Spuren des Handwerks – Der Einfluss - ETH E

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Diss. ETH Nr. 23708
Spuren des
Handwerks
Der Einfluss handwerklicher
Herstellung auf die
Architektur
Uli Matthias Herres
DISS. ETH Nr. 23708
SPUREN DES HANDWERKS:
DER EINFLUSS HANDWERKLICHER HERSTELLUNG AUF
DIE ARCHITEKTUR
Abhandlung zur Erlangung des Titels
DOKTOR DER WISSENSCHAFTEN der ETH ZÜRICH
(Dr. sc. ETH Zürich)
vorgelegt von
ULI MATTHIAS HERRES
Dipl. Ing. TU Kaiserslautern
geboren am 01.06.1979
von
Wittlich, Deutschland
angenommen auf Antrag von
Prof. Annette Spiro, ETH Zürich (Referentin)
Prof. Dieter Geissbühler, HSLU – T&A (Korreferent)
Prof. Tina Unruh, HSLU – T&A (Korreferentin)
2016
Inhaltsverzeichnis
Abstract6
I EINFÜHRUNG
1. Ziele9
2. Fragestellung10
3. Ausgangslage12
Bezugssystem12
Forschungsgegenstand 13
Wissenschaftliche Lücke15
Begriffe20
4. Methode – Eine Theorie des Bauens
25
Bauforschung und Spurensuche25
Thesen27
Analyse27
Auswahl der Fallbeispiele30
Synthese30
Die empirische Komponente31
5. David Pyes „ The Nature and Art of Workmanship“
34
Freie und regulierte Umsetzung34
Diversität35
Arts and Crafts? Pyes Kritik an John Ruskin
35
6. Exkurs: Spezifika des Zimmererhandwerks
38
Abgrenzungen38
Werkzeuge38
Organisation44
Material46
2
II BAUHANDWERK
1. Drei Thesen zum handwerklichen Arbeitsschritt
51
These 1: Können und Wissen51
These 2: Menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material (Risiko)
58
These 3: Angemessenheit63
2. Thesen: Die Fertigungsweisen in der Architektur
72
Handwerkliches Bauen72
Qualifizierte manuelle Fertigung 74
Manuelle Fertigung75
Determinierte Fertigung75
Bricolage75
Exkurs: Meta-Handwerk76
Übersicht der Fertigungsweisen77
3. Thesen: Bauprozesse
78
Der handwerkliche Bauprozess78
Fragmentierter Prozess: Manufaktur und Industrie 79
III DIE FALLBEISPIELE
1. Indikatoren als Hinweise auf die Thesen am Gebäude
81
Inkrementelle und direkte Arbeitsweise 81
Indikator 1: Art des Vorkommens von Spuren82
Indikator 2: Spuren situativen Reagierens82
Indikator 3: Iterativer Prozess83
Analyse der Fallbeispiele83
2. Hochstudhaus in Birrwil: Analyse Der Empirisch entwickelt Typus: Das Hochstudhaus in Birrwil
85
90
Rahmenbedingungen Fertigungsweisen
Prozess
Ausdruck der Fertigung
3
3. Hotzenhaus: Analyse99
Nachhaltigkeit als Ziel: Das Hotzenhaus106
4. Totenstube: Analyse115
Das Dorf weiterbauen: Die Totenstube 119
5. Ferienheim Büttenhardt: Analyse129
Das konkrete Material: Ferienheim Büttenhardt
134
6. Neue Monte-Rosa-Hütte: Analyse143
Autark bauen: Neue Monte-Rosa-Hütte
148
7. Tamedia-Gebäude: Analyse
155
Holz stecken: Das Tamedia-Gebäude 159
IV SPUREN
1. Synthese: Handwerkliches Bauen
169
Können und Wissen im Handwerk169
Direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material
176
Angemessenheit178
2. Synthese: Handwerkliche Prozesse
183
Indikator 2: Spuren situativen Reagierens183
Indikator 3: Iterativer Prozess185
Relatives vs. Absolutes Masssystem187
Material-Effizienz
188
Effizienz im Prozess
190
Induktiver vs. Deduktiver Prozess192
Pragmatik193
Strategien: Prozessvorgabe mit Unschärfe193
3. Synthese: Eigenheiten handwerklicher Bauwerke
196
Physische Eigenschaften196
Konnotative Eigenschaften 204
Selbstverständlichkeit219
Symmetria220
4
V FAZIT
1. Handwerk in der Architektur
223
223
Definition
Abstufungen223
Bedeutung224
2. Der handwerkliche Bauprozess
226
226
Definitionen
Bedeutung handwerklicher Prozesse227
3. Handwerk und Bauwerk
229
Objektive Eigenschaften von Bauwerken229
Konnotationen232
4. Ausblick234
ANHANG
237
Daten der untersuchten Fallbeispiele238
Literatur240
Bildnachweis244
Dank245
5
Abstract
Technical innovation seems to have a great impact on the way architecture is constructed. Alternatives to craftsmanship as a means of production of architecture have become common. This can
affect the built environment as well.
Precise knowledge of the crafted production of architecture can help to understand these current
transformations. Thus, this study of the physical fabrication of architecture focuses on craftsmanship.
It is a major challenge that no distinct definition of the notion of «Handwerk» applicable for the
field of architecture exists. Moreover, the term is connected to different connotations, positive as
well as negative. Although some important examinations of the topic could be integrated into this
work, it was not possible to apply them to the field of architecture directly and without reservations.
Based on the discussion of existing definitions, the study at hand proposes three theses do distinguish crafted construction (‹Handwerkliches Bauen›): Firstly it is based on a specific combination of explicit and implicit knowledge. Secondly it includes direct physical interaction of the
executor with the material. Thirdly it is not valued by absolute criteria, but by the relative balance
between effort and result, the ‹adequacy› (‹Angemessenheit›).
Steps performed by crafted construction can be incorporated into the overall process in different
ways. A description of the characteristics of crafted building processes makes it possible to include the collective nature of building. The fundamental difference between crafted and fragmented construction lies in the way knowledge and responsibility are distributed among the people
involved in the process.
Six exemplary buildings serve as the primary sources to verify the theses. The work focuses on
the carpentry trade. Traces of production found on the buildings serve as indicators and allow
conclusions about their fabrication. The analyses of the case study buildings form the core of
the work. They make it possible to illustrate direct or indirect correlations between the physical
production and distinct features of the built architecture.
Crafted construction can induce certain technical properties of the construction itself. Moreover,
specific formal characteristics can emerge from the building process, which itself can affect the
perception of buildings. An expression of crafted construction can be used as an architectural
tool.
The peculiarities of crafted construction processes enable the use and re-use of concrete materials, the working with particular situations, and repairs. In an overall view, craftsmanship in
architecture can help to provide solutions for up-to-date problems.
6
Zusammenfassung
Neue technischen Lösungen scheinen das Bauen stark zu verändern: Das Handwerk als Fertigungsweise der Architektur hat heute allgemein verfügbare Alternativen bekommen, was sich
potentiell auch in der gebauten Umwelt manifestiert.
Die genaue Kenntnis handwerkliche Fertigung in der Architektur hilft dabei, diese potentiellen
Veränderungen des Bauens zu verstehen. Die vorliegende Untersuchung der physischen Erstellung von Architektur nimmt diese Fertigungsweise in den Fokus.
Eine grosse Herausforderung ist, dass keine für die Architektur gültige, eindeutige Definition von
Handwerk besteht. Dazu ist der Begriff mit verschiedenen positiven wie negativen Konnotationen
belegt. Obwohl auf wichtige, bestehende Betrachtungen des Handwerks zurückgegriffen werden
konnte, sind diese nicht direkt auf die Architektur zu übertragen. Basierend auf einer Erörterung
dieser Definitionen schlägt diese Arbeit drei Thesen zur Abgrenzung handwerklichen Bauens
vor: Handwerk beruht erstens auf einer spezifischen Kombination aus explizitem und implizitem
Wissen. Zweitens schliesst es die direkte Interaktion mit dem zu bearbeitenden Material durch die
Ausführenden ein. Drittens wirken bei seiner Beurteilung nicht absolute Kriterien, sondern die
Angemessenheit als das relative Abwägen von Aufwand und Ergebnis.
Handwerkliche Arbeitsschritte können auf verschiedene Arten in Bauprozesse eingebunden
werden. Eine Beschreibung der Besonderheiten des handwerklichen Bauprozesses erlaubt, den
kollektiven Charakter des Bauens abzubilden. Der fundamentale Unterschied zwischen einem
handwerklichen und einem fragmentierten Bauprozess liegt in der Art und Weise, wie Wissen und
Verantwortung im Prozess verteilt sind.
Als Primärquellen, an denen die Thesen geprüft werden, dienen beispielhafte Bauwerke. Die
Arbeit fokussiert dabei auf dem Zimmererhandwerk. Die Spuren der Fertigung an den Bauwerken dienen als Indikatoren, die Rückschlüsse über den Bauprozess ermöglichen. Die Analyse der
Bauten erlaubt es, direkte und potentielle Zusammenhänge zwischen der physischen Fertigung
und der gebauten Architektur aufzuzeigen.
