkeit, Alkoholismus) (Libido: psychische Energie, die sich an Objekte heften kann (Objektbesetzung)) • Die Orale Phase wurde weiter unterteilt in die oral-inkorporative Phase, die charakterisiert ist durch den Versuch sich alles, was in den Mund passt, einzuverleiben und in die oral-sadistische Phase, die während des Zahnwachstums stattfindet. Freud sah hier die symbolische Übertragung der Früherfahrungen auf die Entwicklung von Vertrauen oder Misstrauen, Optimismus oder Pessimismus und auf die Entwicklung von Konformismus, je nach Erfolg der inkorporativen Phase. • Anale Phase (1½ bis 3 Jahre) • Erogene Zone ist in dieser Phase der Schließmuskel. Mit ihm ist die Freude am „Hervorbringen“ verbunden. Außerdem liefert der Schließmuskel paradigmatische Beispiele des Erlernens von Kontrolle (→ Reinlichkeitstraining). Während der Periode des Kontrollierens können sich die Neigung zur Bevormundung und andere analexpulsive Züge wie Feindseligkeit oder Unordentlichkeit entwickeln • Psychische Regression oder Fixierung auf diese Phase ist durch ein übertriebenes Kontrollbedürfnis, Kreativität oder Leistungsorientierung gekennzeichnet. • Phallische und Ödipale Phase (3 bis 5 Jahre) • In dieser Phase werden die Geschlechtsorgane zu den erogenen Zonen. Es vollzieht sich ein Wechsel von der autoerotischen (in etwa: narzisstischen) zur libidinösen Besetzung anderer Personen. Die Phase ist durch die Rivalisierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und durch das Begehren des andersgeschlechtlichen Elternteils gekennzeichnet. • Eine Fixierung auf diese Phase wird durch dominantes Machogehabe bei Männern und durch verführerisches Verhalten bei Frauen erkennbar • Latenzphase (6 bis ca. 16 Jahre) • Die sexuellen Bedürfnisse des Kindes rücken in den Hintergrund (auch durch die einseitige Fixierung auf die kognitive Entwicklung des Kindes in westlichen Kulturen erklärbar). • Genitale Phase (Jugend- bis Erwachsenenalter) • Sexuelle Befriedigung entwickelt sich immer mehr nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Die genitale Persönlichkeit stellt in der Psychoanalyse das Idealbild einer Persönlichkeit dar, die auf einer auf Geben und Nehmen ausgerichteten Lebensweise beruht. c) Angst und Verdrängung • Eine Regression resultiert aus Angst. Die Angst wiederum entsteht, wenn Erinnerungen an (sexuelle) Traumatisierungen während der Kindheit die infantile Amnesie ganz oder teilweise durchbrechen. • Freud sah die infantile Amnesie als Verdrängungsmechanismus an, der verhindert, dass allzu Belastendes bewusst wird. Macht ein Kind eine traumatische Erfahrung entsteht in dem Kind die Absicht sie zu verdrängen. • Erste Neurosentheorie • Hysterische Patienten litten unter psychosomatischen Symptomen wie Schmerzen oder Lähmungserscheinungen • Angst ist eine Folge der Verdrängung: Die Libido kann nicht abfließen und reagiert sich über dem Körper ab. • • • • 45 • Zweite Neurosentheorie Umgekehrte Relation: (sexuelle) Triebe lösen Ängste aus, entweder als Realangst (z.B. Strafe) oder als neurotische Angst (→ Angst vor Strafandrohungen des Überichs) • Verdrängung ist dann eine Maßnahme um das Ich vor einer Angstüberflutung zu schützen. • Psychologische Energieerhaltung: verdrängte Libido verschwindet nie, sondern äußert sich in Symptomen. Wahre und scheinbare Verdränger von Angst (ASENDORPF ET AL., 1983) • R-S-Skala • Repression-Sensitization (BYRNE, 1961a) • Skala misst die Tendenz zur Verdrängung • Auf eine starke Tendenz wird geschlossen, wenn jemand im Fragebogen viele Fragen nach Ängsten, Sorgen, etc. im eigenen Leben verneint wurden (entspricht niedrigem Kennwert in der R-S-Skala) • S-D-Skala • Vermutung: Verdrängung vom Angst ist auf den Wunsch zurückzuführen in einem positivem Licht erscheinen zu wollen – Ängstlichkeit gilt (insbesondere in den USA) als sozial unerwünscht (SCHILL & ALTHOFF, 1968) • Die wahren Verdränger – Represser – müssten also hohe Kennwerte in der Skala für soziale Erwünschtheit erreichen (S-D Skala, social desireability; CROWNE & MARLOWE, 1960) • Tatsächlich erreichten sie auch hohe Kennwerte. Es ist sehr plausibel, dass die Represser auch Schwierigkeiten haben ihre Ängste auszusprechen, wenn sie im S-D-Fragebogen in etwa nicht einmal zugaben jemals schon gelogen zu haben. • Experiment • R-S-Skala und S-D-Skala wurden kombiniert. So wurden die VP in vier Gruppen eingeteilt • Represser – hoher S-D- und geringer R-S-Kennwert • Ängstlich Defensive – hoher S-D- und hoher R-S-Kennwert • Niedrig Ängstliche – niedriger S-D- und niedriger R-S-Kennwert • Hoch Ängstliche – niedriger S-D- und hoher R-S-Kennwert • Den VP wurden Sätze vorgespielt, von denen die Hälfte wegen eines untergelegten Rauschens schwer verständlich waren • Einige Sätze drückten verbotene sexuelle Phantasien aus und induzierten (insbesondere in den USA) Angst: „You have secretley desired the sexual love of your mother“ • Einige Sätze hatten aggressive Inhalte. Sie sollten auch erregend sein wie die Sex-Sätze, aber (insbesondere in den USA) nicht Angst auslösten • zudem gab es neutrale Sätze • Die VP sollten einen Angstreport abgeben; gleichzeitig wurden physiologische Maße wie Herzrate protokolliert • Beobachtungen • VP mit einem hohen R-S-Kennwert – also hoch-ängstliche und ängstlichdefensive – erkannten die Angst auslösenden Sex-Sätze besser als alle anderen Sätze • Represser erkannten die Sex-Sätze genauso schlecht wie alle anderen Sätze auch • Dissoziation zwischen Angstreport und physiologischen Angstindikatoren bei Repressern: Sie gaben im Report niedrige Angstwerte an. Gleichzeitig zeigten sie einen deutlichen Anstieg der Herzrate und des mimischen Angstausdrucks. • Niedrig-ängstliche hatten hingegen sowohl im Angstreport als auch in den physiologischen Kennwerten niedrige Werte • Schlussfolgerung & Weiterführendes • Es existieren niedrig-ängstliche Menschen. Dies scheint keine sonderlich spannende Erkenntnis zu sein; allerdings witterten Psychoanalytiker hinter so gut wie jedem subjektiven niedrigem Angstreport eine Verdrängung. • • 46 Represser überwinden ihre Angst nicht nur durch die kognitive Vermeidung Angst auslösender Wahrnehmungen und Gedanken (EGLOFF & KRONE, 1998), sondern auch durch Ablenkung mit positiven Vorstellungen (LANGENS & MÖRTH, 2003: Represser kreieren mehr positive Vorstellungsbilder, wenn das Angstniveau durch die experimentelle Konfrontation mit Leistungsdruck und Misserfolg erhöht wird). d) Abwehrmechanismen • Fixierung und Regression: rigides Beharren auf Angstfreiheit vermittelnde Verhaltensweisen • Projektion: feindliche Gefühle werden anderen zugeschrieben • Verleugnung: „ICH ÄRGERE MICH ÜBERHAUPT NICHT!“ • Isolierung: (allgemein negativ valenzierter) Inhalt wird ohne den Affekt kognitiv zugelassen • Intellektualisierung: Überbetonung des Denkens gegenüber dem Fühlen – „So eine Vergewaltigung kommt in der heutigen Gesellschaft immer öfter vor.“ • Ungeschehenmachen: Überdecken unangenehmer Wünsche durch Zwänge • Reaktionsbildung: Entwicklung von Gefühlen und Handlungen, die den unerwünschten Gefühlen entgegengerichtet sind • Rationalisierung: unakzeptable Handlungen und Gefühle uminterpretieren • Sublimierung: Ersetzen des Befriedigungssymbols durch ein kulturell höheres – Mona Lisa als Gemälde zur Sublimierung der Sehnsucht nach der Mutter e) Auswirkungen auf die Gegenwart & Kritik • Freuds Erklärung der infantilen Amnesie als Verdrängungsmechanismus wirkt unplausibel. Man nimmt heute an, dass man sich an die ersten Kindheitserlebnisse deshalb nicht erinnern kann, weil zu der Zeit der Hippocampus (HC), der das bewusste Erinnern erlebter Episoden vermittelt, noch nicht ausgereift ist (JACOBS & NADEL, 1985). • Psychoanalytische Erklärungen sind in der heutigen experimentellen Psychologie nicht populär. Dennoch sorgte die Psychoanalyse für teilweise erstaunliche Befunde. • Zirkel-Dilemma – die Psychoanalyse ist nicht widerlegbar: egal ob der der Patient die Verdrängung von in etwa sexuellen Wünschen zugibt oder eben dies dementiert und sich laut Psychoanalyse somit im Widerstand befindet, der in der Therapie zu brechen ist – die Theorie hat immer Recht. Ein tatsächliches nicht-Vorhandensein des Wunsches wird kaum in Erwägung gezogen • Durch die Revision der ersten Neurosentheorie steht der Patient, der seine Neurose selbst durch unterdrückte Triebe verursacht hat, auf der Anklagebank (MILLER, 1983) • „Das emotionale Durchleben kritischer Ereignisse ist in einer Therapie wesentlich wichtiger als das Analysieren verbotener Triebwünsche (mind-fucking). Eine Psychotherapie sollte erlebniszentriert sein – kritische Lebensereignisse in etwa sollten konkret im Rollenspiel dargestellt werden und nicht nur besprochen und reflektiert werden“ (sinngemäß nach PERLS, 1973). • Dichotones Hören (DAWSON & SCHELL, 1982) • unabhängige Variable Überblick Daw son & Schell schockkonditionierte Wörter, die unbew usst in der RH verarbeitet w erden, lösen Angst aus zu beachtendes Ohr abhängige Variable Hautleitf ähigkeit (Maß für Angstreaktion) Schlussfolgerung analytische Funktionen der LH haben keinen großen therapeutischen Eff ekt VL Beobachtung • • • Ziel: Feststellung von Unterschieden in den Hemisphären beim Auslösen von Furchtreaktionen Experiment • Den VP wurden unterschiedliche Wörter übers rechte und linke Ohr übermittelt • Die Hälfte der verwendeten emotional neutralen Wörter wurde vor dem Versuch an einen kleinen Stromschlag gekoppelt, sodass sie fortan Angstreaktionen auslösten. • Das Maß für Angst ist die Hautleitfähigkeit, die sich mit steigender Angst erhöht • Die VP sollten auf die Wörter, die über das linke Ohr eingespielt wurden achten und nachsprechen. In einer Kontrollbedingung sollte auf das rechte Ohr geachtet werden. Somit wurde ein Ohr ignoriert. Die schockkonditionierten Wörter, die über das unbeachtete linke Ohr eingespielt wurden, lösten Angst aus 47 Eine Hemisphäre kontrolliert die kontralaterale Körperhälfte: für Wörter, die über das linke Ohr wahrgenommen werden, hat die RH einen Verarbeitungsvorteil • Das analytische Ich kann nicht über die von Freud angenommene affektregulatorische Kompetenz verfügen, da die analytische LH des Gehirns keine direkte Vernetzung mit dem ANS vorweist, wie es die RH tut (WITTLING, 1990). → analytische Funktionen sind therapeutisch wenig wirksam! 4.3. Stressbewältigung: Progression und Regression a) Einführung: Hippocampus (HC) • Der Hippocampus vermittelt den Einfluss höherer kognitiver Funktionen auf das emotionale Erleben und Verhalten • Beteiligt an der Bildung höherer kognitiver Repräsentationen • Grundlage für das episodische und autobiographische Gedächtnis • Generell vermittelt der HC zwischen elementaren und kognitiv höheren Ebenen der Verhaltenssteuerung • Erinnerung: Regression ist die chronische bzw. vorübergehende Abschwächung des Einflusses kognitiv höherer Ebenen (Kapitel 5-7) auf das Verhalten und Erleben • Die Regression ist auf eine stressbedingte Hemmung des Hippocampus zurückzuführen (SAPOLSKY, 1992; METCALFE & JACOBS, 1998; SPITZER, 1996) • Der HC verfügt im intakten Zustand über integrative und stressreduzierende Leistungen sowie über die Vermittlung von Bewältigungsmaßnahmen höherer kognitiver und selbstregulatorischer Systeme. Durch diese Prozesse bildet der HC die Grundlage der Emotionsbewältigung (→ Coping) und Affektregulation. • Die Aktivierung des HC wird von dem Stresshormon Cortisol beeinflusst: während eine geringe bis mäßige Konzentration den HC aktivieren, wird er von einer hohen Cortisolkonzentration gehemmt (SAPOLSKY, 1992; SPITZER, 1996). Ab welcher Cortisolkonzentration der HC gehemmt wird ist von Person zu Person unterschiedlich. • Dies beruht auf den zwei Cortisolrezeptortypen im HC, die sich durch ihre Cortisolaffinität unterscheiden. • Minerolocortisolrezeptoren (Steroidrezeptoren vom Typ I) haben eine hohe Affinität zum Cortisol: bereits bei mäßiger Stressintensität sind diese Rezeptoren stark besetzt – HC wird aktiviert • Glukocortikoidrezeptoren (Rezeptortyp II) besitzen eine geringe Affinität zum Cortisol und werden erst besetzt, wenn eine hohe Cortisolkonzentration vorherrscht – HC wird gehemmt • Wurde der HC durch frühkindliche Traumata geschädigt oder ist aufgrund von akuter Überbelastung gehemmt, verliert der HC die Fähigkeit Cortisol herabzuregulieren. Dies führt schon bei mäßigem Stress zu einer Besetzung der Glukocortikoidrezeptoren, was den HC weiter hemmt • Normalerweise ist der HC in der Lage die Ausschüttung von Cortisol in der Nebennierenrinde zu hemmen • Die erhöhte Ermüdbarkeit, die oft bei zu Regression neigenden Menschen auftritt, lässt sich ebenfalls durch die Konzentration des Cortisols erklären • Eine übermäßige Cortisolkonzentration hemmt den Glukosetransport durch die Blut-Hirn-Schranke (MCEWEN & SAPOLSKY, 1995) • Eine mäßige Cortisolkonzentration fördert hingegen die Glukoseversorgung. Dies fördert mitunter auch die rasche Assoziationsbildung im HC, da die LTPs (long-term potentiations), die dieser Assoziationsbildung zugrunde liegen, maßgeblich von einer guten Glukoseversorgung abhängen (Pavides et al., 1994) b) Mit Progression assoziierte Hippocampusfunktionen und -eigenschaften • Episodische Integration • Der HC integriert zusammen mit dem Neocortex viele Einzeleindrücke einer erlebten Episode zu einem Gesamtbild • Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht darin, dass der HC sehr viele Einzeleindrücke zu einer wohlgeordneten Gesamtszene zusammenzufügen muss, ohne dass eine Wiederholungsmöglichkeit der Orginalszene besteht (SQUIRE, 1992) – eine erlebte Szene wird sie niemals genauso wiederholen (Unterschiede in Ort, Zeit, Zielen, Stimmung, etc.). Dabei können sogar meist sehr viele Einzelheiten geordnet erinnert werden wie in • 48 • • • etwa räumliche Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen, zeitliche Abfolge von Ereignissen, sowie semantische, logische und psychologische Bezüge (z.B. wurde man von einem Freund sehr herzlich begrüßt, weil man sich schon lange nicht mehr gesehen hat.) Während Ruhephasen (insbesondere im Traum) füttert der HC in kleinen Dosen das Großhirn mit den Episoden, damit man sich auch unabhängig vom HC an sie erinnern kann. Alte Erinnerungen werden auf diese Art und Weise nicht überschrieben, sondern elaboriert (= ausgefüllt, mit Details versehen, differenziert ausgearbeitet) (MCCLELLAND ET AL., 1995). → Gleichgewicht zwischen Akkomodation (neues Wissen wird zügig in bestehende Strukturen integriert) und Assimilation (langwieriger Prozess bei dem Wissen in erster Linie angewandt wird. Während jeder Anwendungsepisode ändern sich die Verknüpfungsgewichte des Netzwerks.) (PIAGET, 1925) Neurobiologischer Hintergrund: Konsolidierung • Der HC speichert die Erinnerung solange zwischen, bis sie vollständig in das Langzeitgedächtnis im Neocortex aufgenommen wurde • Damit die Erinnerung in das Langzeitgedächtnis aufgenommen werden kann, müssen simultan unzählige Assoziationen gebildet werden. Dies wird durch die Langzeitpotentierung – LTP – erreicht: • Wichtigstes Merkmal der LTP ist die Abhängigkeit von der Koinzidenz (= Gleichzeitigkeit) der Aktivierung der Präsynapse und der Depolarisierung des postsynaptischen Neurons. Aufgrund dieser Abhängigkeit ist die LTP ideal für das Erlernen von Assoziation und Relation (→ Vgl. mit HEBB: „What fires together wires together“). • Die Abhängigkeit beruht auf den bei der LTP beteiligten NMDA-Rezeptor (NMethyl-D-Aspartat-Rezeptor), der stellenweise im HC vorkommt (genauer: CA1-Feld). Die Besonderheit eines NMDA-Rezeptors besteht darin, dass für seine Aktivierung der Neurotransmitter (Glutamat) nicht ausreicht. Ein Magnesiumblock (Mg2+) verstopft den Rezeptor. Ist die Membran eines postsynaptischen (nicht-NMDA) Neurons depolarisiert, gibt der Mg2+-Block den Ionenkanal frei. • Anschließend folgt ein Kalziumeinstrom, der die LTP auslöst • θ-Rhythmus • Die Assoziationsleistung des HC wird besonders dann begünstigt, wenn die Stimulation der NMDA Rezeptoren in der Frequenz des Theta-Rhythmus des HCs erfolgt • Dies ist besonders während des REM-Schlafs und während Explorationsverhalten der Fall • Während Angstzuständen jedoch verschwindet der Theta-Rhythmus (KRAMIS ET AL., 1975). Diese Zustände hemmen die integrativen Funktionen des HC. Verletzungen des HC • Der Patient H.M. (MILNER ET AL., 1968) kann sich nicht an erlebte Episoden erinnern • Anterograde Amnesie: Patienten mit HC Verletzungen können sich zwar an alte, bereits konsolidierte Episoden erinnern, aber keine neue Episoden einspeichern • Andere Gedächtnisleistungen, die nicht den HC involvieren funktionieren nach wie vor: ein Patient mit Läsion im HC konnte sich bewusst nicht daran erinnern seinen Arzt bereits getroffen zu haben. Trotzdem weigerte er sich dem Arzt die Hand zu geben. Am Vortag hat der Arzt ihn beim Händeschütteln mit einer Nadel gestochen; aufgrund dessen wurde eine Furchtreaktion einschließlich Vermeidungsreaktion konditioniert und später dann auch erinnert/ausgeführt (CLAPARÈDE, 1911) → Auswendiglernen, motorisches Lernen, operantes und instrumentelles Konditionieren sowie implizites Lernen bleiben intakt (SQUIRE, 1992) → Komplexere Formen der Konditionierung (Diskriminationslernen, Umgewöhnung oder Konfigurationslernen → 1.2a)) etwa involvieren bereits den Neocortex unter Vermittlung des HC → Sobald für eine Gedächtnisleistung elementare Steuerungsebenen (Gewohnheiten & Affekte) moduliert werden müssen, ist ein intakter HC für die Vermittlung vonnöten. 49 Stressreduktion → Eine Aktivierung des HC führt zu einer Hemmung der Cortisolausschüttung in der Nebennierenrinde • HC-Aktivierung durch Eustress • Modulation von Affekten durch hochinferentes (= konfiguratives) Wissen • Der „heiße“ Affekt einer Furchtreaktion, die durch Konditionierung eines Objekts mit einer Furchtreaktion erlernt wurde (→ 1.2d)), kann durch den Neocortex unter Vermittlung des HC abgekühlt werden • Generalisieren vs. Unterscheiden • Generalisieren: Der Tod des eigenen Kindes berührt alle Lebensbezüge einer Person • Übertrieben starkes Generalisieren: Misserfolg bei einer Matheaufgabe führt zu der Schlussfolgerung „Ich tauge einfach nichts.“ • Unterscheiden: Das Versagen bei einer Matheaufgabe gegenüber dem erfolgreichen Lösen anderer Aufgaben → es genügt nicht, dieses Wissen zu haben, es muss mit den relevanten Verhaltensmechanismen durch einen Top-down-Einfluss des HCs in Kontakt kommen. Nur so kann die erlernte Reaktion (hier: Mutlosigkeit nach Misserfolg) durch das Erfahrungswissen auch tatsächlich gedämpft werden. • Der HC hat die Aufgabe Übergeneralisierungen zu verhindern (ABRAMSON ET AL., 1978; SELIGMAN, 1975) • Übergeneralisierungstendenz bei Personen mit starken negativen Emotionen • Beispiel: Hilflosigkeit ist mit der Tendenz verbunden, Misserfolge einem generalisierten Mangel an eigenen Fähigkeiten zuzuschreiben → Übermäßiger Stress hemmt den HC. Infolgedessen können die unterscheidungssensitiven Fähigkeiten des Neocortex nicht auf die elementaren Ebenen des Verhaltens und Erlebens vermittelt werden • Tiere ohne intakten HC können automatische Reaktionen nicht aufgrund von Erfahrungswissen unterdrücken (Ausfall elementarer Top-Down Einflüsse) (SCHMAJUK & BUHUSI, 1997). c) Mit Regression assoziierte Hippocampusfunktionen und -eigenschaften • HC-Hemmung durch Distress → Führt zu einer Beeinträchtigung rationaler und emotionsregulierender Funktionen – quasi alle Funktionen die in 4.3b) aufgelistet sind • Schädigung des HC durch Langzeitstress → Bei Langzeitstress kann eine strukturelle Schädigung des HCs die Folge sein, die dazu führt, dass die Schwelle, ab der die HC-Hemmung einsetzt, immer weiter sinkt (MEANEY ET AL., 1988) • Psychosomatische und emotionale Störungen • Coritsolbedingte psychosomatische Krankheiten • die übermäßige, in HC-Hemmung resultierende Cortisolkonzentration kann körperliche Beschwerden hervorrufen (SAPOLSKY, 1992) • dies erklärt das Auftreten der psychosomatischen Erkrankungen, die mit Stress einhergehen: Magengeschwüre, beeinträchtigtes Immunsystem und sexuelle Dysfunktion (konnten allesamt in Tierversuchen bestätigt werden; SAPOLSKY, 1992) • Fremdregulation • Der HC hat sich mit Erreichen des dritten Lebensjahres vollständig entwickelt • Daher sind Kleinkinder in der Zeit davor vollständig auf Fremdregulation negativer Affekte angewiesen • Wurden in den ersten drei Lebensmonaten die intuitiven Blickkontakterwiderungen der Mutter gestört, die u.a. eine beruhigende Wirkung haben, waren spätere emotionale und psychosomatische Störungen des Kindes absehbar (KELLER & GAUDA, 1987) • Kinder, bei denen in den ersten Lebensmonaten wenig Wärme und nichtfunktionale Körperberührung beobachtet worden war, zeigten Ansätze einer schizoiden Angstbewältigungsform (→ verloren gegangene Objekte scheinen von vornherein nicht als wichtig erlebt zu werden, damit der Verlust nicht weh tut und ein Wiedererlangen kein Aufsuchungsverhalten oder Freude auslösen kann; FIEDLER, 1994): • 50 • • • verließ die Mutter den Raum und ließ das Kind mit einer fremden Person allein, handelte das Kind nach der Rückkehr der Mutter gänzlich unbeeindruckt – als wäre nichts geschehen (Egeland & Faber, 1984) Störungen durch Mangel an Beruhigungserfahrungen (MEANEY ET AL., 1988) • Eine Gruppe von Rattenbabys hat in den ersten 14 Lebenstagen kaum nichtfunktionales Streicheln erfahren • Als diese Ratten sehr alt waren (~ 2 Jahre) wurde die Funktionalität ihres HCs durch eine räumliche Orientierungsaufgabe getestet: Ratten schwimmen nicht gerne und sind daher schnell in der Lage anhand einiger Markierungspunkte außerhalb des Beckens eine knapp unterhalb der Wasseroberfläche versteckte Plattform zu finden. Die nicht gestreichelten Ratten brauchten mit zunehmendem Alter mehr und mehr Zeit • Nach dem Tod dieser Ratten konnte ein degenerierter HC gefunden werden. → Das Streicheldefizit führte zu einer Degeneration des HC und zu einer Beeinträchtigung seiner integrativen Funktionen im hohen Alter der Ratten. Feldstudie (FLINN & ENGLAND, 1995) • Über Monate hinweg wurden alle möglichen Stressoren innerhalb verschiedener Familien protokolliert. Nach Auftreten der Stressoren wurden bei Kindern Speichelproben entnommen, um den Cortisolspiegel zu messen. • Die Umstände, die durch einen hohen coritsolbedingten Stress der Kinder gekennzeichnet waren, stimmten erstaunlich gut mit den in der Anamnese (→ Ermittlung der Vorgeschichte in Bezug auf die aktuelle Erkrankung eines Patienten) erfragten Faktoren überein (z.B. übermäßige Bestrafung, Alkohol oder starke Veränderungen wie ein Umzug). Beeinträchtigte Affektregulation • Generell muss zwischen Affektsensibilität und -regulation unterschieden werden: wenn eine Person selten ängstlich wird, darf man daraus keine Rückschlüsse ziehen, wie leicht die Person die Angst tatsächlich bewältigen kann. • Ein Maß für die Affektsensibilität wäre die Häufigkeit des Affekts. • Die Fähigkeit zur Affektregulation lässt sich anhand der Affektdauer bestimmen. • Belastung vs. Bedrohung • Belastung • Hemmung des positiven Affekts • z.B. verursacht durch viele/unangenehme unerledigte Absichten • Bedrohung • Steigerung des negativen Affekts • verursacht durch Erfahrungen, die mit Angst und Schmerz assoziiert werden • Lageorientierung – Fixierung auf die momentane Lage • Regression bedeutet auch die Abkopplung kognitiver Prozesse von der Handlungssteuerung. • Dies äußert sich u.a. dadurch, dass Menschen prospektiv (= in die Zukunft schauend) ständig über unerledigte Absichten nachdenken, ohne zu handeln. Ein weiteres Merkmal ist die Unfähigkeit, aus dem Grübeln über ein unangenehmes Ereignis wieder herauszukommen. • Die Tendenz zu diesem Verhalten hängt davon ab, wie gut man Absichten ausführen und aus Misserfolgen lernen kann (KUHL, 1983c; KUHL & BECKMANN, 1994). • Unter Stress findet eine lageorientierte Person in eine Handlungsorientierung (s.u.) zurück. • Art der Lageorientierung in Abhängigkeit von der Art des unbewältigten Affekts: • ausführungshemmende Lageorientierung (prospektive Lageorientierung – LOP) ist an Belastung gekoppelt, also an einen gehemmten positiven Affekt. Diese Form der Lageorientierung äußert sich durch das häufige und unpassende Erinnern unerledigter Absichten (GOSCHKE & KUHL, 1993) sowie das Aufschieben dieser Absichten (FUHRMANN & KUHL, 1998) und eine Entscheidungsunfähigkeit (STIENSMEIER-PELSTER, 1994). 51 Misserfolgsbezogene Lageorientierung (Lageorientierung nach Misserfolg – LOM) hängt mit Bedrohung, also mit dem negativen Affekt, zusammen. Diese Unterart der Lageorientierung zeichnet sich dadurch aus, dass die ganzheitliche Verarbeitung eingeschränkt ist. Dies zeigt sich durch eine Beeinträchtigung bei kreativen Aufgaben (BAUMANN & KUHL 2002) oder bei dem Erinnern eigener Ziele (KUHL & KAZÉN, 1994; BAUMANN & KUHL, 2003: VP sollten sich erinnern, welche Tätigkeiten sie in einer früheren Versuchsphase selbst ausgesucht haben, nachdem der VL einige Tätigkeiten dazugeschrieben hatte) • Handlungsorientierung – Fixierung auf die Handlung • Handlungsorientierung meint mehr die Fähigkeit der Affektregulation, als die Affektsensibilität (BECKMANN & KUHL, 1984; KOOLE & JOSTMANN, 2004; → u.a. 7.4e)) • Eine handlungsorientierte Person (hier: Handlungsorientierung nach Misserfolg – HOM) ist demnach z.B. in der Lage aufgrund eines Missgeschicks nicht in ein lähmendes Grübeln zu verfallen, sondern dieses Missgeschick als eigenen Fehler zu identifizieren und neue Versuche zu wagen. • Reperaturfähigkeit – Neurogenese → HC verfügt über eine gewisse Neuroplastizität; also ein Wachstumspotential, das von einem Mindestmaß an Beanspruchung abhängt (FUCHS & GOULD, 2002) d) Entwicklung & Dialektik • HC ist maßgeblich für die Entwicklung integrativer Funktionen verantwortlich. Also etwa die Entwicklung von höheren Formen des Lernens, die einem eine bessere Auseinandersetzung mit unserer komplexen Umwelt ermöglichen. • Dieser Prozess lässt sich auch als Persönlichkeitsentwicklung auffassen – als eine Entwicklung von kognitiven und selbstregulativen Funktionen • Damit dies richtig funktioniert, sind Progression und Regression gleichermaßen vonnöten. Die Entwicklung funktioniert durch das Zusammenspiel von Bahnung und Hemmung, welches von Stress und Entspannung abhängig ist. • Dialektik vs. Akkomodation • Dialektik: Der HC gilt wie erwähnt (→ 4.3b)) als eine Art Zwischenpuffer und hilft der Hirnrinde erlebte Episoden stückchenweise mit bereits verarbeiteten Erfahrungen zu elaborieren. Offensichtlich setzt dieses System eine top-down Steuerung voraus (ungehemmter HC, Progression) • Akkomodation: Die Akkomodation beschreibt ein radikales Umlernen. Es existieren Situationen, in denen dies hilfreich ist. In diesen Situationen sind ebenfalls dominierende elementare verhaltens- und erlebensbahnende Systeme hilfreich. Eine mögliche Situation wäre die Anpassung an plötzliche gefährliche Umweltbedingungen, wo es besonders nützlich ist altes Wissen radikal zu überschreiben („katastrophische Interferenz“ → bottom-up Steuerung, gehemmter HC, Regression). Ein extremes Beispiel für Akkomodationslernen ist die Borderline Persönlichkeitsstörung: Patienten können alle positiven Erinnerungen an eine Person schlagartig verlieren, wenn eine negative Erfahrung mit ihr eine kritische Belastungsgrenze übersteigt • Pendler • Im Idealfall ist ein Mensch in der Lage zwischen progressivem und regressivem Steuerungsstil zu wechseln (zu pendeln) • So ein Mensch müsste in der Lage sein negative Emotionen selbst entweder zuzulassen oder herabzuregulieren (zulassen: Selbstentwicklung durch Bewältigung; herabregulieren: Bewältigung verschieben, falls gerade gehandelt werden muss) • Befindet sich die Person im regressivem Zustand, so ist sie besser in der Lage integriertes Wissen zu vermehren (→ besseres und zügigeres Anpassen an die Bedingungen der komplexen Umwelt) • Geht sie dann in den progressiven Zustand hinüber, kann der HC das Wissen integrieren und bei voller Aktivierung des HCs dann auch anwenden. • 52 4.4. Emotionen: Modulation durch elementare und höhere Prozesse • Alle für die Steuerung und Entstehung von Emotionen relevanten Komponenten fließen zusammen, da sich im HC entscheidet, ob elementare oder kognitiv höhere Systeme die Emotion hervorrufen und regulieren. a) Neurobiologischer Hintergrund – Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Wegen der Emotionsentstehung • Subkortikaler, elementarer Weg (Kapitel 1-3) • Entstehung hauptsächlich über die Hauptkerne der Amygdalae, sowie über den Hypothalamus und das zentrale Höhlengrau (SIEGEL ET AL., 1999) • Steuerung intuitiver oder automatisierter Verhaltensroutinen, die durch globale Aktivierungsprozesse aktiviert werden; z.B. Fluchtverhalten oder Gesichtsausdruck • Steuerung von Systemen, die mit dem sympathischen Teil des ANS zusammenhängen; z.B. Schweißabsonderung zur Abkühlung, Beschleunigung der Atmung und andere vegetative Reaktionen; diese Systeme werden durch das globale Erregungsniveau intensiviert • Steuerung der Hormone (u.a. Adrenalin und Steroidhormone wie Cortisol); die hormonelle Steuerung kann sowohl die motorische Aktivierung als auch die sensorische Erregung erhöhen • Neokortikaler, kognitiv höherer Weg • Dieser Weg der Emotionsentstehung ist neurobiologisch weitaus schlechter erforscht • Orbitofrontaler Cortex ist besonders wichtig für kognitive Regulation von Emotionen → Läsion in diesem Areal führt zu dem Verlust der Fähigkeit impulsives Verhalten aufgrund schlechter Erfahrungen zu hemmen (BECHARA ET AL., 1999) • Entstehung von Emotionen durch Beteiligung folgender höherer Prozesse • Motivanregung: Netzwerke, die in Abhängigkeit von autobiographischer Erfahrung und Kontextsensibilität Befriedigungsalternativen für Bedürfnisse, die von den aktuellen Emotionen berührt werden, liefern • Kognitive Bewertungen aktueller Emotionen über Ursachen, Folgen, etc. • Selbstregulation von Affekten b) Emotionen und Kognitionen beeinflussen sich gegenseitig • Affekte beeinflussen über eine Bottom-up Vermittlung die Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung (WENTURA ET AL., 2000) • Stroop-Test mit emotional valenzierten Wörtern • Die Reaktionszeit für das Benennen der Farbe steigt mit der Angst bzw. Erregung, die das geschriebene Wort bei der VP auslöst. Derselbe Effekt konnte bei positiv valenzierten Wörtern beobachtet werden, falls es sich bei dem Wort um eine fremdrelevante Disposition handelte (→ Dispositionen, die sich mehr auf das soziale Umfeld beziehen, als auf die Person selbst; z.B. freundlich oder fair) • Dies ist dadurch zu erklären, dass das emotional valenzierte Wort konkurrierende motorische Verhaltenstendenzen auslöst. Löst das Wort also z.B. eine Aufsuchungsoder Vermeidungsbewegung aus, kann man nicht auf Anhieb die ungewöhnliche Aufgabe des Stroop-Tests bewältigen. • Der Aufmerksamkeitsbonus für emotionale Reize ist auch nachweisbar, wenn die bewusst kontrollierbare Aufmerksamkeit durch eine Zusatzaufgabe geschwächt wird (LAVIE, 2005). • Patienten mit Läsionen in den Amygdalae zeigen die gleichen Auffälligkeiten, was darauf schließen lässt, dass es sich tatsächlich um kognitive Prozesse handelt, die hier beteiligt sind (ANDERSON & PHELPS, 2001; es handelte sich allerdings um ein anderes Experiment) • Die Befunde zum Aufmerksamkeitsbonus affektiver Reize sind inkonsistent. Andere Befunde legen die Existenz von mehreren Aufmerksamkeitssystemen nahe (Z.B. POSNER & PETERSEN, 1990). Daher ist der Einfluss der Emotionen auf die Aufmerksamkeit von der Aufgabe abhängig zu erklären. • Automatische Aufmerksamkeitsvorteile und Konkurrenz zwischen motorischen Verhaltenstendenzen entsprechen Funktionen der elementaren Systemebenen 1-3. Diese Art des emotionalen Einflusses ist daher mit einer Bottom-up Steuerung vergleichbar • Kognitive Repräsentationen (z.B. Ziele und Aufgaben) beeinflussen in einer Top-down Vermittlung die Art und Intensität von Affekten → Bestätigt durch emotionale Aufwertung von ziel- oder aufgabenrelevanten Inhalten (BECKMANN & KUHL, 1984; BOCK & KLINGER, 1986) 53 Die motivationale Richtung (Aufsuchung oder Vermeidung) von elementaren Verhaltensroutinen intensiviert Affekte (FÖRSTER, 2004) • VP sollten mittels spezieller Bewegungen Aufsuchungs- oder Vermeidungstendenzen induzieren. • Aufsuchungstendenz wurde im ersten Experiment durch das Verfolgen eines sich vertikal bewegenden Stimulus induziert. Da die daraus resultierende Kopfbewegung einem Nicken entspricht, erhofften sich die VL die Induktion der Tendenz. In einem zweiten Experiment sollten die VP ihre Hand von oben gegen die Tischplatte drücken, was ebenfalls eine Aufsuchungstendenz erzeugen soll, da die Bewegung einer einladenden Geste entspricht • Die Vermeidungstendenz wurde analog zur Aufsuchungstendenz im ersten Experiment durch eine horizontale und verneinende Bewegung sowie im zweiten Experiment durch eine abwehrende Bewegung (die VP sollten von unten gegen die Tischplatte drücken) erzeugt. • Während die Tendenzen erzeugt wurden, waren die VP Stimuli ausgesetzt. Es handelte sich dabei um Bezeichnungen für Nahrungsmittel, die vorher von Studenten als attraktiv oder negativ eingestuft worden sind. • Bei induzierter Aufsuchungstendenz wurde eine positive Bewertung noch positiver eingeschätzt. Analog dazu wurde bei erzeugter Vermeidungstendenz ein negativer Reiz noch negativer bewertet. • Scheinbar liefert der Befund ein Beispiel für den Einfluss elementarer auf komplexe Ebenen. Allerdings ist es plausibler, dass ein Beispiel für einen progressiven Top-down Einfluss vorliegt. • Beugung und Streckung (CENTERBAR & CLORE, 2006): Armbeugung intensiviert Bewertungen jeglicher Valenz. Streckung des Arms schwächt eben solche Bewertungen ab. Annahme: diese Auswirkungen werden auch auf höheren Ebenen deutlich • Armbeugung intensiviert Valenzen und damit das Aufsuchungsverhalten. Somit müsste sich die Beugung auf die Selbstmotivation auswirken. Zu ihr gehört u.a. die anfängliche Intensivierung des Valenzabstandes von attraktiven und unattraktiven Optionen (dient dem Treffen einer klaren und stabilen Entscheidung) • Durch die Streckung des Arms werden meidende Tendenzen ausgelöst. Auf höheren Ebenen müsste sich dies u.a. auf die Selbstwahrnehmung auswirken: Es müsste wesentlich schwerer fallen Valenzunterschiede wahrzunehmen. Eben dieser Effekt tritt bei der Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung durch negativen Affekt auf (KUHL & KASCHEL, 2004). → Die Auswirkungen der Armbewegungen entsprechen dem Schema der anfänglichen Intensivierung von Valenzunterschieden zur Stabilisierung von Ziel- und Umsetzungsprozessen (BECKMANN & KUHL, 1984; HARMON-JONES & HARMON-JONES, 2002), die durch selbstregulative Mechanismen vermittelt werden (KOOLE & JOSTMANN, 2004) 4.5. Anwendung: Lösungsorientierte Beratung, Dialektik und das Marienkind a) Lösungsorientierte Beratung (BAMBERGER, 2001) • Menschen, die sich durch einen einseitigen regressiven Steuerungsstil auszeichnen, können durch HC-involvierende Maßnahmen wieder zu einem progressivem Steuerungsstil veranlasst werden • Erweiternde Funktionen • Es ist bedeutsam, dass diese Maßnahmen (gesprächstherapeutische Fragen genügen) die erweiternden Funktionen des HCs ansprechen, also in etwa weitläufige Assoziationsnetzwerke anregen; z.B.: „Welche Konsequenzen hätte die Lösung des Problems für sie?