SOUVENIRS - Oper Stuttgart

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In den begleitenden Pizzicato-Figuren klingen von fern Gitarren
an, eine Fülle ausgelassener Melodien signalisiert Lebensfreude:
Tschaikowskys Streichsextett beschwört die Erinnerung an einen
Aufenthalt in Florenz und durchsetzt sie mit Anklängen an die
russische Heimat. Der in vielen Stilen gewandte Alfred Schnittke
erinnert sich in seinem Streichtrio an seine eigenen Jahre in Wien.
Tänzerisches, Melancholisches und Pathetisches durchweht die
Musik, die auch mit stilistisch fremden Welten wie einem Tango
oder einer frühbarocken Pavane überrascht. Solche Einstrahlungen sind Gubaidulina fremd. »Außen ist jetzt alles unsympathisch«,
sagt sie und widmet sich in ihrem Duo für Cello und Akkordeon
einer Meditation über die Figur des Kreuzes.
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3. KAMMERKONZERT
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Ein Höhepunkt der aktuellen Stuttgarter Opernspielzeit ist die Neuinszenierung
von Edison Denisovs Der Schaum der Tage – Anlass für das Staatsorchester,
Denisov auch seinerseits in seinen Konzertreihen zu würdigen durch Aufführungen vokal-instrumentaler Kammermusik und des Saxophon-Konzertes. Das
heutige Programm bietet nun Gelegenheit, die andern beiden Mitglieder der
sogenannten »Moskauer Troika« kennenzulernen. Die Generationsgenossen
Sofia Gubaidulina (* 1931) und Alfred Schnittke (* 1934) waren neben Denisov
(* 1929) die Komponisten, die zur Zeit der im Zwangskorsett der Doktrin vom
Sozialistischen Realismus eingeschnürten Künste gegen alle Widerstände den
Aufbruch zu neuen Ufern wagten. Ihnen ist es wesentlich zu verdanken, dass
die Stimme Russlands im Konzert der neuen Musik damals nicht verstummte.
Für alle drei Komponisten spielen Auslands- und /oder Exil-Erfahrungen
eine Rolle. Gubaidulina und Schnittke – wie viele Künstler und Intellektuelle
zogen sie sich aus einem Land zurück, das die eigene Bevölkerung kolonisiert
hatte, und emigrierten nach Deutschland. Schnittke starb 1998 in Hamburg,
Gubaidulina lebt seit 1992 in der Nähe dieser Stadt. Und beide konvertierten:
Gubaidulina empfing als Erwachsene die orthodoxe Taufe, Schnittke, Sohn eines
areligiösen deutsch-jüdischen Vaters, trat zum Katholizismus über. Das Eingedenken ihres Schaffens betrifft so nicht zuletzt die von den Sowjets gewaltsam
unterdrückten spirituellen Bindungen der russischen Kultur. So erinnert sich
Sofia Gubaidulina an das Erschrecken ihrer Eltern über die erwachende Religiosität ihrer Tochter. Im heutigen Konzert nimmt der dem Trivialen in Hassliebe verhaftete Schnittke zudem so etwas wie eine vermittelnde Position ein
zwischen der meditativen Versenkung Gubaidulinas und der diesseitigen
Emotionalität Tschaikowskys (1840 – 1893).