Durch die handwerkliche Fertigung können bestimmte technische Eigenschaften der Konstruktion entstehen. Auch spezifische formale Eigenschaften von Gebäuden sind möglich, die wiederum
Auswirkungen auf deren Wahrnehmung haben. Ein handwerklicher Ausdruck kann unter bestimmten Voraussetzungen als architektonisches Instrument genutzt werden.
Die Besonderheiten handwerklicher Prozesse ermöglichen schliesslich das Arbeiten mit konkreten Situationen. Beispiele dafür sind das Reparieren und das Arbeiten mit wiederverwendeten
Materialien.
Im grösseren Zusammenhang betrachtet, kann Handwerk im Bauen zur Lösung aktueller Fragestellungen beitragen.
7
Schwelle seitlich des Tenntores, Hochstudhaus
8
I Einführung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Fertigung von Architektur und nimmt dabei das Handwerk
in den Fokus. Bereits am Anfang der Auseinandersetzung stellte sich heraus, dass dies ein
Problem einschliesst: Obwohl Handwerk eine wichtige Fertigungsweise der Architektur ist und
lange Zeit die vorherrschende war, versteht doch jeder unter diesem Begriff etwas anderes.
Handwerk kann in der Sozialgeschichte völlig anders definiert sein als in der Technikgeschichte,
der Kunst- oder Designtheorie oder der Soziologie. Noch schwieriger scheint aber, dass der
Begriff mit Konnotationen überlagert ist, die von Romantik, Rückwärtsgewandtheit, Atavismus
und Luddismus bis hin zu Überhöhung, Heroisierung und Idealisierung reichen.
Die Architektur als Disziplin bietet eine Lösung dafür, den Begriff mit der nötigen Objektivität
zu behandeln: Das physische Bauwerk als die Primärquelle zu betrachten, um Schlüsse über
Handwerk als seine Fertigungsweise ziehen zu können. Die Spuren der Fertigung sind dabei
die Vehikel. Die Methoden der Bauforschung und der Analyse von Bauten wird ergänzt durch
die Erörterung theoretischer Positionen, welche in den architektonischen Kontext eingeordnet
werden.
1.Ziele
Das erste Ziel ist eine Definition von Handwerk in der Architektur. Weiterhin sollen Aussagen
darüber getroffen werden, wie diese Fertigungsweise das Bauwerk beeinflussen kann.
Schliesslich soll Handwerk in der theoretischen Diskussion sichtbar gemacht werden.
Obwohl Handwerk bis in unsere Zeit eine wichtige Komponente des Bauprozesses ist, findet es
in der zeitgenössischen Architektur wenig Beachtung. Die vorliegende Arbeit soll handwerkliche
Fertigung im grösseren Kontext anschauen und so Diskussionen über aktuelle Möglichkeiten
des Bauens, die oft auf hochtechnischen Lösungen fokussieren, durch einen Perspektivwechsel
ergänzen.
9
Im Zentrum steht dabei eine zeitgenössische Definition für die handwerkliche Herstellung von
Architektur. Sie kann anhand der Analyse gebauter Fallbeispiele überprüft werden. Auf dieser
Grundlage sind Aussagen möglich, wie eine solche Fertigungsweise das Bauen beeinflussen
und ‹Spuren hinterlassen› kann. Diese Erkenntnisse können dabei helfen, die Auswirkungen
technischer Entwicklungen auf die gebaute Umwelt besser einzuschätzen.
Ich glaube nicht, dass – im Sinne von Plinius` Ausdruck des ‹artifex nisi›1 – nur ein Künstler
den Künstler oder ein Handwerker den Handwerker beurteilen kann. Doch zur richtigen
Einordnung einer Fertigungsweise wie des Handwerks ist ein gewisses Mass an Kenntnis
nötig. Eine Motivation für diese Betrachtung ist es daher, dem Bereich der handwerklichen
Fertigung in den gegenwärtigen Diskussionen mehr Gewicht zu verleihen. Die Perspektive auf
die Entwicklung der Architektur kann so über rein technische Entwicklungen hinaus geöffnet
werden.
Die Untersuchung des Handwerks bedeutet dabei auch den Versuch einer Versprachlichung von
nicht vollständig zu versprachlichenden Phänomenen. Hannah Arendt schrieb in «Vita Activa»:
«Sofern wir im Plural existieren, und das heisst, sofern wir in dieser Welt leben, uns bewegen
und handeln, hat nur das Sinn, worüber wir miteinander oder wohl auch mit uns selbst sprechen
können, was im Sprechen einen Sinn ergibt.»2 Wenn diese Arbeit einen Teil der Phänomene des
Handwerks einem weiteren Kreis innerhalb der zeitgenössischen Architektur erschliessen und
damit eine konstruktive Diskussion unterstützen kann, wäre das ein grosser Erfolg.
2.Fragestellung
Die Arbeit betrachtet die Spuren der Herstellung von Gebäuden. Dabei steht der Zusammenhang
zwischen Fertigung und Bauwerk im Mittelpunkt.
Spuren sind physische Anzeichen für einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang.3 Alle
Merkmale eines Bauwerks, aus denen ein Betrachter Rückschlüsse auf die Herstellung ziehen
kann, sind Spuren der Herstellung. Sie sind also nicht auf reine Werkzeugspuren beschränkt und
können auch strukturelle Merkmale auf Gebäudemassstab einschliessen. Um bei der Betrachtung
1
Plinius, G. (o. J.). Epistulae 01, 10. «Ut enim de pictore, scalptore, fictore nisi artifex iudicare, ita nisi
sapiens non potest perspicere sapientem». «Denn wie über einen Maler, einen Gemmenschneider, einen Bildhauer
nur ein Künstler urteilen kann, so kann auch nur ein Weiser einem Weisen ganz gerecht werden».
2
Arendt 1960, S.12
3
Duden: «Spuren: [...] von einer äusseren Einwirkung zeugende (sichtbare) Veränderung an etwas,
Anzeichen für einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang, Zustand».
10
des Handwerks klar das Objekt der Herstellung, das Bauwerk, anstatt die Herstellenden als
Subjekt fokussieren zu können, soll die gebaute Architektur als Primärquelle dienen.
Im Verlauf dieser Betrachtung untersuche ich die Spuren des Bauprozesses an bestehenden
Gebäuden. Der Fokus liegt auf dem Zimmererhandwerk. Auf der Grundlage der vorgeschlagenen
Definition von Bauhandwerk ermöglichen die Spuren Rückschlüsse über die Besonderheiten der
Fertigung. Wo liegen handwerkliche Arbeitsschritte vor? Wie lässt sich handwerkliche Fertigung
von anderen Herstellungsweisen unterscheiden? Gibt es so etwas wie einen ‹handwerklichen
Bauprozess›?
Durch den Fokus auf die Spuren kann auch die Rolle der Fertigung für das physische Bauwerk
selbst hinterfragt werden: Welche potentielle Rolle spielt diese für die gebaute Architektur?
Wie sehen die Spuren handwerklicher Fertigung am Gebäude aus? Welche Eigenschaften der
Architektur entstehen auf diese Weise? Es würde dabei zu kurz greifen, die Auswirkungen der
Fertigung auf physische Merkmale, wie sie durch Werkzeuge und Techniken entstehen, zu
reduzieren. Bleiben letztlich am Bauwerk sogar nicht-physische Spuren, also solche, die auf dem
Wissen der Betrachter um die Art der Herstellung beruhen? Dies kann ermittelt werden, wenn
Eigenschaften am Bauwerk gesucht werden, welche eine Identifikation des Betrachters mit dem
Bauwerk erst möglich machen.
Diese Profile in Stuck sind
zugleich direkte Spuren eines
Fertigungsprozesses und eines
Werkzeuges.
11
3.Ausgangslage
Bezugssystem
Diese Arbeit bewegt sich in einem architektonischen Kontext. Sie ist insofern
geisteswissenschaftlich, als es um eine Theoriebildung des physischen Erstellens von Architektur
geht. Die Begriffe ‹Entwurf›, ‹Ausführung›, ‹Bauwerk› und ‹Konstruktion› werden eingeführt.
Die Untersuchung der Fertigung ist ein Mittel, das Gebäude als dessen Werk selbst besser
zu verstehen. Es geht nicht um eine soziologische Sichtweise, die Handwerker und die
Begleitumstände ihres Schaffens in den Mittelpunkt stellt. Die Ausführenden können nur
insofern berücksichtigt werden, als dass ihre persönlichen Eigenschaften Teil der handwerklichen
Fertigung sind und folglich auch eine Auswirkung auf das Gebäude haben können.
Ebenso wenig ist dies eine historische Arbeit. Eine Periodisierung wird nicht angestrebt. Diese
könnte auch eine Wertung einschliessen, indem zwischen ‹fortschrittlichen› oder ‹obsoleten›
Arbeitsweisen unterschieden wird oder Fertigungsweisen unausgesprochen als Schritte in
einer Entwicklung betrachtet werden.4 Eine solche Sichtweise würde in dieser Betrachtung
den objektiven Blick auf die Fertigungsweisen von Anfang an erschweren. Ergänzend zu
Periodisierungen soll hier das Augenmerk auf kontinuierliche Phänomene gerichtet werden.