“ • Des Weiteren sollten Fragen gestellt werden, die feinere Unterscheidungen erfordern (z.B. „Wenn 10 für eine erfolgreich abgeschlossene Therapie steht und 1 für ihren Zustand in unserer ersten Sitzung, wo sehen Sie sich heute?“). Diese Unterscheidungen erweitern den sog. kognitiv-emotionalen Raum. Die Erweiterung wird durch die Aktivität des HC und die integrativen Funktionen des Neocortex, die mit dem HC verbunden sind, gestützt. • 54 Stressreduktion Damit die erweiternden Funktionen des HCs überhaupt anregbar werden, muss übermäßiger Stress herabreguliert werden. Hier bieten sich verschiedene Maßnahmen an. → Affektregulation Reduzierung negativer Gefühle durch positive selbstwertstützende Gefühle: „Ich bin beeindruckt, wie sie sich in ihrer Lage immer wieder aufraffen können“ → Selbststeuerung Assoziationen anregen, die dem verengten analytischen Denken nicht mehr zugänglich sind; „Stellen sie sich vor, Sie könnten Ihre depressiven Gefühle beeinflussen – was müssten Sie tun, um die Sache noch zu verschlechtern?“ → Vorhersage: Übungen, die den Horizont erweitern und affektregulatorisch – da vorbereitend – wirken: „Bitte versuchen Sie am Abend vorherzusagen, ob der folgende Tag problemreich oder problemfrei sein wird. Welche Kriterien eignen sich?“ b) Emotionale Dialektik • Wechselspiel zwischen Hemmung und Bahnung integrativer Systeme vermittelt Lernen aus Erfahrung (→ 4.3d)) • Die Wichtigkeit dieses stress- und affektsensiblen Wechsels wird in Psychologie und Philosophie vernachlässigt • Den Beleg für diesen Wechsel liefert die neurobiologisch informierte experimentelle Psychologie: die Entwicklung kognitiver Funktionen ist direkt von dem Wechsel elementarer und höherer psychischer Systeme abhängig – also vom Wechsel zwischen Re- und Progression. Grundlage dieses Wechsels sind Phasen, in denen man negative Emotionen aushält und sie nicht verdrängt sowie Phasen, in denen diese Emotionen durch Selbstkonfrontation (direkter Kontakt zwischen höheren geistigen Funktionen und affektbelasteten Einzelerfahrungen) bewältigt werden. Die Voraussetzung für die Selbstkonfrontation wird in Kapitel 7 erläutert (→ 7.2a) und c)) c) Märchen – „Das Marienkind“ • Das Märchen verdeutlicht die Persönlichkeit eines Mädchens (des Marienkinds), die nach einer verwöhnten oralen Phase mit Eintritt in die Pubertät eine bestrafungsintensive Kindheit erlebt hat • Psychoanalytisch: die Mutter gewährt nur oberflächliche (→ orale) Beziehungen und keine tiefe, hingebungsvolle (→ genitale) Beziehung aus Angst, das Kind könnte sie durchschauen, abwerten und schlussendlich verlassen (der Mutter fehlte eine Integration der eigenen Weiblichkeit) (DREWERMANN, 1992) • Neurobiologisch: die Auswirkungen der übermäßigen Bestrafungen im Märchen decken sich mit den Folgen chronischer HC-Hemmung • Ursachen für die Marienkind-Symptomatik • Armut der Eltern → Unfähigkeit psychischen Reichtum zu vermitteln (durch angemessene Widerspieglung der Selbstäußerungen des Kindes) • Scheinfreiheit („du darfst alle Türen öffnen, außer die 13. und letzte Tür“) → Vortäuschung einer Entscheidungsfreiheit mit gleichzeitiger Unterdrückung der Selbstintegration. Das Pendant in unserer Mediengesellschaft wäre das Ersetzen von tiefer persönlicher Begegnung durch vielzählige oberflächliche Kontakte • Symptome • Marienkind verstummt und wird bewegungsunfähig → kognitive Verengung durch stressbedingte HC-Hemmung → Sündenbockdynamik: „Stummheit“ erlaubt es dem Marienkind nicht, sich gegen bösartige Gerüchte der Leute zu wehren, die ihr unterstellen, sie sei eine Menschenfresserin. Die Selbstwahrnehmung und -darstellung ist stark beeinträchtigt. Heutzutage wird eine solche Beeinträchtigung der Entwicklung integrativer Kompetenzen zum einen durch die postmoderne Beliebigkeit (→ 2.5b)) und zum anderen durch die Misserfolgsängste hervorgerufen, die ihrerseits auf dem allgemeinen Streben nach Leistung, Perfektion und political correctness beruhen. • • 55 Kapitel 5: Motive 56 5. Motive Erfahrungsnetzwerke um Bedürfniskerne • Begriff: „Motiv“ • Beispiele: „Herbstmotiv“ und „Tätermotiv“ • Motive müssen Betrachter oder Täter nicht bewusst werden • Unterscheidung zwischen höheren Motiven (→ Sterbehilfe als Tätermotiv) und niederen Motiven (→ Raubmord) • Die elementaren Ebenen der Verhaltenssteuerung können mit niederen Motiven verglichen werden. Ein Mörder zum Beispiel kann... • aus Wiederholungszwang handeln (Kapitel 1) • aus einer Laune heraus handeln (Kapitel 2) • aus Lust am Töten oder Bestrafungsvermeidung handeln (Kapitel 3) • Motive – Motivationspsychologisch • (höhere) Motive beschreiben die Verhaltenssteuerung auf kognitiv höheren Ebenen → „intelligente“ Verhaltenssteuerung, die Lebenserfahrungen berücksichtigt • Motive lassen sich anhand ihrer Zugehörigkeit zu den drei höheren Systemebenen (Kapitel 5-7) klassifizieren → Motive, die weitgehend auf frükindlichen (→ präverbalen bzw. vorbegrifflichen) Erfahrungen beruhen (MCCLELLAND ET AL., 1989; Kapitel 5) → Motive, die durch explizierbare Erwägungen entstehen (→ Chancen, Konsequenzen) (Kapitel 6) → Motive, die aus der Vereinbarkeit der betreffenden Handlung mit dem integriertem Selbst gespeist werden und so ein selbstbestimmtes Handeln ermöglichen, das Sinn stiftende und ethische Erwägungen integrieren kann (KUHL & SCHEFFLER, 1999; Kapitel 7) • Motive (im folgenden werden immer die Motive angesprochen, die von präverbalen Erfahrungen geprägt sind) • Thema dieses Kapitels sind also die größtenteils vorbegrifflichen Motive. Beispiel: Ein Kind sagt „Ich will Mütze“ und drückt damit aus, dass es gerne spazieren gehen möchte. Die Aussage ist ein Prototyp für das Gemeinte oder ein Pseudobegriff, die auf dieser frühen Entwicklungsstufe bedürfnisrelevante Erfahrungsnetzwerke repräsentieren • Bevor in Kindern die Begriffe hierarchische Beziehungen zwischen Merkmalen aufweisen, verwenden sie Pseudobegriffe. Diese Phase in der Kindheit zählt noch zu der vorbegrifflichen/präverbalen Phase (VYGOTSKI, 1978) • „Pseudobegriffe“ sind im Gegensatz zu Begriffen nicht durch die hierarchischen Beziehungen ihrer Elemente definiert, sondern sind durch eine unauflösbare, diffuse und mehrdeutige Gesamtheit eines ganzen Komplexes von Bildern und Merkmalen charakterisiert. → ganzheitliches und parallelverarbeitendes Denken • Leistungsaphasie (LURIA, 1982) • Patienten mit einer Leistungsaphasie können gesprochene Wörter verstehen, aber nicht nachsprechen • Ist das gesprochene Wort jedoch semantisch mit einem aktuellen Bedürfnis assoziiert, ist der Patient in der Lage es nachzusprechen; z.B. kann ein Patient, wenn er Hunger hat, „Brot“ nachsprechen → Es gibt zwei Verbindungen ins Sprachzentrum: eine ist vom Bedürfniszustand unabhängig und eine wird durch sie gebahnt. → Durch diese zweite Verbindung können Motive das Sprechen und Handeln modellieren • Die vorbegrifflichen Motive zeigen sich vor allem dann, wenn es um eine erste Auffassung der motivational mehrdeutigen Arten der Bedürfnisbefriedigung geht; Beispiel: denkt eine Schülerin bei Betreten des Klassenzimmers zuerst an ein Gespräch mit dem besten Freund oder an das Vergleichen der Aufgabenlösungen mit der Klassenbesten? 57 • Was ist mit vorbegrifflich verankerten Motiven gemeint? (SCHULTHEISS & BRUNSTEIN, 1999) Abb 5.1 VP spielten Tetris Vor dem Spiel wurde den VP eine Rangliste gezeigt und gesagt, dass es möglich sei, sie könnten den Rekord brechen → Machtthematik • In einer Bedingung wurde ein Teil der VP angeleitet sich vorzustellen, dass ihre Leistung ansteigen würde, sie schlechtere Spieler übertrumpfen und schlussendlich auf Platz 1 der Rangliste stehen. Diese Anleitung regt handlungs- und erblebnisnahe (→ vorbegriffliche) Imagination der Leistungsund Machtthematik dieser Situation an (Zielimaginationsgruppe). • In der Kontrollbedingung sollten die VP sich sensorische Einzelheiten vorstellen wie etwa Farbe und Bewegung der zu platzierenden Spielfiguren (Aufgabenimagination) • Die VP der Zielimaginationsgruppe trugen sich nach dem Spiel mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Bestenliste ein, als die VP der Aufgabenimaginationsgruppe. • Weitere Unterschiede ließen sich feststellen, nachdem die Stärke des Machtmotivs der VP per TAT (s.u.) ermittelt wurde: Personen mit starkem Machtmotiv zeigten in der Imaginationsgruppe eine höhere Leistung und trugen sich wesentlich häufiger in die Bestenliste ein als VP der gleichen Gruppe mit niedrigem Machtmotiv → Motive sind eine Quelle zielgerichteten Handelns, die sich an konkreten Bildern von Anreizmotivation und Handlungsvollzügen orientiert Die vorbegrifflichen Motive bilden die Energiequelle aller höheren Motive (Kapitel 6 & 7) – ihre motivationale Kraft beruht auf den frühkindlichen Motivdispositionen (MCCLELLAND, 1985) Entwicklung eines vorbegrifflichen Motivs: In Momenten, in denen ein starkes Bedürfnis wahrgenommen wird, und in Momenten, in denen ein Bedürfnis befriedigt wird, werden alle Merkmale dieser Momente eingeprägt – sowohl die innere Lage als auch das Umfeld. Diese Merkmale werden mit dem Bedürfnis assoziiert. Wenn genug „Bilder“ mit einem Bedürfnis assoziiert werden, entsteht aus ihnen ein vorbegriffliches Motiv: ein Netzwerk von Gelegenheiten, Handlungen und Konsequenzen, die mit der erwünschten Bedürfnisbefriedigung zusammenhängen. Thematischer Apperzeptions-Test – TAT (MUARRY, 1938) • Motive sind die Apperzeption (→ Auffassung oder Deutung) von Befriedigungsmöglichkeiten der aktuellen Situation • Um Ausprägung von Motiven zu messen, sollten Probanden Geschichten zu vielfältig interpretierbaren Bildern erfinden; Beispiel: Mann redet mit einem Jungen. „Mann gibt Befehle“, „Mann lobt Jungen für besondere Leistung“, „Junge sucht Nähe und Geborgenheit“ • Idee: Bedürfnisse beeinflussen befriedigungsrelevante Deutungen von Wahrnehmungsinhalten; empirisch belegt (VP haben umso mehr essbares in • • • • • 58 unklar erkennbaren Objekten gesehen, je hungriger sie waren; ATKINSON & MCCLELLAND, 1948) • Tatsächlich beeinflussen die verschiedenen Ausprägungen des Macht-, Leistungs- und Beziehungsmotivs nicht nur die Wahrnehmung, sondern bestimmen auch die Zielgerichtetheit und Ausdauer bedürfnisrelevanten Handelns (→ näheres in 5.3 und 5.4) • Funktionsweise von Motiven • Es ist nicht bekannt wie Motive Einfluss und Wirkung zeigen können. Es wäre denkbar, dass Motive während des gesamten Handlungsverlaufs auf einer vorbegrifflichen Ebene aktiv sind und die Ausdauer und Zielgerichtetheit überwachen. Es wäre ebenfalls denkbar, dass Motive nicht die ganze Zeit über aktiv sind, sondern durch spontane Apperzeption einzelner Situationen – „hier will mir jemand was vorschreiben!“ – weiterführenden Prozessen der Zielverfolgung „ihren Stempel aufdrücken“ • Plausibler erscheint die letzte Vorstellung, die an das Delegationsprinzip angelehnt ist, welches besagt, dass höhere Systemebenen ziemlich eigenständig gesteuert werden, nachdem sie das Motivthema übernommen haben. So können diese Systeme frei und jederzeit andere Systeme aktivieren, deren Zusammenarbeit für die Aufgabe die besten Ergebnisse liefert. Würde ein Motiv andauernd aktiv sein und das Handeln die ganze Zeit über steuern, wäre es nicht so leicht ein anderes System zu aktivieren, wenn es nicht mit der vorbegrifflichen Verarbeitung verknüpft ist. • Beispiel – Machtmotiv: eine machtthematische Apperzeption eines bedürfnisrelevanten Wahrnehmungsinhaltes könnte zunächst die RH aktivieren, da sie über eine ganzheitliche Auffassung von Ähnlichkeitsrelationen verfügt (LEVY & TREVARTHEN, 1976); (z.B.: „in dieser Situation kann ich die Person von meinen Zielen überzeugen und sie damit beeinflussen“). In der Umsetzungsphase ist es trotz der Aktivierung der RH möglich, die LH mit einzubinden, die die Berücksichtigung von Mittel-Zweck-Relationen unterstützt (LEVY & TREVARTHEN, 1976); (z.B. „Ich kann folgende Mittel einsetzen, um die Person zu beeinflussen“) • Unterschied zwischen Motiv und Motivation • Motivation: Die Stärke, in der die situativen Anreizmomente ein Motiv anregen • Motive: latente (→ nicht direkt beobachtbare) Dispositionen, die aufgrund von Erfahrungen bestimmen, welche Bedürfnisse in motivational mehrdeutigen Situationen das Handeln steuern. Motive sind abhängig von der Stärke ihrer Ausprägung und den Befriedigungschancen der aktuellen Situation. 5.2. Geschichte: McDougall, Murray, McClelland, Atkinson a) McDougall • Was unterscheidet zielgerichtetes Verhalten von dem Abspulen von Reiz-Reaktions Verbindungen? • Spontaneität • Ausdauer • Einbindung von gerade gelerntem in das Handeln • Änderung der Zielrichtung, wenn sich das Ziel bewegt • Vermittlung all dieser Prozesse durch kognitive und emotionale Prozesse • McDougall wollte so Instinkte beschreiben, die die mit Zielzuständen assoziierten Emotionen wie folgt erklärten: Der Fluchtinstinkt wird mit der Furchtemotion vermittelt, der Selbstbehauptungsinstinkt durch die Emotion des Stolzes • Allerdings fehlte es diesen „Instinkten“ an Flexibilität: Der Begriff wirkt zu mechanisch und favorisierte einseitig angeborene Verhaltensmerkmale • McDougall ersetzte deshalb den Instinktbegriff durch motivationale Neigungen. 59 b) Murray • Entwickelte den TAT (→ 5.0) • Ablauf Die Probanden sollen zu einem mehrdeutigen Bild spontan eine Geschichte entwickeln, die umfasst, was geschieht, was die Personen auf dem Bild denken, wie die Situation auf dem Bild zustande kam und wie die Geschichte ausgehen wird Quelle: Langens/Schüler 2003: 93 Die Interpretation der Messung durch den TAT • Murray – Projektion (psychoanalytischer Begriff): Wenn die zu beschreibende Szene viele Interpretationen zulässt, so werden die Probanden ihr stärkstes Motivthema hineinprojizieren • Vorbegrifflichkeit von Motiven: vorbegriffliche Motive bestimmen in relativ unstrukturierten Situationen stets das Motivthema. Daher ist es sinnvoll zu beobachten, welche Themen der VP zu motivational mehrdeutigen Bildern einfallen, in denen mehrere Bedürfnisse thematisiert werden können. Es ist dabei (im Gegensatz zu der psychoanaytischen Erklärung mithilfe des Projektionsbegriffs) unwichtig, ob die Person ihre eigenen Bedürfnisse in die abgebildeten projiziert. Vielmehr beruht diese Erklärung auf der Annahme, dass Bedürfnisse Wahrnehmungsinhalte so beeinflussen, dass eventuelle Befriedigungsmöglichkeiten erkannt werden können. • Beispiel: Mann und Frau sitzen auf einer Bank am Flussufer – Kopplung der Geschichten an die drei sozialen Basismotive: Anschluss, Macht und Leistung • VP1: „Forscher und Forscherin aus Institut bei der Mittagspause; Gespräch über bahnbrechende Erfindung“ (Leistung) • VP2: „Liebespaar; vertrautes Gespräch; lächeln häufig und reden über ihre intimsten Gefühle; sie fallen sich um den Hals“ (Anschluss) • VP3: „Chef und Sekretärin; Chef ist sauer und sagt ihr, sie habe nur noch eine letzte Chance ihr Verhalten zu ändern; andernfalls droht Entlassung“ (Macht) c) McClelland • Motivdefinition Ein Motiv zeichnet sich durch die Tendenz zur Wiederherstellung eines Hinweisreizes aus, der an eine bereits erlebte Veränderung einer affektiven Situation erinnert. So entwickelt sich zum Beispiel ein Leistungsmotiv, wenn man als Kind gehäuft erfahrenen hat, dass durch die Bewältigung von Schwierigkeiten ein Wechsel von gehemmtem positivem oder starkem negativem Affekt zu einem starken positiven Affekt vollzogen werden kann (→ Leistungsfreude). • Definition ist behavioristisch orientiert und ist stark auf den Affektbegriff zentriert und basierte nicht auf der Erfüllung oder Frustration von Bedürfnissen. • Motive werden hier an die individuelle Lernerfahrung geknüpft, aus der ein Erwartungsniveau (Adaptionsniveau; MCCLELLAND ET AL., 1953) entspringt. Es gilt bei einem Motiv das eigene Erwartungsniveau zu halten und es weder großartig zu übernoch zu unterschreiten. Dies wird als unangenehm erlebt und steigert die Vermeidungsmotivation. • Neurobiologische Hintergründe (MCCLELLAND ET AL., 1987) • Eine Kontrollgruppe und eine Gruppe VP mit ausgeprägtem Anschlussmotiv (→ TAT) • VP schauten einen Liebesfilm oder einen Film über Partnerschaftskonflikte • Dadurch sollte ihr Anschlussmotiv angeregt werden • 60 Stoffwechselkorrelate (→ gemessen über Blutserum und Speichel) stiegen für Dopamin (aber nicht für Noradrenalin, Adrenalin oder Cortisol) bei allen VP an, besonders aber bei den Anschlussmotivlern, wenn sie gleichzeitig von hohem Alltagsstress berichteten. • Befunde wurden durch neuere Untersuchungen bestätigt und erweitert (SOKOLOWSKI ET AL., 1997): • Parkinson Patienten leiden unter nigrostrialem Dopaminmangel • Sie zeigten ein niedriges Anschlussmotiv (gemessen mit Gittertechnik → 6.3c) „Die Gitter-Technik – Motivmessung“), im Fragebogen allerdings gaben sie sogar ein erhöhtes Anschlussmotiv an. • Dopamin ist ein verhaltensbahnender Neuromodulator (→ 0.3c) & 3.3b)). Die Vermutung liegt Nahe, dass die Kombination aus Stress und ausgeprägtem Anschlussmotiv eine Dopaminerhöhung bedeutet, weil Anschlussmotivler nicht – wie sonst üblich – bei Stress mit Verhaltenshemmung, sondern mit der Aktivierung der IVS reagieren, die für spontane Kontaktaufnahme unverzichtbar ist. • Neurotransmitter und Hormone bilden eine entscheidende Grundlage in der Funktionsweise von Motiven. Mit ihrer Hilfe können Motive mit allen notwendigen Arealen verschaltet werden • Weitere neurobiologische Zusammenhänge • Machtmotiv und Blutdruck korrelieren positiv (MCCLELLAND, 1979) • Immunabwehr und Anschlussmotiv korrelieren positiv; in Verbindung mit Machtmotiv → negative Korrelation (JEMOTT, 1982) • Angeregtes Anschlussmotiv erhöht Progesteron-Konzentration (SCHULTHEISS, WIRTH & STANTON, 2004); verantwortlich für die stressreduzierenden Effekte (W IRTH & SCHULTHEISS, 2006) • angeregtes Machtmotiv erhöht Noradrenalin-Konzentration (Steele, 1977) • Machtmotivler mit hohem Noradrenalinumsatz lernten machtthematische Wortpaare schneller als niedrig Machtmotivierte (McClelland et al., 1980) • Noradrenalin wird mit hoher Informationsbereitschaft assoziiert; und das sowohl auf der Ebene eines einzelnen Neurons als auch auf der Ebene ganzer neocorticaler Areale, die von einem noradrenergen Kern im Hirnstamm aus durch Vigilanzfunktionen (→ Wachsamkeit) unterstützt werden (ASTON-JONES, FOOTE & BLOOM, 1984; POSNER & ROTHBART, 1992; TUCKER & WILLIAMSON, 1984) • Machtmotiv und Testosteron korrelieren positiv (machtmotivierte Gewinner eines Wettkampfs wiesen – im Gegensatz zu den Verlierern – eine Steigerung des Testosteronspiegels auf; SCHULTHEISS, CAMPBELL & MCCLELLAND, 1999) d) Atkinson • Präzisierte TAT für das Leistungsmotiv durch das Formulieren neuer Inhaltskategorien für die erfundenen Geschichten der Probanden, bis die Kategorien gefunden waren, bei denen die Auftretungswahrscheinlichkeit zunahm, wenn das Leistungsmotiv experimentell angeregt wurde • Atkinsons Kategorien: Erfolgserwartung, instrumentelle Handlung (um Erfolg zu erreichen), Lob, positives Gefühl • Das Leistungsmotiv wurde experimentell angeregt durch induzierten Misserfolg. Die VP sollten eine extrem schwierige Aufgabe lösen und scheiterten, wodurch ihr Leistungsmotiv frustriert wurde. Die anschließend niedergeschriebenen TAT-Geschichten wiesen viel häufiger Leistungsthematik auf, als die der Kontrollgruppe, die vorher bei einer Aufgabe Erfolgt erlebt hat (MCCLELLAND, 1953) • Das bessere Behalten unerledigter Aufgaben (→ 3.2b)) brachte Atkinson mit Leistungsmotivlern in Zusammenhang: Erfolgsmotivierte behielten unerledigte Absichten nur bei angeregter Leistungsmotivation gut. Bei Misserfolgsängstlichen verhielt es sich genau umgekehrt: sie erinnerten sich an unerledigte Absichten in einer entspannten Bedingung (Bagetellisierung von Leistungsaspekten) am besten • mathematische Formalisierung • T=M S−MF ⋅Ps⋅Is , wobei Is=1−Ps • • • • T: motivationale Tendenz, sich auf eine Leistungsaufgabe einzulassen MS/MF: Stärke des Erfolgs / Erfolgsmotiv (success) und des Misserfolgs / Misserfolgsmotiv (failure) Ps: Erfolgswahrscheinlichkeit (zwischen 0 und 1) Is: Erfolgsanreiz (Freude am Erfolg) 61 Abb 5.3 (Ausschnitt) Inverse Beziehung zwischen dem Anreiz und der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs ist typisch für das Leistungsmotiv: je weniger man mit Erfolg rechnet, desto mehr freut man sich über ihn • Gilt MS > MF – ist also ein starkes Erfolgsmotiv vorhanden – ist T maximal für Ps = 0,5; überwiegt hingegen das Misserfolgsmotiv (MF > MS) ist T bei Ps = 0,5 minimal und findet ihre Maxima bei Ps = 0 und Ps = 1. Dies wirkt intuitiv: Misserfolgsängstliche haben die stärkste motivationale Tendenz bei niedrigen Wahrscheinlichkeiten, da sie sich nicht zu fürchten brauchen und bei hohen Wahrscheinlichkeiten, weil sie es nicht können brauchen. • Die Indizes von MS und MF sind im Gegensatz zu den Übrigen groß geschrieben. Damit wollte Atkinson ausdrücken, dass sich Motive nicht auf spezifische Angaben beziehen, wie etwa die Erfolgserwartung Ps • Annahmen über Ausdauer nach FEATHER (1962) • Bei Erfolgsmotivlern (MS > MF) müssten nach Atkinsons Modell die Ausdauer und Motivation ansteigen, wenn man experimentell bei einer angeblich besonders leichten Aufgabe beginnt (Ps = 1) und ständig Misserfolge induziert. So wirkt die Aufgabe subjektiv schwieriger und stellt einen höheren Erfolgsanreiz Is dar, obwohl die objektive Schwierigkeit konstant bleibt. Bei Misserfolgsmotivlern (MF > MS) müsste demnach die Ausdauer nach den ersten Misserfolgen bereits stark herabgesunken sein. • Andersherum müsste es sich verhalten, wenn die gestellte Aufgabe als sehr schwierig dargestellt wird (Ps < 0,5). Werden Misserfolge induziert, sinkt dadurch die subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit noch weiter, was die Motivation und Ausdauer von Personen mit starken Erfolgsmotiv senkt und die von Personen mit starkem Misserfolgsmotiv in die Höhe schnellen lässt. → Empirische Befunde bestätigen diese Vermutungen. Kritik am TAT • Die Messungen des TAT sind inkonsistent. Des Weiteren korrelieren die Messungen des Leistungsmotivs nicht mit den Schulnoten der Probanden. (ENTWISLE, 1972) • Es konnte jedoch empirisch gezeigt werden, dass der TAT – im Gegensatz zu Kennwerten in Fragebögen – korrekte Prognosen über die Stärke des Leistungsmotivs für das Verhalten über zehn bzw. 16 Jahre hinweg lieferte (MCCLELLAND ET AL., 1989). • Laut der klassischen Testtheorie kann ein Test jedoch nicht valide sein, wenn er inkonsistent ist. • Atkinson behauptete, dass ein Motivtest gar nicht konsistent sein kann. U.a. ist dies darauf zurückzuführen, dass Motive, nachdem sie befriedigt wurden, eine Zeit lang nicht so stark nach weiterer Befriedigung drängen. Daher ist die Inkonsistenz nicht weiter als die natürliche Fluktuation des zu Messenden. Die Testtheorie wurde nicht für Motive, sondern für Intelligenztests entwickelt. Dadurch wird es deutlich, dass die Anwendung der Testtheorie auf Motive zu Widersprüchen führt: nach dem Essen lässt das Hungerbedürfnis stark nach, die Fähigkeit zum Denken jedoch nicht nach einem Intelligenztest. • • 62 Atkinsons Computersimulation • „VP“ wurden mit vorher festgelegten Ausprägungen der drei Basismotive simuliert. Die Geschichten der VP über 6 simulierte TAT-Bilder mit systematisch variierenden Anregungsinhalten lieferten eine sehr geringe innere Konsistenz (→ CRONBACHS α). • Es zeigten sich also die erwarteten Schwankungen, die sich zum Teil dadurch erklären lassen, dass, wenn man gerade eben eine leistungsthematische Geschichte aufgeschrieben hat, man beim nächsten Bild nicht schon wieder eine solche Geschichte aufschreiben wird → Leistungsmotiv vorübergehend befriedigt • Trotzdem war der Test valide. Die Kennwerte des TAT korrelierten mit den vorher festgelegten Motivausprägungen (Korrelation über ,90) – die Häufigkeit der Motivinhalte in den simulierten Geschichten spiegelte die tatsächliche Ausprägung der Motive wider. → Andere Messmodelle, die auf einige Annahmen der klassischen Testtheorie verzichten, wiesen die innere Konsistenz der TAT-Messung nach (KUHL, 1987; TUERLINCKX ET AL., 2002) 5.3. Motive: Haben oder Sein • Motive zeichnen sich dadurch aus, dass sie Motivation durch antiziperte Affektveränderungen auslösen können. Diese Sichtweise passt gerade beim Leistungsmotiv: Ist eine leistungsmotivierte Person mit einer Schwierigkeit konfrontiert, motiviert sie sich durch die Antizipation positiver Gefühle, die sich einstellen werden, sobald sie die Schwierigkeit gemeistert hat (MCCLELLAND ET AL., 1953). • Durch diese Affektzentrierung sind Motive mit einer relativ frühen Entwicklungsstufe assoziiert, während derer Affekte das Handeln stark bestimmen. Die Motive stellen eine Weiterentwicklung oder einen Übergang zu einer höheren Ebene der Verhaltenssteuerung dar. Sie sind komplexer als Affekte, da sie kognitive Repräsentationen von bedürfnisrelevanten Erfahrungen enthalten. Dies gilt insbesondere für Erfahrungen, die in intuitiv abrufbaren (→ vorbegrifflichen) Kognitionen gespeichert sind. • Motive haben lediglich eine gestaltende Wirkung auf die bewusste Handlungsorganisation, da sie über die für Top-down Steuerung typische Situationsunabhängigkeit nicht verfügen. „Situationsunabhängigkeit“ meint ein selbst-gesteuertes Verhalten, dass nicht so sehr von sensorischen Außeneinflüssen bestimmt wird. • TAT • Murray fiel auf, dass Kinder, nachdem sie ein gruseliges Mörderspiel gespielt haben, beim Betrachten von Portraitfotos viele bösartige Menschen zu erkennen glaubten. Dies bestätigt, die Annahme, dass Motive und situativer Anregungsgehalt in enger Wechselwirkung auf die Apperzeption (Deutung von Wahrnehmungsinhalten) Einfluss nehmen. • Inhaltskategorien zur Messung von Hoffnung auf Erfolg im TAT (vgl. HECKHAUSEN & HECKHAUSEN) • B: Leistungs- & Erfolgsbedürfnis (Bsp.: „Er will einen neuen Apparat bauen“) • I: Instrumentelle Tätigkeit (Bsp.: „Der Schüler denkt konzentriert nach“) • E: Erfolgserwartung (Bsp.: „Er ist sich sicher, dass die Arbeit ein Erfolg wird.“) • L: Lob (Bsp.: „Die mustergültige Herstellung wird vom Meister gelobt.