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Das Werk ist wie viele Werke dieser Komponistin eine Darstellung der Wechselwirkung von Polaritäten, ihrer Durchdringung und Auflösung, Sinnbilder des
menschlichen Daseins zwischen »Erdverbundenheit« und »himmlischem Streben«. Komponiert ist es ursprünglich für Cello und Orgel. Es entstand innerhalb
von 26 Tagen für ein Konzert des Cellisten und Widmungsträgers Wladimir Toncha in Kasan. Im Konzertsaal des dortigen Konservatoriums, dessen Studentin
die Komponistin von 1949 bis 1954 gewesen war, wurde es am 27. März 1979
uraufgeführt, den Orgelpart gestaltete Rubin Abdullin. Dieser erinnert sich:
»Mit zwei Worten hatte Sofia uns das Werk erklärt: In croce [ital. am Kreuz]!«
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Dieser Titel bezieht sich nicht nur auf den Wesensgehalt, sondern bestimmt
auch die Satzstruktur des Werkes, wie Viktor Suslin erläutert. Während die
Orgel zu Beginn in hoher Lage und das Cello äußerst tief zu spielen hat, kommen sie im Verlauf immer mehr aufeinander zu und »kreuzen« sich: »Wann
immer beide Linien sich kreuzen, kommt es zu einem Höhepunkt – gleich einer
elektrischen Entladung.« Suslin macht darauf aufmerksam, dass beide Instrumente den Orgelpunkt E zum gemeinsamen Ausgangspunkt haben; man vergleiche aber »die quälenden, durch grelle Akzente, Chromatismen und Mikrointervalle gekennzeichneten Versuche des Cellos, sich von diesem zu lösen, mit
den fröhlich-flimmernden Figurationen des Orgelpunktes in der Orgel. … Es ist
von tiefer Symbolik, wenn in der Coda das Cello sein qualvolles, einer menschlichen Stimme ähnliches Spiel aufgibt und sich die ätherisch-verklärten Figurationen über dem Orgelpunkt E zu eigen macht, die zu Beginn von der Orgel zu
hören waren. Diese lösen sich schließlich in den irisierenden Klängen der Obertonreihe der A-Seite auf.« Auch die symbolische Verwendung des Cello-Stegs
als Grenze zwischen Diesseits und Jenseits und seine »Überkreuzung« wird
zur Metapher für den außermusikalischen Gehalt dieser Meditation. Der Orgelpart von In croce wurde von der Bajan-Virtuosin und »von mir [Gubaidulina]
hochgeschätzten großen Künstlerin« Elsbeth Moser für ihr Instrument transkribiert. Das Bajan ist ein Proletarierinstrument von eher zweifelhaftem Ruf.
Es handelt sich um das – nach einem altrussischen Märchen benannte – osteuropäische Knopfgriffakkordeon. Es soll von Weißrussland bis nach Sibirien
auf keiner Hochzeit, keinem Dorffest fehlen. Gubaidulina hat es in mittlerweile
zahlreichen Originalkompositionen für sich entdeckt. Auf die Frage »Wissen
Sie warum ich dieses Instrument so liebe?« bekannte sie: »Weil es atmet …«
Gubaidulinas In croce-Konzept erfährt so eine weitere Verkehrung oder auch …
Kreuzung. Die Orgel hatte sich Rubin Abdullin »in der gegebenen Kombination
als mächtigen Geist« vorgestellt, »der manchmal auf die Erde hinabsteigt, um
seinen Zorn auszubreiten.« Anders als der Luftstrom der Orgel ist der Atem des
Bajan an die Physis des Menschen gebunden, und verbindet so wie der Wind
Himmel und Erde. Gubaidulinas Biograph Michael Kurtz hat geschildert, wie es
das talentierte und schwungvolle Spiel Schurka-Duraks (Schurka des Dummkopfs), eines geistig Zurückgebliebenen, auf diesem Instrument war, das zur Entdeckung des musikalischen Talents der knapp fünfjährigen, damals Sonetchka
gerufenen Sofia führte, die den Klängen zunächst verzaubert gelauscht und
dann zu tanzen begonnen hatte.
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3. K AMMERKONZERT
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Auf die Frage, ob er mit dem Klangmaterial als solchem arbeite, antwortete
Schnittke 1982: »Nein, nein. Mit der Form und besonders mit vieldimensionalen
Beziehungen. Um die Vieldeutigkeit der Beziehungen handelt es sich – also
nicht um die Neuartigkeit des Moments. Das gesamte Netz der Beziehungen,
das ist für mich das wichtigste.« Und immer wieder hat Schnittke betont, erst
mit seiner Befreiung vom abstrakten Materialdenken des Serialismus und
durch seine Öffnung für die Vielfalt musikalischer Sprachen habe er zu seiner
eigenen Sprache gefunden. Ein nur scheinbares Paradox, denn für Schnittke
strukturieren sich die uns chaotisch umgebenden Stile und Genres als Momente
intimer existentieller Erfahrung. So hat er auch die poly-stilistische Ausrichtung seines Schaffens stets in den Zusammenhang seiner ›Poly-Identität‹ als
deutsch-jüdischer, 1990 emigrierter Russe gestellt.