Dementsprechend möchte ich auch nicht von vorneherein davon ausgehen, dass es eine Epoche
des Handwerks gab oder gibt. Technische Entwicklungen werden keineswegs negiert: vielmehr
sollen die untersuchten Bauwerke selbst Auskunft geben, wo handwerkliche Fertigung bei ihrer
Erstellung zum Einsatz kam.
Der Bau des Hochstudhauses in Birrwil aus dem späten 17. Jahrhundert als des ältesten der
untersuchten Fallbeispiele wird ebenso betrachtet wie der des 2013 fertiggestellten TamediaGebäudes in Zürich. Das Ziel ist, die Gemeinsamkeiten bestimmter Vorgehensweisen benennen
zu können, ohne die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu verleugnen. Durch die
Untersuchung nicht-zeitgenössischer Beispiele ist eine Überschneidung der Methoden mit
solchen der Geschichtswissenschaft oder der Bauforschung nicht zu vermeiden. Jedoch ist die
Fragestellung und die hypothetische Ausgangslage eine andere.
Einige wichtige Begriffe sollen an dieser Stelle kurz eingeführt werden.
Der ‹architektonische Entwurf› ist die Vorgabe, wie ein Gebäude beschaffen sein soll. Er
gibt ein Ziel vor, dem sich in der Ausführungsphase angenähert wird. Auch der Grad dieser
4
12
Dies ist beispielsweise der Fall in der Periodisierung von Dolezalek & Ropohl 1967, S. 636 – 640.
Annäherung kann im Entwurf vorweggenommen werden. Er ist damit eine Abstraktion in Bezug
auf das zu fertigende Gebäude. Der architektonische Entwurf muss nicht zwangsläufig von
Architekten als Personen stammen. Er kann auch durch eine implizite Übereinkunft vorliegen.
Die ‹Ausführung› bezeichnet die physische Erstellung des Bauwerks vor Ort als die Umsetzung
des Entwurfes. Das Produkt der Ausführung schliesslich ist das ‹Bauwerk›.5 ‹Werk› ist
das Gegenstück zur ‹Hand› in ‹Handwerk›. Es fällt auf, dass die Bedeutung des Wortes
eine gewisse Schnittmenge zwischen dem Werk als aktiver Tätigkeit und als Produkt dieser
Tätigkeit einschliesst.6 Die etymologische Verwandtschaft mit ‹wirken› ist offensichtlich.7 Die
‹Konstruktion› beschreibt das Gefüge der Bauteile im fertigen Bauwerk. Konstruieren ist das
Ausarbeiten des architektonischen Entwurfes bis zur tatsächlichen Baubarkeit.
Forschungsgegenstand
Untersucht werden die Spuren der Fertigung an Gebäuden mit hölzerner Konstruktion. Der
Fokus liegt auf dem Zimmererhandwerk im kulturellen Kontext der Schweiz. Der Begriff
der ‹Fertigungsweise› wird eingeführt. Das Zimmererhandwerk eignet sich für eine solche
Betrachtung sehr gut, da es einerseits ein sehr traditionsverbundenes Handwerk, andererseits
sehr stark von aktuellen technischen Entwicklungen betroffen ist. Schliesslich ist das Zimmern in
einem umfassenden Sinn mit der Konstruktion von Bauten befasst.
Die untersuchten Gebäude sind innerhalb der letzten dreihundert Jahre im kulturellen Kontext
der Schweiz entstanden und mit dem Material Holz konstruiert worden. Dazu gehören das
Hochstudhaus in Birrwil, ein 1692 erbautes Bauernhaus im Kanton Aargau, und das Hotzenhaus,
ein in den 1980er Jahren mit dem expliziten Einsatz handwerklicher Fertigung erstelltes
Schwarzwaldhaus nahe der Grenze zur Schweiz. Das Ferienheim Büttenhard im Kanton
Schaffhausen und die Totenstube in Vrin in Graubünden wurden vor Kurzem erstellt und
referenzieren handwerklich-traditionelle Konstruktionen. Beim Tamedia-Gebäude in Zürich und
der neuen Monte-Rosa-Hütte schliesslich kamen in grossem Masse digitale Fertigungstechniken
zum Einsatz. Alle diese Bauten wurden von Zimmerleuten erstellt.
5
Binding 1993, S. 101: «Die Baustelle selbst wird [im Mittelalter, UH] grundsätzlich ‹opus› oder ‹werk›,
auch ‹structura› genannt».
6
Brockhaus: «3) [...] Im Urheberrecht eine persönliche, geistige Schöpfung der Literatur, Wissenschaft
oder Kunst».
7
vgl. Kluge, Seebold 2011: «Werk. Sn std (8. Jhd.), mhd. werc(h), ahd. wer(a)h, werc, as. werk. Aus g.
*werka-n ‹Werk, Arbeit› ... «; «wirken: ig *werg/wrg...die Bedeutung ist in den frühen germanischen Sprachen
allgemein ‹machen, herstellen› oder auch: ‹wirklich›: zu ‹wirken› mit der Bedeutung ‹im wirken›, durch handeln
geschehend».
13
Bewusst wird von ‹Fertigungsweisen›8 gesprochen. Die relative Offenheit des Begriffes lässt
auch Raum für Faktoren wie die Verteilung der Verantwortung im Prozess oder das Wissen der
Beteiligten, die in der Definition erörtert werden. Der Begriff der Technik ist hingegen nicht
eindeutig und soll in diesem Kontext vermieden werden.9
Aus verschiedenen Gründen eignet sich das Zimmererhandwerk sehr gut für eine Betrachtung
der Herstellung von Architektur. Einerseits bestehen dort starke Traditionen und Konventionen.
Noch 1984 schreiben Gerald Blomeyer und Barbara Tietze: «Bei den Zimmerleuten haben
auch die alten handwerklichen Traditionen sowohl in der Ausbildungsorganisation als auch im
handwerklichen Können am deutlichsten den durch die Industrialisierung des Baugeschehens
verursachten Kahlschlag [dieser Traditionen, Anm. UH] überlebt.»10 Durch die Einführung
computergesteuerter Fräsmaschinen hat sich das Zimmern seitdem jedoch stark verändert.11
Die bis dahin bei der Ausführung geometrisch ermittelten wahren Längen und Winkel beim
Anreissen12 werden nun direkt vom Computer berechnet, und der Abbund13 ist zu einem grossen
Teil an die Maschine delegiert.
Schliesslich ist das Zimmern ein Handwerk, das sich in einem umfassenden Sinn mit der
Konstruktion von Bauten befasst. Es betrifft das ganze Haus in seiner Integrität.14 Die Herkunft
des Wortes Architekt vom griechischen ‹architéktōn›, dem «obersten Zimmermann»,15 steht dafür
genauso wie die Tatsache, dass ein Zimmerermeister durchaus die Rolle einnehmen konnte, die
heute dem Architekten zukommt. Beim untersuchten Hochstudhaus in Birrwil gibt es Hinweise
8
Duden: «Weise: Art, Form, wie etwas verläuft, geschieht, getan wird (häufig in intensivierender
Verbindung mit ‹Art›)».
9
Die schwierige Fassbarkeit des Technikbegriffes beschreibt Schindler 2009, S. 18 f.
10
Blomeyer, Tietze 1984, S. 66.
11
Schindler 2009, S. 9 f.: «In der heutigen ‹Informationsgesellschaft› kann der Holzbau wegen der
hervorragenden computergestützten Infrastruktur mit durchgängigen digitalen Produktionsketten in den
Schreinereien und Zimmereien als informationstechnisch am weitesten entwickelte Bauweise auf dem Markt
betrachtet werden.»
12
Gerner 1984, S. 14: «anreissen, anzeichnen von Abschnitten, Verbindungen, Auskerbungen usw. auf
Werkstücken; geschah früher im Holzbau auf dem Reissboden oder der Zulage».
13
Mönck 1981: «Abbinden ist das maßgerechte Anreißen, Bearbeiten, Zusammenpassen und
Kennzeichnen von Schnitt- und Rundholz für Tragwerke, Bauteile und Einbauteile.»
14
vgl. dazu auch Blomeyer, Tietze 1984, S. 65: «Als selbstbewusste und treibende Kraft in solchen
Auseinandersetzungen über Selbstverständnis, kulturelle Werte und das Verhältnis des Handwerkers zur Planung
des Architekten spielt seit jeher das Zimmermannshandwerk eine herausragende Rolle. Der Zimmermann versteht
den Architektenplan für ein Gebälk auch als Annäherung an eine Gestalt. Entsprechend empfindet er seinen
Beitrag zum Hausbau mehr und weit selbstverständlicher, als das bei anderen Gewerken der Fall sein mag, als
ebenso handwerkliche wie konzeptionell-gestalterische Leistung.»