“) • G+:Positive Gefühle (Bsp.: „Die Hausaufgabe macht ihm Spaß“) • Th: Erfolgsthema (die Geschichte hat einen erfolgsgerichteten Gehalt) • Zweckrationales Haben oder absichtsloses Sein • Begrifflichkeit angelehnt an ERICH FROMM „Haben oder Sein“ • Wirkungsorientierte Motive: Leistung und Macht (BRUNSTEIN, 2001) → Eine instrumentelle Handlung soll den gewünschten Effekt erzielen • Erlebnisorientierte Motive: Beziehung und Freiheit → Beziehungsmotiv: weniger zweckrational, eher absichtsloses Zusammensein; geprägt durch gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung (GILLIGAN, 1997) → Freiheitsmotiv: freie Selbstentfaltung (ALSLEBEN, 2007) • Die Unterscheidung in Haben und Sein ist nur für eine bessere Vorstellung gedacht; das zweckrationale Machtmotiv in etwa kann sich auch durch intuitive Beeinflussung in Form von Emotionsansteckung äußern. • 63 Hemisphären Vermutungen: (1) das Machtmotiv aktiviert die linke HS, da die linke HS auf wirkungsorientierte Mittel-Zweck-Relationen spezialisiert ist (LEVY & TREVARTHEN, 1976); (2) das Beziehungsmotiv aktiviert die ganzheitlich-polysemantische RH (BOWDEN ET AL., 2005; ROTENBERG, 2004). • Beide Vermutungen konnten im Labor nachgewiesen werden: zuvor mit Machtthematik assoziierte Reize aktivierten die LH stärker, da das Erkennen des Reizes im rechten visuellen Halbfeld schneller geschah als im linken visuellen Halbfeld (KUHL & KAZÉN, 2007). Analog dazu aktivierten beziehungsthematische Funktionen wie Empathie die RH stärker (ADOLPHS ET AL., 2000). a) Wirkungsorientierte Motive – Charakteristik • Können sich in großen Anstrengungen zeigen • Kraftquelle sichtbarer und bewusster Ziele durch unsichtbares Bahnen der inneren Zustände, die die Verfolgung des Ziels möglich machen • Aus Motivverfolgung resultierende subjektive und soziale Wertschätzung durch Leistung bzw. Macht ist an konkrete Bedingungen (→ Zielerreichung, Erfolg) geknüpft (GILLIGAN, 1997). Zu diesen Bedingungen gehören vor allem die Schwierigkeiten: die Befriedigung des Leistungsmotivs hängt von der Schwierigkeit der Aufgabe und die des Machtmotivs von der Schwierigkeit des Gegners ab. • Unterteilung der wirkungsorientierten Motive in ein interaktives Motiv (→ Macht) und ein individuelles Motiv (→ Leistung) b) Wirkungsorientierte Motive – Das Leistungsmotiv → Differenzierung in erfolgsorientiertes und vermeidungsorientiertes Leistungsmotiv • Leistungsmotivler verfügen vermutlich über eine Leistungsüberlegenheit, insbesondere bei Mengenleistungen, die sich durch eine hohe erforderliche Anstrengung und Konzentration auszeichnen (LOWELL, 1952) • Das im TAT gemessene Leistungsmotiv sagte die zehn Jahre später erhobenen Kennwerte für Einkommen und beruflichen Erfolg korrekt voraus (MCCLELLAND & FRANZ, 1992) • Passung • Erfolgsmotivler neigen weder zur Unter- noch zur Überforderung (→ 5.2d)) • Diese Passung zwischen der eigenen Fähigkeit und bevorzugten Aufgabengeschwindigkeit ermöglicht eine gute Weiterentwicklung der Kompetenzen (HECKHAUSEN, 1989) • Alte Erklärung: Die Präferenz mittlerer Schwierigkeiten (Ps = 0,5) beruht darauf, dass Erfolgsmotivler dann den höchsten Leistungsanreiz bzw. die höchste Freude über ihren Erfolg erwarten. • Neue Erklärung: Mittelschwere Aufgaben werden bevorzugt, weil sie am meisten über die eigene Tüchtigkeit verraten (TROPE, 1975) oder weil die Lösung solcher Aufgaben am ehesten auf die eigene Fähigkeit attributiert wird (=zurückgeführt wird) (W EINER, 1985). Beide Erklärungen drehen sich nicht um das vorbegriffliche Motiv an sich, sondern um bewusste Überzeugungen. Hinter der ersten neuen Erklärung steckt eine kognitive Unsicherheit, deren Reduzierung zu einem Bedürfnis wurde (SORRENTINO ET AL., 1992). Die zweite Erklärung dreht sich um die bewussten Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten, die – wie empirische Befunde belegen (BRUNSTEIN & SCHMITT, 2003) – nicht von dem eigentlichen Motiv abhängen. Diese Fähigkeitseinschätzungen beeinflussen auch worauf und wie häufig Personen ihre Erfolge und Misserfolge attributieren: Personen, die ihre Fähigkeit als niedrig einschätzen, grübeln – wie Depressive – häufiger über die Ursachen ihrer Misserfolge nach (STIENSMEIER-PELSTER & HECKHAUSEN, 2006), was die Leistung und damit auch die Stimmung weiter beeinträchtigen kann (KUHL, 1981; KUHL & WEISS, 1994). • Hoffnungsbonus: Die Kontrollillusion (SCHNEIDER, 1974) • Erfolgsmotivierte haben ihre Präferenz nicht bei mittelschweren Aufgaben (Ps = 0,5), sondern bei etwas schwierigeren (Ps = 0,3) • VP sollten in einem Kickerspiel eine Kugel durch ein Tor schießen • Das Maß für die Aufgabenschwierigkeit war die Entfernung vom Tor • VP sollten laufend ihre Erfolgswahrscheinlichkeit subjektiv durch eine Vorhersage einschätzen und auch angeben, wie sicher sie sich bei dieser Einschätzung seien. Die Reaktionszeit auf die letzte Angabe wurde gemessen. • VP überschätzten ihre objektive Erfolgswahrscheinlichkeit (Mittelwert Ps=0,5 gegen den Mittelwert 0,37 für die tatsächliche Erfolgswahrscheinlichkeit). • • 64 Durch die Konfidenzfrage („Wie sicher sind sich?“) wurde ein „objektives“ Maß für die subjektive Wahrscheinlichkeit gemessen. Die Idee dahinter ist die folgende: Gab eine VP eine subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit Ps = 0,5 an, so sollte die Reaktionszeit für die Konfidenzfrage maximal sein, weil die VP sich dort am unsichersten sein sollte. • Tatsächlich lag dieser Punkt bei schwierigen Aufgaben mit der objektiven Erfolgswahrscheinlichkeit 0,29. • Durften die VP die Schwierigkeit selbst bestimmen, wählten die erfolgsmotivierten VP am häufigsten die Torweite, bei der die Reaktionszeit der Konfidenzfrage maximal war. Die VP wählten also nicht die Torweite mit der objektiven Erfolgswahrscheinlichkeit von 0,5, sondern ließen sich vielmehr von einer impliziten Erfolgswahrscheinlichkeit leiten, die die objektive Erfolgswahrscheinlichkeit stärker überschätzt, als die explizit abgegebene Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit. → Kontrollillusion; Prädiktor für psychische Gesundheit und Wohlbefinden (TAYLOR & BROWN, 1994). → Kontrollillusionen – durch hohe Erfolgserwartungen messbar – werden durch positiv formulierte Ziele/Ideale verstärkt und durch negativ formulierte Ziele (unangenehmes Ereignis vermeiden) reduziert (LANGENS, 2007b). • Leistungsmotiv in Fragebögen • Hoch reliable (= zuverlässige) Fragebögen für das erfolgsorientierte Leistungsmotiv korrelieren nicht mit den entsprechenden TAT-Kennwerten (BRUNSTEIN & SCHMITT, 2003). Obwohl diese Fragebögen auch Kategorien der leistungsthematischen TAT-Geschichten abdecken, ist der Unterschied zwischen Selbstbeurteilung und TAT-Kennwerten immens (GJESME, 1971). • Nur die TAT-Maße für Motive, nicht aber die Fragebogenkennwerte, waren in der Lage Verhaltensvorhersagen über Jahrzehnte hinweg zu ermöglichen (MCCLELLAND ET AL., 1989). Die Fragebögen konnten über das Verhalten in Situationen Auskunft geben, in denen Leistung explizit gefordert wurde (ENTWISLE, 1972). Wer sich also auf der bewussten Ebene für leistungsmotiviert hält, wird nicht zwangsläufig spontan auf die Idee kommen Leistungsziele zu verfolgen oder Leistungsgeschichten zu TAT-Bildern zu schreiben. • Motive sind vorbegrifflich verankert und mit einem Fragebogen nicht zuverlässig messbar, da die vorbegrifflichen Gedächtnisstrukturen dem bewussten Selbsterleben nicht ohne weiteres zugänglich sind! • Zudem wird das zu messende Motiv durch den Fragebogen überhaupt nicht angeregt oder gar befriedigt . • Explizite Selbstbeurteilung vs. implizites Motiv • Halten sich Personen für besonders leistungsorientiert und zeigen auch große Anstrengungen, wenn sie sich explizit dazu aufgefordert fühlen, obwohl ihr vorbegriffliches Leistungsmotiv weit weniger stark ausgeprägt ist, handeln sie ständig gegen ihre eigenen unbewussten Gefühle und Bedürfnisse. • Die Diskrepanz zwischen dem Leistungsmotiv und der direkten Selbstbeurteilung ist ein Prädiktor für psychische Gesundheit. c) Wirkungsorientierte Motive – Das Machtmotiv → Differenzierung in inhibiertes und uninhibiertes Machtmotiv • Das Machtmotiv richtet das Verhalten darauf aus, nach der Kontrolle über Mittel zu streben, mit denen andere Menschen beeinflusst werden können (VEROFF, 1957). • Das Machtmotiv im TAT • Vermeidungsorientiert: Verhinderung von Machtverlust und Machtausübung anderer (VEROFF & VEROFF, 1972) • Aufsuchungsorientiert: direkte Beeinflussung anderer Personen, Beschaffung von Prestigesymbolen, Anregung starker Emotionen bei anderen Menschen (WINTER, 1994) • Vier Entwicklungsstadien (MCCLELLAND): psychoanalytisch geprägte Theorie; die ersten beiden Stufen betreffen die eigene Person und die letzten beiden die Einflussausübung • Profitieren – orale Bedürfnisbefriedigung durch machtvolle Person: umsorgt werden oder ausnutzendem Narzissmus begegnen. • Unabhängigkeit – anale Selbstkontrolle und Disziplin: hartnäckige Zielverfolgung oder Zwanghaftigkeit. • Durchsetzen – phallische Konkurrenz beeinflussen und selbst durchsetzen: Wettkampf oder Kriminalität • Generativität (sozial-integratives Engagement) – genitales Weitergeben von Gütern und Kompetenzen – ethisches Pflichtbewusstsein oder messianischer Eifer • 65 Wie beim Leistungsmotiv wächst beim Machtmotiv der Anreiz mit steigender Schwierigkeit. Machtmotivler wählten bei einem Roulettespiel vor den Augen aller Mitspieler sogar noch riskantere Spiele als Leistungsmotivler (höchster Gewinnbetrag, geringste Chancen) (MCCLELLAND & WATSON, 1973).Offensichtlich überschätzen Machtmotivler ihre Kontrollmöglichkeiten (MCCLELLAND & TEAGUE, 1975). • Die emotionale Attraktivität des Kontrollerlebens ist unter den Machtmotivlern sehr groß. Hält man das subjektive Kontrollerleben konstant, ist das Machtmotiv schwächer ausgeprägt (Korrelate zwischen machtthematischen Verhaltenskategorien werden schwächer; ANDERSON UND BERDAHL, 2002). • Auswirkungen des Machtmotivs auf das Leben – Vergleich zwischen niedrig und hoch machtmotiverten (TAT) Personen (WINTER, 1973). • Machtmotivierte sind häufiger in einflussreichen Positionen (→ Zeitungsredaktion), • Sie nehmen mehr an Wettkampfsportarten teil, • Sind häufiger in machtthematischen Berufen (→ Geistliche, Psychologen, Lehrer), • Und besitzen eine große Neigung zu sozial auffälligem, riskantem oder rücksichtslosem Verhalten (→ Teilnahme an Glücksspielen, früher Geschlechtsverkehr, Bevorzugung schwacher Freunde und Partner, Ansammlung von Prestigeobjekten, Hang zu Hochprozentigem) • Weitere Auffälligkeiten machtmotivierter Personen • In einem Gruppenspiel verhielten sich Machtmotivierte sozial unsympathisch: sie änderten spontan gemeinsam beschlossene Regeln zu ihren Gunsten, spielten Teilnehmer gegeneinander aus, etc. (SCHNACKERS & KLEINBECK, 1975) • Machtmotivierte Männer neigen zu körperlicher Gewalt gegenüber ihren Partnerinnen (Frauen hingegen neigen eher bei großem Anschlussmotiv zu psychischer und körperlicher Gewalt) (MASON & BLANKENSHIP, 1987). • Inhibiertes Machtmotiv • Sozial verträgliche Formen des Machtmotivs (→ inhibiertes MM) treten dort auf, wo Sozialisationserfahrungen gemacht werden, die rücksichtsloses Verhalten bestrafen • Ein solches inhibiertes Machtmotiv ist im TAT an der Anzahl der Negationen zu erkennen. Tauchen in der Geschichte des Probanden gehäuft negierte machtthematische Inhalte auf, kann man davon ausgehen, dass dieser Proband sozial unverträgliche Formen der Machtausübung inhibiert (MCCLELLAND, 1985). • Personen mit hohem Machtmotiv und starker Tendenz zum Inhibieren zeigten die sozial akzeptierten Verhaltenskorrelate (→ einflussreiche Position), aber nicht die weniger akzeptierten (→ Alkoholkonsum) (MCCLELLAND ET AL., 1972) • Die Inhibition ist der sozialen Verträglichkeit dienlich. VP sollten uneingeweihten Beobachtern gegenüber ihre Meinung zu einer moralisch relevanten Frage (→ Tierversuche) vertreten. Anhand gewisser Verhaltensmerkmale der Beobachter konnte abgelesen werden wie hoch die Überzeugungskraft der VP bewertet wurde. Machtmotivierte VP mit geringer Inhibitionsneigung waren sehr wenig überzeugend, wohingegen machtmotivierte VP mit hoher Inhibitionsneigung sehr überzeugend wirkten. Vermutlich wirkt eine Meinungsäußerung aufgrund Machtorientierung wenig überzeugend. Mit hoher Inhibitionstendenz können die Argumente, die die eigene Meinung stützen vorsichtiger und sozial verträglich formuliert werden (SCHULTHEISS & BRUNSTEIN. 2002) d) Erlebnisorientierte Motive – Charakteristik • Bei diesen Motiven wird nicht ein Ereignis angestrebt oder gar ein Besitz. Es geht vielmehr um das Erleben und Sein. • Absichtslosigkeit • Wie bei den wirkungsorientierten Motiven existiert ein individuelles Motiv (→ Freiheitsmotiv) und ein interaktives Motiv (→ Beziehungsmotiv oder Anschlussmotiv) • Negativer Zusammenhang zwischen erlebnisorientierten Motiven und wirkungsorientierter Kontrolle (Willensbahnung) e) Erlebnisorientierte Motive – Das Beziehungsmotiv (auch: Anschlussmotiv) → Differenzierung in Affiliationsmotiv und Begegnungsmotiv • Ursprünge der Beziehungsmotivation sind vermeidungsorientiert, da sie auf Schutz und Geborgenheit ausgerichtet ist, die Stärkere Schwächeren geben können (MACDONALD, 1992). Aus dieser Vermeidungsorientierung kann Aufsuchungsverhalten resultieren, wie etwa wenn man die Nähe seines Partners vor allem deshalb sucht, weil man nicht allein sein möchte, um dem Gefühl der Schutzlosigkeit und Ungeborgenheit zu entgehen. Wichtig zu erkennen erscheint es, dass selbst bei positiven Affekten nicht klar ist, ob sie aufsuchungs- oder • 66 vermeidungsorientiert sind (z.B. kann der Kontakt zu einer Person einen positiven Affekt auslösen, weil er von negativen Befürchtungen befreit oder unmittelbar positive Momente enthält. • Affiliationsmotiv im TAT • Dass das Beziehungsmotiv auch vermeidungsorientiert sein kann, stellt eine Problematik dar, weil die zugrunde liegenden negativen Gefühle typischerweise nicht bewusst sind und auch nicht in den Fantasiegeschichten des TAT auftauchen müssen. • Das Wissen über generelles positiv-aufsuchungsorientiertes und negativvermeidungsorientiertes Verhalten ist besonders nützlich, um die Art und das generelle Vorhandensein des Beziehungsmotivs zu erkennen. So äußern sich negativvermeidungsorientierte Gefühle u.a. durch eine Verengung des Aufmerksamkeitshorizonts (EASTERBROOK, 1959) und eine Erschwernis im Erkennen von größeren oder indirekten Zusammenhängen (BAUMANN & KUHL, 2002). Positive Gefühle hingegen fördern das Erlernen solcher Zusammenhänge (BOLTE, GOSCHKE & KUHL, 2003) und unterstützen einen ganzheitlich-intuitiven Verarbeitungsstil (ASHBY ET AL., 1999; KUHL, 1983b) • Demnach lassen sich die vermeidungsorientierten Aspekte des Affiliationsmotivs im TAT in etwa dadurch erkennen, dass der Handelnde nur an dem Schutz und an der Anwesenheit einer Person interessiert ist, nicht aber an einem intensiven Austausch oder persönlichem Kennenlernen. • Das aufsuchungsorientierte Begegnungsmotiv zeigt sich hingegen durch persönliche Begegnung und durch umfassenden & freudigen Gefühlsaustausch in den TATGeschichten (MCADAMS, 1982) • Auswirkungen des Affiliationsmotivs • Quantität statt Qualität • Ein starkes Affiliationsmotiv zeichnet sich in etwa durch die Anzahl an Telefonaten, Besuchen und Briefen aus (LANSING & HEYNS, 1959) • Tendenz zur Konfliktvermeidung (EXLINE, 1962) • Motiviert Kontaktaufnahme nur, wenn man die Umgebung als sicher und freundlich wahrnimmt (BURDICK & BURNS, 1958) • Tendenz zu ranghöheren Personen Kontakt aufzunehmen (→ vermeidungsmotiviert: ranghöhere Personen sind eher in der Lage Schutz und Unterstützung zu gewähren; MEHRABIAN & KSINZKY, 1974) • Auswirkungen des Begegnungsmotivs (MCADAMS & POWERS, 1981) • Warmherziges Verhalten (→ Ausdruck positiver Gefühle, Dialoge ohne Dominanzgehabe, sich den anderen ausliefern) • i.U. zu gering Beziehungsmotivierten und Affiliationsmotivierten sind Begegnungsmotivierte spontaner im Spielen sozialer Rollen (→ Psychodrama; 1.5a)) und erteilten Mitspielern weniger Anweisungen • Begegnungsmotivler wiesen beim freien Reproduzieren von Inhalten einer Geschichte bei einer begegnungsthematischen Geschichte (TAT-Begegnungkennwert → intimacy; 25-jähriges Klassentreffen) höhere Korrelationen auf (r = 0,56) als bei einer neutralen Geschichte (r = 0,14). Effekt konnte nicht bei Affiliationsmotivlern nachgewiesen werden, für die ein intensiver Austausch weit weniger wichtig ist, als das nicht-allein- und nichtungeborgen-sein – es genügt, dass ein zuverlässiger Mensch einfach da ist. • Das begegnungsorientierte Beziehungsmotiv bezieht höhere Ebenen der Persönlichkeit mit ein (→ Kapitel 6 und 7, quasi: privates & konzeptuelles Selbst → 7.3a)), weil man i.U. zum Affiliationsmotiv nicht an Facetten einer Person, sondern an der Person als Ganzes interessiert ist. Das bedeutet, dass neben dem vorbegrifflichen Motivkern die Qualität von Begegnungsbeziehungen mehr als die von Affiliationsbeziehungen von einem intergrationsstarken Selbst abhängt, also wie gut eine Person gelernt hat unterschiedliche Bedürfnisse, Werte, Interessen und Neigungen zu vereinen. f) Erlebnisorientierte Motive – Das Freiheitsmotiv (oder Selbstentwicklungsmotiv) • Freiheitsmotivierte streben danach unbedingt sein zu können und akzeptiert zu werden, wie sie sind • Enge Bindung an Beziehungsmotiv möglich, wenn Beziehungen so erlebt werden, dass die Beteiligten sich frei fühlen, sich selbst sein und werden zu können. 67 • • • • Das Gefühl der persönlichen Freiheit, das Gefühl selbstbestimmt zu handeln ergibt sich aus der alleinigen, intrinsischen Motivation; d.h. dass das Verhalten nur selbstbestimmt gesteuert wird und nicht von einer fremdbestimmten extrinsischen Motivation bestimmt wird. Freiheitsmotivler streben also nach einer Befreiung von dieser Fremdbestimmtheit – sowohl äußerlich (Erwartungen und Bedingungen) als auch innerlich (Gewohnheiten, Impulse, Affekte). Das Ziel der Freiheitsmotivation ist so sein zu können, was der bestmöglichen Gesamtheit innerer und äußerer Zustände entspricht, die die eigene Identität ausmachen (ALSLEBEN, 2007). Erforschung Man arbeitet hauptsächlich mit selbstbeschreibenden Fragebögen, da man annimmt, dass Personen, die sich selbst verwirklichen über eine kognitive Repräsentation ihrer Bedürfnisse verfügen und bereit sind ehrliche Selbstauskünfte zu geben. Daher wird die Selbstbestimmungsforschung auch im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt. Implizitier und vorbegrifflicher Motivkern (ALSLEBEN, 2007) • Macht- und Freiheitsmotivierte wurden verglichen, da man Gemeinsamkeiten zwischen ihnen annehmen kann: beide streben eine Form der Autonomie an, eine sozialintegrative Selbstbestimmtheit • Experiment • Zwei Angst- und Hemmungskomponenten wurden untersucht: Angst vor Freiheitsverlust (→ Freiheitsmotivierte) und Angst vor Machtverlust (→ Machtmotivierte). • VP wurden auf Freiheitsbeschränkung durch Wörter wie „abhängig sein“ oder „gehorchen müssen“geprimt. • Nach dem Priming korrelierte Angst vor Machtverlust signifikant mit einem Maß für Willensbahnung (KUHL & KAZÉN, 1999 → 8.2e)) → Energetisierung der bewussten Absichten. • Die Angst vor Einschränkung der freien Selbstbestimmung hingegen korrelierte negativ mit diesem Kennwert für Willensbahnung. → Hemmung der bewussten Absichten • Abb. 5.6 Schlussfolgerung → „Das Machtmotiv ist ein kontrollorientierter Abkömmling des frustrierten Bedürfnisses nach freier Selbstbestimmung“ • Machtmotivierte reagieren bei Verlust der freien Selbstbestimmung mit wirkungsorientierten Kontrollbemühungen. Sie versuchen also das Bedürfnis nach Freiheit mit eigener Willensanstrengung (→ Macht) zu befriedigen • Freiheitsmotivierte bleiben in einer absichtslosen Haltung (→ gemessen anhand der Hemmung der Umsetzung eigener Absichten; KUHL & KAZÉN, 2005) → Das Freiheitsmotiv zielt nicht auf wirkungsorientierte (Selbst-/Fremd-)Kontrolle ab, sondern auf freies Selbstsein. • Erfährt man den Verlust der freien Selbstbestimmung gibt es keinen Grund eigene Absichten zu energetisieren (daher keine Einteilung in Aufsuchungs- und Vermeidungsorientierung wie beim Beziehungsmotiv). 68 Wahre Freiheit ist nicht ausschließlich durch bewusste Willensanstrengungen zu erreichen, sondern erfordert einen umfassenden Abgleich mit allen persönlich relevanten Bedürfnissen und eigenen & fremden Werten 5.4. Emotionen mit unbewussten kognitiven Anteilen a) Motivprägung geschieht dadurch, dass emotionale Erfahrungen an Motive geknüpft werden b) Unbewusst oder bewusst? • Mit Motiven assoziierte Emotionen können bewusst sein oder auf einer vorbegrifflichen, wenn nicht sogar vorsprachlichen, Ebene dem Handelnden selbst nicht bewusst werden. Solche Gefühle können sich in einem TAT zeigen, wenn sie auf die Handelnde Person einer Fantasiegeschichte attributiert werden → Entspricht nicht zwangsläufig abwehrendem Projektionsvorgang! Dies kann viel eher dadurch erklärt werden, dass die Übertragung der unbewussten Freude auf die Person durch Emotionsansteckung funktioniert. Dies geschieht auf Ebene der IVS (→ 1.4b)), die aufgrund der Parallelverarbeitung viele Reize, Modalitäten und Empfindungen fusioniert. Auf höheren Ebenen der Verhaltenssteuerung kann dieses Geflecht wieder getrennt werden; dies ist aber nicht auf der elementaren Ebene der Gewohnheiten möglich (wo die Emotionsansteckung von statten geht). → Mithilfe der Fusionierung durch parallele Verarbeitung können viele andere Verwechslungsphänomene erklärt werden (z.B. wenn Zeugen nicht mehr wissen, ob sie ein Auto gesehen oder gehört haben, wenn ein Geruch bestimmte Bilder oder Geräusche einer erlebten Szene auslöst, oder wenn man sich nicht mehr erinnern kann, ob man ein Gefühl selbst gefühlt hat, oder es nur bei jemand anderem wahrgenommen hat c) Gibt es Emotionen die noch relativ einfach sind und trotzdem gegenüber den elementaren Systemebenen einen Differenzierungsgrad aufweisen? • Beispiele • Stolz: wird von impliziten Kognitionen beeinflusst (→ Erkenntnis: Ich selbst bin der Urheber des Erfolgs, der Erfolg beruht auf meinen eigenen Anstrengungen) (WEINER, 1985) • Ärger (u.a.) → gewünschter Erfolg wurde verhindert, andere Personen sind dafür verantwortlich (ORTONY ET AL., 1988) • Emotionen wie „Liebe auf den ersten Blick“, Überraschung, Antipathie oder Humor entstehen so schnell, dass die verantwortlichen kognitiven Bewertungsprozesse nicht bewusst werden (RUCH, 1999) • Solche kognitiven Einflüsse müssen nicht bewusst werden d) Abfärbungseffekt • VP wurden Zeichnungen mehrmals gezeigt. Dadurch, dass sie bekannt waren, wurden sie positiver als andere bewertet, als in einer Kontrollgruppe, die immer unterschiedliche Zeichnungen sah. Trat bei den VP eine Zeichnung auf, die schon einmal gezeigt wurde, wurde nicht nur diese Zeichnung positiver bewertet, sondern auch die nachfolgenden, die vorher noch nicht gezeigt wurden (MONAHAN ET AL., 2000) • Offensichtlich handelt es sich wieder um eine Fusionierungswirkung unbewusster Parallelverarbeitung: das Netzwerk, in dem zuvor die positive Bewertung entstand, ist noch immer aktiv, sodass die Bewertung auf neue Stimuli übertragen werden kann, sofern die beiden Zeichnungen aufgrund irgendeiner Ähnlichkeit/ Übereinstimmung dasselbe Netzwerk ansprechen. • Implizit-kognitive Repräsentation von Emotionen • VP schätzten fiktive Wörter negativer klingend ein, wenn zuvor eine negative Stimmung induziert wurde (QUIRIN, KAZÉN & KUHL, 2007). Dies beruht genauso wie emotionales Priming auf dem Abfärbungseffekt. • Weitere Technik: IAT (Implicit-Association Test; GREENWALD & BANAJI, 1995) • Wichtig ist, dass solche Techniken nicht die Emotion an sich, sondern ihre implizite kognitive Repräsentation messen e) Implizit vs. Explizit Implizite Prozesse werden auf der Ebene begrifflicher Kognition als das intuitive und nicht explizierbare Erkennen begrifflicher Relationen erlebt; z.B. wenn man sagen kann, dass die Begriffe Strohalm, Berg und Kuh irgendwie zusammengehören, man aber nicht weiß warum (BAUMANN & KUHL, 2002) f) Sensibilität und Regulation • Ein wichtiger Aspekt in der Emotionsforschung ist die regulative Wirkung einer Emotion auf der Ebene schneller und automatischer/intuitiver Prozesse. • 69 Solche affektregulatorischen Prozesse können auf einer elementaren Systemebene ablaufen (→ jemand hat gelernt auf den Auslöser eines negativen Affekts augenblicklich mit der Umschaltung auf positiven Affekt zu reagieren) • So ein Prozess kann aber auch durch implizite Prozesse der höheren Ebenen vermittelt werden. Ein Beispiel wäre ein assoziativer Komplex von Vorstellungen, die die Angst vor einer Gefahrenquelle relativieren können (→ man erinnert sich, dass früher in ähnlichen Situationen alles gut gegangen ist) 5.5. Anwendung: Motivförderung, Struktualismus und Rilkes tausendfacher Gedanke a) Motivförderung • Starke Motive sind wichtig, da sie die Wahrnehmung strukturieren und die Handlungssteuerung mitgestalten, ohne dabei die begrenzten Kapazitäten des Bewusstseins zu beanspruchen • Daher wurden Methoden entwickelt, die Motive auf der vorbegrifflichen (oder sogar der vorsprachlichen) Ebene zu fördern. So kann zum Beispiel das Leistungsmotiv verstärkt werden, indem man Leistungsziele mit positiven Gefühlen und Körperwahrnehmungen (→ somatische Verankerung) verknüpft. • Wird dieses Training durch einen Mentor vermittelt, zu dem eine positive und akzeptierende Beziehung aufgebaut wurde, kann die Motivierung mit dem Selbst verknüpft werden und später selbstgesteuert eingesetzt werden (MARTENS & KUHL, 2004) b) Universelle Motive • Der vorbegriffliche Charakter von Motiven kann in funktionsfähigen Simulationsmodellen darstellbar gemacht werden (POSPESCHILL, 2004) • Struktualismus: universelle Handlungssyntax, die als „Sprache“ des Handelns dient (LÉVISTRAUSS, 1949/1991) • Vorbegriffliche Sprachformen wie Metaphern („Mama gibt den Blumen zu trinken“) und Metanomien („Ich will Mütze“) zeugen von einem ganzheiltichem „Sprach“verständnis • Das Verhalten der Menschen wird durch universelle Abläufe bestimmt • Metaphern und Metanomien sind Beispiele für universelle Strukturelemente, die das Verhalten auch ohne das Bewusstsein steuern • Ansatz ignoriert dispositionelle Unterschiede → individuelle Lerngeschichte – so ist die Theorie nicht auf alle Menschen anwendbar! • Selbstbestimmungstheorie (DECI & RYAN, 2000) • weniger radikal • Beziehungs-, Lern- und Autonomiebedürfnisse sind universell und hängen nicht von der Lerngeschichte ab • Diese Theorie berücksichtigt die individuelle Lerngeschichte, da sie postuliert, dass die Erfahrungskerne von Motiven individuell durch frühkindliche Lernerfahrungen ausgefüllt werden • Individuelle Besonderheiten können im Übrigen durch die Motivmessung noch besser berücksichtigt werden, als dies anhand der Motivkennwerte möglich ist. Wenn man die TATFantasiegeschichte in etwa nicht nur auf die wissenschaftlich verwertbaren Kennwerte hin untersucht, sondern sie auch qualitativ würdigt, können sich daraus Vorteile für eine individuelle Therapie ergeben. c) Rilkes vorbegriffliches Liebesmotiv • Gedicht von Rainer Maria Rilke Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte und das nachbarliche Lachen, wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –: Dann könnte ich in einem tausendfachen Gedanken bis an deinen Rand dich denken und dich besitzen (nur ein Lächeln lang), um dich an alles Leben zu verschenken wie einen Dank. • Das Gedicht beschreibt die Besonderheit ganzheiltlicher Verarbeitung, indem es zeigt, dass sich die Liebe zu einem Menschen nicht durch Einzelheiten (→ OES) niederschlägt, sondern dass es um die Person als Ganzes geht • Die Wahrnehmung einzelner Objekte (→ „Geräusch, das meine Sinne machen“, „nachbarliche Lachen“) erschweren die ganzheitliche Wahrnehmung der Person (→ Antagonismus zwischen OES und ganzheitlicher Wahrnehmung) • 70 • • Die Wahrnehmung der Person zeigt den fusionierenden Charakter der Parallelverarbeitung, der die Person auf der bewussten Ebene (die des lyrischen Ichs) höchsten fühlbar werden lässt, aber nicht explizierbar. Daher erscheinen die Einzelwahrnehmungen zufällig und unzusammenhängend. Eigentlich wäre die ganzheitliche Verarbeitung auf alle Ebenen zu beziehen, die eine solche Verarbeitung unterstützen. Die Ebene der vorbegrifflichen Motive jedoch als Portal in die Welt des begrifflichen Denkens, spielt hier eine besondere Rolle → Einen „tausendfachen Gedanken“ zu haben oder jemanden „bis an seinen Rand zu denken“ ist nicht mit unserem begrifflich-logischem Denken vereinbar, wohl aber mit den am Anfang beschriebenen Pseudobegriffe (→ 5.0), die einen großen Komplex von Bildern, Erfahrungen und Gedanken bezeichnen, ohne dass sie in die begrifflichen Kategorien oder Hierarchien passen. 71 Kapitel 6: Sinn und Ziele 72 6. Sinn und Ziele Kognitive Quellen von Motivation und Emotion • Sinnstiftende Deutungen und Konstrukte sowie zu verfolgende Ziele sind Quellen von Motivation und Emotion. Es handelt sich um pro-aktive statt reaktive Quellen des Erlebens und Handelns, die durch Sprache und Bewusstsein ermöglicht werden • Sprache: verdichtete Erfahrungen; können eine Vielzahl von Erfahrungen, Beweggründen und Erwartungen ausdrücken und mit anderen Menschen ausgetauscht werden • Bewusstsein (Unterteilung in drei Ebenen): • ((Das bloße Wachsein: „er hat das Bewusstsein verloren.“)) • Primäres oder phänomenales Bewusstsein: Das Gewahrwerden von Wahrnehmungsinhalten • Sekundäres Bewusstsein oder Introspektion: indirekte oder mehrstufige Form der Selbsterfahrung • Diese Bedeutung umfasst • Reflexion von Gewahrgewordenem • Gedächtnisbezug (erinnerbare Bewusstseinsinhalte) • Selbstbezug (persönliche Bedeutung der erinnerbaren Bewusstseinsinhalte) • Mit dem Bewusstsein sind verknüpft: autobiographisches Gedächtnis, zielorientiertes Wollen und sequentiell-binäres Denken. • Die Tatsache, dass zu dieser sekundären Form des Bewusstseins die Reflexion des Gewahrgewordenen gehört, lässt darauf schließen, dass das Bewusstsein in ständigem Kontakt mit den vorbewussten Hintergrunderfahrungen ist (BAARS, 1988) (implizites Selbst vs. explizites Ich → 7.3c)) • „Tertiäres“ Bewusstsein: Interaktion • Selektive Funktion: Reduktion auf das aktuell Nützliche: Selektion der Bedeutung einer Nachricht oder eines Elements in Hinblick auf kontext- oder zielrelevante Merkmale (→ 3.4c) • Integrative Funktion: überblickstiftend; kann mit einer zentralen Infomationstafel verglichen werden → Interaktion beider Funktionen • So kann das Bewusstsein immer umfassendere Integrationen von Erfahrungslandschaften entwickeln, die aus der holistisch-analytischen Wechselwirkung resultiert • analytische Erkenntnisform • Selektion • auf das Wesentliche reduzierend • verdichtend • LH (Bildung und Enkodierung mehrstufiger Verdichtungen von Erfahrungen aktiviert die LH; TULVING ET AL., 1994) • holistisch-ganzheitliche Erkenntnisform • Integration • parallel-distribuierend • ausgedehntes und integratives Erfahrungsnetzwerk • RH (Ablesen von Informationen aus dem Gesamtgedächtnis aktiviert die RH; TULVING ET AL., 1994) • Diese Interaktion zwischen dem Ablesen der umfassenden Erfahrungsbasis und der (begrifflichen) Verdichtung des momentan Relevanten lässt diese höhere Form des Bewusstseins zustande kommen • Das (bewusste) Erinnern von Gedächtnisepisoden hängt von der Intensität der Interaktion zwischen LH und RH ab (CHRISTMAN & PROPPER, 2001) • Durch die Einspeisung von immer verdichteteren Informationen (LH) wird die Integrationsebene des Erfahrungsnetzwerkes (RH) auf immer höhere Ebenen gebracht. Es besteht ein Risiko: Falls die Separierung der beiden Erkenntnissysteme zu stark wird, passiert es, dass sich die sprachlichen Verdichtungen (→ bewusste Ziele, etc.) von der gesamten Erfahrungsbasis (auch Bedürfnisse und Gefühle!) entfremden (BAUMANN ET AL., 2005). 