Das 1985 entstandene Streichtrio ist ein beeindruckender Beleg für die vielfältigen kaleidoskopartig-gebrochenen Spiegelungen, in denen Schnittke sein
Material reflektiert. Schnittke schrieb das Werk im Auftrag der Alban Berg Stiftung anlässlich des 100. Geburtstags des Komponisten. Und es ist gleichsam
imprägniert von dem musikalischen Gedächtnis dieser Stadt und an diese
Stadt, in der der zwölfjährige Schnittke seinen ersten Klavierunterricht erhielt.
Wir werden Zeugen einer Meditation über Klangspuren Schuberts, Mahlers und
Bergs. Es ist ein Thema, nein, nicht einmal ein Themenkopf, nur ein kleines
Motiv, das in dem zweisätzigen Werk die wunderlichsten Metamorphosen erfährt.
Es ist schwer zu bestimmen, ob es eher einem Ländler oder einem Trauermarsch entstammt. Zusammen mit einer begrenzten Zahl thematischer Bausteine wird es zum Objekt wechselnder resignativer, schwelgerischer oder
aggressiver Affekte. In immer neuen Ansätzen wird es beleuchtet, variiert,
montiert, collagiert, forciert und demoliert. Beide Sätze – das zerrissene Moderato und das abgekämpft-abgeklärte Adagio – bearbeiten den selben motivischen
Kernbestand. Auch eine an die Minimalmusic erinnernde ›mahlende‹ Dreiklangspassage begegnet in beiden Sätzen. Allerdings treten aus der Erschöpfung des
zweiten Satzes zwei neue Gestalten hervor: zunächst ein ›non vibrato‹ zu spielender Marsch aus über leeren Quinten sequenzierten Dreiklangs- und Tonleiterfragmenten. Dann lässt das Cello im Flageolett das ferne Echo einer Fanfare
erklingen. Ein Gruß von »wo die schönen Trompeten blasen«?
Mit diesem Werk tritt ein bohrender Ernst und Einsamkeitsgestus aus dem
Hintergrund der augenzwinkernden Heiterkeit, mit der Schnittke mitunter mit
den unterschiedlichsten Stilzitaten zu jonglieren wusste. Entstanden ist es kurz
vor der Zäsur seines ersten schweren Schlaganfalls. Der befreundete Geigenvirtuose Gidon Kremer meint, im Trio sei die Krankheit bereits zu spüren ehe
sie ausbrach, denn ihm sei die »Läuterung eigen, die manchmal nach überstandener Krankheit eintritt.« Dieses Trio bleibe für ihn »die Quintessenz seiner
[Schnittkes] ganzen qualvollen Suche nach jener überirdischen Kraft, die die
irdische Schwerkraft hätte überwinden können.«
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»Was für eine herrliche Formation ist doch ein Streichsextett«, begeisterte sich
Tschaikowsky in einem Brief an den Geiger Konstantin Albrecht, dem Präsidenten
der St. Petersburger Kammermusikgesellschaft, der er sein Werk gewidmet
hatte. Und dem Bruder Modest gegenüber bekannte er: »Ganz schrecklich, wie
zufrieden ich mit mir bin … ich bin immer mehr davon gefangen.« Diese Euphorie
entlohnte den Komponisten erst am Ende eines langen und krisenreichen Entstehungsprozesses. Während der Arbeit schrieb er dem Bruder: »Ich komponiere mit unglaublichen Schwierigkeiten. Mich blockiert nicht das Fehlen von
Ideen sondern die Neuheit der Form. Es müssen sechs voneinander unabhängige und doch homogene Stimmen sein.« Bei der Uraufführung am 7. und einer
Wiederholung am 10. Dezember 1890 befriedigten den Komponisten nur die
ersten beiden Sätze. Die definitive Werkgestalt ist Resultat einer weiteren Überarbeitung, die zwei Jahre später, ebenfalls in Petersburg, präsentiert wurde.
Worauf bezieht sich der Titel des Werkes? Tschaikowsky hatte nach der
erfolgreichen Premiere seines Dornröschen-Balletts zu Beginn des Jahres 1890
Russland verlassen und war ohne ein bestimmtes Ziel nach Westeuropa gereist. In Berlin entschied er, nach Florenz zu gehen, wo er am 30. Januar eintraf.