15
Kluge, Seebold 2011: «Architekt Sm. ‹Baumeister› std (16. Jh.). Entlehnt aus l. architectus, dieses aus
gr. architéktōn, einer Zusammensetzung aus gr. archi- ‹Erz-› und gr. téktōn ‹Baumeister, Zimmermann›, also
eigentlich ‹Oberbaumeister›.»
14
darauf. Ein praktischer Grund für die Auswahl des Zimmererhandwerks ist, dass beim Zimmern
die Konstruktion offen und ablesbar ist und zudem ein wichtiges Gestaltungselement des
Gebäudes bilden kann. Auf Gebäude, bei denen auch die Spuren der Herstellung erkennbar sind,
beschränkt sich auch die Betrachtung der Arbeit. Ein weiterer nicht unwichtiger Faktor ist, dass
sich meine eigene handwerkliche Erfahrung auf das Material Holz konzentriert.
Wissenschaftliche Lücke
Der Blick der Forschung und die Reflexion von Fertigung in der Architektur richten sich heute
oftmals auf die Auswirkungen und Möglichkeiten neuer technischer Entwicklungen.
Nach der Industrialisierung
Handwerk wird oft als Gegenpol zu technischer Entwicklung betrachtet. Diese Sichtweise wird
allerdings auch in Frage gestellt.
Das Handwerk bildet seit dem 19. Jahrhundert einen vermeintlichen Gegenpol, an dem der
technische Fortschritt gemessen wird. Der amerikanische Kunsthistoriker Glenn Adamson
beschreibt diese scheinbare Dualität des Handwerks als Gegenstück zu einer Erzählung der
Moderne und spricht sogar von der Erfindung des heutigen Handwerksbegriffes als eines
notwendigen Gegenstückes zu den mit Fortschritt konnotierten Veränderungen der industriellen
Revolution.16 ‹Craft›17 steht für ihn nicht ausserhalb der Moderne, sondern ist ein Teil davon.
In einem Vortrag über die Rezeption des Handwerksbegriffes zeigte der Technikhistoriker
Reinhold Reith18 anhand einiger Beispiele gängige negative Verknüpfungen mit mittelalterlichem
Handwerk auf und belegte, dass diese bis heute nachwirken. Im Anschluss wies er beispielhaft
nach, dass ein einflussreicher und oft zitierter Beleg für die genannte Fortschrittsfeindlichkeit
mittelalterlicher Handwerker auf einem Missverständnis beruht und nicht haltbar ist.19 Mit
‹Verfallstopos› und ‹Nahrungsprinzip› benennt er zwei verbreitete, mit Handwerk verknüpfte
16
Adamson 2013.
17
Der Begriff ‹craft› muss mit einiger Vorsicht benutzt werden, da er nicht deckungsgleich mit dem
deutschen ‹Handwerk› ist. Er geht eher in die Richtung dessen, was im Deutschen als ‹angewandte Kunst› oder
sogar ‹Kunsthandwerk› bezeichnet wird. Dennoch sind die Aussagen Adamsons in diesem Fall auf das Handwerk
als Gegenstück zu industrialisierter Produktion übertragbar.
18
Reith 2014, S. 9: «Da ist in Überblickswerken der Geschichtswissenschaft von der Endogamie der
Meisterfamilien, von kastenförmigen Abschließungstendenzen, von sozialer Versteinerung und Widerstand gegen
arbeitssparende Technik die Rede.»
19
ebd. S. 10. Reith bezieht sich auf ein angebliches Zitat aus einer Verordnung der Zünfte der Stadt Thorn
von 1523, welche das «›Erdenken und Gebrauchen› neuer Werkzeuge und Fertigungsmethoden verboten» habe.
Dieses Zitat sei über einen langen Zeitraum immer wieder als Beleg für Technikfeindlichkeit gebraucht worden.
Tatsächlich stamme es nach Reith aus der «Reformatio» König Sigismunds und hat mit den Zünften nichts zu tun.
15
Stereotype. Nach dem im 19. Jahrhundert entstandenen ‹Verfallstopos› ging das Handwerk nach
einer Blüte im späten Mittelalter in einen andauernden Niedergang über. ‹Nahrungsprinzip›
beschreibt Theorien, wonach ein Gewinnstreben im Handwerk über ‹standesgemässe
Bedürfnisse› hinaus nicht existierte. Auch für Reith ist der Kontext dieser Erzählungen, dass das
Handwerk als «Negativfolie» für technische Entwicklung diene.
Dieses Paradigma der Dualität wird auch an anderer Stelle hinterfragt. In technikhistorischen
Betrachtungen wird sporadisch darauf hingewiesen, dass der Gegensatz zwischen Handwerk
und Mechanisierung in der industriellen Revolution weniger eindeutig war als oft beschreiben.
Raphael Samuel20 betont beispielsweise, dass in Grossbritannien ein grosser Teil des
Wachstums zur Zeit der industriellen Revolution auf Produktivitätssteigerungen handwerklicher
Arbeitsformen zurückzuführen ist. Der Technikhistoriker Akos Paulinyi relativiert die These,
dass die nur langsame Verbreitung des effizienzsteigernden Schnellschützen in der Weberei auf
Innovationsfeindlichkeit der Weber zurückzuführen ist und führt sie auch auf technische Mängel
der neuen Maschinen zurück.21
Fraglos ist, dass sich die Bewertung von handwerklichen Objekten verändert hat, seit diese
Art der Fertigung nicht mehr selbstverständlich ist und alternative Fertigungsweisen allgemein
verfügbar wurden. Die Reflexion des Handwerks als Fertigungsweise kann erst mit dem
Entstehen des Gegenpols beginnen.
Zwei Kulturen?22
Die empirische und die geistige Welt bilden zwei verschiedene Kulturen mit jeweils
eigenen Sprachen. Handwerk arbeitet innerhalb eines eigenen Bezugssystems mit eigenen
Gesetzmässigkeiten. Diese Arbeit stellt auch eine Übersetzung zwischen beiden Kulturen dar.
Der amerikanische Architekt und Kunsttheoretiker John Fitchen vertrat in seiner Untersuchung
historischer Bautechniken die These, dass durch die Geschichte hindurch eine ‹intelligentsia›
das gesprochene und geschriebene Wort dominiert habe, und dabei alles ignorierte, was sie
nicht verstand – auch das Handwerk.23 Ohne diese These zu bewerten, ist sie doch ein Beleg für
20
Samuel 1998.
21
Paulinyi 1998.
22
vgl. Snow 1959. Der britische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow stellte unter diesem
Titel 1959 eine These auf, nach der die geisteswissenschaftliche und die naturwissenschaftliche Kultur sich so
stark auseinanderentwickelt haben, dass eine Verständigung nicht mehr möglich sei. Auf die Architektur bezogen
möchte ich diese pessimistische Sicht nicht teilen, jedoch besteht sicher Übersetzungsbedarf.
23
Fitchen 1986, S. 15: «The intelligentsia – the philosophers and priests, along with the politicians,
administrators, and men of affairs – have invariably dominated all media of the spoken and written word. What
they did not understand they either ignored or belittled.»
16
gewisse Übersetzungsschwierigkeiten zwischen einer empirischen und einer geistigen Sphäre in
der Architektur. Auch wenn man Sinn und Berechtigung dieser Dualität an sich in Frage stellen
könnte, scheint es tatsächlich zwei Kulturen zu geben, von denen jede eine eigene Sprache
spricht.
Adamson schrieb in einer Analyse von ‹craft› über das Können (‹skill›) als etwas, worüber
nur Ungelernte sprechen, während es für routinierte Personen selbstverständlich ist.24 Diese
Beobachtung bestätigte sich während der Interviews mit Zimmerleuten im Zuge der Analysen.
Auf die Nachfrage nach der Schwierigkeit bestimmter Arbeiten entgegneten sie anfangs meistens,
diese seien nicht besonders kompliziert. Im Verlauf der Gespräche ergab sich dann, dass die
vermeintliche Einfachheit der Arbeiten relativ ist: Die Zimmerer hatten die Erfahrung so weit
verinnerlicht, dass sie die Schwierigkeiten nicht mehr als solche wahrnahmen.
Die empirischen Komponenten des Handwerks sind schwierig oder überhaupt nicht formulierbar.
Die Gefahr besteht, dass ein aussenstehender Beobachter diese Faktoren übersieht oder falsch
einschätzt. Während Handwerker nicht über die empirischen Komponenten ihrer Tätigkeit
sprechen, weil diese für sie selbstverständlich sind, können Aussenstehende nicht darüber
sprechen, weil sie nicht wissen, dass sie existieren.
Zur handwerklichen Fertigung gehört eine spezifische Kombination aus empirischer Erfahrung
und geistiger Reflexion, welche kaum voneinander zu trennen sind. Um diese erkennen
zu können, muss die Betrachtung sowohl die empirischen wie die geistigen Elemente
berücksichtigen.