73 6.2. Geschichte: Jung, Kelly, Frankl, Schachter a) C. G. Jung • Gliederung der Psyche • Ich – überwiegend bewusst • persönlich Unbewusstes – verdrängte Inhalte wie z.B. alle Erfahrungen, die als unakzeptabel empfunden werden • kollektiv Unbewusstes – Archetypen: angeborene und kulturübergreifende Urbilder wie Mutter, Held oder Gott. → Anima: Urbild des Weiblichen in der männlichen Psyche (→ emotionale Sensibilität, Nachgiebigkeit, irrationales Denken, launisches Verhalten, etc.) → Animus: Urbild des Männlichen in der weiblichen Psyche (→ Logik, Rationalität, Stärke, soziale Insensibilität, etc.) • Schatten – „dunkle“ Seite eines Menschen wie nicht eingestandene Tendenz zur Habgier • Persona – die soziale Rolle: alles, was die Person nach außen hin darstellt • Prinzip der Gegensätze • Das Prinzip ist für die Struktur und Entwicklung der Psyche grundlegend • Etablierung durch Schatten Beispiel: bewusste Freigebigkeit kann unbewusstem Geiz gegenüberstehen. Der Geiz wird auf andere projiziert. Argument: warum sollte man sich über den (vermeintlichen) Geiz anderer Leute aufregen, wenn man nicht selbst ein wenig Geiz in sich hat? • Etablierung durch Struktur der Persönlichkeit → analytisches Denken vs. Fühlen (als eine Form der Informationsverarbeitung) → „Man gebe sich nicht den Anschein, als ob man die Welt nur aus dem Intellekt begreifen würde; man begreift sie ebenso sehr auch aus dem Gefühl. [...] das Urteil des Intellekts [...] muss, wenn es ehrlich ist, auch zum Eingeständnis seines Ungenügens gelangen.“ (JUNG, 1936/1990) • Informationsverarbeitung – Jung entwickelte vier Haupttypen, die sich alle durch die Überbetonung einer kognitiven Funktion auszeichnen. Eine einseitige Fixierung auf eine Art der Informationsverarbeitung führt zu psychischen Erkrankungen. • Typen • Denktyp – logische Weltanschauung • Fühltyp – persönlicher Wert von Erfahrungen • Empfindungstyp – objektive Beurteilung von Wahrnehmungsinhalten • Intuierender Typ – archetypisch bedingtes Ahnen • Kreuzung der Typen mit zwei Einstellungstypen: Intro- und Extraversion, sodass sich insgesamt acht Typen ergeben. Jungs Auffassung der Intro- und Extraversion stimmt größtenteils mit Eysencks empirisch bestätigten Merkmalen überein (→ 2.2b)). Er war allerdings der Ansicht, dass Introvertierte nach innen gekehrt sind, weil sie sich mehr für das Persönliche bei sich und anderen interessieren und schrieb Extravertierten eine Einpasser-Mentalität zu (→ wie das Fähnlein im Wind) • Individuation – die Entwicklung des Menschen zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit • lebenslanger Prozess (nicht wie bei Freud auf Kindheit beschränkt) • Methodik: auf verschiedenen Ebenen muss der unbewusste und unterentwickelte Gegenpol zur bewussten Psyche akzeptiert und in das bewusste Selbstleben integriert werden. 74 b) Kelly • Konstrukte • persönliches Konstrukt: Kriterium oder Schema, aufgrund dessen eine Person Menschen oder Ereignisse interpretiert • Um zu erfahren, welche Ziele ein Mensch verfolgt, wie er Geschehnisse im Alltag interpretiert und andere Menschen bewertet, muss man die von ihm verwendeten Konstrukte kennen • Gegensatzpaare: ein Konstrukt enthält immer einen bewussten Pol und einen unbewussten Gegenpol • Rollenkonstrukt-Repertoire Test Opa Ich Ø O O Ø Ø O Ø Ø Ø Stefan Madeleine Ø Ø Ø Ø Ø wohnen abseits nicht so weit abseits ist „naiv“ O sind männlich sind weiblich erleben viel langweilt sich wahrscheinlich Ø Ø verschieden denken über die Welt nach Ø O Ø ähnlich Ø O O O O Marcel Ø Ø sind jung ist alt sind gläubig ist Atheist sind verwandt sind nicht verwandt wollen Psychologie studieren studiert CoXi Sind 20 ist alt REP Test, den ich mit einem Freund gemacht habe (Namen verändert) • Um herauszufinden, welche Konstrukte eine Person verwendet, wird dieser Test durchgeführt • Es werden konkrete Namen in n-2 Spalten einer Tabelle eingetragen, die zu den bereits eingetragenen Rollen (→ Selbst, Vater, netter Lehrer, etc.) passen. In jeder Zeile sind drei Spalten durch einen Kreis markiert. Der Proband soll entscheiden in welchem Kriterium sich zwei der drei Personen ähneln. Die Kreise in den Spalten dieser beiden Personen werden dann angekreuzt, die Ähnlichkeit wird in der n-1ten Spalte beschrieben und inwiefern sich die dritte Person davon unterscheidet, wird in die n-te Spalte geschrieben. • Auf diese Weise generiert die Person Konstrukte, nach denen sie auch im Alltag spontan Menschen beurteilen würde. Die Bedeutung des Konstrukts ist erst durch den Gegenpol festgelegt. Wenn eine Person zum Beispiel die Ähnlichkeit zweier Menschen darin sieht, dass beide lieb sind und der Unterschied zur dritten Person darin besteht, dass sie zickig ist, scheint „lieb“ vor allem „nicht zickig“ zu bedeuten und nicht etwa „gemein“ wie man annehmen könnte. • Je öfter sich ein Konstrukt in der Ähnlichkeitsspalte wiederholt, desto geringer ist die kognitive Komplexität, weil die Person weniger Konstrukte verwendet, um ihre soziale Umwelt zu beschreiben. Eine hohe kognitive Komplexität ermöglicht die eigenen Handlungsmöglichkeiten besser einschätzen zu können und eine bessere Fähigkeit zur Empathie (BONARIUS, 1965) • Definition vs. Extension • Analytische Präzision – die Definition: mit der häufigen Anwendung eines Konstrukts, wird dies immer prägnanter und in einen spezialisierten Anwendungsbereich des Konstrukts münden • semantische Erweiterung – die Extension: hier wird ein Konstrukt über den bisherigen Gebrauch hinaus ausgeweitet. Dies birgt ein Fehlerrisiko, da die Erweiterung unzutreffend sein kann, jedoch steckt in der Extension auch die Chance neue Erkenntnisse zu gewinnen • Definition (Kelly) = Denken (Jung) = LH: die präzisierende und verengende Funktion des logischen Bewusstseins ist der LH zugeschrieben (DEGLIN & KINSBOURNE, 1996). Eine zu einseitige „Definitionshaltung“ führt dazu, dass man keine Wissenslücken mehr schließen kann. Die Konstrukte sind mit Inseln zu vergleichen, die untereinander nicht verbunden sind. → Ein ausgewogener Wechsel zwischen Definition und Extension ist die Voraussetzung für ein gesundes Wachstum des Erkennungssystems. 75 c) Frankl – Intelligenz des Unbewussten • Das Unbewusste ist die Quelle wesensbestimmender Kräfte • Sinn: komplexe und kognitive Struktur, die einzelne Erlebnisse mit Bedürfnissen, Zielen und Werten verknüpft. • Sinnstiftung • Menschen können schwierige Lebenssituationen meistern und an ihnen wachsen, wenn diesen Situationen eine für die gesamte Existenz relevante Bedeutung zuschreibbar ist • Die ganzheiltlich-intuitive Intelligenz hat das Potential zum Sinnstiften. Dieses Potential kann nicht durch bewusst-analytisches oder kontrollierendes Denken ersetzt werden • Man kann aus allgemeinen Zielen, persönlichen Konstrukten, etc. eine enorme Kraft gewinnen, wenn diese kognitiven Prozesse immer wieder mit persönlichen Lebensbezügen, also mit der ganzen eigenen Existenz, verknüpft werden. • Paradoxe Intervention • Abschwächung der Ich-Dominanz, damit das Unbewusste „Kontrolle“ über die gesunden Kräfte übernehmen kann • Das bewusste Ich wird mit der Kontrolle des Unerwünschten beschäftigt – Symptomverschreibung • Beispiel: Patient leidet darunter, dass er meist erst Nachtmittags aus dem Bett kommt. Der Therapeut weist ihn an eine Woche lang darauf zu achten nicht vor 14 Uhr aufzustehen. d) Schachter & Mandler • Emotionen und Temperament • Aktivierung ist ein zentrales Bestimmungsstück von Emotionen • Emotionen gewinnen durch Aktivierung und Erregung ihren Anpassungsvorteil: → T- (sensorische Erregung): lenkt die Aufmerksamkeit auf Besonderheiten wie Gefahren, Probleme oder Chancen (→ 2.3d)) → T+ (motorische Aktivierung): fördert Einschätzung der persönlichen Bedeutung und energetisiert passendes Verhalten (→ 2.3c)) • Emotionen sind kognitiv beeinflussbar. Beispiel: Man spürt während eines Spaziergangs einen spitzen Gegenstand im Rücken. Man erfährt zunächst einen Aktivierungsschub; die anschließend gefühlten Emotionen sowie das Verhalten sind von der eigenen Interpretation abhängig „Werde ich überfallen oder spielt mir mein Freund einen Streich?“. • Es wurden Theorien entwickelt, die den Unterschied zwischen Emotion und Aktivierung in der kogntiven Interpretation des subjektiv erlebten Aktivierungszustandes sehen (MANDLER, 1984; SCHACHTER & SINGER, 1962). • Emotion ist gedeutetes Temperament (SCHACHTER & SINGER, 1962) • Hypothese: ein Erregungszustand (motorische Aktivierung oder sensorische Erregung) löst eine Emotion aus gdw. er zunächst unerklärlich ist. Dies würde bedeuten, dass Emotionen allein aus der Interpretation unerklärlicher Erregungszustände resultieren können. • Im Experiment wurde der Erregungszustand durch eine Adrenalininjektion hervorgerufen • Die VP wurden in vier Gruppen eingeteilt. Alle Gruppen bekamen eine Injektion. Die VL sagten, es handle sich um Suproxin, eine Substanz deren Wirkung auf die Wahrnehmungsleistung hin untersucht werden solle • Informierte Gruppe: Wirkung des Adrenalins wurden der Gruppe korrekt vorhergesagt (→ Händezittern, erhöhte Herzrate, Erwärmung des Gesichts) • Fehlinformierte Gruppe: beschriebene Wirkung des Adrenalins war falsch (→ Taubheitsgefühl in den Füßen, Juckreiz, Kopfschmerzen) • Uninformierte Gruppe: die Gruppe bekam gesagt, dass die Adrenalininjektion schwach, harmlos und frei von Nebenwirkungen sei • Kontrollgruppe: bekam Placebo (→ Kochsalzlösung) injiziert und wurde nicht über etwaige Wirkungen aufgeklärt • Des Weiteren wurde die kognitive Komponente der Emotionsentstehung dadurch manipuliert, dass jemand nach der Injektion versuchte Euphorie oder Ärger auszulösen (→ Euphorie: Papierflieger fliegen lassen; Ärger: intime Frage stellen „Wie häufig geht Ihre Mutter fremd?“). • Die fehlinformierte und uninformierte Gruppe gab eine höhere subjektive Freude an als subjektiven Ärger gdw. die VP die Erregung auf die vom VL induzierte Freude (→ Papierflieger) zurückführten. 76 Die informierte Gruppe gab eine signifikant geringer positive Stimmung an, als die fehlund uninformierten Gruppen. Die VL folgerten, dass bei unzureichender Information ein Bedürfnis nach Deutung der Erregung entsteht, was dann zu der Erhöhung der positiven Stimmung führe. • Manipulationskontrollen bestätigen Erregungsmanipulation → bei den VP, die Adrenalin injiziert bekamen, war die Pulsfrequenz und die subjektive Erregung erhöht. • Kritik • Die VL gaben die subjektive Stimmung der VP als Differenz zwischen der Skalierung freudiger und ärgerlicher Stimmung an. In der Euphoriebedingung war die Stimmung wie zu erwarten positiv. Gleiches ergab allerdings die Ärgerbedingung. Die VL kamen zu dem Schluss, dass die VP sich den Ärger offensichtlich nicht eingestehen wollten. • Die subjektiven Stimmungseinschätzungen sowie das beobachtbare Verhalten (→ Anzeichen von Freude oder Ärger) der VP, die Adrenalin gespritzt bekamen, unterschied sich nicht signifikant von denen der Placebogruppe. • Der Befund, dass unerklärte Erregungssteigerungen die jeweils kognitiv nahe gelegte Emotion verstärken, wurde in einer Replikation eindeutig widerlegt (MARSHALL & ZIMBARDO, 1979) • Neurobiologischer Hintergrund kognitiv beeinflussbarer Emotionen: Es existieren direkte Wege von Rezeptoren (→ Retina, etc.) zu affektgenerierenden Regionen (→ limbisches System). Zudem existieren auch indirekte Wege, die über den Neocortex verschaltet sind zu diesen affektgenerierenden Regionen. Dies gilt als neuroanatomische Grundlage für kognitive Einflüsse auf Emotionsentstehung (LEDOUX, 2000) • Empirischer Beleg für kognitiv beeinflussbare Emotionen: • Emotionen können in Abhängigkeit von Erregungszuständen kognitiv beeinflussbar sein: VP wurde eine Elektroschockbehandlung angekündigt. Die dadurch entstehenden Angstsymptome wurden von den VP auf experimentell induzierten Krach zurückgeführt, sodass die Angst gar nicht erst entstehen konnte (ROSS ET AL., 1969). • Emotion können unabhängig von einer objektiv physiologischen Erregung kognitiv beeinflussbar sein: (männliche) VP betrachteten halbentkleidete Frauen im Playboy. Gab der VL fälschlicherweise vor die Herzrate der VP sei erhöht, führte dies zu einer Verstärkung der emotionalen Bewertung der Bilder (VALINS, 1966) 6.3. Kognition: Analytisch und Holistisch a) Einführung: analytisch vs. ganzheitlich – kognitive Repräsentationen • Analytisch • Symbolische Form der Wissenrepräsentation, durch propositionale Logik modellierbar (ANDERSON, 1983) • Ziele: konkrete, symbolisch repräsentierte Ziele • Entspricht Kellys „Definition“ und Jungs „Denken“ • Wird mit logisch-sequentieller LH assoziiert • Experiment mit logisch-abstraktem Schlussfolgern, eine Denkaufgabe (Syllogismus), die von der LH unterstützt wird: „Wenn in allen Flüssen, in denen Netze aufgestellt sind, Fische sind und in der Neva Netze aufgestellt sind, dann müssen in der Neva auch Fische sein“ (DEGLIN & KINGSBOURNE, 1996) • VP sollten Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchen • Den VL fiel auf, dass logische Schlussfolgerungen schneller und genauer von statten geht, wenn die RH durch einen Elektroschock gelähmt wurde • Wurde hingegen die LH durch einen Schock gelähmt, waren die Reaktionen der VP weit weniger logisch. Die VP versuchten den Syllogismus empirisch zu lösen: „Kann ich nichts drüber sagen, ich kenne den Fluss nicht.“, „Aber dieser Fluss ist total verschmutzt, da kann es gar keine Fische geben!“ → Beispielaufgabe: Syllogismen • Ganzheiltlich • Subsymbolische Form der Wissenrepräsentation, durch aNNs modellierbar (→ subsymbolisch: nicht symbolisch abrufbar; festgelegt durch Veränderung in den Gewichtungen von Verbindungen im aNN) (POSPESCHILL, 2004; RUMELHART, MCCLELLAND & PDP group, 1986) • Ziele: intuitive erfahrbare und allgemeine Ziele; vorstellbar als Netzwerk akzeptabler Handlungsergebnisse, das viele Zielalternativen enthält; ist ein Ziel nicht erreicht worden, kann man ohne große Schwierigkeit ein Ersatzziel abrufen • Entspricht Kellys „Extension“ und Jungs „Fühlen“. • 77 Wird mit der RH assoziiert: RH ist verknüpft mit der Steuerung von Gefühlen und des ANS (DAWSON & SHELL, 1982; WITTLING, 1990); ist verantwortlich für ganzheiltliche Erkenntnisleistungen, die mit aNNs modellierbar sind (BEEMAN ET AL., 1994; BOWDEN ET AL., 2005) → Beispielaufgabe: remote associates task • Man soll intuitiv entscheiden, ob drei Begriffe (von denen je zwei eher schwach assoziiert sind) zusammengehören könnten – „Ziege, grün, Berg“ • wird stark von den ausgedehnten Netzwerken semantisch verwandter Assoziationen der RH unterstützt, wie auch experimentell durch bildgebende Verfahren bestätigt werden konnte: bei solchen Aufgaben ist die RH stärker als die LH beteiligt (BOWDEN ET AL., 2005) b) Analytische Verarbeitung: Ziele, Planen, Monosemantik • Planung • Wird benötigt, sobald die IVS nicht ausreicht; wenn das gewünschte Objekt also nicht direkt konsumiert werden kann und Schwierigkeiten auftauchen • Schwierigkeiten • Assoziative Schwierigkeiten (generative -): Falls ein Bedürfnis nicht durch die automatisch ausgelöste, dominante Reaktion zu befriedigen ist, müssen spontan neue Reaktionsmöglichkeiten generiert werden, die die Situation verändern könnten. → Verknüpft mit Motiven (Kapitel 5): Motive sind in der Lage spontanes Verhalten generieren zu können – auch wenn keine Anreize für das OES sichtbar sind oder wenn keine explizite Aufforderung zur Bedürfnisbefriedigung in der Umgebung vorhanden ist. Die vorbegrifflichen Erfahrungsnetzwerke von Motiven können in diesen Fällen helfen Anreizalternativen zu generieren (MCCLELLAND ET AL., 1989). • Kognitive Schwierigkeiten: Wenn es nicht reicht das Verhalten an vorfindbaren oder aufzusuchenden Anreizen zu orientieren, muss, um das Bedürfnis befriedigen zu können, ein Problem gelöst werden oder ein Plan konstruiert sowie abgearbeitet werden. Dabei ist der Aufmerksamkeitsfokus nicht – wie sonst üblich – auf einen Anreiz zu richten, der aus dem assoziativen Netzwerk eines Motivs situativ generiert wird, sondern ist auf das Handlungsergebnis zu richten. → Kapitel 6 • Emotionale Schwierigkeiten: Falls die Ausführung der Handlung schwer fällt, also falls die Ausführung unangenehm ist oder sie Überwindung kostet, muss man sich auf die auszuführende Handlung konzentrieren, statt auf Anreize oder angestrebte Ziele. Solche Vorsätze, die gebildet werden, um emotionale Schwierigkeiten zu überwinden, heißen „Absichten“ oder „Vorsätze“. Den Plan zur Überwindung kognitiver Schwierigkeiten hingegen, nennt man „Ziel“. → Kapitel 7 – Selbststeuerung • Ziele • Wissen statt Wollen: keine emotionalen Schwierigkeiten – man darf es sich erlauben, lediglich auf das angestrebte Ergebnis zu achten und sich darauf verlassen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt die richtigen Handlungsroutinen bereit gestellt werden. • Ziele werden nicht nur von selbst gebildet (etwa durch ein spürbares Bedürfnis), sondern auch, wenn zwischen verschiedenen Alternativen gewählt werden muss (ACHTZIGER & GOLLWITZER, 2006) • Bedeutung der LH für die zielorientierte Handlungssteuerung (LEVY & TREVARTHEN, 1976) • Linkshemisphärische Informationsselektion ist nützlich für die Zielumsetzung. • Versuch mit Split-Brain-Patienten (bei denen das Corpus callosum entfernt worden ist) • VP wurden Chimärenbilder gezeigt: Bilder, die in der linken und rechten Bildhälfte jeweils eine Hälfte von verschiedenen Gegenständen darstellen. Die visuellen Informationen eines Halbbildes werden immer in der kontralateralen Hemisphäre verarbeitet. • Die VP berichteten typischerweise einen vollständigen Gegenstand zu sehen – die fehlende Hälfte wurde also ergänzt. Wollte man erfahren, welchen Gegenstand die VP sahen, hing die Antwort von der Art ab, wie man es in Erfahrung bringen wollte: Sollten die VP verbal antworten oder waren instruiert • 78 • • • auf die Funktion des Gegenstands zu achten, nahmen sie den linkshemisphärisch repräsentierten Gegenstand wahr. Sollten die VP aber das Bild durch Zeigen benennen oder waren instruiert auf das Aussehen des Gegenstands zu achten, nahmen sie den rechtshemisphärisch repräsentierten Gegenstand wahr (LEVY, TREVARTHEN & SPERRY, 1972; LEVY & TREVARTHEN, 1976). • Nach der Präsentation des Chimärenbilds , sollten die VP einschätzen, welches von zwei Objekten dem Gesehenen am ehesten entspricht. Ein Gegenstand passte zum rechtshemisphärisch wahrgenommen Bild im Bezug auf das Aussehen (→ z.B. Kuchen und Hut, oder Schere und gekreuztes Besteck). Der andere Gegenstand passte zum linkshemisphärische wahrgenommen Bilder im Bezug auf die Funktion (→ z.B. Kuchen und [gekreuztes] Besteck, oder Schere und Nadel+Faden). Wurde der wahrgenommene Gegenstand in der LH repräsentiert, wählten die VP tatsächlich nicht den ähnlich aussehenden Hut, sondern das Besteck. Wurde der Gegenstand in der RH repräsentiert wurde hingegen der Hut gewählt. → Eine Art „Metakontrolle“ scheint dafür zu sorgen, dass stets die benötigte Hemisphäre aktiviert wird. → LH unterstützt zweck- und zielgerichtetes Verhalten durch die Abbildung von MittelZweck-Relationen und die RH durch die Errechnung der globalen Ähnlichkeit Das Überschreiten des Rubikon • Handlungsorientierung und LH: der positive Affekt (→ handlungsbahnend) aktiviert die LH und die LH intensiviert den positiven Affekt (etwa durch rechtshändiges Balldrücken) (HARMON-JONES, 2006). Handlungsorientierung ist von Bedeutung, sobald sich eine Person entschieden hat und nicht länger abwägt. • Der Übergang von der abwägenden Selektionsmotivation zur umsetzenden Realisierungsmotivation bedeutet gleichzeitig einen Übergang von einem breiten Verarbeitungsfokus (RH?) für die Entscheidungsbildung zu einem verengtem Verarbeitungsfokus (LH; TUCKER & WILLIAMSON, 1984) für die Implementierungsphase (KUHL, 1983C). Des Weiteren herrscht während der Implementierungsphase eine einseitige und parteiische Informationsverarbeitung zugunsten der zu realisierenden Handlung vor (BECKMANN & KUHL, 1984). • Sinnbild: Nachdem Cäsar den Fluss Rubikon überschritten hat, stand für ihn fest, dass er sich für einen Bürgerkrieg entschieden hatte und es nun kein zurück mir gab. Hierarchie Ziele sind oft hierarchisch geordnet: Das Ziel „Abitur machen“ steht unterhalb des Oberziels „Studieren können. Um das Ziel erreichen zu können, müssen viele Unterziele erfüllt werden, etwa „Hausaufgaben erledigen“ (CARVER & SCHREIER, 1998). Merkmale von Zielen • Ausmaß der Zielbindung • Der Beginn der Umsetzung einer Entscheidung bedeutet gleichzeitig die Bindung an das Ziel (=Selbstverpflichtung) • Die Stärke der Zielbindung ist proportional zu Motivation und Leistung (gilt v.a. bei schwierigen Aufgaben) • Gedanken vor und nach einer Entscheidung (PUCA & SCHMALT, 2001) • Vor der Entscheidung: VP versuchten beide Alternativen nach Kriterien wie Erfolgschancen und Anreizen hin zu bewerten (63%) • Nach der Entscheidung: Solche Gedanken nahmen nach der Entscheidungsfindung stark ab (33%); handlungsorientierte Gedanken nahmen zu (5% → 23%). Zudem fand ein Wechsel in der Erfolgserwartung statt: vermeidungsorientierte Leistungsmotivler waren vor der Entscheidung optimistischer und nachher pessimistischer als in der jeweils anderen Phase. Für Erfolgsorientiert-Leistungsmotivierte gilt das Gegenteil. • Das kann durch die verspätete und sehr schnell ansteigende Vermeidungsmotivation (→ 3.3c) erklärt werden. Die angstfreien erfolgsorientiert Leistungsmotivierten haben erst dann eine positive Erwartungshaltung, wenn eine konkrete Möglichkeit ersichtlich ist, ihr Leistungsmotiv zu befriedigen. • Valenz • Spezifität (von „Gib dein Bestes!“ bis „Versuche 8 von 10 Aufgaben zu lösen“. • Schwierigkeit 79 Mit steigender Schwierigkeit steigt auch linear die Leistung und Motivation an (unter der Prämisse, dass die Schwierigkeit nicht allzu hoch wird) – Menschen leisten mehr, wenn sie aufgefordert werden mehr zu leisten (LOCKE & LATHAM, 2002) • Widerspricht ATKINSONS Modell der Leistungsmotivation, das einen Abfall der Leistung vermutet, sobald die Schwierigkeit über das mittlere Niveau hinaus ansteigt (für Erfolgsmotivierte). Dies lässt sich dadurch erklären, dass ATKINSONS Modell Schwierigkeitswahl beschreibt. Der lineare Zusammenhang von LOCKE & LATHAM bezieht sich auf Situationen, in denen die Person die Wahl schon getroffen hat (oder selbst nicht die Chance hatte eine Entscheidung zu treffen). → Im Unterschied zur Selektionsmotivation strengt man sich in der realisierungsorientierten Ausführungsphase bei ((fast)) jeder Schwierigkeit an. Man setzt alles daran, dass die Handlung, zu dessen Ausführung man sich entschlossen hat, auch ausgeführt wird, egal welche Schwierigkeiten auftauchen (ACH, 1910; KUHL 1983C; BECKMANN & KUHL, 1984; HECKHAUSEN & GOLLWITZER, 1987) Valenz und Bezugsnormorientierung • Die kognitive Verengung ist nicht nur davon abhängig, ob nur die Informationen verarbeitet werden sollen, die die Umsetzung des Ziels und das Ziel selbst unterstützen. Die kognitive Offenheit und Verarbeitungsbreite hängt auch davon ab, ob ein Ziel aufgrund seiner aufzusuchenden positiven oder zu vermeidenden negativen Aspekte angestrebt wird. So kann man zum Beispiel das Ziel haben eine Prüfung zu bestehen, damit man seinen Wunschberuf ausüben kann. Man kann die Prüfung aber auch bestehen wollen, damit man sich nicht vor Freunden blamiert. • Die Valenz eines Ziels lässt sich weiter durch die Bezugsnormorientierung differenzieren: ein Ziel kann an einer individuellen Bezugsnorm (→ etwas dazulernen, sich verbessern) oder an dem Bestehen des sozialen Vergleichs (→ besser sein als andere) orientiert sein. Die erste, individuelle Bezugsnorm heißt „intraindividuelle / absolute Bezugsnorm“ die sozialthematische „normative / interindividuelle Bezugsnorm“ (ELLIOT & MCGREGOR, 2001). • Ein Mensch mit normativer Bezugsnorm achtet auf das Ergebnis des Ziels und schenkt dem Lernprozess sowie der damit verbundenen Freude, etc. keine Aufmerksamkeit (→ ergebnisorientiertes Ziel, „performance focus“). Bei Menschen mit absoluter Bezugsnorm vv. (→ lernorientiertes Ziel, „mastery focus“) • Es stellt für Eltern und Lehrer eine große Versuchung dar, die Leistung von Kindern direkt zu forcieren und damit ein ergebnisorientiertes Leistungsziel zu induzieren. Allerdings zeigt die Forschung deutlich, dass ergebnisorientierte Leistungsziele, die zu einer Fixierung auf die Leistung führen, nur einen schwachen Einfluss auf die Anstrengung haben. → Ergebnisorientierte Ziele (unabhängig von der Valenz) erhöhen nicht das Vertrauen in die eigene Tüchtigkeit und sorgen nicht dafür, dass man sich anspruchsvolle Leistungsziele setzt (VAN DE VALLE ET AL., 2001). Lernorientierte Ziele (unabhängig von der Valenz) hingegen haben einen positiven Einfluss auf Anstrengung, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das Setzen anspruchsvoller Leistungsziele (die Höhe der persönlichen Leistungsziele hat den stärksten Einfluss auf den Leistungszuwachs → 0,34). → Wurde die Valenz mitberücksichtigt, war zu beobachten, dass ergebnisorientierte Vermeidungsziele einen noch negativeren Einfluss auf das Vertrauen in die Fähigkeiten und die Höhe der Leistungsziele haben, als ergebnisorientierte Aufsuchungsziele. • Zusammenhang zwischen Leistungszielen und Leistungsmotiv (TRASH & ELLIOT, 2002) • Das Erfolgsmotiv hängt mit den positiv-absoluten Leistungszielen zusammen → Lernorientierung • Das misserfolgsorientierte Leistungsmotiv korrelierte sowohl mit dem positiven als auch mit dem negativen normativem Leistungsziel. Dies kann als Hinweis für die Ambivalenz des Misserfolgsmotivs aufgefasst werden, das ständig zwischen Aufsuchungs- und Meidungstendenzen schwankt. Es erscheint jedoch plausibler, dass dieser Befund darauf zurückzuführen ist, dass positivnormativen Zielen eine implizite Vermeidungsmotivation zugrunde liegt: wenn jemand die eigene Leistung mehr mit anderen als mit eigenen Augen betrachtet zeigt er eher eine vermeidungsorientierte Leistungsängstlichkeit als eine angstfreie Leistungsmotivation (DICKHÄUSER & RHEINBERG, 2003). • • 80 Misserfolgsfurcht sinkt im Unterricht stark, wenn Schüler nicht nach einer sozialen Bezugsnorm beurteilt werden (→ Benotung nach Rangplatz in der Klasse), sondern, wenn sie nach einer Orientierung an den individuellen Leistungszuwächsen beurteilt werden (→ Benotung nach eigenem Lernfortschritt) (RHEINBERG, 1980) Folgen impliziter Misserfolgsfurcht • Bei expliziten Selbstbeurteilungen der eigenen Motive misst man häufig sowohl explizite Aufsuchungsziele als auch implizite Vermeidungsziele. → Aktive Form der Vermeidung: die unbewusste Motivationsquelle ist zwar vermeidungsorientiert, jedoch drückt sich die Vermeidung auf bewusster Ebene durch aufsuchungsmotiviertes Verhalten aus (z.B.: besser sein als andere, sich doch mal anstrengen, etc.) • Bei implizit erfolgsorientierter Leistungsmotivation werden häufig allgemeine und lernorientierte Ziele aus dem Unbewussten wirksam. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Ziele erst dann bewusst gemacht werden, wenn man Probleme erwartet bzw. sie bereits vorhanden sind. Wenn ein Ziel bewusst gemacht wird, tauchen Probleme auf, die durch die IVS nicht zu bewältigen sind. • Das Bewusstsein beginnt bei abstrakten Zielen und bewegt sich dann absteigend von allgemeinen Zielen auf immer konkretere Ebenen zu, bis eine Konkretisierungsebene erreicht ist, die für die Behebung des Fehlers bzw. der Vermeidung von erneutem Misserfolg notwendig ist (BAARS, 1988; MARCEL, 1983B; NORMAN & SHALLICE, 1986; VALLACHER & WEGNER, 1985). Beispiel: der Fahrradreifen ist kaputt. Man bleibt nicht bei den abstrakten Zielen, um darüber nachzudenken, warum man heute alle Zielorte verspätet erreichen wird, sondern begibt sich bewusst auf eine konkretere Ebene. • Implizite Misserfolgsfurcht kann sich auch dadurch ausdrücken, dass die durch explizite Aufsuchungsziele gesteigerte Motivation nicht in Leistung umgesetzt werden kann, weil Furcht das Arbeitstempo verlangsamt (GRAY, 1987) oder die Verarbeitungskapazität reduziert (EASTERBROOK, 1959). • Fazit: explizite Leistungsziele fundieren auf impliziter Vermeidungsmotivation, wenn die Motivation – nicht jedoch die Leistung – durch Angebote der normativen Bezugsnorm (→ besser sein als andere) gesteigert werden kann – die Anstrengung ist erhöht durch das explizite Aufsuchungsverhalten, die Leistung jedoch nicht, da sie nur selten durch Furcht steigerbar ist. Das implizite erfolgsorientierte Leistungsmotiv ist besser durch Angebote der individuellen Bezugsnorm (→ individuelle Lernziele) anregbar. Das implizite Leistungsmotiv ist nicht auf explizite und konkrete Leistungsziele (→ Ergebnisorientierung) festgelegt (BRUNSTEIN & HOYER, 2002) • Es existiert eine Dissoziation von Anstrengung und Leistung bei Personen, die sich bewusst als leistungsmotiviert erleben (→ hoher Fragebogenkennwert); die Dissoziation zeigt sich nicht bei implizit Leistungsmotivierten (→ TAT). • Im Experiment wurden die Wirkung von manipulierten individuellen Leistungsveränderungen (→ absolute Bezugsnorm) und die Wirkung von Rückmeldung über Leistungsveränderungen im Bezug auf die Leistung von anderen (→ normative Bezugsnorm) bei einer Konzentrationsaufgabe getestet. • Das Maß für die Leistung ist die Bearbeitungsgeschwindigkeit in Konzentrationstests • Explizites Leistungsmotiv: Motiv wies keinen Zusammenhang mit Leistung auf; Anstrengung die Aufgabe fortzusetzen stieg an, nachdem eine absteigende Leistung gegenüber einer sozialen Bezugsnorm zurückgemeldet wurde. • Implizites Leistungsmotiv: Rückmeldungen auf der Ebene der normativen Bezugsnorm hatten keinerlei Effekt auf die Leistung; wurde ein Leistungsrückgang auf Ebene der absoluten Bezugsnorm gemeldet stieg die Anstrengung und Leistung allerdings klar an. Kognitive Inhalte • Welche Auswirkungen (motivational + emotional) haben kognitive Inhalte wie Erwartungen, Kontrollüberzeugungen und Kausalattributionen? • Wann ist die Ursachensuche nützlich und wann induziert sie hinderliches Grübeln? → Dysfunktionales Grübeln sorgt für eine Beeinträchtigung affektregulatorischer Kompetenzen (KOOLE & JOSTMANN, 2004; KUHL & WEISS, 1994) und verstärkt das Depressionsrisiko (KUHL & HELLE, 1986; NOLEN-HOEKSEMA, 2000). Depressive Erkrankungen verstärken umgekehrt das lageorientierte Grübeln. • • • • 81 Wovon ist die Kausalattribution abhängig? → Dauer und Intensität wird durch folgende Faktoren begünstigt/verstärkt: • negative Valenz (i.U. zu Erfolgen erhöhen Misserfolge das Interesse an Ursachen stärker) • Ereignis entsprach nicht der Erwartung; kam also überraschend • hohe persönliche Priorität • Ort der Kontrolle und Stabilität (WEINER ET AL., 1971) • Zusammenhang zwischen Kausalattribution und Leistungsmotiv • Erfolgsmotivierte bevorzugen mäßig schwierige Aufgaben, da sie Erfolge und Misserfolge auf die eigene Anstrengung und Erfolge auf die eigene Fähigkeit attributieren. Wählen sie eine mäßig schwere Aufgabe hängt der Erfolg besonders stark von der eigenen Fähigkeit ab; wohingegen Fähigkeiten bei sehr leichten Aufgaben nicht gebraucht werden und bei sehr schweren wenig nützen. • Misserfolgsmotivierte attributieren Erfolge auf den Zufall und Misserfolge auf die eigene augenscheinlich mangelnde Fähigkeit. • Verursachungsfaktoren wurden in ein zweidimensionales Schema eingeordnet • Ort der Kontrolle – internal vs. external – internal sind Faktoren wie Anstrengung und Fähigkeit; external umfasst die Aufgabenschwierigkeit und den Zufall. Der Ort der Kontrolle beeinflusst den Affekt und reguliert damit den Anreiz von Erfolg/Misserfolg • Stabilität – stabil vs. instabil – bestimmt die Veränderung der Erwartung nach Misserfolg/Erfolg. • Beispiele • Je stärker ein Misserfolg auf interne Faktoren attributiert wird, desto mehr negativer Affekt wird ausgelöst • Je stärker ein Misserfolg auf stabile Faktoren zurückgeführt wird (intern: mangelnde Fähigkeit; external: zu hohe Schwierigkeit), desto stärker schwindet die Erfolgserwartung nach wiederholtem Misserfolg • Rationales Handlungsmodell (HECKHAUSEN, 1977) → Annahme: Motivation ist aus Erwartung und Wert ableitbar → Erweiterung von Atkinsons Erwartungs-mal-Wert Modell (→ 5.2d)): die motivationale Tendenz in einer Aufgabensituation Erfolg zu erwarten, ist von folgenden Faktoren abhängig: • Situation-Ergebnis Erwartung: Situation führt ohne eigenes Handeln zu einem erwünschten (bzw. unerwünschten) Ereignis • Handlungs-Ergebnis Erwartung: eine bestimmte Handlung führt zu einem bestimmten Ereignis • Ergebnis-Folge Erwartung: Ereignis zieht erwünschte (bzw. unerwünschte) Folgen nach sich • Valenz der Handlungsfolge – positive und negative Anreizmomente → Alle Faktoren sind miteinander multiplikativ verknüpft (→ Wechselwirkung). Sie alle müssten über unglaublich viele Situationen, Handlungen, Ereignisse und Folgen summiert werden, um tatsächlich zwischen verfügbaren Alternativen wählen zu können. Das analytisch-sequentielle Denken erscheint vollkommen unangebracht bzw. ineffizient. c) Holistische Verarbeitung: Allgemeine Ziele, Sinn, Kreativität • Allgemeine Ziele • Es gibt keine hinreichende Unterscheidungsmöglichkeit zwischen spezifischen und allgemeinen Zielen, da dieser Bereich wird von der Forschung nicht konsequent beachtet wird • Allgemeine Ziele sind z.B. persönliche Ziele, die sich auf einen Lebensabschnitt oder ein ganzes Leben beziehen (dem Leben einen Sinn geben, eine glückliche Familie haben, etc.), oder auch lernorientierte Ziele (ständig die eigenen Fähigkeiten verbessern) sein können, da sie nicht auf konkrete Einzelereignisse festgelegt sind. Solche Ziele sind (eher) durch implizite Netzwerke relevanter Aufgaben, Handlungen und Leistungsverläufe repräsentiert. • Es können psyche oder psychosomatische Störungen entstehen, wenn man Ziele, die allgemein und implizit das Handeln steuern sollen, durch konkrete und explizite Ziele zu ersetzen versucht. Beispiel: ein einseitig analytischer Patient, dessen notorische (gewohnheitsmäßige) Unzufriedenheit auf dem Fehlen eines Lebenssinns beruht, ohne • 82 • • dass er merkt, dass sich Sinn nur durch den Bezug einer Handlung/ eines Ereignisses zu einem Netzwerk von (über-)individuellen Bedürfnissen und Werten ergibt (HOFMANN & HOFFMANN, 2000), welches zu komplex ist, als dass man es durch analytische Einzelschritte aufbauen könnte (es ist lediglich durch die ganzheitliche Repräsentationsform erfühlbar). Rechte Hemisphäre • Die LH ist i.U. zur RH aus gegeneinander stark abgegrenzten „Minimodulen“ aufgebaut (SCHEIBEL ET AL., 1985); dies eignet sich sehr gut für Mittel-Zweck-Sequenzen und Handlungspläne (→ ein Wort aussprechen, den nächsten Handlungsschritt für das Reparieren eines Fahrrads aktivieren). • Die RH hingegen profitiert von einer stark und weit vernetzten, assoziativen Architektur, die für allgemeine Ziele relevant ist. Dieses Netzwerk war bereits in Kapitel 5 für die vorbegrifflichen Motive relevant. Es ist speziell für Ziele wichtig, dass dieses Netzwerk auch auf der begrifflichen Bearbeitungsebene zur Verfügung steht, da Ziele begrifflich repräsentiert sind und sich auf ein weites Netzwerk relevanter Handlungen beziehen. • Summationspriming (BEEMAN ET AL., 1994) • Da bei einem allgemeinen Ziel der Person nicht bekannt ist, wann sie auf eine zielrelevante Situation stößt oder welche Handlungen relevant sein könnten, ist ein allgemeines Ziel besonders effektiv, wenn es auf möglichst viele potentiell relevante Situationen und Handlungen verweist. • Wenn man die Funktionseigenschaften dieses Netzwerks untersuchen möchte, kann man dies mit drei-vier Elementen erreichen, die nur entfernt semantisch miteinander verwandt sind. Wenn der VP die semantische Verknüpfung trotzdem klar wird, kann man davon ausgehen, dass sie Zugang zu einem großen Netzwerk hat, dass das ermöglicht. Diese Annahme setzt voraus, dass direkte semantische Verknüpfungen (z.B. „Schere“ und „schneiden“) enger verknüpft sind als z.B. „Fuß“ und „schneiden“. • In dem Experiment mussten Zielwörter identifiziert werden. Bevor diese Wörter angezeigt wurden, wurden je nach Bedingung 300ms vor Erscheinung des Zielworts (Beispiel: schneiden) entweder (1) drei direkte Vorreize (Schere + zwei irrelevante Wörter) oder (2) drei Summationsreize („Füße“, „weinen“, „Glas“) angezeigt. Diese Summationstripel waren darauf ausgelegt, einzeln nur schwache Assoziationen untereinander oder mit dem Zielwort auszulösen; gemeinsam (Summationstripel + Zielwort) jedoch sollten sie dann „Sinn“ ergeben. → Das Experiment belegt Hemisphärenunterschiede • Direkte Primes: Wird das Zielwort im rechten visuellen Halbfeld gezeigt (→ linkshemisphärischer Verarbeitungsvorteil), stieg die Identifikationsleistung für direkte Primes (=Vorreize). Die gesteigerte Identifikationsleistung für direkte Primes verschwand, als die RH den Verarbeitungsvorteil hatte. • Summationsprimes: Summationsprimes wurden besser erkannt, wenn die RH einen Verarbeitungsvorteil hatte (Targetwort im linken visuellen Halbfeld). • Eine Kontrollbedingung mit untereinander unverknüpften Wörtern zeigte keine Lateralisierungseffekte und wies eine niedrigere Identifikationsrate auf. • In der rechten Hemisphäre werden weite semantische Felder schwach aktiviert. Damit bietet sich die RH als funktionale Grundlage allgemeiner Ziele an. Mithilfe der weiten, parallelen Netzwerke ist es möglich intuitiv zu wissen, welche der im Netzwerk gespeicherten Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten angetroffenen Situation zielrelevant sind. Vermutung: positiver Affekt bahnt die Handlung, die durch das kognitive Netzwerk der RH intuitiv ermittelt wurde – allgemeine Ziele sind umso verhaltenswirksamer, je positiver sie implizit erlebt werden (FERGUSON, 2007) • Hier: allgemeines Ziel ist schlank werden; zielrelevante Handlung: Vermeiden von Süßigkeiten • Je schneller VP positive Wörter wie „gut“ als positiv klassifzierten, wenn es auf ein Wort folgte, dass auf das allgemeine Ziel verweist („schlank“), desto weniger naschten sie bei einer angeblichen Verbraucherstudie von Süßigkeiten. 83 Dieser Effekt trat nur für problematische Lebensmittel auf: War das Ziel positiv valenziert, gab es in Relation zu VP mit niedrig valenziertem Ziel eine stark reduzierte Menge verzehrtes Gebäck, aber eine erhöhte Menge verzehrter Minzplätzchen. Nach dem Versuch wurde ermittelt, dass die VP das Gebäck subjektiv als kalorienreich empfinden, die Minzplätzchen hingegen nicht. • Die positive Valenz konkreter Unterziele („Süßes meiden“ als Unterziel von „schlank werden“) hatte keinen Einfluss auf das Essverhalten. Vermutung: VP hatten den Eindruck, dass keine Versuchungssituation vorlag, da im vorgetäuschten Verbrauchertest Lebensmittel getestet werden sollte. Wie beschrieben werden handlungsbezogene Vorsätze erst bei emotionalen Schwierigkeiten relevant (→ 6.3b)). → Befund unklar! → Können allgemeine Ziele auch ohne explizite Vorsätze handlungsrelevant werden? • Genaue Analyse von FERGUSONS Methode gibt Aufschluss • genauer Versuchsablauf: Gemessen wurde die positive Valenz von Zielwörtern. Das waren zum einen zielrelevante Wörter („schlank“, „Plätzchen“) und zum anderen neutrale Wörter („Tisch“). Das Zielwort wurde als Prime für 150 ms gezeigt; es folgte ein eindeutig positives oder negatives Targetwort. Die VP sollten schnellstmöglich entscheiden, ob das Targetwort positiv oder negativ ist. Die Valenz für das Zielwort ergibt aus der Differenz zwischen der Reaktionszeit für das negative Targetwort und der des positiven Wortes. War das Zielwort positiv valenziert, klassifizierte die VP ein positives Targetwort schneller positiv als ein negatives Targetwort negativ. • Es wurden VP mit einem stark positivem allgemeinen Ziel (→ schlank sein) mit VP verglichen, die lediglich ein starkes explizites Ziel haben (→ Süßes meiden). VP mit einem positiv valenziertem allgemeinen Ziel ließen sich viel weniger von der angeblichen Verbraucherstudie zum Verzehr von Süßigkeiten verführen (Korrelation zwischen Zielpositivität und konsumierter Menge bei allgemeinen Zielwörtern: -0,44. Für konkrete Zielwörter ist die Korrelation fast Null.) • positive Valenz konkreter Ziele hat keinen Einfluss auf das Essverhalten, positive Valenz allgemeiner Ziele schon. Lebensziele • „Lebensziele“ meint persönliche Ziele, die sich auf die Gestaltung der gesamten Lebensplanung auswirken. • Einfluss solcher Ziele auf das subjektive Wohlbefinden wurde untersucht (CANTOR & ZIRKEL, 1990) → subjektives Wohlbefinden ist erhöht, wenn Personen erfolgreich allgemeine Ziele verfolgen (EMMONS, 1992 & weitere) → Personen mit subjektivem Wohlbefinden erleben ihre Ziele als bedeutsamer, haben höhere Affinität zur Aufsuchungsmotivation, als zu der Vermeidungsmotivation und haben mehr Freude an der Durchführung von zielrelevanten Tätigkeiten (BRUNSTEIN & MAIER, 1996) • Es existiert eine komplexe Wechselwirkung: das subjektive Wohlbefinden verzeichnet nur dann einen Zuwachs, wenn gleichzeitig Entschlossenheit, eine Realisierbarkeitserwartung und tatsächlicher Fortschritt bei der Zielerreichung gegeben ist (BRUNSTEIN, 1993). Falls es stimmt, dass allgemeine Ziele durch weite Netzwerke von relevanten Situationen und Handlungsmöglichkeiten repräsentiert werden, dann können nur solche realistischen Ziele (= Ziele, für die alle drei Bedingungen gelten) das subjektive Wohlbefinden erhöhen, da die Bewertung, ob ein Ziel realistisch ist oder nicht, von einem ausgedehnten Erfahrungsnetzwerk abhängig ist; also ein Netzwerk der selben Art wie das, durch das ein allgemeines Ziel repräsentiert wird. Dies stellt die psychofunktionale Grundlage für die große Vorhersagekraft allgemeiner und optimistischer Kontrollüberzeugungen dar, die ähnlich wie das Erreichen realistischer Ziele Zufriedenheit und Gesundheit vorhersagen (BANDURA, 1986, 2006; ROTTER, 1954; SCHEIER & CARVER, 1993; SELIGMAN, 1975; TAYLOR & BROWN, 1994) → Nur wenn der Optimismus einer Person auf ausgedehnte Erfahrungsnetzwerke zurückgeht, ist es erklärbar und zu erwarten, dass es sich um einen realistischen Optimismus handelt. • • 84 Einfluss von Dispositionen auf persönliche Ziele • Neurotizismus: negative Korrelation mit Realisierbarkeit persönlicher Ziele (LITTLE ET AL., 1992) • Extraversion: positive Korrelation mit subjektiver Wertigkeit und Realisierbarkeit von affilativen Zielen (= anschlussorientierte Ziele); kein signifikanter Zusammenhang mit subjektiver Relevanz von Leistungszielen. • Wenn positiver Affekt für die Umsetzung allgemeiner Ziele wichtig ist (s.o.), ist erklärbar, dass Neurotizismus (Sensibilität für A-) nicht hilfreich ist. Nicht erklärbar ist, warum Extraversion (Sensibilität für A+) ebenfalls nicht (bei allen Zielen) hilfreich ist. Vermutung: eine Sensibilität für A+ auf einer elementaren Ebene der Verhaltenssteuerung garantiert nicht (oder erschwert sogar), dass er auf einer höheren Ebene ebenfalls verfügbar ist. Senkung des Wohlbefindens durch extrinsische und vermeidungsorientierte Ziele • Machtorientierte Ziele sind an negative Affekte geknüpft (EMMONS, 1991) • Generell ist das Streben nach extrinsischen Zielen (in etwa Prestige, Anerkennung, Einfluss oder Geld) sowie das Erreichen vermeidungsorientierter Ziele (das Lösen einer Aufgabe, um sich nicht zu blamieren) mit einer Senkung des subjektiven Wohlbefindens verbunden (extrinsisch: KASSER & RYAN, 1993; SHELDON ET AL., 1997 – vermeidungsorientiert: ELLIOT ET AL., 1997 ). → (Annahme) Extrinsische Ziele decken nur einen engen Bereich aller Bedürfnisse und Werte eines Menschen ab und können sogar mit anderen Bereichen Konflikte auslösen (z.B.: harmonisches Familienleben). Damit das Streben nach einem extrinsischen Ziel glücklich machen kann, muss es mit der Gesamtheit eigener Bedürfnisse abgestimmt sein (nicht der Fall) oder aber auf ein ähnlich komplexes Netzwerk zurückgreifen können wie allgemeine Ziele → (Annahme) Bei Vermeidungszielen ist es ähnlich: der große Unterschied zwischen dem Ziel eine gute Zusammenfassung des Lehrbuchs abzuliefern und dem Ziel keine schlechte Zusammenfassung abzugeben, ist – wie bei den extrinsischen Zielen – die fehlende Beteiligung großer Bereiche des persönlichen Bedürfnis- und Wertesystems. Vermeidungsziele können i.U, zu Aufsuchungszielen nicht so gut in die umfassenden Bedürfnis- und Wertenetzwerke eingebunden werden. Bei einem Vermeidungsziel (→ Studieren, um sich nicht vor Freunden zu blamieren) werden viele positive didaktischen Ziele, persönliche Anreize und Anwendungsmöglichkeiten außer Acht gelassen. Motivdiskrepanz (BAUMANN ET AL., 2005) • Experiment mit Studenten und Patienten, die verschiedene Störungen aufwiesen (sowohl psychische als auch psychosomatische) • Getestet wurden die VP mit einem weiterentwickeltem TAT und einem Fragebogen als Selbstbeurteilung von drei Motiven (Macht, Beziehung und Leistung). Außerdem wurde Alltagsstress und affektregulatorische Kompetenz (Lageorientierung vs. Handlungsorientierung → 4.3c)) ermittelt. • Unter den studentischen VP zeigte sich folgender Zusammenhang: hohe Alltagsbelastung überfordert die Selbstmotivierung, welche das Wohlbefinden reduzierte. Das Wohlbefinden ist hier das Kriterium (und der Prädiktor) der Wechselwirkung von der geringen Selbstmotivierungskompetenz (prospektive Lageorientierung → 4.3c) und Alltagsbelastungen (Stress verursachende unerledigte Aufgaben und schwierige Ziele, mindert A+). • Bei den Patienten bestand ein analoger Zusammenhang: eine hohe Bedrohung und eine verminderte Selbstberuhigungskompetenz erhöhen die den allgemeinen Summenwert der Symptombelastung (gemessen durch einen Test, der die wichtigsten Symptome abfragt → SCL). Hier ist die Symptombelastung das Kriterium/ der Prädiktor des Produkts aus Bedrohung (steigert den A-) und geringer Selbstberuhigungskompetenz (Lageorientierung nach Misserfolg). • • • 85 • Mediatonsanalyse: es wird ein Mediator (= Vermittler) bestimmt (hier: absolute Differenz zwischen Fragebogen und TAT Kennwert des Leistungsmotivs) und statistisch konstant gehalten. Wenn die Konstanthaltung des Mediators (vermutete Ursache für einen Effekt) dafür sorgt, dass der Zusammenhang ganz verschwindet oder signifikant reduziert wird, kann man daraus schließen, dass der Mediator den Zusammenhang vermittelt (mediiert). Tatsächlich ist die Motivdiskrepanz für den Effekt verantwortlich. Offensichtlich kann die Trennung zwischen analytischen und holistischen Erkenntnissystemen riesige Kosten verursachen, wenn sie entgleist. Die mögliche Folge ist, dass Personen die Fähigkeit fehlt Ziele mit dem inneren Netzwerk eigener Motive abzugleichen, was zu psychischen Erkrankungen führen kann. Die Gitter-Technik – Motivmessung (SCHMALT, 1973, 1976; SCHMALT, SOKOLOWSKI & LANGENS, 2000) • Annahme: Der Zusammenhang zwischen allgemeinen Zielen und impliziten Motiven zeigt, wie sehr diese Ziele mit dem ganzheitlichem Netzwerk persönlicher Ziele und Bedürfnisse verknüpft sind. • Um die Extension (= Ausdehnung) dieser motivational relevanten kognitiven Netzwerke zu messen, wird die Gitter-Technik verwendet, die an den Rep-Test angelehnt ist (6.2b)). Bei dieser Technik bekommen die Probanden Bilder, die – ganz im Stil des TAT – viele motivthematische Deutungen zulassen, vorgesetzt und sollen zu jedem Bild Aussagen bewerten, die verschiedene Komponenten des kognitiv-emotionalen Netzwerks beschreiben, das das Motiv ausmacht. Diese Aussagen sind den Inhaltskategorien des TAT nachempfunden: Bewertung von Handlungsergebnissen, affektive Konsequenzen und Erwartungen. Es existieren positiv und negativ valenzierte Aussagen, die ein aufsuchendes bzw. ein passiv-vermeidendes Motiv ansprechen. • Verschiedene Studien zeigen, dass die Gitter-Technik besser in Relation zu Fragebogenkennwerten an TAT Ergebnisse rankommt. Die Technik macht Zusammenhänge erkennbar, die – wie beim TAT – nicht mit Fragebögen replizierbar sind. Gleichzeitig ist die Gitter-Technik in der Lage die kognitiven Komponenten zu erfassen, die für die situationsgerechte Umsetzung von Motiven relevant sind. → Höhere Steuerungsebenen scheinen das zu integrieren, was niedere Ebenen bereits entwickelt haben. Daher ist die Gitter-Technik in der Lage den vorbegrifflichen Motivkern und die kognitive Auswirkungen von motivrelevanten Erfahrungen zu ermitteln. Trotzdem gibt es Zusammenhänge die mit dem TAT aber nicht mit dem Gitter gezeigt werden können. Da der TAT viel näher an den vorbegrifflichen Motiven ist, scheint es Phänomene zu geben, die an die vorbegriffliche Ebene gebunden sind. Beispiel: VP mit hohem TAT-Kennwert für das Erfolgsmotiv wiesen nach der Induktion von Erfolgsfantasien erhöhte negative Affekte auf. Dies ist nicht der Fall für VP mit einem hohen Gitter-Kennwert für das Erfolgsmotiv (LANGENS, 2002)6. Anscheinend ist die Gegenregulation von Affekten stark von einer impliziten Steuerungsebene abhängig (ROTHERMUND ET AL., 20087). • • 6 Der Befund wurde aus „Kuhl+“ übernommen. In dem eigentlichen Buch wird das Gegenteil behauptet. Hier die alte Zusammenfassung, die durch die „Kuhl+“-Zusammenfassung ersetzt wurde: „Einige VP, die einen hohen Gitter-Kennwert für das erfolgsorientierte Leistungsmotiv haben, wiesen nach der Induktion von Erfolgsfantasien erhöhte negative Affekte auf“. Ich nehme an, dass die neuere Version die richtige ist (habe es aber nicht überprüft). 7 Datum aus „Kuhl+“ übernommen. Im eigentlichen Buch steht „20xx“. 86 6.4. Emotion: Kognitive Determinanten a) Kognitive Affektmodulation • Durch kognitive Interpretation lassen sich Affekte beeinflussen (Beispiel: intellektualisierende Instruktion „Betrachten Sie den folgenden Film ganz sachlich und nüchtern“ senkt subjektive und physiologische Angstreaktionen auf Angst auslösende Stimuli erheblich (LAZARUS, 1966; GROSS, 1998). • (viele) Emotionen enthalten implizite kognitive Urteile, die erst bei genauer Analyse deutlich werden. So ist das Empfinden von Dankbarkeit z.B. nur möglich, wenn man eine Person dafür verantwortlich machen kann. Eine Ärgerreaktion taucht hingegen auf, wenn eine Person absichtlich die eigene Zielerreichung verhindert (WEINER, 1985; ORTONY, CLORE UND COLLINS, 1988). b) Terror-Managment-Theorie (TMT) • TMT thematisiert die Frage: „Wie kann der Mensch mit der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit, die seine gesamte Existenz betrifft, sein Dasein bestehen?“ (PYSZCZYNSKI, GREENBERG & SOLOMON, 1999). • Daseinsangst entsteht zunächst aus der eigenen Konfrontation mit der riesigen Anzahl möglicher Lebensentwürfe (→ vgl. mit der Anzahl möglicher Zustände in einem parallelen Netzwerk – die Möglichkeiten sind für das Selbst mit endlichen Begriffen kaum beschreibbar) • Diese existenzielle Angst umfasst alle Daseinsbezüge. Dies ist teilweise nachvollziehbar, wenn man die Angehörigen von Verstorbenen denkt: Der Verlust eines geliebten Menschen betrifft alle Teile des Selbst und kann daher auch nicht durch lokale Maßnahmen – seien sie noch so effektiv – überwunden werden. Daher spenden kleine stimmungsaufhellende Maßnahmen keinen Trost, nur das „Dasein“ von anderen Menschen, die ebenfalls alle Ebenen des Selbst berühren, wirkt Trost spendend. • Für ein Nachdenken über den eigenen Tod gilt dies besonders, da man durch Logik oder Vorstellungen nicht begreifen kann, wie es ist, nicht mehr zu sein. Niemand kann sich das Fehlen des unendlichen Möglichkeitsraums vorstellen, der unser individuelles Dasein durch die Integration unendlicher Verweisungszusammenhänge in persönliche und überpersönliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leistet. • TMT Forschung • Die TMT-Forschung bezieht sich nicht auf die höchste Ebene der Verhaltenssteuerung. Sie untersucht eine Form der Sterblichkeitsbewältigung, bei der Menschen sich an das orientieren, an was „man“ sich orientiert, sollten diese Menschen an eigene Sterblichkeit erinnert werden. • Das abhängige Maß ist die CWD – cultural worldview defense: Je stärker man sich an den Regeln, Werten und Normen der Kultur (oder an die einer anderen Bezugsgruppe: Berufsgruppe, etc.) orientiert, desto besser ist man in der Lage die eigene Sterblichkeit gefühlsmäßig zu relativieren, da der größere kulturelle Zusammenhang die eigene Existenz überdauert. • In Experimenten werden Erinnerungen an die Sterblichkeit (MS – mortality salience) induziert (Beispiel: „Schreiben Sie auf, wie sich das wohl anfühlen wird, wenn sie sterben.“). Durch die Art der Auseinandersetzung der VP mit der MS wird deutlich, dass die Bewältigungsreaktion keine selbstkonfrontativen Elemente enthält. I.d.R. wird das eigene kulturelle Weltbild verteidigt, was keinen logischen oder semantischen Bezug zur Sterblichkeit hat. • Die Anlehnung an ein kulturelles Weltbild (CWD) stellt eine komplexere Ebene der Bewältigung dar, als die klassischen Abwehrmechanismen (4.2d)). Letztere kommen v.a. zum Einsatz, wenn die MS bewusst verarbeitet wird / im Fokus der Aufmerksamkeit ist. 87 Befunde MS führt zu stärkerer Verurteilung von unmoralischem Verhalten (FLORIAN & MIKULINCER, 1997) • MS führt zu positiver Bewertung von Personen, die die Kultur der VP loben (GREENBERG ET AL., 1990) • MS ruft starke Aggressionen Personen gegenüber auf, die abweichende Einstellungen haben (MCGREGOR ET AL., 1998) • Bewusste MS korreliert negativ mit der CWD (GREENBERG, SIMON ET AL., 1995) • CWD bleibt bei VP mit hohem Selbstwertgefühl nach MS aus (ARNDT ET AL., 2004) • Keine CWD bei intrinsisch religiösen Menschen (JONAS & FISCHER, 2006) • CWD bleibt nur bei Menschen mit intakter Selbstberuhigungskompetenz aus (HOM; KAZÉN, BAUMANN & KUHL, 2005) → Offensichtlich wird die CWD nicht benötigt, wenn man einen anderen Weg gefunden die MS zu kompensieren 6.5. Anwendung: Hypnosuggestion, Rotkäppchen und die magische Drei a) Rotkäppchen • Als Rotkäppchen in das Haus der Großmutter kommt und den Wolf im Bett liegen sieht, stellt sie kritische Fragen • Sie handelt nach der Vernunft, dem lumen naturale (dem natürlichen Licht). Dieses Licht des logischen Verstandes ist nur ein kleiner Lichtkegel, der es nicht schafft alle Inputknoten des Netzwerks gleichzeitig zu beleuchten. Dafür wirft es ein starkes Licht auf das Detail, auf das die Aufmerksamkeit gerichtet ist. • Der Lichtkegel fällt auf den Inputknoten der großen Ohren. Die Antwort auf ihre Nachfrage („Damit ich dich besser hören kann“) erscheint vollkommen logisch. Auch die darauf folgenden Zweifel wurden beleuchtet und angesprochen. Jeder Zweifel konnte in seinem jeweils sichtbaren Wirklichkeitsbereich plausibel erklärt werden. Diese Beschränkung wurde ihr (vorübergehend) zum Verhängnis. • Rotkäppchen hatte ihre parallel-verarbeitendes Fühlen deaktiviert. Unter anderen Bedingungen hätten die Zweifel des Rotkäppchens gemeinsam genug Aktivierung an den „Wolf“ Knoten liefern müssen, sodass auch dieser Knoten aktiviert sein würde, was zur angemesseneren Reaktion führt. b) Ab drei beginnt die Unendlichkeit • Methode um ganzheitliches Denken oder Fühlen anzuspornen • Häufige Ursache einer schwach ausgeprägten holistischen Denkweise ist der Eindruck eines zu kleinen Möglichkeitsraum bedingt durch eine Fixierung auf das OES oder das analytische Denken • Das OES reduziert bekanntlich erlebbares auf Einzelheiten. Dies ist auch mit Emotionen und Gedanken möglich. Damit verschwindet auch die Fähigkeit ein ambivalentes Objekt zu erkennen: etwas ist gut oder schlecht, etwas anderes gibt es nicht. → 1+1 = 1 • Das analytische Denken macht durch Paarvergleiche schrittweise Fortschritte → 1+1 = 2 • Das holistische Fühlen ist in der Lage unübersehbar viele Einzelheiten gleichzeitig zu berücksichtigen, allerdings nicht mit dem Licht der Intelligenz („lumen naturale“) → „Der Weg erzeugt eins / eins erzeugt zwei / zwei erzeugt drei / drei erzeugt die zehntausend Dinge“ – Lao Tse • In der Therapie kann es viel bringen dieses Schema in irgendeiner Form anzubringen. Wenn der Patient in etwa viele Dinge (= mehr als drei) aufzählt, was ein Lächeln alles bedeuten kann (Patient regte sich über falsches Lächeln vom Nachbarn auf). Oder wenn der Patient lernt mehr als nur ein gutes oder nur ein schlechtes Gefühl gegenüber einer Person zu empfinden: „Sie spüren viel Dankbarkeit für ihren Freund. Und da ist auch etwas Wut über sein Wegbleiben, als Sie so krank waren? Können Sie beides einfach einmal so stehen lassen?“ • • 88 Kapitel 7: Selbststeuerung 89 7. Selbststeuerung Ich und Selbst • „Selbst“ meint die Gesamtheit aller persönlichkeitsrelevanten Prozesse • Wille • Die Abneigung der Psychologie gegenüber dem Willensbegriff („Wille“, auch „Volition“, „Selbststeuerung“, „zentrale Exekutive“), also der Vorstellung einer höchsten Organisationsstufe der Psyche, einer Kontrollzentrale in der alle Fäden zusammenlaufen, lässt sich auf drei Ebenen begründen: (1) Aversion gegenüber einem psychischen Machthaber, ausgelöst durch politischen Machtmissbrauch (→ Hitler); (2) Unvereinbarkeit des Willensbegriff mit der behavioristisch geprägten Psychologie; (3) Verdopplung der Realität: mit der Behauptung, dass alle Verhaltensweisen mit dem Willen erklärbar sind, impliziert man gleichzeitig, dass jeder äußere Verhaltensschritt auf einen inneren Willenszustand zurückzuführen ist. Dies erkläre Verhaltensweisen keineswegs, es verschiebe lediglich das Problem auf ein inneres Männchen (→ Homunculus; DENNET, 1984) → Neurobiologen stellten fest, dass es keine Steuerzentrale im Gehirn gibt (METZINGER, 2003; SINGER, 2004), was die Skepsis des Willensbegriffes gegenüber verstärkt. Der tatsächliche Ursprung der Leistungen des Gehirns sei auf die enorme Vernetzung des Gehirns zurückzuführen • PFC Neurobiologen weisen allerdings auch daraufhin, dass der PFC nicht nur neuroanatomisch alle Voraussetzungen für eine Steuerzentrale erfüllen würde [weist Affarenten und Efferenten mit allen Hirnregionen auf, die Informationen über Zustände oder Prozesse liefern (→ Erregung: Hirnstamm; Emotion: limbisches System; Sprachproduktion: Broca-Region; etc. (LURIA, 1973; KOLB & WISHAW, 2003))] • Die Idee eines Willens gerät nicht in Konflikt mit Systemen, die das Gehirn selbst organisiert und gerät auch nicht in Konflikt mit der Vorstellung der starken Vernetzung, die für einen wohlfunktionierenden Willen notwendig ist. • Fragen → Existiert eine psychische Führungszentrale? → Wer steuert diesen Wille? → Was leistet der Wille? • Nimmt aus allen Ebenen der Persönlichkeit Informationen auf • Optimiert die Selbstentwicklung oder die Zielerreichung durch einen Abgleich dieser Informationen mit dem aktuellen Ziel oder mit einem Überblick über eigene und fremde Bedürfnisse und Werte • Die Optimierung wird durch Beeinflussung der jeweiligen Funktionsebenen der Persönlichkeit vollzogen. • Selbstregulation vs. -kontrolle • Es ist sehr plausibel anzunehmen, dass es zwei verschiedene Formen des Willens gibt, die hemisphärenspezifisch sind. • Selbstkontrolle (BLOCK & BLOCK, 1980): rigide Fixierung auf das Ausführen der aktuellen bewussten Intention. Dazu werden hinderliche Gefühle, Gedanken und Handlungstendenzen ausgefiltert oder unterdrückt → Ausschluss von Kräften → Unterdrückung des Selbst/ von Selbstaspekten • Selbstregulation (KUHL, 1996): demokratische, zentrale Koordination, die möglichst viele „Stimmen“ in das Handeln integriert (Gedanken, Emotionen, Bedürfnisse, Werte, etc.), mit dem Ziel Entscheidungen und Handlungsabsichten zu erreichen, die möglichst viele Selbstanteile repräsentieren → Einbindung von Kräften 7.2. Geschichte: Erikson, Kohut, Rogers a) Erikson – epigenetische Selbstentwicklung • Erikson postulierte eine in epigenetische Stufen abgrenzbare Selbstentwicklung. „Epigenetisch“ meint, dass ältere Stufen von neueren nicht abgelöst, sondern ergänzt werden. In jeder Stufe wird eine psychische Basisfunktion gelernt. Der Entwicklungserfolg oder -misserfolg schlägt sich in charakteristischen Emotionen nieder. • Eine positiv verlaufene Phase erleichtert den Übergang in die nächste Phase. • Im Zentrum der Theorie stehen zwischenmenschliche Interaktionen • Eriksons Theorie deckt sich sehr gut mit heutigen Erkenntnissen und empirischen Befunden. Die Epigenese der Entwicklungsstufen ist empirisch gut bestätigt. 