Wie immer nutze Tschaikowsky seinen Erholungsaufenthalt zur Arbeit an seiner
nächsten Oper. Als er die Stadt am 7. April wieder verließ, hatte er die Pique
Dame als fertigen Klavierauszug im Gepäck. Das Sextett entstand dann im
Sommer des Jahres in seinem ländlichen Anwesen Frolowskoe in der Moskauer Provinz. In Florenz hatte Tschaikowsky keine unbeschwerte Zeit durchlebt. Er litt unter Depressionen und selbst der euphorische Rauschzustand,
in den ihn die Arbeit an der Oper versetzt hatte, war nicht frei von selbstquälerischen Zügen. Das schlechte Wetter setzte ihm zu, es regnete unaufhörlich, und der Arno, der vor den Fenstern seines Quartiers vorbei floss, war
gefährlich angeschwollen.
Ob diese Erinnerung den stürmischen ersten Satz seines Sextetts mit gestaltet hat? Ohne Präliminarien setzt er ein mit einem dissonanten NonenAkkord auf der Dominante, und diese harmonische Spannung verleiht seinem
ersten Thema ein entfesseltes, mitreißendes Momentum. Auch das zweite,
lyrische Thema in chromatisiertem A-Dur, das die 1. Geige ans 1. Cello weiterreicht, bleibt von einem nervösen, rhythmisch bewegten Untergrund durchpulst. Beide Tendenzen – die Rhythmik des ersten und die Kantabilität des
zweiten Themas – tragen eine modulationsreiche Durchführung aus. Die Reprise gipfelt in einem grandiosen Accelerando, das alle thematischen Bildungen
fortzuspülen scheint. Der ganze Satz ist, so Tschaikowsky, »mit einem hohen
Maß an Leidenschaft und Schwung zu spielen.«
Der zweite Satz ist ein Adagio. Seine Kantabilität ist immer schon als Hommage an das Land des Belcanto verstanden worden. Zu Beginn sowie als Klimax
der zweimaligen Entfaltung der Melodie setzt Tschaikowsky eine Sequenz choralartig harmonisierter Akkorde. Ein rätselhaft-huschender Zwischensatz steht in
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stärkstem koloristischem Kontrast. Die Geige exponiert ihre schwelgerisch»trällernde« Linie (Tschaikowsky) über gezupften Triolen der 2. Geige und der
beiden Bratschen, ein charakteristisches Satzmuster der italienischen Gesangsoper. Und weniger die Melodie selbst, die unverwechselbar Tschaikowsky angehört, als die Art, wie diese Melodie vom Cello zunächst beantwortet und dann
aufgegriffen wird und wie sie vor allem dann von den Duettpartnern gleichsam
mit Koloraturen ausgeziert wird, gemahnt an den Stil der Belcantisten – vielleicht als Reminiszenz an eine Aufführung von Bellinis I Puritani in der florentiner Oper, deren Besuch durch Tschaikowsky bezeugt ist? Oder sublimiert
Tschaikowsky hier die Faszination zweier jugendlicher Straßensänger, die ihren
Gesang, der ihm »in die tiefste Herzenstiefe eingedrungen« war, auf Gitarre
oder Mandoline selbst begleiteten?
Der 1. Bratsche, der die Melodie des zweiten Satzes als letzte zugespielt
worden war, gehört zunächst auch das Thema des dritten, eines Allegrettos. In
Duktus, Harmonisierung und nicht zuletzt auch in seiner Melancholie mutet
es durchaus slawisch an. Auch hier ein kontrastierender Zwischensatz, der
als burleskes Stretta-Thema einer Rossini-Oper figurieren könnte.
Der letzte Satz ist nicht nur durch sein rhythmisches Feuer bemerkenswert.
Seine außerordentliche Energie verdankt sich nicht zuletzt auch dem durchmessenen harmonischen Parcours: Der Satz und mit ihm die gesamte Komposition endet in jubelndem D-Dur. Dennoch: Auch dieses Finale kann jene
»innere Heimatlosigkeit« Tschaikowskys, von der der große Musikkritiker
Alexander Berrsche einmal sprach, und die auch dieses Werk durchweht hat,
kaum ganz vergessen machen.
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