Theorie und Praxis sind relative Begriffe. Aus Sicht der Architekturtheorie kann die Arbeit
der entwerfenden Architekten Praxis genannt werden. Aus deren Sicht ist Praxis die Arbeit
derjenigen, welche die Konstruktionspläne zeichnen. Für die Untersuchung der Herstellung
von Architektur möchte ich mich der prägnanten Definition des römischen Architekten und
Theoretikers Vitruv anschliessen. In seinem Werk «Zehn Bücher über Architektur» unterscheidet
er ‹fabrica› (Hand-Werk) von ‹ratiocinatio (geistiger Arbeit)‹,25 die zusammen die Grundlage des
Wissens von Architekten bilden. Während ‹fabrica› die praktische, durch Wiederholung gelernte
und bewusst ausgeübte Tätigkeit an sich ist, beschreibt ‹ratiocinatio› deren Reflexion und jene
der gefertigten Dinge.
24
Adamson 2007, S. 74: «Less obviously, it should be pointed out that craft skill never comes for free;
it must be learned. Indeed, in a sense, skill is something that seems noteworthy only from the position of the
unskilled. The skilled practitioner takes proficiency for granted.»
25
Vitruv, Fensterbusch, 1981, S. 23: «Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmässig)
überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen
aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird. Ratiocinatio ist, was
bei handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem Verhältnis ihnen
handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung innewohnt.»
17
Die hier untersuchten Phänomene wirken an der Schnittstelle zwischen Planung und Physis,
wo der Entwurf zum Bauwerk wird. Diese Betrachtung ist insofern geisteswissenschaftlich, als
es um eine Theoriebildung des physischen Erstellens von Architektur geht. Sie schliesst auch
den Ansatz einer Übersetzung zwischen beiden Kulturen ein. Es kann dabei nicht das Ziel sein,
Handwerk vollständig intellektuell zu erfassen, doch die empirische Komponente des Bauens
muss so genau wie möglich beschrieben werden, ohne die Unzulänglichkeiten einer solchen
Versprachlichung zu verleugnen.
Relevanz
Handwerk ist auch heute noch wichtiger Bestandteil des Bauens. Zudem erscheint es sinnvoll,
gültige Paradigmen der Fertigung mit dem Blick aus einem anderen Bezugssystem zu
hinterfragen. Durch Veränderungen der Fertigung von Architektur verändern sich auch die
Herstellungsspuren und damit die gebaute Architektur. Diese Arbeit hilft, diese Entwicklungen
einordnen zu können. Schliesslich bietet handwerkliche Fertigung Lösungsvorschläge für
aktuelle Fragestellungen.
Die Analysen der gebauten Fallbeispiele vom barocken Hochstudhaus in Birrwil bis zum neuen
Tamedia-Hauptsitz zeigen, dass handwerkliche Fertigung in verschiedener Ausprägung bei der
Errichtung aller untersuchten Gebäude eine Rolle spielte. Dass sie gerade bei zeitgenössischen
und mit Innovation konnotierten Gebäuden kaum reflektiert wird, ist sicher auch auf das
angesprochene Übersetzungsproblem zurückzuführen.
Zudem kann es sinnvoll sein, die heutige Sicht auf das Bauen mit dem Blick aus einem anderen
Bezugssystem zu hinterfragen. Paradigmen wie die Fixierung auf Effizienz und Geschwindigkeit
im Bauprozess, die Konzentration von Verantwortung in der Planung oder das Organisieren von
Bauprozessen in komplexen Systemen mit entsprechend komplexen Hilfsmitteln sind ebenfalls
nur innerhalb bestimmter Gesetzmässigkeiten sinnvoll, welche ihrerseits kritisch angeschaut
werden können.
Die technische Entwicklung führt zu Veränderungen der Fertigungsprozesse mit entsprechenden
Folgen für die Spuren und damit die gebaute Architektur. Für die Architektur als Disziplin ist
es wichtig, die Gründe, Triebfedern und Mechanismen dieser Veränderungen zu verstehen. In
diesem Sinne bildet die genaue Untersuchung des Handwerks im Bauen eine Grundlage, mit der
Entwicklung aktiv umgehen zu können.
Darüber hinaus ist auffällig, dass bei einem grossen Teil der Forschungen, die im Zusammenhang
mit aktuellen globalen Herausforderungen wie der Energie- und der Ressourcenfrage
stattfinden, der Fokus auf technischen oder hochtechnischen Lösungen liegt. Tatsächlich musste
handwerkliche Fertigung bereits in historischer Zeit – aus der Not heraus – mit ähnlichen
18
Problemen umgehen, denen sich unsere Gesellschaft auf globaler Ebene heute gegenübersieht,
seien es Ressourcenknappheit, Langlebigkeit oder der Umgang mit speziellen klimatischen
Bedingungen. Ein genauer Blick auf diese Fertigungsweise kann dazu beitragen, Grundlagen für
Lösungen zeitgenössischer Probleme zu schaffen.
Schliesslich ist ein wichtiges Thema der Architektur die Art und Weise, wie Gebäude jenseits
physischer Merkmale wahrgenommen werden. Die mit Gebäuden verknüpften Konnotationen
können Entwurfsentscheidungen wie Materialwahl und Konstruktion beeinflussen. Diskussionen
über Rekonstruktionen, Rustikalität oder Imitation sind Hinweise darauf, dass auf dieser Ebene
momentan starke Veränderungen wirken, die wegen der Komplexität des Wahrnehmungsthemas
kaum adressiert werden. Eine Betrachtung solcher Phänomene ist enorm schwierig, da sie neben
der Architektur auch die Soziologie, die Wahrnehmungstheorie und die Psychologie berührt.
Das kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Die Betrachtung der
Herstellungsspuren kann allerdings Hinweise darauf geben, welche physischen Voraussetzungen
als ‹Rezeptoren› oder Anknüpfungspunkte für diese Konnotationen wirken können.
‹Rustifizierung› des
Erdgeschossses eines
Bürohauses der 1960er Jahre
in Engelberg OW
19
Begriffe
‹Handwerk› ist kein eindeutiger Begriff.26 Die Beschäftigung damit führt sehr schnell zu der
Beobachtung, dass keine allgemein gültige Definition existiert und sogar widersprüchliche
Deutungen parallel verwendet werden. Die Verwendung des Begriffes ist abhängig vom Fokus
der jeweiligen Betrachter. Ihn völlig zu vermeiden hiesse aber, dem Problem aus dem Wege
zu gehen. Schliesslich geht es genau darum: eine möglichst präzise Definition dessen, was
Bauhandwerk sein kann.
Bestehende Definitionen
Definitionen des Handwerks existieren aus den Blickwinkeln verschiedener Disziplinen:
ausgehend von den Produktionsbedingungen, von der Art des Prozesses oder von soziologischen
Gesichtspunkten. Richard Sennett beschreibt eher eine Lebensweise, David Pye einen einzelnen
Arbeitsschritt.
Zunächst existiert eine rechtliche Definition: die (deutsche) Handwerksordnung listet eine Reihe
von Berufen auf, welche als Handwerk betrachtet werden.27 Die Zugehörigkeit zu dieser Liste
ist nicht über die Art und Weise der Tätigkeit geregelt, sondern stellt eine historisch gewachsene
Zuordnung dar.
Liegt der Fokus auf den Produktionsbedingungen, ist die Definition insbesondere für historische
Untersuchungen der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte oder Kulturanthropologie
brauchbar. Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache wird erwähnt, dass bereits
im Mittelhochdeutschen der Begriff ‹hantwerc› nicht nur für ‹Handarbeit›, sondern auch für
‹Gewerbe› genutzt wurde.28 Eine grundlegende Unklarheit der Definition ergibt sich also
daraus, dass einerseits eine bestimmte Tätigkeit, andererseits auch eine Gruppe von Gewerben,
welche historisch durch diese Tätigkeit bestimmt wurden, mit ‹Handwerk› bezeichnet werden
können. Eine Vermischung dieser beiden Bedeutungen in einer Definition kann innerhalb einer
26
Adamson 2007 betont ebenso dessen Unklarheit wie z. B. Haefeli et. al. 2011 oder Pye (1968). Peach
(2012) spricht von «craftsmanship» als «the slipperiest of terms».
27
Zwahr 2006 (Brockhaus, 21. Auflage): «Handwerk : 1) nach der H.-Ordnung ein Gewerbe, das
handwerksmässig betrieben wird und das im Verzeichnis der Gewerbe, die als H. betrieben werden können
(Anlage A zur H.-Ordnung), aufgeführt ist. Die Abgrenzung zwischen Industrie und H. ist mitunter schwierig.
Merkmale des H. im Vergleich zur Industrie: geringere Betriebsgrösse, geringerer Grad der Technisierung,
persönl. Mitarbeit des Betriebsinhabers; geringere Arbeitsteilung, da die üblicherweise nach dem traditionellen
Berufsweg (Auszubildender, Geselle, Meister) umfassend ausgebildeten Arbeitnehmer in der Lage sind, das
gesamte Arbeitsprodukt in allen Phasen herzustellen; Einzelanfertigung aufgrund individueller Bestellung
überwiegt (...), Fertigung mehr für den lokalen Bedarf (Kundennähe). – Nach Österr. Gewerberecht ist H. ein
Gewerbe, bei dem es sich um Fertigkeiten handelt, die durch Erlernung und durch längere Tätigkeit im Gewerbe
erworben werden. – In der Schweiz gibt es keine Legaldefinition des Handwerks.»