90 • Die einzelnen Stufen Vertrauen vs. Misstrauen, Säuglingsalter (1) • guter Verlauf: Urvertrauen durch sichere Bindung (AINSWORTH ET AL., 1978; Mutter verlässt den Raum, Konfrontation des Säuglings mit einem Fremden → positive Zuwendung zur Mutter nach ihrer Rückkehr) • sonst: unsichere Bindung (Kind beachtet bei Rückkehr nicht) oder ambivalente Bindung (Kind reagiert emotional unausgeglichen) • Autonomie vs. Scham & Zweifel, frühe Kindheit (2-3) • Bedeutung: Für die Selbstentwicklung sind erste Autonomiebestrebungen entscheidend. Beispiel: Laufen lernen. Ein guter Verlauf ist gegeben, wenn Bezugspersonen die Bestrebungen unterstützen. Ein schlechter Verlauf ist gekennzeichnet durch ängstlich reagierende Bezugspersonen, die die Bestrebungen als Bedrohung wahrnehmen (→ Trennungsangst; MAHLER, PINE & BERMAN, 1975) • Einflüsse älterer Stufen: erleichterter Verlauf durch eine in der ersten Stufe gewonnene sichere Bindung (HAZEN & DURRET, 1982; Kind exploriert Spielecke selbstständig, ohne Initiative der Mutter) • Schlechter Verlauf der Stufe: Induktion von Scham (Emotion, die das Selbst vor den Augen imaginierter Anderer abwertet; hemmt Selbstäußerungen) oder Schuld (beschränkt auf einzelne Selbstaspekte & Fehlhandlungen) (LEARY, 2007; TANGNEY, STUEWIG & MASHEK, 2007). • Initiative vs. Schuld, Vorschulalter (3-5) • Einflüsse älterer Stufen: die Autonomiebestrebungen der 2. Phase beruhen auf intuitivem Spontanverhalten (→ 1.3a)) also auf Initiative. Wenn die Kinder eine sichere Bindung aufweisen, zeigen sie mehr Initiative in der Interaktion mit Fremden und zeigen auch eine erhöhte Anstrengung nach Misserfolgen (LÜTKENHAUS, GROSSMANN & GROSSMANN, 1985) • Bedeutung: Es werden Grundlagen für ziel- und zweckorientiertes Verhalten vermittelt. Zu lernen ist u.a., dass Initiative auch gezeigt werden muss, wenn die Realisierung von Absichten mit Widerständen verbunden ist (→ 7.3b)). Entscheidend für diese Phase ist der Grad der Emutigung und Bekräftigung durch die Eltern (GROSSMANN ET AL., 20078). • Schlechter Verlauf der Stufe: Induktion von Schuld. Initiative ist bei Konfrontationen mit schwierigen Aufgaben notwendig (→ Leistungsmotiv; ableitbar aus 5.2a)). Hypothese: Durch die induzierte Schuld fällt Konfrontation mit schwierigen Aufgaben wesentlich schwerer. Atkinson postulierte hingegen, dass das misserfolgsorientierte Leistungsmotiv auf Scham beruht → Abwertung einzelner Selbstaspekte vs. Abwertung der gesamten Person • Fleiß vs. Minderwertigkeit, Grundschulalter (6-11) • Bedeutung: Grundlagen für die soziale Einbindung. Die Selbstbewertung wird hier auch von der Übereinstimmung des Verhaltens mit moralischen und leistungsorientierten Anforderungen abhängig. • Guter Verlauf der Stufe: Induktion von Fleiß, stark an Fremdkontrolle orientierte Entwicklungsaufgabe. Fleiß drückt eine Anpassung an die soziale Realität aus (Kinder mit hohem Fleiß- und Pflichtgefühl geben sozial erwünschtere Antworten, erzielen bessere Schulleistungen, bevorzugen konkrete Aufgaben anstatt sich in die Fantasiewelt zu flüchten; KOWAZ & MARCIA, 1991) • Schlechter Verlauf der Stufe: Induktion einer Minderwertigkeitsdisposition • Identität vs. Rollenkonfusion, Jugend (12-20) • Guter Verlauf: Entwicklung einer Selbstidentität, also die Entwicklung eines kohärenten Selbstbilds. Dies wird erreicht durch Integration von Einzeldetails der Selbstwahrnehmung und Abgleichen von Bildern, die sich andere von der Person des Jugendlichen machen. • Schlechter Verlauf: inkohärentes Selbstbild → verschiedene Selbstinhalte werden verwechselt, Rollenkonfusion: keine Sicherheit in welchen Situationen man sich nach welcher Rolle verhalten soll. Führt zu Überidentifikation mit einzelnen Rollen (z.B. Punk) und Identifikationsfiguren (z.B. Popsänger). • 8 Datum aus „Kuhl+“ übernommen. Im eigentlichen Buch steht „200x“. 91 • • • Persönliche Nähe vs. Isolation, frühes Erwachsenenalter (ab 20) • Guter Verlauf: Männliche VP, die während dieser Phase eine starke persönliche Nahe zeigten, waren 18 Jahre später signifikant häufiger verheiratet als andere VP. Analoge Befunde für weibliche VP, die sich in unterschiedlich hohen Scheidungsraten ausdrückten (KAHN ET AL., 1985). • Einflüsse älterer Stufen: Bildete sich in der vorigen Phase keine klare eigene Identität aus, kann eine dauerhafte Beziehung einen Selbstverlust bedeuten. Generativität vs. Stagnation (bis 60) • Bedeutung: positive Beeinflussung der Zukunft jüngerer Generationen durch Wissensvermittlung oder Etablierung einer wirtschaftlichen Existenz, etc. • Guter Verlauf: Integration generativer Anstrengungen; gestaltungskräftiges Selbst (MANSFIELD & MCADAMS, 1996) • Schlechter Verlauf: egozentrische Motivation + reduziertes Wohlbefinden (VANDEWATER ET AL., 1997) Ich-Integrität vs. Verzweiflung (ab 60) • Guter Verlauf: Entwicklung eines Selbst, dass die ganze Lebensspanne integriert – Grundlage für die Entwicklung der sog. Altersweisheit (BALTES & STAUDINGER, 1993) • Einflüsse älterer Stufen: ist die vorige Stufe gut verlaufen, vermittelt sie das Gefühl, dass das eigene Leben rückblickend Ordnung und Sinn hat. b) Kohut • Persönlichkeitsentwicklung: Interaktion zwischen Individuum und sozialer Umwelt • Erweiterung der sozialen Bedürfnisse um ein „narzisstisches“ Bedürfnis: das Bedürfnis als Person wahrgenommen zu werden. Die Wahrnehmung wird immer auch dahingehend bewertet, was das Verhalten von Eltern, anderen Personen und Ereignissen für die eigene Person bedeutet. Dies ist nicht nur für die eigenen Bedürfnisse wichtig, sondern auch für ein wachsendes Selbstbild, welches immer mehr persönliche Erfahrungen integriert, also auch Erwartungen, Bedürfnisse und Werte anderer Personen. • In diesem Sinne ist die Verwendung des Begriffs Narzissmus irreführend, Kohut verwendet den Begriff des Selbst. Gemeint ist die Berücksichtigung der eigenen Identitätsaspekte (Bedürfnisse, Werte, etc.) im Kontext des sozialen Umfelds. • Widerspiegelung • Laut Kohut ist in der Eltern-Kind-Interaktion die Widerspiegelung der wichtigste Aspekt der Selbstentwicklung. Gemeint ist hier nicht nur der direkte Ausdruck von Empathie, Akzeptanz und Liebe, sondern auch die häufig unterschätzte subtile Aufmerksamkeitszuwendung. Dies drückt sich schon in den ständigen Aufforderungen des Kindes aus, dem eigenen Tun Beachtung zu schenken. Wann immer neue Erfahrungen in das Selbst integriert werden, scheint die soziale Bestätigung des Erlernten eine wichtige Komponente der Einspeicherung ins Selbst und der Konsolidierung (→ 4.3b)) darzustellen. • Während der frühen Kindheit lässt sich dies dadurch erklären, dass die entsprechenden Prozesse und Strukturen, die für eine autonome Selbstentwicklung wichtig sind noch nicht ausgebildet sind → Die interne Schleife zwischen dem Pufferspeicher und dem Langzeitgedächtnis funktioniert noch nicht. Dies kann zum einen auf die relativ späte Reifung des HC (ab ca. drei Jahren; BACHEVALIER & VARGHA-KHADEM, 2005) und zum anderen auf die noch spätere Entwicklung des PFC (frühes Erwachsenenalter) zurückgeführt werden. Der PFC unterstützt hier selbstreferentielle Erinnerungen und die damit verbundene Selbstrepräsentation (KEENAN ET AL., 2001; KIRCHER ET AL., 2002). • Die Widerspiegelung innerer Zustände ist aber auch im Alter noch förderlich für die Selbstentwicklung, da die Bildung der Verknüpfungen zwischen eigenen Zuständen und ihrer Selbstrepräsentation durch die Verinnerlichung der durch Bezugspersonen kommunizierten Verknüpfungen erleichtert wird. • Theory of Mind – Das Entstehen einer subjektiven Theorie geistiger Prozesse • Detaillierte zeitgenössische Beschreibung der Entwicklungsstufen des Selbst • Beispiel: Kinder beginnen im Vorschulalter die inneren Zustände anderer Personen zu verstehen. Dazu: klassisches Experiment (WIMMER & PERNER, 1983), in dem Kindern mit Puppen u.a. eine Szene vorgespielt wird. Ein Junge legt eine Schokolade in einen grünen Schrank und verschwindet. Unbemerkt legt seine Mutter die Schokolade vom grünen in einen blauen Schrank. Die Kinder werden gefragt, wo der Junge die Schokolade bei seiner Rückkehr suchen wird. Kinder, die jünger sind als vier meinen, 92 • • • der Junge würde sie im blauen Schrank suchen (WELLMAN ET AL., 2001). Kinder ab etwa vier Jahren bilden hingegen eine Metaebene, die ermöglicht Gedanken über eigene und fremde mentale Zustände als subjektive Theorien aufzufassen, wobei diese Theorien wahr oder auch falsch sein können. Diese Ebene gilt als wichtige Voraussetzung für die höheren Formen der Selbstregulation, da sie eine Selbstdistanz erfordern. Es muss also für diese Formen der Selbstregulation möglich sein auf einer Metaebene eigene und fremde innere Zustände zu reflektieren. Die Selbstdistanzierung ermöglicht des Weiteren einen probierend-spielerischen Umgang mit den eigenen Gefühlen. Beispiel: ein Junge spielt „Vater erschießen“. Wenn der Vater anstatt verärgert zu reagieren spielerisch mit den angedeuteten agressiven Impulsen umgeht, lernt das Kind, dass Gefühle auch von einer hypothetischen Metaebene betrachtet werden können. Diese Eigenschaft ist hoch wichtig für die spätere Entwicklung der Affektregulation. Ein weiteres Beispiel sind soziale Rollenspiele (VaterMutter-Kind, Arzt oder Kaufmann spielen), die den Schritt von der Selbstzentrierung zur zunehmenden Separierung von Ich, Selbst und Anderen lehrt. Die zunehmende Differenzierung verschiedener Perspektiven hängt stark mit dem Übergang vom konkreten vorbegrifflichem Denken zum begrifflichen und metabegrifflichen Denken zusammen. Meta-begriffliches Denken meint die Fähigkeit über Begriffe sowie über die mit den Begriffen bezeichneten inneren Zustände reflektieren zu können. Mit dem Hineinversetzen in die gepielten Rollen beginnt ein vernetztes Denken, das von der Vernetzung der mentalen Begriffe in die vernetzte Repräsentation des Selbstbildes und des Bildes von anderen Personen übergeht (intersubjektiv vernetztes Wissen; STERN 2006). Bei Kindern wird diese Integration von dem ganzheitlich-vernetzten Fühlen erledigt. Im Erwachsenenalter ist die Zusammenarbeit zwischen analytischem Denken und ganzheitlichem Fühlen viel enger, sodass man (weder von Außen noch von Innen) sagen kann, wann das analytische Ich alleine arbeitet und wann es sich mit dem umfassenden Selbst austauscht. c) Rogers • Körper-Vergleich • Rogers verglich das Selbst mit dem Körper: Wie auch der Körper sich mit seinen vielen Zellen & Funktionen in einem ständigen Prozess des Wachstums und der Erneuerung befindet, so befindet sich auch das Selbst in diesem immerwährenden Prozess. Weder das körperlich-somatische noch das seelische Wachstum lässt sich als reines Reagieren auf die Außenwelt erklären. • Wie der Körper immer wieder durch die genetischen Anlagen gesteuert wird (GenExpression: PLOMIN ET AL., 2000), wird auch das Selbstwachstum von dem sogenannten Protoselbst oder auch eigenentlichem, wahrem Selbst beeinflusst. Rogers nennt hier das Beispiel des Immunsystems: Analog zum Immunsystem muss das Selbst auch ständig neu lernen zwischen eigenem und fremdem zu unterscheiden. Dabei ist das Selbst den gleichen Risiken unterworfen: Eigenes abstoßen (→ Rheuma) oder Fremdes als Eigenes erkennen (→ Krebs). Übertragen auf das Selbst bedeutet das übersteigertem Trotz bei unzureichender Selbstabgrenzung (selbstkonforme Dinge ablehnen, nur weil andere Personen sie vorgeschlagen haben) oder übermäßiger Konformität bei übermäßiger Selbstabgrenzung (selbstfremde Vorschläge und Wünsche anderer als selbstkompatibel einstufen; KAZÉN ET AL., 2003). • Autonomie Aus einem Selbst, dass die Gesamtheit eigener und fremder Bedürfnisse und Werte berücksichtigt, schöpfen zu können, dass nicht von inneren und äußeren selbstfremden Kräfte eingeschränkt wird. Diese Freiheit bedeutet eine maximale Kongruenz zwischen dem eigenen Verhalten und allem, was der Selbstverwirklichung dienlich ist. 93 Optimal entwickelte Persönlichkeit (Rogers Merkmale stimmen mit den Funktionsmerkmalen des Selbst überein, die empirisch und neurobiologisch bestätigt sind) • Rogers: Vertrauen in die eigenen Gefühle haben Funktionsmerkmal: Vernetzung mit Emotionen und Bedürfnissen → Die RH ist besonders bei impliziten Selbstrepräsentationen aktiv (KIRCHNER ET AL., 2002) ist bekannterweise stark mit dem ANS und mit Emotionen vernetzt (DAWSON & SCHELL, 1982; WITTLING, 1990). Bei gutem Selbstzugang können eigene & fremde Emotionen und Bedürfnisse berücksichtigt werden. • Rogers: Bereitschaft Schmerz und Leid zu riskieren Funktionsmerkmal: Affektregulation (auch A-) durch Selbstkonfrontation → Durch die parallele Verarbeitung und der hohen Integrationsleistung der RH (→ 6.3.c)) können viele Randbedingungen gleichzeitig erfüllt werden (multiple constraint satisfaction). In Verbindung mit dem ersten Funktionsmerkmal können so auch widersprüchliche Gefühle integriert werden. • Rogers: mit Sinn und Wertschätzung geführtes Leben Funktionsmerkmal: Gesamtbejahung der eigenen Existenz → Insbesondere der präfrontale Teil der RH ist bei der Gefühlsregulation aktiv (LEVESQUE ET AL., 2003). So kann – eine positive Grundstimmung vorausgesetzt (→ Eriksons Urvertrauen) – immer wieder eine positive Gesamtbilanzierung zustande gebracht werden. • Rogers: Offenheit für Erfahrung Funktionsmerkmal: umfassende Aufmerksamkeit für persönlich relevenates → Offenheit für Erfahrung wird vermittelt durch eine wachsame Aufmerksamkeit (Vigilanz), durch die eine präfrontale Region der RH aktiv wird, die in unmittelbarer Nähe der Regionen liegen, die bei impliziten Selbstwahrnehmungsaufgaben aktiviert sind (POSNER & RAICHLE, 1994) • Rogers: Bewusstseinswachstum; größere Teile der Selbsterfahrung werden bewusst Funktionsmerkmal: Biphänomenalität → Biphänomenalität meint, dass immer mehr Ausschnitte des überbewussten Selbst bewusst werden, was eine zunehmende Kongruenz von Ich und Selbst ermöglicht (z.B. implizite Motive vs. bewusste Ziele). Laut Rogers beruhen psychische Erkrankungen oft darauf, dass persönliche Erfahrungen nicht bewusst werden können. 7.3. Volition: Zentrale Steuerung von Gedanken, Gefühlen und Verhalten a) Selbstrepräsentation (NEISSER, 1988) • Man unterscheidet zwischen zwei hypothetischen Systemen – dem analytisch-konzeptuellen Ich und dem ganzheitlich-intuitiven Selbst – die viele Informationen für zentrale Koordinationsaufgaben zusammenbringen • Neisser unterscheidet zwischen fünf Formen der Selbstrepräsentation, die am besten in der frühen Kindheit untersuchbar sind, da sie zu dem Zeitpunkt noch nicht voll entwickelt sind • Das ökologische Selbst → Steuert Selbst-Fremd-Unterscheidungen der physikalischen Umgebung • Selbstmodell des Wahrnehmungssystems: Modell über die eigene Position im Raum, welches notwendig ist, um z.B. nach Objekten greifen zu können. Dies könnte nicht bewerkstelligt werden, wenn man nicht weiß, wo man sich „selbst“ befindet. • Springende Welt (VON HOLST & MITTELSTÄDT, 1950) visuelle Wahrnehmungswelt springt, wenn man den Augapfel durch seitlichen Druck mit dem Finger bewegt, nicht aber, wenn man „selbst“ eine ähnliche Bewegung veranlasst. Die Stabilität der Wahrnehmungswelt bei intentionsgesteuerten Blickbewegungen ist darauf zurückzuführen, dass es eine Repräsentation eigner gewollter Blickbewegungen gibt. Diese Repräsentation wird als Feedforward-Signal aufgefasst, das vor der Ausführung der Blickbewegung verarbeitet wird und die zu erwartende Verlagerung der Wahrnehmungswelt auf der Netzhaut herausrechnet. • In der verhaltenssteuernden dorsalen Wahrnehmung (→ 1.3d)) werden all diejenigen Wahrnehmungsinhalte dem Selbstmodell hinzugerechnet, die sich auf den Beobachtungspunkt zubewegen, auf den die Augen konvergieren. Dies wird durch Erzählungen wie z.B. „das andere Auto hat mich gerammt“ deutlich, da das eigene Auto zu dem Zeitpunkt des Aufpralls als Teil des Selbst wahrgenommen wird. • 94 Der virtuelle Ort des ökologischen Selbst liegt zwischen den Augen (Nachweis z.B. durch Gespräch mit zweijährigem Kind, dass sich die Augen zuhalten soll: „Sehe ich dich?“ — „Nein.“ — „Sehe ich deine Beine?“ — „Ja.“ — „Sehe ich dein Kuscheltier?“ (welches das Kind in der Hand hält) — „Ja.“ — „Sehe ich dich?“ — „Nein.“) • Es wird eine starke Verbindung des ökologischen Selbst mit allen anderen Formen der Selbstrepräsentation vermutet, vor allem jedoch mit dem interpersonellen Selbst. Diese Verbindung ist nicht hinreichend erforscht, zeigt sich aber zum Beispiel dadurch, dass eine Störung des Blickkontakts zwischen Mutter und Kind in den ersten Lebensmonaten Störungen der sozialen Anpassung vorhersagt (KELLER & GAUDA, 1987) Das interpersonelle Selbst → Reguliert Selbst-Fremd-Koordination in der emotionalen Bindung an und der Kommunikation mit Bezugspersonen • Nachweis dieser elementaren Form der Selbstrepräsentation (MURRAY & TREVARTHEN, 1985): Im Experiment findet der Blickkontakt zwischen Mutter und Kind per Video in zwei getrennten Räumen statt. Verzögerten die VL die mimische Antwort der Mutter um wenige Millisekunden fing das Kind an zu quängeln. • Wird diese Selbstrepräsentation gestört, kann dies schwerwiegende Folgen für elementare Formen der sozialen Interaktion bedeuten (etwa auf die unbewusste Regulierung des Blickkontakts) Das erweiterte Selbst → Basis des autobiographischen Gedächtnisses • Entspricht dem episodischem Gedächtnis • Es erscheint einleuchtend, dass das erweiterte Selbst die Grundlage für die Identitätsbildung darstellt. Es liefert die Bausteine für die Entwicklung des privaten Selbst. Das private/personale Selbst (= ganzheitliches Selbst) → Feststellung, dass es Selbstaspekte gibt, die einen von anderen Personen unterscheiden • Entspricht dem integriertem Selbst, welches über Rogers' Funktionsmerkmale (→ optimal entwickelte Persönlichkeit; 7.2c)) verfügt. • Diese Form der Selbstrepräsentation ist der experimentellen Erforschung gut zugänglich • Dieses Funktionsprofil hilft dabei festzustellen, welche der vielen durcheinander redenden inneren Stimmen (SCHULZ VON THUN, 2002) aus dem integriertem Selbst kommt. Es beschreibt jene Instanz, der die größte Entscheidungskompetenz und die Fähigkeit zugeschrieben wird, an leidvollen Erfahrungen zu reifen und sie zu bewältigen (KUHL, 2007c). • Interaktionen mit dem erweiterten Selbst erklären, wie es möglich sein kann, dass sich eine Person zum einen ihr ganzes Leben lang als ein und dieselbe Person empfindet und auf der anderen Seite sehr gravierende Veränderungen durchlebt, die sowohl Körper als auch Geist betreffen (RAGER, QUITTENER & RUNGGALDIER, 2003). Mithilfe der Interaktion zwischen HC (Pufferspeicher) und Neocortex (Langzeitgedächtnis) gelingt es neue Erfahrungen in das Netzwerk früherer Erfahrungen zu integrieren, sodass sowohl die Veränderung als auch die Beständigkeit des zu erhaltenden Wissen gewährleistet ist (MCCLELLAND ET AL., 1995) Das konzeptuelle Selbst (= analytisches Ich) → Beschreibt das Selbstkonzept oder das Ich, welche auf einem Netzwerk von Theorien über soziale Rollen beruht • Das konzeptuelle Selbst abstrahiert allgemeingültige logische Aussagen aus dem Erfahrungsnetzwerk des Selbst. Diese Aussagen sollen nicht die Vielfalt des Erlebten oder das aktuell Relevante reflektieren, sondern ganz im Gegenteil die Regeln ausdrücken, die für aktuelle oder zukünftige Handlungsplanung relevant sind. • • • • • 95 Eine sechste Form der Selbstrepräsentation müsste – laut KUHL – hinzugefügt werden: das gegenständliche Selbst • Ermöglicht das Selbst – genauso wie Objekte – mit der bewussten Wahrnehmung zu identifizieren und wiederzuerkennen (BISCHOF-KÖHLER, 1998). Anzumerken ist, dass diese objektartige Form der Selbstwahrnehmung nicht vergleichbar ist mit der umfassenden Selbstwahrnehmung eines Erwachsenen. Das gegenständliche Selbst ist von einer Dekontextualisierung betroffen: Die Selbstwahrnehmung wird von Einzelmerkmalen, Handlungskontexten und Beziehungen zu anderen Objekten getrennt. • Zum einen erinnert die Kontextblindheit an pathologische Fälle (z.B. Narzissten, die in anderen Personen nur das für sie derzeit nützliche Merkmal erkennen), zum anderen stellt aber die Dekontextualisierung die Voraussetzung einzelne Selbstaspekte und -erfahrungen erkennen zu können dar. Somit ist das gegenständliche Selbst Grundlage für die Entwicklung des integrierten Selbst (privates Selbst), dass auf Einzelepisoden basiert, deren einzelne Erfahrungen für die Integration in das Selbstbild vom Kontext abstrahiert werden müssen. • Je mehr persönliche Aspekte (= Kontext → Vielfalt eigener und fremder Bedürfnisse, Werte & Erwartungen) die Selbstwahrnehmung beeinflussen, umso subjektiver wird sie. Dies gilt als erstrebenswert, da möglichst viele persönliche Aspekte in die Handlungssteuerung miteinzubeziehen sind. • Abkopplung des Erlebens und Handelns von eigenen Gefühlen und Bedürfnissen • Ist der Einfluss von personalem und konzeptuellem Selbst dauerhaft beeinträchtigt, senkt dies das Wohlbefinden, weil sie es ermöglichen, dass eigene Ziele, Bedürfnisse und Emotionen das Verhalten beeinflussen, eine Person sich also auch von ihnen leiten lassen kann. Dies kann im schlimmsten Fall zu einer Depression führen. • Ist das Verhalten aber von personalem und konzeptuellem Selbst abgekoppelt, wird die Wahrnehmung aber auch objektiver (ALLOY & ABRAMSON, 1979 → 1.3b)). Die Überschätzung der eigenen Kontrollmöglichkeiten wird bei Depressiven reduziert, da sie sich in einer objektiven und abwägenden Bewusstseinslage befinden (GOLLWITZER & KINNEY, 1989; PUCA, 2001; BECKMANN & KUHL, 1984 → 1.3b)) → Eine Depression bedeutet auch die Hemmung des integrierten Selbst (ROTENBERG, 2004), sodass persönliche Wünsche weder das Verhalten beeinflussen noch die Wahrnehmung verzerren. • Die zwei Formen des Willens • Die beiden höheren Formen der Selbstrepräsentation (privates & konzeptuelles Selbst oder Selbst & Ich) verfügen über jeweils eine Art der Selbststeuerung. • Der Wille wird im Allgemeinen fast ausschließlich mit der bewussten Selbstkontrolle gleichgesetzt. Die Selbstkontrolle bezeichnet eine auf Diktatur fußende Selbststeuerung, die alles unterdrückt, was dem aktuellen Ziel nicht zuträglich ist. • Die andere Form der Selbststeuerung heißt Selbstregulation. Sie arbeitet auf der Grundlage des impliziten Selbst. b) Selbstkontrolle • Neurobiologischer Hintergrund • Als funktionaler Ort der Selbstkontrolle wird das Arbeitsgedächtnis angenommen (BADDELEY, 1986). Das Arbeitsgedächtnis kann 7 +/- 2 Elemente (magical number) aufrecht erhalten, was von einer artikulatorischen Schleife unterstützt wird, sofern es sich um die sprachliche Repräsentation des Gewollten handelt. • Dies passt zu der Selbstkontrolle, die durch verbale Selbstinstruktionen das Verhalten steuert (MEICHENBAUM, 1977; VYGOTSKI, 1978; vgl. auch Freuds Introjektion: Internalisierung von sprachlichen Aufforderungen z.B. der Eltern wirkt verhaltenssteuernd). • Definition: kontrollierender Prozess (POSNER & SNYDER, 1975) • bewusste Repräsentanz • Intereferenzanfälligkeit • Kontrollierbarkeit → Das erste und das dritte Kriterium drücken einen Aspekt des inneren Sprechers aus → (Kriterien können dissoziieren (BARGH, 1994; NEUMANN, 1992)) • Neurobiologische Befunden weisen allerdings darauf hin, dass das Arbeitsgedächtnis nicht mit dem Gedächtnis für auszuführende Absichten gleichgesetzt werden darf: Bei der Aufrechterhaltung auszuführender Reaktionen werden andere Neuronen aktiviert als bei der Aufrechterhaltung von sensorischen Informationen (also bei den klassischen Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses) (FUSTER, 1995). Eine weiterer Unterschied ist die Dauer der Aufrechterhaltung: auszuführende Absichten können wesentlich länger durch • 96 • • wiederholtes Nachsprechen (rehearsal) aufrechterhalten als Wahrnehmungsinhalte. Das wiederholte Nachsprechen ist im Übrigen nicht einmal notwendig, um unerledigte Absichten nicht zu vergessen – unerledigte Absichten werden von allein im Gedächtnis aufrecht erhalten (LEWIN, 1935; ZEIGARNIK, 1927 → 3.2b)). Handlungsabsichten • Der Anteil der umgesetzten Absichten wächst mit der Spezifikation der Umsatzbedingungen (Ort, Zeit und Art der Handlung) (ACH, 1935) • Die Absichtsbildung sorgt für eine einseitige Informationsverarbeitung, die die Handlungsfähigkeit erhöht (KUHL, 1983c). Diese Art der Informationsverarbeitung, die sich durch selektive Beachtung und einseitig positive Bewertung auszeichnet, ist vor allem bei handlungsorientierten Personen zu finden. → Experiment unter Wohnungssuchenden: prospektiv Handlungsorientierte (Maß: Fragebogen; Fähigkeit Absichten schnell umsetzen zu können) werteten bei der Entscheidungsfindung die eingangs favorisierte Wohnung stetig auf, auch wenn es keine neuen Informationen über die Wohnungen gab, die die Aufwertung gerechtfertigt hätten (BECKMANN & KUHL, 1984). • Entscheidend ist die hohe affektregulatorische Kompetenz der prospektiv Handlungsorientierten (KOOLE & JOSTMANN, 2004); insbesondere die Fähigkeit den positiven Affekt, der durch die Bildung schwieriger Absichten gedämpft wird, wiederherzustellen. Diese Affektregulation (→ Selbstmotivation) unterstützt das Beibehalten von Zielen und Absichten, erschwert aber auch die Ablösung von ihnen. Um die Ablösung von Zielen zu erreichen ist nicht die Selbstmotivierung, sondern eine konfrontative Bewältigung von negativen Affekt von Nöten (KUHL, 1981; KUHL & KOOLE, 2007; ROTHERMUND & MEINIGER, 2004; ROTHERMUND, VOSS & WENTURA, 2007) Höhere Kognition und Selbstkontrolle • Der Einfluss höherer Kognition auf die Selbstkontrolle schließt unbewusste Quellen der Unterstützung nicht aus (z.B. Prozesse, die zu einem früheren Zeitpunkt bewusst waren und die Selbststeuerung nachhaltig beeinflussen, ohne wieder bewusst zu werden). Generell beeinflusst die Anregung höherer Kognitionen wie das analytische Nachdenken über eigene Beweggründe und auch abstraktes Denken die Selbstkontrolle – selbst wenn die angeregten Kognitionen keinen semantischen Bezug zum Inhalt der Selbstkontrolle haben (FUJITA ET AL., 2006; höhere Kognitionen wurden durch warumFragen („Warum tue ich etwas für meine Gesundheit?“) angeregt, elementare Kognitionen → Kapitel 1.3 – hingegen durch wie-Fragen). • Analytisches Denken und Selbstkontrolle (FUJITA ET AL., 2006) • Vor dem Versuch wurde die kognitive Verarbeitung durch eine hoch- oder niedriginferente Begriffsaufgabe manipuliert. Höhere kognitive Prozesse wurden durch das Finden von Oberbegriffen angeregt („König ist ein Beispiel für ...?“); elementare kognitive Prozesse hingegen durch das Finden von Beispielen („Nennen Sie ein Beispiel für einen König.