28
vgl. auch Kluge, Seebold 2011: «Handwerk: Sn std. (11.Jh.), mhd. hantwerc, ahd hantwerc. Zunächst
‹Handarbeit›. Schon mhd. für ‹Gewerbe›.»
20
bestimmten Betrachtungsweise sinnvoll sein. Haefeli et al.29 beispielsweise orientieren sich für
ihre Definition an derjenigen des immateriellen Kulturerbes der UNESCO.
Der Historiker Valentin Groebner beschreibt eine soziologische Einstufung von Handwerkern im
späten Mittelalter: «›Hantwerker› ist im strikt patrizisch regierten Nürnberg, in dem alle Zünfte
verboten sind und Gesellenassoziationen mit harten Strafen verfolgt werden, ein politischer
Begriff, der die Nichtzugehörigkeit zu den regierenden stadtadeligen Geschlechtern markiert; mit
der Art des Erwerbs hat er wenig zu tun.»30
Wenn in einer Definition auf die Besonderheiten des Fertigungsprozesses selbst eingegangen
wird, bleibt sie oft sehr vage. Die Brockhaus-Enzyklopädie ergänzt die Auflistung in der
Handwerksordnung durch die Beschreibung, dass das jeweilige Gewerbe ‹handwerksmässig
betrieben wird›.31 Sie setzt also voraus, dass den handwerklichen Gewerben eine spezifische
Vorgehensweise eigen ist, ohne diese genau zu beschreiben. Weiter im Text werden einige
Merkmale genannt, die als Abgrenzung zur «Industrie»32 dienen sollen, wie «geringere
Arbeitsteilung, da die (...)umfassend ausgebildeten Arbeitnehmer in der Lage sind, das gesamte
Arbeitsprodukt in allen Phasen herzustellen».33 Hier scheint auch die Qualifikation der
Ausführenden eine Rolle zu spielen. Auch die Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert betont
die Bedeutung des Könnens.34 Die geringere Arbeitsteilung ist dort wiederum nicht relevant.
Die sehr tief gehende Studie «The Craftsman» von Richard Sennett35 definiert Handwerk als
eine mit einem innewohnenden Ethos ausgeführte, qualifizierte Tätigkeit. Er adressiert klar
die Art und Weise des Tuns, welche für ihn zwar aus physischer Tätigkeit erwächst, diese
jedoch transzendiert.36 Bei dieser soziologischen Betrachtung liegt der Fokus auf dem Subjekt,
29
Haefeli et. al. 2011.
30
Groebner 1993, S. 17.
31
Zwahr 2006 .
32
Bemerkenswert ist, dass hier nur von der ‹Industrie› abgegrenzt werden soll, obwohl auch eine
Abgrenzung zur anderen Seite hin, z. B. zu unqualifizierter manueller Arbeit, notwendig wäre. Das Fehlen einer
positiven Definition über eine Beschreibung der Eigenheiten handwerklichen Arbeitens zwingt zu einer Definition
ex negativo anhand des Gegenstückes ‹Industrie› – ein problematischer Dualismus.
33
Zwahr 2006.
34
Didérot, d`Alembert 1765/2009 «Craft. This name is given to any profession that requires the use of the
hands, and is limited to a certain number of mechanical operations to produce the same piece of work, made over
and over again.. (...) Anyone who has taken the trouble to visit casually the workshops will see in all places utility
allied with the greatest evidence of intelligence: antiquity made gods of those who invented the crafts (...)».
35
Sennett 2009.
36
Sennett 2009, S. 18: «Ausdrücke wie ‹handwerkliche Fertigkeiten› oder ‹handwerkliche Orientierung›
lassen vielleicht an eine Lebensweise denken, die mit der Entstehung der Industriegesellschaft verschwunden
ist. Doch das wäre falsch. Sie verweisen auf ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: den Wunsch, eine
21
den Ausführenden, nicht auf dem Produkt der Arbeit. Der Bündner Architekt (und ausgebildete
Handwerker) Gion A. Caminada teilt diese Definition: «Ein solches Handwerk bezeichnen wir
als die geduldige und sorgfältige Art etwas Wertvolles zu machen – zwischen aktivem Tun und
reflexiver Betrachtung»37. Auch der Handwerker, Holzbau-Unternehmer und Fachbuchautor
Wolfram Graubner unterstützt eine ähnliche Ansicht und spricht von einer «handwerklichen
Lebensweise»38. Diese Auffassungen haben gemeinsam, dass sie von einer übergeordneten
moralischen Verantwortung des Handwerkers ausgehen. Zum Herstellen gehört das moralische
Bewerten des Ziels und der Folgen des eigenen Tuns.
So wertvoll Sennetts Definition ist, kann sie doch für diese Arbeit nicht vorbehaltlos
übernommen werden. Ihre Offenheit bedeutet, dass eigentlich alle am Bau Beteiligten, von
Architekten über die Ausführenden bis hin zur Bauherrschaft, je nach ihrer Einstellung zu den
Dingen ‹handwerklich› tätig sein können. Zur Untersuchung des Bauprozesses braucht es also
weitere Spezifizierungen.
Der englische Kunsthandwerker und -theoretiker David Pye war als Architekt ausgebildet und
reflektierte das Zusammenspiel von Entwurf (‹design›), Ausführung (‹workmanship›) und den
gefertigten Gegenständen. Die Definition des Handwerks in seinem Buch «The Nature and
Art of Workmanship»39 fokussiert klar auf die Tätigkeit an sich. Den für ihn mit Vorurteilen
belasteten Begriff ‹craftsmanship› lehnte er kategorisch ab.40 Stattdessen führte er die riskante
Fertigung («workmanship of risk»41) ein. Sie beschreibt eine Arbeitsweise, bei der während des
Bearbeitungsprozesses jederzeit das Risiko besteht, das Produkt zu verderben. Die Kontrolle
über dieses Risiko liegt allein bei Beurteilung, Können und Sorgfalt («judgement, dexterity and
care»42) der Ausführenden. Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit, Ungeschick oder fehlende
Fertigkeiten können jederzeit zum Scheitern führen.
Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Und sie beschränken sich keineswegs auf den Bereich qualifizierter
manueller Tätigkeiten. Fertigkeiten und Orientierungen dieser Art finden sich auch bei Programmierern, Ärzten
und Künstlern. Selbst als Eltern oder Staatsbürger können wir uns verbessern, wenn wir diese Tätigkeiten mit
handwerklichem Geschick ausüben.»
37
Caminada 2015.
38
Graubner 2014b.
39
Pye 1968, S. 20: «If I must ascribe a meaning to the word craftsmanship, I shall say as a first
approximation that it means simply workmanship using any kind of technique or apparatus, un which the quality
of the result is not predetermined, but depends on the judgement, dexterity and care which the maker exercises
as he works. The essential idea is that the quality of the result is continually at risk during the process of making;
and so I shall call this kind of workmanship ‹workmanship of risk›.»
40
Ebd. S. 20: «It is impossible to find a generally satisfactory definition for it [craftsmanship] in face of
all the strange shibboleths and prejudices about it which are acrimoniously maintained. It is a word to start an
argument with.»
41
ebd. S. 20.
42
ebd. S. 20.
22
Umgekehrt ist bei der determinierten Fertigung (‹workmanship of certainty›) die Verantwortung
für das Gelingen des Fertigungsschrittes den Ausführenden abgenommen. Hier ist deren Können
und Sorgfalt von der eigentlichen Fertigung entkoppelt, da das notwendige Wissen vor deren
eigentlichem Beginn in Schablonen, Lehren, Maschinen oder Computerprogrammen gespeichert
ist. Beurteilung, Können und Sorgfalt sind von der eigentlichen Fertigung entkoppelt.
Wo Sennetts Definition zu weit gefasst ist, ist Pyes Begriff der riskanten Fertigung – so wertvoll
er in seiner radikalen Stringenz auch ist – für die Architektur zu eng. Er beschreibt das Wesen
eines handwerklichen Arbeitsschrittes. Im Kunsthandwerk, der vormodernen Kunst oder in
manchen Handwerkszweigen wie dem Möbelschreinern ist es denkbar, dass alle Schritte zur
Herstellung eines Werkes von einer Person ausgeführt wurden (wobei dies selbst hier nicht
unvermeidlich ist, wie die grosse Zahl an Schülern und Gehilfen in den Werkstätten von
Künstlern nahelegt) oder dass die Herstellung selbst nur aus einem Arbeitsschritt besteht. Der
Bau von Häusern jedoch ist praktisch ausnahmslos eine kollektive Angelegenheit, die eine
Vielzahl an Schritten verschiedener Anforderungen miteinander verknüpft. Die Definition im
Kontext der Architektur muss diese Besonderheit berücksichtigen.
Konnotationen
Zur schwierigen Definitionslage kommt hinzu, dass bei der Verwendung des Begriffes
‹Handwerk› positive wie negative Konnotationen mitschwingen können.
Die beschriebene Verknüpfung von Handwerk mit Fortschrittsfeindlichkeit und Rückständigkeit
bildet nur eine Seite des konstruierten Dualismus aus Handwerk und Fortschritt ab. Es gibt auch
die gegenteilige Erzählung: die romantische Überhöhung des Handwerks als Gegenstück zur
industriellen Entwicklung. Diese im 19. Jahrhundert geprägte Sichtweise wirkt bis heute fort
und erhält sogar in jüngster Zeit neues Interesse. Nähe zum Handwerk wird von Trends wie
der ‹Maker›- oder der ‹Do-it-Yourself›-Bewegung gezielt gesucht. Die Kunsthistorikerin Gerda
Breuer sprach in diesem Zusammenhang überspitzt von einer Suche nach «nicht entfremdeter
Arbeit als Sehnsuchtsmodell im Neoliberalismus»43. ‹Machen› scheint heute positiv konnotiert;
dabei ist die Mehrdeutigkeit des Wortes im Sinne von ‹ selbst herstellen›, aber auch „aktiv an der
Gesellschaft teilhaben“44 nicht klar unterschieden. Problematisch ist diese Entwicklung, wenn
Handwerk zur reinen Projektionsfläche wird, indem beispielsweise der wichtige Aspekt des
Übens hinter einer schwer fassbaren ‹Kreativität› zurücktritt.
Glen Adamson beschreibt die Romantisierung des Handwerks als Gegenpol zur eigenen, als
43
Breuer 2013.
44
Ebd.
23
entfremdet empfundenen Welt als «pastoral»45, in Anlehnung an die Romanform der ‹pastoral
novel›. Über diese heisst es in der Encyclopaedia Britannica lapidar: «Fiction that presents rural
life as an idyllic condition, with exquisitely clean shepherdesses and sheep immune to foot-rot, is
of very ancient descent»46.
Ebenfalls erwähnenswert ist das Instrumentalisieren von Produkten des Handwerks als
Statussymbole. Der Soziologe Stefan Hradil spricht von einer «Rückkehr des Handwerks in
veredelter Form»47. Statussymbole verfügen nach Hradil über ‹eingebaute Barrieren›, welche
eine breite Verfügbarkeit des jeweiligen Objektes über eine exklusive Gruppe hinaus verhindern.
Diese Barriere kann in einem hohen Anschaffungspreis liegen, aber auch in Kennerschaft
(‹Connaisseur›). Erzählungen handwerklicher Herstellung werden daher besonders im
Luxusbereich eingesetzt, um Produkte durch die Geschichte ihrer Herstellung mit positiver
Bedeutung aufzuladen. In den Selbstpräsentationen von Luxusmarken wird oft Wert darauf
gelegt, die handwerklichen Aspekte der Fertigung ihrer Produkte in den Vordergrund zu stellen.48
Diese kurze und nicht erschöpfende Aufzählung zeigt bereits, wie wichtig es ist, Handwerk
möglichst objektiv zu fassen, und nicht als positive oder negative Projektionsfläche zu sehen.
45
Adamson 2007, S. 103 f.: «It is a feeling of having participated in something pure and fragile, which is
distant from the ‹real world› but also yields a deeper understanding of that world – a bit of a perspective, perhaps.
It is, in short, the pastoral feeling.»
46
Burgess 2014. Der entsprechende deutsche Begriff ist die ‹Hirtendichtung›.
47
Hradil 2012.
48
So ist z. B. unter www.rolex.com von ‹Uhrmacherkunst› und auf www.louisvuitton.com von ‹savoir
faire› die Rede. Abgerufen am 04.04.2016.
Während sichtbare Holzverbindungen im vormodernen
Möbelbau an hochwertigen
Stücken selten sind, werden
sie heute gerade dort gern
eingesetzt.
24
4. Methode – Eine Theorie des Bauens
Aus der Beschreibung des Handwerks im Bauen resultiert eine Theorie der Fertigung von
Architektur.
Der Begriff der Theorie orientiert sich hier, wie oben beschrieben, an Vitruvs Auffassung der
‹ratiocinatio›. Als Induktion im Sinne eines Indizienprozesses, wird aus der Beobachtung des
Machens die Theorie gebildet. Sie ist die Reflexion der Praxis.
Die Grundlage der Definition handwerklicher Fertigung im Bauen ist eine Erörterung
vorhandener Positionen, ihre eigentliche Überprüfung erfolgt aber am Bauwerk. Diese Theorie
stellt nicht das Machen an sich in den Vordergrund, sondern seine Auswirkungen auf das
gefertigte Werk – eine Theorie der Fertigung von Architektur.
Die Spuren der Fertigung sind Indikatoren49 der Fertigungsweise, die Erkenntnisse über den
Zusammenhang zwischen Bauprozess und Bauwerk ermöglichen.
Bauforschung und Spurensuche
Das Gebäude ist Träger der Fertigungsspuren und Primärquelle für die Untersuchung von
Arbeitsschritt und Prozess sowie deren Auswirkungen. Die Methodik ist nahe an jener der
Bauforschung.
Der Versuch, historische Vorgänge und Vorgehensweisen beim Bauen nachzuvollziehen, stösst oft
an Grenzen, da die schriftlichen und bildlichen Quellen hierzu sehr selten von den Handwerkern
selbst stammen. Auf diese methodischen Probleme der historischen Erforschung des Handwerks
wiesen beispielsweise Reith50 und Binfield51 hin.
Tatsächlich existiert mit der Bauforschung eine spezifische Methode, um das
Herstellen von Architektur zu untersuchen und gleichzeitig das gebaute Werk und seine physische
49
Duden: «Indikator: (Fachsprache) etwas (Umstand, Merkmal), was als (statistisch verwertbares)
Anzeichen für eine bestimmte Entwicklung, einen eingetretenen Zustand o. Ä. dient».
50
Reith 1998, S. 12 f.: «Rudolf Kuchenbuch und Thomas Sokoll haben auf eine Reihe von methodischen
Problemen und Gefahren aufmerksam gemacht, die sich bei einer Annäherung an die ‹Praxis der Arbeit› stellen.
[...] Die Geschichte der Arbeit sei daher über weite Strecken nur als Geschichte der Einstellung der Oberschicht
zur Arbeit rekonstruierbar, nicht aber als Geschichte der tatsächlichen Arbeitsbedingungen. Die Wissens- und
Ideengeschichte der Arbeit sei daher nicht wertlos, doch ‹man muss sich ihrer ideologischen Grenzen bewusst
sein›. Damit sind bereits methodische Probleme bzw. Überlieferungsprobleme angesprochen: Das Überlieferte
stamme durchweg von anderen als von denen, die arbeiteten.»
51
Binfield 2004, S. 5: „Many of these terms [campaign, movement, agitation, rebellion, UH] entail
complications, if only because some of the historians using them attempt to represent a Luddite totality based to
a significant extent on the secondhand information of spies, manufacturers, soldiers, constables, magistrates, and
government officials. The problem of representation applies to many studies of working-class life generally.“
25
Entstehung zu thematisieren. Das Bauwerk ist die Primärquelle der Untersuchung und Träger der
Spuren, anhand derer versucht wird, den Herstellungsprozess nachzuvollziehen.
Der Unterschied zur historischen Bauforschung liegt im leicht veränderten Fokus und damit den
an die Quelle gestellten Fragen. Gesucht werden nicht Erkenntnisse über bestimmte Bauwerke als
Grundlage für deren kunsthistorische Einordnung oder Bewertung, sondern eine Rekonstruktion
der bei der Errichtung der Bauwerke ablaufenden Prozesse; also Erkenntnisse, wie und warum
etwas gemacht wurde. Auch dies nicht aus historischen Gründen, sondern um dieses ‹Wie› und
‹Warum› mit dem physischen Bauwerk in Beziehung zu setzen.
Dennoch gibt es starke Übereinstimmungen mit den Methoden der historischen Bauforschung,
soweit sie Aussagen über die Prozesse erlauben. Das Wissen über Konstruktion ist ein wichtiger
Bestandteil der historischen Bauforschung, da nur so sinnvoll Bauzustände und Abläufe
rekonstruiert werden können. Historische Zusammenhänge sind für diese Arbeit insofern
relevant, als sie einerseits helfen können, bestimmte Bauprozesse zu rekonstruieren, andererseits
um zu verifizieren, ob die untersuchten Bauwerke tatsächlich durch einen zusammenhängenden
Prozess entstanden sind.
Die Gefügeforschung52 als Arbeitsweise der Hauskunde sucht genau wie die hauskundliche
Inventarisation nach dem Verallgemeinerbaren beim Analysieren von baulichen Gefügen.
Aus deren Abstraktion und Vergleich sollen Typologien gebildet werden, um historische
Entwicklungen identifizieren zu können.53 Die Werkzeuge dieser Methode, vor allem die Analyse
des Gefüges können für die Rekonstruktion der Bauprozesse ebenfalls wichtig sein.