“). • Anschließend wurde die Selbstkontrolle der VP gemessen: VP sollten ihre Bereitschaft skalieren an psychologischen Experimenten teilzunehmen, die sich hinsichtlich subjektivem Wert/Sinn und subjektivem Aufwand unterschieden. • Die Bereitschaft für anstrengende Tätigkeiten war in der Bedingung, in der die höhere Kognition angeregt wurde, wesentlich höher als in der anderen Bedingung. • In einem anderen Experiment (mit der gleichen Vorbehandlung) wurde die Attraktivität von Versuchungen untersucht: es gab ein thematisiertes Ziel (z.B.: „für das Studium arbeiten“) und Wörter, die dieses Ziel gefährden (z.B.: „E-Mail“, „Bier“ oder „Party“). Die VP, deren höhere Kognition durch das Finden von abstrakten Oberbegriffen angeregt wurde, bewerteten die Wörter, die Versuchungsquellen repräsentierten, weniger attraktiv, als die VP der anderen Bedingung. Das Abwerten von Versuchungsquellen kann als Anzeichen von Selbstkontrolle angesehen werden, da es so leichter fällt sich nicht von einer Absicht abbringen zu lassen. → Es liegt Nahe, dass die Selbstkontrolle stark mit dem analytischen Denken verknüpft ist (→ 6.3b)) → Neben den bereits auf der sechsten Systemebene möglichen konkreten & allgemeinen Zielen umfasst die Selbstkontrolle auch noch Regulationsvorgänge, die benötigt werden, sobald die Umsetzung eines Ziels nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Schwierigkeiten mit sich bringt (→ Motivklassifizierungsübersicht in 97 • Kapitel 5.0). Ein Hinweis darauf bietet die Abwertung der Attraktivität von Versuchungsquellen, was eine Minderung von emotionalen Schwierigkeiten darstellt. Abschirmung • Generell wird bei der Selbstkontrolle alles, was die Ausführung erleichtert, verstärkt und alles, was sie gefährdet, abgeschwächt (ACH, 1910; KUHL, 1983C). • Diese Abschirmung einer Handlung wird durch automatische Prozesse unterstützt (SHAH ET AL., 2002 – Experiment 3) • VP wurden gebeten drei Aktivitäten zu nennen, der sie in der kommenden Woche nachgehen wollen. Bei jedem Durchgang des Experiments wurde entweder eines der drei Zielwörter für 50 ms als Prime oder ein Kontrollprime gezeigt. Anschließend wurde als Targetwort entweder eines der beiden übrigen Zielwörter oder ein Kontrolltargetwort gezeigt. Kontrolltargetwort und -prime bezogen sich jeweils auf eine andere, nicht von der VP genannte Tätigkeit. • Aufgabe war es so schnell wie möglich zu entscheiden, ob das Targetwort eine der beabsichtigten Tätigkeiten bezeichnet oder nicht. • Für jede der drei Absichten wurde die mittlere Reaktionszeit errechnet, die für die Entscheidung notwendig war, abhängig davon, ob der Prime neutral war oder eine tatsächliche Absicht bezeichnete. Abb. 7.2 Die Abschirmung sorgte für eine Verlängerung der Reaktionszeit, bei konkurrierenden Absichten (Prime+Target bezeichnen zwei verschiedene Absichten) im Vergleich zu absichtsneutralen Worten (Prime absichtsneutral, Target bezeichnet Absicht). Selbstkontrolle ermüdet • Die Selbstkontrolle ist eine begrenzte Ressource, die – wie ein Muskel – ermüden kann (BAUMEISTER & HEATHERTON, 1996). Beleg: das willentliche Unterdrücken aggressiver Impulse fällt schwerer, wenn zuvor bereits eine Willenshandlung durchgeführt wurde (STUCKE & BAUMEISTER, 2006). • Beanspruchung der Selbstkontrolle senkt den Blutzuckerspiegel sowie anschließende Leistung bei weiteren Selbstkontrollaufgaben (GAILLIOT ET AL., 2007). Diese Leistungsdefizite können durch Verabreichung eines süßen Getränks neutralisiert werden. • Diese Befunde dürfen nicht zum Generalisieren verleiten! BAUMEISTER & HEATHERTON (2006) gingen sogar so weit anzunehmen, dass Einbrüche und Vergewaltigungen vorwiegend Nachts stattfinden, da zu dem Zeitpunkt die Selbstkontrolle ermüdet ist und die Tendenz zu einem solchen Verhalten nicht länger unterdrückt werden kann. Im Übrigen ist die Selbstregulation (→ 7.3b)) von diesem Effekt nicht betroffen. • • 98 c) Selbstregulation • Forschung zur Selbstregulation • Sowohl das implizite Selbst als auch die damit verbundene Selbstregulation lassen sich nicht ohne weiteres im bewussten Selbsterleben oder auch im Experiment überprüfen → es existiert bislang wenige Forschungsergebnisse, die sich der Selbstregulation zuschreiben lässt • Dennoch ergibt sich das Vorhandensein der Selbstregulation aus der situationsangemessenen Aktivierung oder Deaktivierung der bewussten Selbstkontrolle (letzteres nach BLOCK & BLOCK, 1980), weil sich ein System schwerlich von allein kontrollieren kann. Des Weiteren passt der umsichtige und kontextsensible Charakter der Selbstregulation nicht zu der strengen und engen Funktionscharakteristik der Selbstkontrolle. • Unterscheidung zwischen Selbstregulation und -kontrolle (FUHRMANN & KUHL, 1998) • Unterscheidung sollte per Fragebogen in einer Untersuchung operationalisierbar gemacht werden, in der es um die Absichtsumsetzung von Verbesserungen der Ernährungsweise ging. • VP wurden mittels Selbststeuerungsinventar-Fragebogens (KUHL & FUHRMANN, 1998; FRÖHLICH & KUHL, 2004) in zwei Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe zeichnet sich durch einen Selbstkontrollstil aus (→ Planen; Selbstdisziplin; sich selbst unter Druck setzen; Erinnerung an negative Folgen bei Nichteinhaltung von Vorsätzen), wohingegen die andere Gruppe sich durch hohe Kennwerte für einen selbstregulativen Stil auszeichnete (→ volle Identifikation mit dem, was man tut; bei nachlassender Motivation erleben, wie einem neue Kraft wie „von selbst“ zufließt; schnelle Beruhigung nach negativen Erfahrungen). Des Weiteren wurden jeweils die Hälften der beiden Gruppen willkürlich in eine positiv-aufsuchungsorientierte und eine negativ-vermeidungsorientierte Versuchsgruppe unterteilt. • Die VP wurden gebeten die Ernährungsvorsätze für den nächsten Tag einzutragen und anzugeben inwiefern die Vorsätze vom Vortag eingehalten wurde (→ Maß für Umsetzungseffizienz). Die VP der positiven Gruppe sollten zudem angeben, wie sie sich für kleine Fortschritte zu belohnen gedenken (etwa: Selbstlob, ein Eis gönnen) und die VP der negativen Gruppe sollten angeben, wo sie schwache Momente erlebt haben (innerlich oder im Verhalten?) und wie sie sich für solche Momente bestrafen könnten (etwa: Selbstkritik, sich etwas verbieten). • Abb. 7.3 Die Steigerung der Umsetzungen von Ernährungsvorsätzen war für die selbstregulativen VP in der positiven Gruppe wesentlich höher, als die in der negativen Gruppe. Umgekehrt sah es bei den selbstkontrollierenden VP aus: Selbstbestrafung erzielte 99 • • bessere Effekte als Selbstbelohnung. Vor dem Hintergrund der positiven Psychologie und dem damit verbundenen positivem Denken war zu erwarten, dass Selbstbelohnung in allen Fällen bessere Erfolge erzielt (SELIGMAN, 2002). Dies galt allerdings nur für VP mit überwiegend selbstregulativem Führungsstil. • Gründe für die geringe Effizienz bei positiv instruierten selbstkontrollierenden VP • Bei der Selbstkontrolle wird das Selbst zum Objekt der Selbststeuerung (umgekehrt ist bei der Selbstregulation das Selbst das Subjekt der Steuerung) – das Subjekt der Selbstkontrolle ist das analytische Ich → Ich-Kontrolle • positive Stimmung (vermittelt durch Selbstbelohnung) bahnt den Selbstzugang, wohingegen negative Stimmung ihn hemmt. → Die selbstkontrollierenden VP finden im durch die Selbstbelohnung „geöffneten“ Selbst die Vorsätze nicht wieder – bei der Selbstkontrolle werden Vorsätze durch Selbstunterdrückung und nicht durch Selbstöffnung umgesetzt. So können die mangelhaft integrierten, konkurrierenden Selbstanteile der selbstkontrollierenden Person aktiv werden und die Zielumsetzung gefährden. • Die nachlassende Effizienz bei positiv instruierten selbstkontrollierenden VP konnte auch für positiv instruierte Lageorientierte gezeigt werden, also Personen, die Schwierigkeiten haben negative Gefühle zu bewältigen. → Übermäßiger negativer Affekt behindert den Abgleich von Vorsätzen mit dem Selbst. Erleichterter Selbstzugang bei positiv besetztem Selbstbild (KOOLE, 2004) • Positives Selbstbild → man empfindet sich kraftvoll, selbstsicher und selbstständig, statt schwach, unsicher und abgewertet • VP sollten nach Prime das Targetwort schnellstmöglich als positiv (Druck auf rechte Taste) oder negativ (Druck auf linkte Taste) klassifizieren (Beispiele: geliebt vs. einsam oder stark vs. schwach). Der Prime sollte subliminal das Selbst aktivieren (das niederländische Wort für „Ich“ wurde für 200 ms gezeigt). • Im Gegensatz zu neutralen Primes war bei dem selbst-aktivierenden Prime die Reaktionszeit für negative Targetwörter bei LOM signifikant verkürzt. Dieser Index für ein negatives Selbstbild trat bei den LOM aber nur auf, wenn sie sich zuvor eine druckvolle und bedrohliche Person vorstellen sollten, die mehr von ihnen verlangte, als sie leisten könnten. Sollten sie sich hingegen eine akzeptierende Person vorstellen, bei der sie ganz sie selbst sein könnten, trat der Index für die negative Selbstbewertung nicht mehr auf. Die dritte Stufe der Motivintegration • Motive sind in ihrer Rolle als implizite Repräsentationen persönlich relevanter Bedürfnisse als Teil des impliziten Selbst zu betrachten. Durch die Integration von Motiven erhält das Selbst handlungssteuernde Funktionen. • Neben den vorbegrifflich verankerten Motiven (Kapitel 5) und den kognitiv elaborierten Motiven (Kapitel 6) existieren auch Motive, die in das private Selbst integriert sind. Diese Motive verfügen über erweiterte Formen der Affektregulation → Selbstmotivierung: Generierung positiven Affekts wie „von selbst“ → Selbstberuhigung: selbstkonfrontative Bewältigung negativen Affekts (z.B. Furcht vor Zurückweisung oder Machtverlust) → Selbstbestimmung: Auffinden kontextgerechter und kreativer Lösungsmöglichkeiten 100 Messung der im privaten Selbst integrierten Motive (KUHL & SCHEFFER, 1999) • OMT – Operanten Motivtest – ist im Grunde eine abgewandelte Form des TAT: Es geht noch immer um das Erfinden von Phantasiegeschichten zu polysemantischen Bildern. Die Probanden sollen die Geschichte allerdings nicht aufschreiben, um Verzerrungen vorzubeugen. Die Probanden sollten lediglich einige Leitfragen (dem TAT entnommen: „Was ist für die Hauptperson in dieser Situation wichtig?“, etc.) stichpunktartig beantworten. • i.U. zu dem TAT wird nicht nur zwischen aufsuchender und meidender Motivation beim vorliegenden Motiv unterschieden: zunächst wird festgestellt, ob es sich um eines der drei Hauptmotive nach WINTER (1994) handelt (Leistung, Anschluss, Macht) und ob eine Aufsuchungs- oder Meidungsmotivation vorliegt. Wird die Tendenz zur Aufsuchungsmotivation festgestellt, wird überprüft, ob die Tendenz eher auf internen und selbstregulatorischen Prozessen oder auf externen und situativen Auslösern beruht. Abschließend wird untersucht, ob positive oder negative Affekte wirksam sind (Diese müssen weder dem Probanden bewusst sein, noch assoziativ aus dem Bericht der VP hervorgehen.) • Latenter negativer Affekt (extern) [4. Ebene]: Verengung und Rigidisierung des Verhaltens, keine kreative und sozialintegrative Form der Bedürfnisbefriedigung; z.B.: dominante Umsetzung des Machtmotivs, auf Konkurrenz reduzierte Leistungsmotivation, Beziehungsmotiv auf Schutzfunktion einer Person beschränkt • Selbstregulative Bewältigung negativen Affekts (intern) [3. Ebene]: negativer Affekt wird (assoziativ) direkt angesprochen, Suche nach kreativen Lösungen • Selbstregulative Bahnung positiven Affekts (intern) [1. Ebene]: Umsetzung kreativ und flexibel, positive Anreizmotivation → Flow beim Leistungsmotiv, Begegnung beim Anschlussmotiv und sozial akzeptiertes Machtmotiv • Latenter positiver Affekt (extern) [2. Ebene]: keine kreative oder flexible Form der Bedürfnisbefriedigung, keine Selbstbeteiligung • OMT Kennwerte für das Leistungsmotiv zeigten auch dann signifikante Korrelationen mit der Anzahl der Schuljahre, dem Bildungsniveau und dem soziökonomischen Status auf, wenn die TAT-Kennwerte für das Leistungsmotiv statistisch konstant gehalten werden (CHASIOTIS & HOFER, 2003). 7.4. Emotion: Selbstgesteuerte Bewältigung a) Bewältigung ohne Selbstbeteiligung • Die meisten Formen der Affektregulation (z.B. Abwehrmechanismen → 4.2d)) kommen ohne Beteiligung des Selbst oder des Ichs aus • Wie gelangen Represser zu ihrer Haltung des Abwehrens negativer Gefühle durch Beschönigung (KROHNE & EGLOFF, 1994)? → Mögliche Ursache ist die Erfahrung, dass in der frühen Kindheit auf negative Erlebnisse öfters direkt mit positiven Reaktionen geantwortet wurde. So kann die reflexartige Beschönigung konditioniert worden sein. So geschieht die Bewältigung ohne die negativen Gefühle zu beachten, zu verändern oder ihnen sogar mit Sinn stiftenden Übungen oder relativierenden Erfahrungen gegenüberzutreten. → Dieser Mechanismus ist auf der dritten Systemebene anzusiedeln: negativer Affekt wird ohne die Involvierung höherer Prozesse durch positiven ersetzt. • Bewältigung mit Selbstbeteiligung ist langfristig wirksamer, als in etwa das bloße Ersetzen negativen Affekts durch positiven. Es bringt aber den Nachteil mit sich, dass diese Formen der Bewältigung kurzfristig unangenehmer sind, da man das schlechte Erlebnis für die selbstkonfrontative Bewältigungsform direkt an „sich“ heranlässt. b) Selbstausdruck Der Ausdruck eigener Gefühle erfordert die Selbstaktivierung, die ihrerseits eine Herabregulierung negativen Affekts bedeutet. Dies ist für die Bewältigung besonders bei denjenigen Formen des Selbstausdrucks hilfreich, die dem ganzheitlichen Integrationsniveau entsprechen (z.B. das Erzählen unangenehmer Erlebnisse und der damit verbundenen Gefühle, falls die Erzählung die persönliche Bedeutung widerspiegelt; PENNEBAKER & BEALL, 1986; PENNEBAKER, KIECOLT-GLASER & GLASER, 1988; PENNEBAKER, 1993). • 101 c) Welchen Einfluss hat die Differenziertheit des Selbst auf die Verhinderung von psychischen und psychosomatischen Symptomen bei Stress? (LINVILLE, 1987) • Linville verwandte ein abgeändertes Kelly-Gitter, um die Selbstkomplexität (als Maß für den Grad der Differenzierung des Selbstsystems) zu messen: VP sollten anhand von 33 Karten mit Eigenschaftsbezeichnungen (z.B.: verspielt, entspannt, nachdenklich oder zurückhaltend) Aspekte ihres Lebens oder ihrer Selbst beschreiben (→ Studium, Beziehung zur Familie, Beziehung zu Männern, etc.). • Sie verwendete die H-Statistik als Maß für die Selbstkomplexität. Diese Statistik gibt den Informationsgehalt an, also die Unvorhersagbarkeit einer Angabe. Es stand den VP frei einen Aspekt mit so vielen Karten, wie sie wollten, zu beschreiben. Falls eine VP eine Karte sehr häufig verwendet oder eine Selbstkategorie stets mit denselben Merkmalen beschreibt, ist die Unvorhersagbarkeit dementsprechend gering, woraus ein niedriger Wert für die Selbstkomplexität resultiert. • Die Messung wurde zu zwei Zeitpunkten durchgeführt, die zwei Wochen auseinander lagen. Bei den Messungen wurden objektive Stressbelastung, Depression, körperliche Symptome (Erkältungsmerkmale, Allergien, Darmbeschwerden, Kopf- oder Rückenschmerzen und Verspannungen) sowie subjektives Stresserleben erfasst. Unabhängige Variablen (t1) Abhängige Stressbelastung Variable: t1 Abhängige Variable: t2 Körpersymptome 0,78*** Depression 0,53*** Stresserleben 0,71*** *p ≤ 0,06. **p ≤ 0,05. ***p ≤ 0,01. 0,61** 0,81** 0,59** Selbstkomplexität: SC SC x Stressbelastung R2 0,34*** 0,35** 0,23** -0,68*** -0,82** -0,56* 0,71 0,35 0,58 Tab. 7.2 • Die Daten wurden mittels einer multiplen Regressionsanalyse ausgewertet: Die Daten der ersten Messung, also Stressbelastung, SC und die Interaktion zwischen den beiden (SC x Stressbelastung) wurden in die Prädiktorgleichung aufgenommen und somit zu den unabhängigen Variablen. Durch die Aufnahme in die Prädiktorgleichung können die starken Zusammenhänge zwischen dem Stress, SC und Stress x SC sowie der drei abhängigen Variablen (Körpersymptome, Depression, Stresserleben) statistisch konstant gehalten werden (→ „Herauspartialisierung“); d.h. die Regressionsgewichte für Stress, SC und Stress x SC zeigen in der obigen Tabelle nur noch den Einfluss dieser Variablen auf die Veränderungen der drei abhängigen Variablen an. • Die Daten der zweiten Messung, wieder: Stressbelastung, SC und Stress x SC, wurden als abhängige Variable in jeweils eine Regressionsanalyse aufgenommen, um ihren Einfluss auf die Zunahme von Körpersymptomen, Depression und Stresserleben zu überprüfen. • Ergebnisse: → Widersprüchlich: Bei der ersten Messung sagten Stressbelastung und SC eine Zunahme von Körpersymptomen, Depresson und Stresserleben voraus, während Stress x SC eine Abnahme der drei Symptomklassen vorhersagte. → Pufferhypothese: Ein komplexes Selbstsystem (→ hohe SC) kann Stressbelastung (→ hoher Stress) besser abpuffern, weil sich die „Energie“ auf ein größeres Netzwerk verteilt (→ Stress x SC sagt Abnahme der drei Symptomklassen voraus) → spill-over Hypothese Bei einem undifferenzierten Selbstsystem schwappt diese Energie über, was die Person zu Übergeneralisierungen veranlasst. • Erklärung aus heutiger Sicht: → Ein komplexes Selbstsystem ermöglicht eine tiefgreifende und nachhaltige Bewältigung durch selbstkonfrontative Affektregulation (z.B. durch Relativierung negativer Emotionen über positive Sinngehalte oder positiver Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen gemacht worden sind) → Aus den Daten geht auch ein Symptom verstärkender Effekt bei einer hohen SC unabhängig von der Stressbelastung hervor. Wenn man jede schlechte Erfahrung an „sich“ heran lässt erhöht dies die Vulnerabilität, die sich aus der parallelen Verarbeitungscharakteristik des Selbst ergibt (→ die schmerzliche Erfahrung kommt • 102 dadurch mit vielen Selbstaspekten, -funktionen, etc. in Kontakt). Die Schutzfunktion eines differenzierten Selbst wird erst bei hohen Stressbelastungen deutlich (siehe positive Wechselwirkung in der letzten Spalte der Tabelle), da sich die positive Wirkung des Selbst umso mehr entfaltet, je wichtiger/selbst-relevanter/belastender die Erfahrung ist. → Bei einer Replikation LINVILLES Studie wurde die spill-over Hypothese verworfen: Die Schutzwirkung des komplexen Selbst besteht nicht darin, emotionale Erfahrungen am „überschwappen“ im Erfahrungsnetzwerk zu hindern, sondern in einem Selbstregulationsprozess, der auf die Bewältigung negativer Emotionen spezialisiert ist (ROTHERMUND & MEYER, 2004). d) Differenzierte vs. fragmentierte Selbstrepräsentationen (SHOWERS & KLING, 1996) • Hypothese: Menschen mit differenzierten Selbstrepräsentationen beeinflussen die Bewältigung negativen Affekts anders als Menschen mit fragmentiertem Selbst (ein fragmentiertes Selbst ist durch affektiv homogene Selbstbereiche gekennzeichnet). • Die VL induzierten bei den VP durch das Vorlesen lassen von negativen Aussagen eine negative Stimmung. Während einer Aufgabe, die den VP gestellt wurde, sollten sie mehrmals ihre Stimmung einschätzen. • Unabhängige Variablen: • (1) Grad der Selbstdifferenziertheit (Messung entweder unmittelbar vor der Stimmungsinduktion (Experiment 1) oder eine Woche vor dem Experiment (Experiment 2)) • (2) Gewichtung positiver gegenüber negativer Selbstaspekte • (3) Art der Aufgabe (Selbstbezug oder Ablenkung), die zwischen Stimmungsinduktion und -messung gestellt wurde (Experiment 2) • Ergebnisse Aufgabe Experiment 1: Keine Experiment 2 „Wer bin ich“ Zählen u.ä. Hohe Gewichtung positiver Selbstaspekte Hohe Gewichtung negativer Selbstaspeke Fragmentiertes Selbst Integriertes Selbst Fragmentiertes Selbst integriertes Selbst 1,75 a) -0,06 -0,32 0,24 0,68 b) 2,14 1,51 c) 2,77 0,26 1,93 1,53 c) -1,79 d) Tab. 7.4 • • Aufgelistet sind die Kennwerte für die Veränderung der Stimmung vom ersten Messzeitpunkt zum zweiten hin. Besondere Kennwerte: a) Represser: Ausweichen in den positiven Affekt ohne Selbstbeteiligung (s.u.) – stärkere Gewichtung positiver Selbstaspekte und Einteilung des Selbst in rein positive Fragmente b) Stimmungsverbesserung der Represser sinkt ab, wenn Selbstzugang induziert wird. Hier kann man erkennen, dass das Selbstsystem von Repressern eine geringe Kompetenz aufweist. Grund: Selbst wird kaum an der Bewältigung negativen Affekts beteiligt → kein Bewältigungswissen wie Lösungsstrategien, Sinnstiftung, etc. d) Ablenkung erzeugt Stimmungsverschlechterung bei Personen mit integriertem Selbst und starker Gewichtung negativer Aspekte, weil diese Personen auf selbstkonfrontative Formen der Affektregulation angewiesen sind. Sie haben eine hohe Sensibiltät für den negativen Affekt ausbildet und selbstkonfrontative Kompetenz (c)). Wenn solche Personen an ihrer üblichen Form der Affektregulation gehindert werden (Ablenkungsaufgabe), bedeutet dies eine Stimmungsverschlechterung. 103 e) Implizite selbstkonfrontative Affektregulation (KOOLE & JOSTMANN, 2004) • VP der Visualisierungsbedingung sollten sich eine strenge Person vorstellen, die viel von ihnen verlangt. Kontrollgruppe sollte sich stattdessen eine akzeptierende Person vorstellen. • Messung der Affektregulation durch Emotionserkennungsaufgabe (ÖHMANN ET AL., 2001: In der Hälfte der Durchgänge wurden neun ärgerliche, fröhliche oder neutrale Gesichter gezeigt (homogen), in der zweiten Hälfte nur Teile der Gesichter. VP sollten Emotion klassifizieren): Die Reaktionszeit für das Erkennen eines fröhlichen Gesichts nach Konfrontation mit strenger Person galt als Maß für Affektregulation. Zudem mussten die VP in jedem Durchgang die Gesichter auf Abweichler hin prüfen. Um tatsächlich die Regulation von Affekt ohne ihre erlebte Intensität zu messen, wurden die Reaktionszeiten für das Erkennen fröhlicher Gesichter in der Umgebung von ärgerlichen von den Reaktionszeiten für das Erkennen fröhlicher Gesichter in neutralem Umfeld subtrahiert. • Die VP wurden in LOM und HOM je nach allgemeiner affektregulatorischer Kompetenz eingeteilt (per Fragebogen). • HOM – VP mit hoher Kompetenz – hatten wesentlich kürzere Reaktionszeiten beim Erkennen fröhlicher Gesichter als LOM, falls sie der Visualisierungsbedingung angehörten und somit der positive Affekt gedämpft war. Dieser Effekt trat in der Kontrollbedingung nicht auf. → Eine Mediationsanalyse bestätigte, dass die Heraufregulierung des A+ bei HOM durch Selbstzugang vermittelt wurde: Effekt verschwand sobald ein Maß für den Selbstzugang statistisch konstant gehalten wurde. f) Explizite Affektregulation • Bewusste Emotionskontrolle, u.a. durch Affektunterdrückung: zeichnet sich i.U. zur Unterdrückung durch hohes Risiko der Rückkehr des Unterdrückten aus (FREUD, oft sozialpsychologisch repliziert). → Einfaches Beispiel: Versuchen nicht an weiße Bären zu denken: Bewusste Unterdrückung erfordert, dass die Erinnerung an das Unterdrückte wach gehalten wird. Dies kann dazu führen, dass man noch öfter an weiße Bären denkt, als man es vor der Instruktion tat (WEGNER, 1994). → Die Affektunterdrückung beansprucht anstrengunsintensive Ressourcen (GALLIOT ET AL., 2007) und fördert in keiner Weise die dauerhafte Bewältigung der Emotionen (FRANKL, 2002; WATZLAWICK, 2007). • Bewusste Emotionskontrolle gehört dem selbstkontrollierenden Führungsstil ist und ist damit auch scheinbar an die LH gebunden. Dies bedeutet, dass kein starker Zugang zu den affektgenerierenden Systemen der RH (DAWSON & SCHELL, 1982; WITTLING, 1990) besteht, die für Emotions- und Selbstwahrnehmung von entscheidender Bedeutung sind (NIEDENTHAL, 2007). → Vermutete Ursache für geringen Erfolg der (psycho-)analytischen Bewältigungsformen von psychischen Erkrankungen 7.5. Anwendung: Willensfreiheit, Existenzphilosophie und das Gedicht vom Selbstwerden a) Wille vs. Determinismus – Willensfreiheit • Die Willensfreiheit wird nicht von den Erkenntnissen der Determination ad absurdum geführt: Redet man von Freiheit (oder von Wörtern, die diesen Begriff voraussetzen → z.B. Verantwortung), dann meint man eine besondere Form der Determination. Berücksichtigt eine Handlung besonders viele Selbstaspekte und ist somit durch eine Hohe Anzahl an Freiheitsgraden gekennzeichnet, wird sie als freier empfunden. Freier, als eine Handlung, die nur einem Zweck dient und sogar eigene oder fremde Bedürfnisse & Werte verletzt. • Diese Form der Freiheit beruht auf dem Erkenntnissystem des Selbst, dass nicht nur kognitiv-erkennende Leistungen liefert, sondern auch mit Körperwahrnehmungen und Emotionen vernetzt ist (DAMASIO, 2000). Emotionen zeigen wiederum Bedürfnisschicksale an, womit (einigermaßen) gesichert ist, dass Entscheidungen und Handlungen selbstkompatibel sind. → Freie Handlungen & Entscheidungen sind frei von selbstfremden Verhaltensdeterminanten (BIERI, 2001; KUHL, 1996, 2007b; PAUEN, 2004) → Die Anzahl der Freiheitsgrade steigt mit den Systemebenen an: Feste Gewohnheiten kennen kaum Variationsmöglichkeiten (Kapitel 1), anreizgesteuertes Verhalten zeichnet sich hingegen durch mögliche Wechsel der Verhaltensgewohnheiten aus (Kapitel 3); die größten Freiheitsgrade bringt das Selbst mit sich, da es unzählige Aspekte der Handlung berücksichtigen kann (Kapitel 7). 104 b) Existenzphilosophie • Es wurden vier Erkenntnisformen behandelt: • OES (Kapitel 1) • implizite Wahrnehmungsfunktion der IVS (Kapitel 1) • analytisches Ich (Kapitel 6) • Selbst (Kapitel 7) • Welche ist „richtig“? Welche ist der Realität am nächsten? • Es entstehen Verwirrungen, wenn wir diese Erkenntnisformen verwechseln (HEIDEGGER): „es gibt“ und „es sind“ verändern oft unmerklich, aber radikal die Bedeutung von Aussagen. Das Wort „sein“ bedeutet im Normalfall etwas völlig anderes, als die schiere Existenz oder Da-sein eines Menschen. • Wenn das OES das da-sein eines Felsbrocken feststellt, ist damit ein gewaltiger Reduktionismus verbunden: Der Felsbrocken wird vom Kontext abgelöst und auf die Merkmale reduziert, die allen Felsbrocken gleich sind. Die Komplexität der Wahrnehmungswelt wird damit gewaltig reduziert. Diese Betrachtung würde einer menschlichen Existenz, mit all ihrem woher und wohin, ihrer sozialen Eingebundenheit, etc. nicht gerecht werden. • Nach HEIDEGGER ist das menschliche Dasein weder mit den Merkmalen der Objektwelt (Vorhandenes) noch mit den Merkmalen der Welt des „Zuhandenen“ (→ IVS) erfassbar. Menschliches Dasein zeichnet sich aus durch: • Sorge um die Ganzheit für die existenzrelevanten Bedingungen • Beständige Gestimmtheit (→ etwa: Einbindung von Emotionen in das Selbst) • Schwanken zwischen Eigentlichkeit (→ Selbstkongruenz) und unfreiwilliger Uneigentlichkeit (→ „Flucht in das Man“, Entfremdung, Anlehnung an häufige Meinungen der soz. Bezugsgruppe) • Unzählige Handlungsoptionen & Entwicklungsentwürfen • Existenzielle Angst, die sich nicht auf einen konkreten Gegenstand bezieht, sondern durch die Hemmung des Selbst entsteht: Es ist die Angst vor der schier unendlichen Zahl von zukünftigen Möglichkeiten und Angstgefühlen. • Das retrospektive Pendant der existenziellen Angst ist der ganzheitlich-existenzielle Schmerz, der sich in etwa auf Verlustereignisse bezieht, die das ganze Selbst berühren (GREENBERG, 2006). Beispiel: Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, dessen Auswirkung – laut Heidegger die „Flucht in die durchschnittliche Alltäglichkeit“ – inzwischen experimentell bestätigt ist: Forschung zu TMT in Verbindung mit MS und CWD (→ 6.4b)) c) Lyrik: Leid, Selbstkonfrontation & Liebe • „die Frau Prinzessin M von B“ – Rilke Wir sind ja. Doch kaum anders als den Lämmern gehen uns die Tage hin mit Flucht und Schein; auch uns verlangt, sooft die Wiesen dämmern, zurückzugehn. Doch treibt uns keiner ein. Wir bleiben draußen Tag und Nacht und Tag. Die Sonne tut uns wohl, uns schreckt der Regen; wir dürfen aufstehn und uns niederlegen und etwas mutig sein und etwas zag. Nur manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, daß wir an diesem beinah sterben, dann: formt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Angesicht und sieht uns strahlend an. → Unser eigentliches Sein unterscheidet sich dem Sein von Tieren. Unser uneigentliches Sein (in „Flucht und Schein“) gleicht sich jedoch mit den Tieren ab. Wir fallen ständig aus der Eigentlichkeit unseres Seins heraus, was die menschliche Existenz als zerissen und entfremdet erscheinen lässt. → Selbstwerdung (→ „reifen“) ist schmerzhaft, der Wachstumsschmerz bedroht manchmal sogar die ganze Existenz (→ „beinah sterben“) → Berührt die Liebe den ganzen Menschen, wird aus der Not eine Tugend: Im Spiegel der Liebe zu einem Menschen formt sich aus den Bruchstücken des Selbst ein Ganzes. Das „strahlende Angesicht“ meint die förderliche integrative Kraft einer zwischenmenschlichen Beziehung, die in der Lage ist aus einzelnen Schmerzepisoden eine begreifbare Gesamtpersönlichkeit entstehen zu lassen. 105 Kapitel 8: Zusammenfassung und Integration 106 8. Zusammenfassung und Integration a) Die vorangegangenen Kapitel beschreiben sieben mögliche Quellen, aus denen Erleben und Handlung gespeist sein können. Nun wird untersucht, wie die Systemebenen interagieren. • Evolutionsbiologisch: Neuere Systeme rerepräsentieren Strukturen und Funktionen früherer Entwicklungsstufen (JACKSON, 1984) • Neurobiologisch: Bestätigung der obigen Auffassung (DERRYBERRY & TUCKER, 1991): Grundlage dieser Hierarchie bilden die Transmitterbahnen, die alle wichtigen Hirnstrukturen energetisieren. Beispiele: affektgenerierende, limbische Systeme (Kapitel 3) sind mit dem OES verbunden (Kapitel 1) → Anreizbildung; links- und rechtshemisphärische neocortikale Systeme modulieren analytisches und ganzheitliches Planen & Fühlen (Kapitel 6), sowie Willensbildung und umfassende Selbstkongruenzprüfung (Kapitel 7). 8.2. Geschichte: Hinweise auf Systeminteraktionen a) Notwendigkeit der Interaktion • Viele Persönlichkeitssysteme brauchen den Dialog mit anderen Systemen um adäquat funktionieren zu können. Beispiel: das analytische Ich braucht den Kontakt zum Selbst, um das Verhalten an allen wichtigen Lebenserfahrungen anpassen zu können (→ KANT: Verirrungen der „reinen“, abgehobenen Vernunft) b) (A+) intensiviert Denken über Ziele, Ideale und Absichten • FREUD: Ich schaltet sich ein, sobald Schwierigkeiten in der Triebbefriedigung oder Zielerreichung auftreten → Interaktion zwischen Affektebene und denkendem Ich: das freudige Aufgehen in der Tätigkeit bekommt einen Dämpfer – (A+) → Werden Ideale oder Ziele nicht erreicht, wird der positive Affekt gedämpft und ein Nachdenken über unerreichte Ziele und Ideale wird angeregt (HIGGENS ET AL., 1997). • Diese Interaktion schließt die IVS mit ein, da ohne sie die Ausführung zielrelevanten Verhaltens nicht möglich ist. • Unerledigte Absichten werden wie ein Bedürfnis aufrechterhalten (LEWIN), sind nicht dem üblichen Vergessenheitsprozess unterworfen (ANDERSON, 1983) und werden i.d.R. besser behalten als erledigte Absichten (ZEIGARNIK, 1927). • Paradox: Dieser Effekt ((A+) ist mit stärkerer Repräsentanz von Zielen, Idealen oder Absichten verbunden) scheint eher für Misserfolgsängstliche, Depressive und Lageorientierte zu gelten (ATKINSON, 1953; GOSCHKE & KUHL, 1993; JOHNSON ET AL., 1986; KUHL & HELLE, 1986; → 3.2b)). Die an den (A+) gekoppelte Gedächtnisüberlegenheit von Zielen, Idealen und Absichten tritt also gerade bei den Personen auf, die eher Schwierigkeiten haben sie umzusetzen. A+ wirkt verhaltensbahnend, (A+) dementsprechend verhaltenshemmend. c) A- behindert ganzheitlich-kognitive Leistungen • Angst (→ A-) verengt den Blick, sodass die Leistung bei Aufgaben, die die Berücksichtigung eines breiten Spektrums an Informationen erfordern, verschlechtert wird (EASTERBROOK, 1959 → 2.3d)). Des Weiteren Behindert A- die Extension, Komplexität und Differenzierung kognitiver Konstrukte (KELLY, 1955 → 6.2b)). → Ein Übermaß an Stress und negativem Affekt wirkt leistungsbeeinträchtigend bei Aufgaben, die einen ausgedehnten Überblick über viele Erfahrungen verlangen (also bei kreativen Aufgaben, beim Erkennen größerer Zusammenhänge oder bei persönlichen Entscheidungen). Dies ist an die Hemmung des HC durch zu hohen Stress gebunden. • Komplexe und differenzierte kognitive Konstrukte (vor allem, wenn sie das eigene Selbstbild betreffen) helfen A- und Stress zu bewältigen (LINVILLE, 1987; ROTHERMUND & MEINIGER, 2004; → 7.4). d) PSI-Theorie: Die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen • Jede bislang hier vorgestellte Theorie der Motivation, Emotion und Persönlichkeit leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Gesamtsystems: • Behaviorismus: Erklärung des Verhaltens durch erlernte Gewohnheiten (S-RVerknüpfungen) • EYSENCK: Motivation und Emotion sind auf das vorherrschende Erregungsniveau zurückzuführen • GRAY: auf die Wirkung von A+ und A• z.B. MCCLELLAND, KELLY, ROGERS: auf höhere motivationale, kognitive oder selbstregulative Prozesse • FREUD: auf das Kräfteverhältnis zwischen höheren und elementaren Prozessen 107 Neurobiologische Erkenntnisse über die Modulationswirkungen von Erregungs-, Aktivierungs- und affektiven Prozessen auf das gesamte Gehirn lassen gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Systemebenen vermuten. • Hierarchisches System (vgl. CARVER & SCHEIER, 1998) mit phylogenetischer Entwicklung (JACKSON, 1984), die jeder neuen Systemebene eine höhere Anzahl an Freiheitsgraden bringt (→ 7.5a)) e) Erste Modulationsannahme: A+ bahnt die Verbindung zwischen Absichtsgedächtnis und IVS → Willentliches Handeln und der damit verbundene Informationstransfer vom Absichtsgedächtnis zur IVS wird durch die Aufhebung der Dämpfung positiven Affekts ermöglicht. → Dämpfung positiven Affekts ermöglicht Bildung einer expliziten Absicht • Absichtsgedächtnis (Intentionsgedächtnis – IG) • Erhält auszuführende Handlungen aufrecht • Absichtsbildung wird notwendig, wenn auszuführende Handlung selbst schwierig ist • IG ähnelt Arbeitsgedächtnis – besonders in Aktivierungsschleifen zur Aufrechterhaltung der Absichten ohne weiteren äußeren Input (→ artikulatorische Schleife; BADDELEY, 1986). Beide Gedächtnisse sind neuroanatomisch stark vernetzt, aber nicht identisch (FUSTER, 1995). Das Absichtsgedächtnis häIt i.U. zum Arbeitsgedächtnis Absichten aufrecht und verfügt über eine Hemmungskomponente, die das Handeln vom Denken und Planen abkoppelt, damit die Möglichkeit besteht eine geeignete Gelegenheit oder Handlung zu planen. • Bestätigung der ersten Modulationsannahme • Vollständige Beseitigung der Stroop-Interferenz, wenn im Experiment jedem Aufgabenreiz ein positives Wort vorangeht (z.B.: „Erfolg“). → Versuchsanordnung trennt Verhaltensbahnung durch positiven Affekt von der Willensbildung: durch positiven Aufgabeankündigungsreiz wird die dominante Reaktion des Lesens geschriebener Worte unterdrückt. VP in einer Bedingung mit neutralen Wörtern, die den Aufgabereizen vorausgingen zeigten mittlere Reaktionszeiten und die VP in der Bedingungen mit misserfolgsthematischen Wörtern sogar sehr hohe Reaktionszeiten im Versuch (KAZÉN & KUHL, 2005, Experiment 2a). → Die positiven Primes bahnen selektiv die Umsetzung schwieriger Aufgaben und nicht die dominante Verhaltenstendenz (die des Lesens) (KUHL & KAZÉN, 1999). Nur wenn das Absichtsgedächtnis mit einer entsprechenden Absicht geladen ist, wird sie vom A+ gebahnt. • Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Person eine explizite Absicht bilden, desto eher ist mit einer entsprechenden Willensbahnung zu rechnen. So wird auch klar, warum gerade im Leistungsbereich der Willensbahnungseffekt auftritt, wenn spezifische Bedürfnisse (Leistung, Macht, Anschluss, Freiheit) angeregt sind (KAZÉN & KUHL, 2005): Bei Leistungsthematik wird dem System direkt klar, dass es um die Bewältigung einer schwierigen Aufgabe geht – das IG wird aktiviert. Das ist bei anderen Motiven nicht nötig, da sie oft auch befriedigt werden können, ohne das eine Schwierigkeit überwunden werden muss. • Wichtig für die persönliche Entwicklung ist, dass solche positiven Affekte nicht immer von Außen zugeführt werden müssen (→ Ermutigung), sondern auch „von selbst“ generiert werden können (→ Selbstmotivierung): prospektive Handlungsorientierung. Dem gegenüber steht die prospektive Lageorientierung, die durch Zögern die Umsetzungsrate von Absichten verringert (KUHL & HELLE, 1986). Dies ist darauf zurückzuführen, dass LOP Schwierigkeiten damit haben, (A+) gegenzuregulieren, der durch die Bildung einer Absicht entsteht (BAUMANN, KASCHEL & KUHL, 2005; JOSTMANN, KOOLE, VAN DER WULP & FOCKENBERG, 2005; KOOLE & JOSTMANN, 2004). • Sollen schwierige oder unangenehme Absichten effizient umgesetzt werden, ist es wichtig neben einer positiven Stimmung auch die schwierigen Aspekte der Umsetzung zu beachten. Die Effizienz wird am höchsten, wenn man abwechselnd die positiven Aspekte der Zielerreichung und anschließend die unangenehmen Schritte auf dem Weg zur Zielerreichung ins Bewusstsein (→ Laden des IG) gerückt werden (OETTINGER ET AL., 2001) • 108 f) Zweite Modulationsannahme: A- bahnt die Verbindung zwischen OES (→ dem Erkennen neuer (v.a. schmerzlicher oder Angst machender) Erfahrungen) und dem Selbst. → Selbstentwicklung wird durch die selbstkonfrontative Herabregulierung A- gebahnt. → A- hemmt Selbstzugang und bahnt Objekterkennung. • Wichtige Selbstfunktionsmerkmale: • Selbst berücksichtigt hohe Zahl von Erfahrungen (auch widersprüchliche) simultan • Emotionale Erfahrungen werden integriert und reguliert • Relevante Ausschnitte des Selbst sind in verbalisiertem Format ins Bewusstsein transportierbar (gute Zusammenarbeit zwischen Ich und Selbst ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ich ständig Erkenntnisse des des Selbst verdichtet, daraus allgemeine Regeln ableitet und an das Selbst zurückgibt, sodass das Selbst einen immer intelligenteren Input erhält.). • Interaktion des Selbst mit der OES ist wichtig, da neue Erfahrungen nur integriert werden können, wenn sich zunächst aus dem Kontext herausgelöst als Objekt wahrgenommen und verarbeitet werden. Dies geht mit einem Verzicht auf eine defensive Verdrängung der unangenehmen Aspekte der Erfahrung einher. • Bedrohungsthematische Handlungsorientierung: die Fähigkeit, A- ohne äußere Unterstützung oder defensive Abwehrformen, sondern durch Selbstkonfrontation zu bewältigen. LOM hingegen geraten durch A- oftmals in ein lähmendes Grübeln. Sie haben Schwierigkeiten diese Gedanken abzustellen und A- zu bewältigen (BAUMANN & KUHL, 2003; BRUNSTEIN & OLBRICH, 1985; KOOLE, 2004; KOOLE & VAN DEN BERG, 2005; KUHL, 1981; KUHL & BAUMANN, 2000; KUHL & WEISS, 1994). • LOM können – wie in der 2. Modulationsannahme postuliert – wenn sie A- erleben, nicht auf einfache Selbstrepräsentationen zugreifen, was ihnen in entspannten Situationen ebenso gut oder besser gelingt wie HOM (KUHL & KAZÉN, 1994; BAUMANN & KUHL, 2003). • Um unterscheiden zu können, ob eine Person tatsächlich mit einer Selbstaussage ihr unbewusstes Selbst reflektiert, wurde das Selbstinfiltrationsexperiment entwickelt: Stimmen die bewussten Ziele und Wünsche (des Ich) nicht mit ihren unbewussten Selbstrepräsentationen überein, müssten solche Personen auch des öfteren fremde Wünsche für ihre eigenen halten und fehlerhafte Erinnerungen besitzen, die besagen, dass fremde Aufgaben selbst gewählt seien. • Ablauf: Den VP wird gesagt, dass sie in einem Rollenspiel den Arbeitstag eines Sachbearbeiters simulieren sollen. Sie sollen aus einer Liste von 27 Tätigkeiten neun auswählen, die sie im Laufe des Tages im als Büro ausstaffierten Nebenzimmer erledigen wollen. Den VP wird dieser Raum mitsamt seiner Utensilien für die Erledigung der Aufgaben gezeigt. Die VL sagt der VP, dass sie in der Rolle der Chefin nun neun Aufgaben wählen werde, die ihr besonders wichtig seien. Nach einer Ablenkungsaufgabe sollen die VP in einer Liste alle 27 Tätigkeiten alle selbstgewählten Tätigkeiten mit einem „S“ und alle von der Chefin gewählten mit einem „C“ kennzeichnen. • Es ergab sich in dem Experiment eine Gruppe von Leuten, die gehäuft von der Chefin angeordnete Tätigkeiten als selbstgewählt markierten (KUHL & KAZÉN, 1994). Dieser Verwechslungsfehler trat besonders häufig bei LOM auf. Abb. 8.3 109 LOM können nicht zwischen selbst- und fremdgewählten Tätigkeiten unterscheiden, weil sie aufgrund mangelnder Bewältigung negativen Affekts einen gehemmten Selbstzugang aufweisen (BAUMANN & KUHL, 2003). • In einem abgeändertem Versuch wurde den VP vor dem eigentlichen Experiment entweder ein trauriger Film oder ein lustiger Film gezeigt. Es stellte sich heraus, dass die Selbstinfiltrationsfehler seitens der LOM nur begonnen wurden, wenn vorher durch den traurigen Film A- induziert wurde. Wurden sie durch den lustigen Film aufgeheitert (externe Bewältigung des A-), hatten die LOM keinerlei Probleme bei sich selbst zu sein und erzielten ebenso gute Ergebnisse wie HOM. • Bestätigung der Involvierung des ersten Selbstfunktionsmerkmals bezogen auf die 2. Modulationsannahme • Zu zeigen wäre, dass übermäßiger A- Leistungsdefizite, bei Aufgaben die eine intuitive und parallele Simultanverarbeitung mehrerer semantischer Einheiten erfordern, mit sich bringt. • Kohärenzaufgabe • VP sollen intuitiv beurteilen, ob drei Wörter semantisch zusammenhängen könnten oder ob eine Gruppe unzusammenhängender Wörter vorliegt. Solche Aufgaben beanspruchen parallele Verarbeitung in ausgedehnten semantischen Netzwerken (BEEMAN ET AL., 1994). • LOM wiesen bei vorherrschendem A- Leistungsdefizite bei dieser Aufgabe auf (BAUMANN & KUHL, 2002). g) Verknüpfung zu JUNG: Bei JUNG stehen die Verarbeitungsfunktionen der Psyche im Vordergrund: Psychische Erkrankungen beruhen auf der eigenartigen Art des Kranken Informationen zu verarbeiten und nicht etwa auf Gedächtnisinhalten oder Überzeugungen. h) Weitere Aspekte der PSI-Theorie – Fokus auf: • Die gesunden Interaktionen zwischen Systemebenen • Die affektbedingte Modulation dieser Interaktionen • Die Interaktion je eines hochinferenten und eines elementaren Systems (Potential für die Bildung höherer Ordnungsstrukturen (→ Emergenz), die sich aus der Interaktion ergeben) 8.3. Aufsuchen und Meiden auf sieben Systemebenen a) Einführung • Eine Zusammenarbeit mehrerer oder aller Systemebenen ist in einem gesunden Organismus der Normalfall. Eine Fixierung auf eine einzige Systemebene kann bereits eine psychische Erkrankung bedeuten (z.B.: Zwangskranke, die sich von automatischen Verhaltensroutinen steuern lassen; Suchtkranke, die auf das Affekterleben fixiert sind; übersteigerte Sinnsucher, die versuchen dort sinnbestimmt zu handeln, wo das Ausführen von Gewohnheiten angemessen wäre). • Zu einem Zeitpunkt ist immer diejenige Systemebene vorherrschend, die die aktuelle Aufgabe am besten bewältigen kann. Auf jeder Systemebene lassen sich zwei alternativ oder antagonistisch agierende Systeme unterscheiden, die auch kooperativ handeln können. • Die Ergebnisse über die Funktionsprofile der einzelnen Systeme (KUHL, 2001) werden von der PSI-Theorie unterstützt und ergänzt. Die PSI-Theorie untersucht nicht nur das Zusammenspiel innerhalb, sondern auch zwischen den Systemen durch die 1. und 2. Modulationsannahme: Affekte haben neben ihrer Aufsuchungs- und Vermeidungsverhalten bahnenden Funktion auch die Aufgabe die Interaktion zwischen Persönlichkeitssystemen zu regulieren. Sie haben durch die Transmitterbahnen Zugang zu allen Arealen des Gehirns. • Annahme: analog zu positivem und negativem Affekt ist je ein System einer Systemebene mehr dazu gedacht aufsuchendes- und das andere vermeidendes Verhalten zu unterstützen. • Funktionale Überkreuzung: es kann sein, dass mit einem System Verknüpfungen mit der jeweils anderen Motivationsform gemacht wurden, als evolutionär vorgesehen. Beispiel: Vorliebe für Horrorfilme – der negative Affekt, der mit Vermeidungsmotivation verknüpft ist, wird hier mit der Aufsuchungsmotivation belegt (MARTIN ET AL., 1998). • 110 b) Ebene 1: IVS und OES • IVS ist für aufsuchendes Verhalten optimiert → Beim Aufsuchen eines positiv valenzierten Objekts kommt es nicht so sehr auf die Einzelheiten an, geschweige denn auf die Abstraktion vom gesamten Kontext. Empirisch bestätigt (KELLER, 2003; PAPOUŠEK & PAPOUŠEK, 1987; positive Stimmung erleichtert Eltern-Kind-Interaktion). → Alltagsbeispiel: Small-Talk fällt bei positiver Stimmung leichter → Passt ausgezeichnet zur PSI-Theorie: A+ stärkt IVS (1.MA) • OES ist für vermeidendes Verhalten optimiert → Beim Vermeiden ist es entscheidend, dass das zu vermeidende Objekt klar identifiziert wird – unabhängig vom Kontext. Empirisch bestätigt (WILLIAM ET AL., 1996: Beschleunigung der Identifizierung des bewussten Erkennens gefürchteter Objekte bei Angstpatienten; EASTERBROOK, 1959; ÖHMANN ET AL., 2001: Verengung des Aufmerksamkeitsfokus auf das relevante Objekt) → Alltagsbeispiel: Autofahrer vergisst bei Gefahrensituation durch ihm entgegenrollenden Reifen das Ausweichen vor lauter Angst/Aufregung. c) Ebene 2: motorische Aktivierung und sensorische Erregung • Motorische Aktivierung ist für aufsuchendes Verhalten optimiert. → Motorische Aktivierung nimmt keinen Einfluss auf das OES (MATTHEWS ET AL., 1990). Zusammenhang zwischen motorischer Aktivierung und IVS kann angenommen werden. Somit ist die motorische Aktivierung mit aufsuchendem Verhalten belegbar. • Sensorische Erregung ist für vermeidendes Verhalten optimiert. → Sensorische Stimulation (z.B. durch weißes Rauschen) senkt sensorische Schwellen und verbessert die Objektwahrnehmung (BROADBENT & GREGORY, 1965; M. EYSENCK, 1982). Mit anderen Worten: sensorische Erregung bahnt A• Gegenläufige Systemverbindungen sind nicht auszuschließen. d) Ebene 3: A+ und A• Positiver Affekt ist selbstverständlich für aufsuchendes Verhalten optimiert • Negativer Affekt ist selbstverständlich für vermeidendes Verhalten optimiert → OES ist mit Vermeidungsmotivation verbunden, was daran liegen könnte, dass Zuverlässigkeit und Kontextabstraktion des OES besonders bei Konfrontation mit Gefahrenquellen nützlich ist. • Überkreuzungen sehr plausibel! • Leistungsmotivationsforschung: Vermeidungsmotivation vs. Vermeidungsverhalten: Die Motivation ein negatives Ereignis zu vermeiden, kann durchaus dazu führen positive Ereignisse (gute Note erreichen, etc.) aufzusuchen (ELLIOT & MCGREGOR, 2001; ELLIOT & THRASH, 2002) → Überkreuzung zwischen Vermeidungsaffekten (Kapitel 3) und Aufsuchungsverhalten (Kapitel 1) e) Ebene 4: Progression und Regression • Progression ist für aufsuchendes Verhalten optimiert → In einer ungefährlichen Umgebung kann man es sich erlauben, die zeitintensiven hochinferenten Funktionen einzusetzen, damit bessere Möglichkeiten gefunden werden können, um die eigenen Ziele zu erreichen. • Regression ist für vermeidendes Verhalten optimiert → Ein Übermaß an negativem Affekt koppelt durch die HC Hemmung die höheren Systemebenen von der Verhaltenssteuerung ab. Dies ist bei akuter Gefahr sehr sinnvoll, wenn möglichst schnell die Flucht ergriffen oder der Widersacher angegriffen werden soll. → Generell ist es in Umgebungen mit vielen unvorhersagbaren Gefahren ratsam auf den Beitrag der höheren Systemebenen zu verzichten, die vor allem für die Vorhersage regelmäßig auftretender Ereignisse dienlich sind. • Funktionelle Überkreuzungen sind sehr plausibel! • z.B.: Ladung des IG mit einem Vermeidungsziel 111 f) Ebene 5: wirkungs- und seinsorientierte Motive • Wirkungsorientierte Motive sind für aufsuchendes Verhalten optimiert → Starke Mittel-Zweck-Charakteristik lässt auf primäre Verbindung mit Aufsuchungsmotivation schließen (KUHL & KAZÉN, 2008) • Seinsorientierte Motive sind für vermeidendes Verhalten optimiert → Das Anschlussmotiv entfaltet sein Potential, wenn es um die Akzeptanz, das liebevolle Verstehen oder die Integration schwieriger Erfahrungen geht. Beim Freiheitsmotiv ist dies bei der bewussten Entscheidung für eine schwierige Aufgabe mit schwierigen Begleiterscheinungen der Fall, wenn diese Entscheidung als frei und selbstkongruent erlebt werden soll (FROMM, 1976; GILLIGAN, 1997; ROGERS, 1961). • Funktionelle Überkreuzungen • Mutter Theresa als Beispiel dafür, dass Machtmotivation neben den aufsuchungsorientierten Mittel-Zweck-Erwägungen auch vermeidungsorientierte Aspekte entwickeln können. Hier: unbedingter Einsatz, um unzumutbare Lebenszustände zu vermeiden. • Das Leistungsmotiv erfordert Selbstwahrnehmung und unbedingte Selbstakzeptanz. • Beziehungsmotiv kann instrumentelles und aufsuchungsorientiertes Mittel-ZweckHandeln erfordern, z.B. wenn der Erhalt einer persönlich wichtigen Beziehung unerwarteten Schwierigkeiten gegenübersteht. • Hemisphärenasymmetrie in der Motivwelt • Macht und (weniger stark) Leistung besitzen eine hohe Affinität zur LH, wohingegen Beziehungsmotivation mit rechtshemisphärischer Aktivierung einhergeht (KUHL & KAZÉN, 2008). → Aktivierung der LH bedeutet aufsuchungsmotivierte Verhaltens- und Emotionsindikatoren (HARMON-JONES & ALLEN, 1998). → Rechtshemisphärische Aktivierung sorgt für vermeidungsorientierte Verhaltens- und Emotionskennwerte (DAVIDSON, 1993). Des Weiteren hängt die RH mit empathischen Fähigkeiten zusammen (ADOLPHS ET AL., 2003), was erneut die Verknüpfung zwischen RH und Beziehungsmotiv unterstreicht. • Selbstfunktionen profitieren von der Aktivierung der RH: durch 3-minütiges Balldrücken mit der linken Hand kann der Selbstzugang wiederhergestellt werden. Dadurch ließen sich Selbstinfiltrationsfehler beseitigen (BAUMANN ET AL., 2005). g) Ebene 6: Denken und Fühlen • Analytisches Denken ist für aufsuchendes Verhalten optimiert. → Das instrumentelle Mittel-Zweck-Schema des analytischen Denkens (Wenn Situation X oder Ereignis Y eintritt, wird Handlung Z ausgeführt) dient der Unterstützung zielgerichteten Handelns und somit aufsuchungsorientiertem Handeln. Des Weiteren ist der Sinn hinter einem Ziel die Annäherung an gewünschte Zielzustände. • Ganzheitliches Fühlen ist für vermeidendes Verhalten optimiert. → Ganzheitliches Fühlen ist an das riesige neuronale Netzwerk, dass zur parallelen Verarbeitung dient, geknüpft. Dieses Netzwerk wird in der PSI-Theorie Extensionsgedächtnis (EG) genannt. Die intelligente Form der parallelen Verarbeitung nutzt die Unbestimmtheit der vermeidenden Verhaltensart und -richtung aus, indem es sich nicht mit der erstbesten Möglichkeit zufrieden gibt, sondern die bestmögliche Möglichkeit sucht. h) Ebene 7: Ich-Kontrolle und Selbstregulation • Ich-Kontrolle ist für aufsuchendes Verhalten optimiert → Liegt ein eindeutiges Annäherungsziel vor, reicht die analytische Verarbeitungsform aus. Ähnlich wie beim analytischen Ich in 7.3g) wird ein sequentieller Plan mit Wenn-Dann-Struktur angelegt. Dies spricht stark für aufsuchendes Verhalten und verbessert zudem noch die Zielerreichungssicherheit, weil Ablenkungsquellen ausgeschaltet werden. Dies beruht auf dem kognitiven Reduktionismus auf das Ziel in der LH (KIRCHER ET AL., 2002; MARCEL, 1983; SCHORE, 2003; SPRINGER & DEUTSCH, 1997). Es ist für diese Art von Aufgaben besonders hilfreich, wenn verlockende Handlungsalternativen gar nicht erst bewusst werden (SHAH ET AL., 2002). • Selbstregulation ist für vermeidendes Verhalten optimiert → Durch Selbstregulation werden negative Erfahrungen bewältigt, was durch das Auffinden positiver und Sinn stiftender Seiten des negativen Erlebnissen vermittelt wird (FRANKL, 2002; KUHL, 2000a, LINVILLE, 1987; ROTHERMUND & MEINIGER, 2004; SHOWERS & KLING, 1996). Ähnlich wie bei dem ganzheitlichen Fühlen aus 8.3g) sucht 112 • das Selbst mit unbestimmter Verhaltensform und -richtung nach einer besonders intelligenten und kreativen Lösung für die Bewältigung. → Bei A- wird wohl auch daher gleich die RH aktiviert: sie stellt das beste System zur langfristigen und wirksamen Bewältigung bereit. Funktionale Überkreuzungen: • Selbstzugang kann auch direkt durch A+ vermittelt werden, wenn in etwa die Aufsuchungsmotivation (KOOLE & JOSTMANN, 2004) die intrinsische Motivation einer Tätigkeit gestärkt werden kann (DECI & RYAN, 2000). • Bei besonders wichtigen Entscheidungen tauchen oftmals ambivalente und widersprüchliche Emotionen auf, weil es gilt Risiken o.ä. abzuwägen. Hier ist das Selbst mit beiden Verhaltensarten konfrontiert. Abb. 8.1 8.4. entfällt 8.5. Anwendung: Systemdiagnostik – Entwicklungsorientierte Persönlichkeitsdiagnostik – EOS a) Auf der Grundlage der sieben Systemebenen und der PSI-Theorie wird eine Persönlichkeitsdiagnostik errichtet, die i.U. zu klassischen Ansätzen umfassender ist und die für das Handeln und Selbstentwicklung relevanten Informationen erfasst. b) Beispiele für praktische Fragen, die mit dieser Persönlichkeitsdiagnostik bearbeitet werden können • Motivumsetzungstest – MUT • Erfassung der drei zentralen Motive auf Ebenen 1 und 6 • Messung des Ausmaßes, in dem die Person die drei Motive mit den vier psychischen Makrosystemen (→ IG & analytisches Denken, EG & integriertes Selbst, IVS und OES) umsetzt. Daraus resultieren 12 Skalen, unter denen drei Dominanzskalen sind. Diese Dominanzskalen geben die selbstbeurteilte Ausprägung der drei Motive an. • Operanter Motiv-Test – OMT • Erfassung vorbegrifflicher Motive und ihre Interaktion mit Affekten, sowie Selbststeuerungsstil → 7.3c) • Explizite Befindlichkeitsskalen – BEF • Erfassung von T+, T-, A+ und A- über von dem Probanden zu beurteilende Adjektive • Implizite Messung positiver und negativer Affekte – IPANAT • Erfassung der impliziten Stimmung mithilfe der Adjektive des BEF. Probanden sollen Wirkung der Wörter einer Kunstsprache mit den BEF Adjektiven bewerten (QUIRIN, KAZÉN & KUHL, 2007) • Persönlichkeits-Stil-und-Störungs-Inventar – PSSI • Misst kognitiv-emotionale Stile (wie misstrauisch, liebenswürdig, zurückhaltend, etc.) in Belastungssituationen. Zuordnung erfolgt per Einordnung klassischer Persönlichkeitsstörungen auf beide Temperament- und Affektdimensionen, sowie den vier Makrosystemen (KUHL & KAZÉN, 1997) • Selbststeuerungs-Inventar (SSI) • Erfasst 40 Teilfunkionen der Selbststeuerung, die sich den vier Makrosystemen zuordnen lassen (Selbstregulation, Selbstkontrolle, Willenshemmung und Selbsthemmung) (FRÖHLICH & KUHL, 2004). 113 9. Korrumpierungseffekt Auf jeder der sieben Systemebenen (Kapitel 1-7) wird der Korrumpierungseffekt unter den Aspekten der entsprechenden Systemebene beleuchtet. Es handelt sich bei dem Korrumpierungseffekt um den Verlust der intrinsischen Motivation beim Verrichten einer Tätigkeit, wenn eine extrinsische Motivation in Form einer Belohnung angekündigt und verabreicht wird. Die Belohnung senkt aber nur die intrinsische Motivation, wenn die auszuführende Tätigkeit gerne ausgeführt wird (wenn sie intrinsisch attraktiv ist) und eine materielle Belohnung angekündigt und verabreicht wird (CAMERON ET. AL., 2001). Die intrinsische Motivation wird nicht als Glücksempfinden angesehen. Vielmehr fließt (→ „Flow“ – 1.4.a)) sie aus dem Tätigkeitsvollzug, wenn dieser mit genügend Aktivierung einhergeht. Hier wird auf das Experiment mit leidenschaftlichen Kletterern verwiesen, die während der Hauptphase des Kletterns angaben, dass nicht das Glücksgefühl (→ positive Valenz), sondern die positive Aktivierung am höchsten war. Erst nach dem Klettern überwog das Glücksgefühl (AELLIG, 2004). 1. Gewohnheiten a) Erklärungsmodell mithilfe eines künstlichen neuronalen Netzwerkes • Die extrinsische Motivation wird als zusätzlicher Inputreiz betrachtet, der das Arbeiten des Netzwerkes durcheinander bringt. Da die Gewichtungen der Verbindungen, die ansonsten nur aufgabenrelevanten Output erzeugen, nicht auf den zusätzlichen Input abgestimmt sind, kommt es zu aufgabenirrelevantem Output (sprich: Reaktionen). → Dies senkt die Leistung und damit auch die Freude an der Tätigkeit. 2. Temperament a) Erklärung mithilfe von Überaktivierung • Die angekündigte Belohnung kann sowohl die sensorische Erregung als auch die motorische Aktivierung energetisieren. Die Erhöhung der motorischen Aktivierung lässt das Verhalten weniger gründlich werden – die Person wird so impulsiv, dass Kopplung der Objektwahrnehmung an die IVS verloren geht, was zur Folge hat, dass Fehler (= Objekte) nicht mehr vom Kontext abstrahiert erkannt werden können. → Verminderte Gründlichkeit senkt die Leistung. → Eine verminderte Leistung senkt die intrinsische Motivation. • Die Erhöhung der sensorischen Erregung senkt die Wahrnehmungsschwellen soweit ab, sodass alles, was mit der Belohnung zusammenhängt, besonders sensibel empfunden wird, was wiederum die intrinsische Motivation zerstören kann. • Übersteigt die Erregung noch ein kritisches Maß wirkt sich auch sie gerade bei Aufgaben, die exekutive Funktionen (→ Arbeitsgedächtnis) fordern, nachteilig auf die Leistung aus. b) Motivationsgesetz (YERKES & DODSON, 1908) • Motivation erhöht die Leistung bei leichten Aufgaben und senkt sie bei schwierigen → disordinale Wechselwirkung → experimentell bestätigt • Erklärungsversuch nach Hulls Theorie (→ 1.2c)) • SER = f SH R ⋅ D ⋅ K • Eine schwierige Aufgabe zeichnet sich dadurch aus, dass die Ausführungstendenz (SER), der man zum Lösen der Aufgabe nachgehen muss – in Relation zu den anderen Ausführungstendenzen – schwach ist. • Bei einer hohen Motivation (D) ist der Abstand zwischen konkurrierenden Ausführungstendenzen auch hoch, was es noch schwieriger macht die schwächere Ausführungstendenz auszuführen, da die Stärke der zu überwindenden Ausführungstendenzen noch größer wird. 114 3. Affekt und Anreizmotivation a) Häufigkeit des Auftretens • Die primäre Wirkung einer Belohnung ist Verstärkung. • Solange nicht höhere Ebenen der Motivation wie Motive oder Ziele an der Verhaltenssteuerung beteiligt sind, erwartet man die Korrumpierung des Verhaltens durch eine Belohnung nicht. • Die Auftretenshäufigkeit eines Phänomens ist für dessen Erklärung absolut irrelevant. Genauso wenig wie die Anzahl der Wassermoleküle in den Weltmeeren für die Entdeckung der thermodynamischen Gesetze verantwortlich ist, ist das Finden psychologischer Gesetzmäßigkeiten für die Erklärung des Korrumpierungseffekts auch von dessen Häufigkeit abhängig. b) Erklärungsversuch durch Bedürfniskongruenz • Ist das Verhalten durch Anreizmotivation bestimmt, verstärkt eine Belohnung die Motivation. • Ob die Anreizmotivation das Verhalten bestimmt, ist von dispositionellen und situativen Faktoren abhängig • dispositionell: Extravertierte haben einen starken Fokus auf Anreizobjekte (JUNG, 1936). • situativ: Korrumpierungseffekt tritt vor allem dann auf, wenn sich VP durch die Belohnung kontrolliert fühlen (DECI & RYAN, 2000). • Die Belohnung sollte daher so konzipiert sein, dass sie mit den Bedürfnissen der Person kompatibel ist. Dies stärkt das Gefühl der persönlichen Autonomie, da man sich besser mit Tätigkeiten identifizieren kann, die den eigenen Bedürfnissen entgegenkommen (DECI & RYAN, 2000). • Verletzt die Fremdkontrolle der extrinsischen Motivation das Bedürfnis nach freiheitlicher Selbstbestimmung, kann die extrinsische Motivation die intrinsische korrumpieren. In diesem Fall führt der wahrgenommene Fremdkontrollversuch zu einer Selbstkompatibilitätsprüfung, die zu dem Ergebnis kommt, dass das Verhalten nicht hinreichend selbstkongruent ist, was wiederum den Anreiz abschwächt. 4. Stressbewältigung und Regression a) Erklärung durch Verlust des Selbstkontakts Alle Faktoren, die die Top-down Steuerung abschwächen, können die intrinsische Motivation schwächen – je leichter eine Person in den regressiven Steuerungsmodus gebracht werden kann, desto stärker wirken Korrumpierungsbedingungen bei ihr. Das beruht darauf, dass Personen mit geringem Selbstkontakt wesentlich leichter vom persönlichen Sinn einer Tätigkeit abgelenkt werden können; sie werden beeinflussbar durch einzelne Anreizmomente, selbst wenn sie das persönliche Wertesystem verletzen. b) Wiedereinsetzen des Effekts extrinsischer Motivation Die psychischen Systeme, die die intrinsische Motivation speisen (→ Sinnstiftung, Selbstkongruenz, etc.), sind meist zumindest im Hintergrund aktiv. Unterhalb eines bestimmten Intensitätsniveaus für das Bewusstsein intrinsischer Motivation allerdings, passiert es, dass die extrinsische Motivation wieder die lerntheoretisch erwartbaren positiven Effekte zeigt (CAMERON ET AL., 2001) c) Erklärung durch Kontextblindheit Eine ausgeprägte Bottom-up-Steuerung könnte für den Korrumpierungseffekt verantwortlich sein, da die elementaren Ebenen der Verhaltenssteuerung relativ kontextblind sind. Der Fokus ist nur noch auf die Belohnung gerichtet und lässt die differenzierten Momente der Tätigkeit außer Acht. 5. Motive a) Erklärung durch Fremdbestimmung Wenn die Ausführung der Tätigkeit scheinbar nur der Bedürfnisbefriedigung eines anderen dient, kann sehr schnell Frustration aufkommen. Geht die Tätigkeit also an den vorherrschenden Bedürfnissen vorbei, kommt ein Gefühl der Fremdbestimmung auf. Unterstützt man hingegen durch eine extrinsische Motivation die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung einer Person wirkt man bedürfnisfreundlich und nicht bestimmend. b) Beispiel (LEPPER ET AL., 1973): Kinder, die sich in einem Kindergarten besonders häufig den Maltisch benutzten, sollten für die VL ein Bild malen und im Gegenzug eine Belohnung erhalten. Es war zu beobachten, dass diese Kinder mit der Zeit von selbst viel seltener an den Maltisch gingen. Malen kann das Leistungsmotiv – also das Bestreben in einem Tätigkeitsbereich die eigene Fähigkeit zu 115 entwickeln – anregen. Im Bezug auf Malen geht es beim Leistungsmotiv darum eine besonders schöne Zeichnung anzufertigen und nicht für irgendein gemaltes Bild eine Belohnung zu erhalten. Ähnliche Effekte sind beobachtbar, wenn Eltern das Kind lediglich fragen, ob die Hausaufgaben fertig sind und keinerlei Interesse an den inhaltsbezogenen Anreizmomenten des Kindes zeigen. c) Ändert man das obige Experiment ab, sodass Kinder für eine schönere Zeichnung auch eine schönere Belohnung erhalten, wird die Motivation nicht korrumpiert, sondern durch die Befriedigung eines Motivs verstärkt (BOGGIANO & RUBLE, 1979). 6. Sinn und Ziele a) Kausalattributionstheorie Menschen versuchen Bedingungen und Ursachen für Ereignisse auszumachen, indem sie viele Effekte (quasi abhängige Variablen) beobachten und darauf achten, bei welchen situativen, zeitlichen und dispositionellen Merkmalen (quasi unabhängige Variablen) sie auftreten (KELLEY, 1972). Man geht in etwa in seiner Freizeit einer bestimmten Tätigkeit nach, während gleichzeitig viele andere Menschen viele andere Tätigkeiten ausführen. Man schlussfolgert, dass diese bestimmte Tätigkeit etwas mit der eigenen Person zu tun hat und dass man eine intrinsische Vorliebe für sie entwickelt hat. b) Erklärung durch das Abwertungsprinzip Die Suche nach einer Ursache funktioniert häufig über das Schema mehrerer hinreichender Ursachen. Es besagt, dass es viele mögliche Ursachen für einen Effekt gibt, die jede für sich den Effekt verursachen können. Hat man die Ursache gefunden können alle anderen möglichen Ursachen abgewertet werden (→ discounting principle). Dieses Denkschema entspricht der binären Logik der LH, die nur zwischen wahr und falsch unterscheidet. Sucht man also nach der Ursache für eine Tätigkeit, der man gerade nachgeht und findet sie darin, dass man dafür belohnt wird, werden alle anderen Möglichkeiten abgewertet – auch die Möglichkeit, dass es einem in Wahrheit Freude bereitet. Die extrinsische Motivation wird als Ursache für das Verhalten angesehen und blendet die intrinsische Motivation aus. 7. Selbststeuerung a) Selbstkontrolle: rigide Fixierung auf das Ausführen der aktuellen bewussten Intention. Dazu werden hinderliche Gefühle, Gedanken und Handlungstendenzen ausgefiltert oder unterdrückt. b) Erklärung durch innere Diktatur Mit steigender Selbstkontrolle werden mehr und mehr Ablenkungsquellen, aber auch Anreizmomente, ausgeblendet. Letzteres ist mit der sinkenden emotionalen Beteiligung an der Handlungssteuerung zu erklären, die ihrerseits darauf zurückzuführen ist, dass die LH, die das zweckrationale Kontrolldenken unterstützt (LEVY & TREVARTHEN, 1976) nicht so stark an das ANS geknüpft ist, wie die RH (DAWSON & SCHELL, 1982). Wenn also für das Ausführen einer Tätigkeit extrinsische und intrinsische Motivation vorliegen, kann es passieren, dass eine Person mit starker Ich-Kontrolle durch die mangelnde emotionale Beteiligung die intrinsische Motivation nicht länger erkennt und die extrinsische Motivation nicht als Anreiz, sondern als Druckmittel o.ä. wahrnimmt, da die extrinsische Motivation als alleinige Ursache für die Handlungstendenz identifiziert wird (s.o.: Kausalattribution). 8. Zusammenfassung und Integration a) Wer hat recht? • Es gibt nach den Gesetzen des „intellektuellen Imperialismus“ keinen Sieger. Vielmehr dient die Betrachtung des Korrumpierungseffekts auf sieben Ebenen zur Verdeutlichung, dass die Trennung der Systemebenen nur zur vereinfachten Betrachtung dienlich ist. • Je nach dispositionellen und situativen Aspekten kann die Erklärung in einer bestimmten Systemebene gesucht werden, oder aus einer Wechselwirkung derselbigen hervorgehen. b) Neue Ursache: extrinsische Motivation stört Zusammenspiel der Systemebenen • Intrinsische Motivation kann verschwinden, auch wenn die Ursache keiner Systemebene eindeutig zugeschrieben werden kann. • Sobald die extrinsische Motivation eine Systemebene hervorhebt oder schmälert, gerät das Gleichgewicht des Ganzen durcheinander. Die Beteiligung anderer Teilsysteme wird dadurch reduziert oder verstärkt (Beispiel: man fühlt bei Fokussierung auf die Belohnung nicht länger die Vernetzung der Tätigkeit mit der Gesamtheit eigener Bedürfnisse, Werte und sinnstiftender Zusammenhänge). 116 10. Übersicht: Hemisphärenasymmetrie • • • • • • • • • 3.3 c) 4.2 e) 5.3 6.3 7.2c) 7.4f) 8.3f) 8.3h) 8.3h) : Unterschiede im Aufsuchungs- und Vermeidungsverhalten : Auslösen von Angstreaktionen : Unterschiede bei wirkungs- und erlebnisorientierten Motiven : Analytisches Denken der LH vs. holistisches Fühlen der RH : Funktionsmerkmale des Selbst mit der RH assoziiert : Geringer Erfolg der linkshemisphärischen und bewussten Affektunterdrückung : Hemisphärische Verankerung der Motive und des Selbstzugangs : A- aktiviert RH für selbstkonfrontative Bewältigung : LH reduziert Aufmerksamkeit auf Zielerreichung 117