Auch die Bauforschung beruht auf einer Kombination verschiedener Techniken, die nur im
Zusammenwirken verlässliche Ergebnisse liefern können. Dazu gehören die verformungsgerechte
Bauaufnahme, die kunstgeschichtliche Analyse und Einordnung, die gefügekundliche
Untersuchung sowie chemische und physikalische Untersuchungen. Schriftliche und bildliche
52
Vgl. Hähnel 1969, S. 52: «Die Untersuchung der Konstruktion, der Baustruktur, die analytische,
von der individuellen Gestalt des einzelnen Bauern- oder Bürgerhauses ausgehende Arbeitsweise der
Gefügeforschung gab der Hauskunde eine Methode in die Hand, die auch diesen Bereich des Bauwesens einer
dem Vorgehen der kunsthistorischen Bauforschung vergleichbaren Behandlung erschloss.»
53
Letztendlich geht es Hähnel um einen Blick auf die Stadt oder Landschaft als Ganzes, nicht um den
Massstab des einzelnen Hauses, der eher Mittel zum Zweck ist. Ebd. S. 56: «Ziel von Städte-Inventarisationen
muss es sein, durch Aufnahme und Analyse des Gesamtbestandes an städtischen Wohnbauten der zu
untersuchenden Zeiträume (...) einen Ausgangspunkt zu gewinnen für Querschnitte durch die bauliche Struktur
zu erschliessbaren Zeitpunkten, also nicht allein die Zeitstellung von Einzelbauten zu ermitteln, sondern zu
versuchen, von den so erschlossenen einzelnen Daten her das jeweilig zugehörige bauliche Gesamtbild der Stadt
zu rekonstruieren.» Die Grenzen dieses Vorgehens nennt Hähnel selbst (S. 46 f.): «[...] so stellt sich die Frage,
in wie vielen Fällen dann das, was wir als dörfliche, städtische oder landschaftliche Bautradition zu bezeichnen
gewohnt sind, im Wesentlichen nur die Gewohnheit einzelner Zimmerleute ist.»
26
Quellen ergänzen die Analysen. Diese integrale Betrachtung des Bauwerks als Quelle ist die
grösste Übereinstimmung mit dieser Arbeit.
Thesen
Auf der Grundlage bestehender Definitionen und Reflexionen wird zuerst eine Definition von
Handwerk als Fertigungsweise vorgeschlagen, die auf die Besonderheiten der Fertigung von
Architektur Rücksicht nimmt. Eine Beschreibung des einzelnen Arbeitsschrittes bildet den
Ausgangspunkt. Die hierbei gültigen Kriterien erlauben es, handwerkliche Fertigung von anderen
Fertigungsweisen zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage wird der handwerkliche Prozess
abgegrenzt. Er verbindet die einzelnen Arbeitsschritte und macht es möglich, das kollektive
Element des Bauens zu reflektieren.
Sollen die untersuchten Bauten als eigentliche Quellen der Untersuchung dienen, so muss nach
Indikatoren gesucht werden, die Rückschlüsse über die Fertigung erlauben. Die Spuren der
Herstellung an sich sind neutral. Die Art und Weise ihres Vorkommens jedoch macht sie zu
Indikatoren für bestimmte Fertigungsweisen.
Analyse
Auf der Grundlage der Analysen der Fallbeispiele können Aussagen über deren Fertigung
getroffen werden. Der Ausdruck ist eine Eigenschaft der Gebäude, die gesondert untersucht
wurde. Er ist subjektiv und gilt nur innerhalb eines bestimmten Kontextes.
Zur Untersuchung der handwerklichen Fertigung wurden die ausgewählten Bauten genau
betrachtet. Am Anfang steht eine kurze Beschreibung der physischen Form der Gebäude
sowie ihrer Geschichte. Beschrieben werden weiterhin der Baukörper, die Konstruktion und
das verwendete Material. Beim Hochstudhaus von Birrwil und dem Hotzenhaus wurden
repräsentative Teile der Fassadenkonstruktionen verformungsgerecht aufgenommen.54
Für die Suche nach den Spuren der Herstellung ist eine Betrachtung von Oberflächen und
Schmuckformen wichtig. Eine Analyse der Konstruktion und der Fügungen baut auf diesen
Beschreibungen auf.
54
Genauigkeitsstufe IV nach Eckstein/Gromer 1986, im Massstab 1/20, vor Ort aufgenommene
Zeichnung.
Die anderen Bauten sind praktisch Neubauten, zum Teil mit homogenisierten Hölzern erbaut, und erfüllen die
gültigen Toleranznormen. Auf ein verformungsgerechtes Aufmass zur Kontrolle der Fertigungstoleranzen wurde
dort teilweise verzichtet.
27
Untersucht wird auch der Ausdruck der Gebäude. Nach Duden55 und Brockhaus56 beschreibt
der Ausdruck eher Eigenschaften des Objektes (Kennzeichen, Äusserung innerer Momente,
sinnlich wahrnehmbare Seite usw.), welche eine Wirkung beim Betrachter hervorrufen können.
Heinrich Wölfflin stellte die Frage, ob der Ausdruck ans Subjekt, den Betrachter, oder das
Objekt gebunden ist. Er fragt, wie es sein kann, «dass architektonische Formen Ausdruck eines
Seelischen, einer Stimmung sein können? Ueber die Thatsache darf kein Zweifel sein.» Er
definiert folgendermassen: «Wir bezeichnen die Wirkung, die wir empfangen, als Eindruck. Und
diesen Eindruck fassen wir als Ausdruck des Objekts.»57
Bei Wölfflin meint diese Wirkung eine Stimmung, die beim Betrachter entsteht, indem er
Analogien zwischen dem «architektonischen Organismus» und den eigenen «körperlichen
Erfahrungen» zieht.58 Wölfflins physiologische Analogien umfassen nicht nur Sehgewohnheiten,
sie schliessen auch allgemeiner die Beziehung zum Körper, zur Physis ein, und beziehen sich
auf die eigenen impliziten Erfahrungen des Betrachters. Tragen und Lasten wird beispielsweise
anders wahrgenommen, wenn man (durch Drahtseil, Stahlleichtbau, Hubschrauber) daran
gewöhnt ist, dass Dinge ‹schweben›.
Für diese Arbeit möchte ich den Ausdruck folgendermassen definieren: Der architektonische
Ausdruck ist die Wirkung, die ein Gebäude auf den Betrachter ausübt. Ein handwerklicher
Ausdruck bedeutet demnach, dass für die Betrachtenden diese Art der Fertigung am Bauwerk
ablesbar ist. Im Unterschied zu den Spuren der Herstellung ist der Ausdruck eines Gebäudes also
nicht objektiv. Er hängt vom Vorwissen der Betrachtenden ab. Darüber hinaus kann in einem
bestimmten kulturellen Kontext eine stillschweigende Übereinkunft darüber bestehen, wie ein
handwerklicher Ausdruck aussehen kann. Er kann also im heutigen kulturellen und zeitlichen
Kontext analysiert werden, so dass nachvollziehbare Aussagen möglich werden. Dabei ist der
Unterschied zu beachten, ob der Ausdruck tatsächlich auf handwerklicher Fertigung beruht oder
nicht.
55
Duden: «3. äusseres, sichtbares Zeichen in dem sich eine innere Beschaffenheit oder Struktur
wiederspiegelt; Kennzeichen».
56
Brockhaus: «Ausdruck: (...) 4) Psychologie: körperl. oder gegenständl. Erscheinungen, die auf seelische
Momente zurückführbar sind und deren Äusserung darstellen. (...) 5) Sprachwissenschaft: (...) 2) Im Unterschied
zum Inhalt die sinnlich wahrnehmbare Seite (A. Seite, A. Ebene) des sprachl. Zeichens (die gehörten und
gesprochenen Laute, ebenso die Schriftzeichen)».
57
Wölfflin 1886, S. 15.
58
Ebd., S. 12: «Wie die Charakteristik der Schwere unseren körperlichen Erfahrungen entnommen ist,
ohne sie unmöglich wäre, so wird auch das, was der Schwere entgegenwirkt, nach menschlicher d. h. organischer
Analogie aufgefasst. Und so behaupte ich, dass alle die Bestimmungen, die die formale Aesthetik über die
schöne Form gibt, nichts anderes sind, als Bedingungen organischen Lebens. Formkraft ist also nicht nur als
Gegensatz der Schwere, vertikalwirkende Kraft, sondern das was Leben schafft, eine vis plastica, um diesen in
der Naturwissenschaft verpönten Ausdruck hier zu gebrauchen.»
28
Das Analyseraster wurde im Laufe der Arbeit stetig angepasst und verfeinert, so dass
Beobachtungen an einem Fallbeispiel immer auch bei den anderen Beispielen überprüft werden
konnten. Vor Ort angefertigte Zeichnungen stellen einen wichtigen Teil der Analyse dar. Im
Gegensatz zu Fotografien sind sie bereits eine Abstraktion und Wertung der abgebildeten
Komponenten und damit interpretatorisch.
Der Fokus bei den Analysen der Fallbeispiele liegt auf der hölzernen Konstruktion, doch diese
Eingrenzung ist nicht absolut. Soweit sich bei einem Gebäude während der Analyse herausstellte,
dass andere Gewerke einen relevanten Anteil am Entstehen des Ausdruckes hatten, wurden
diese in die Betrachtung einbezogen. Ausschlaggebend war die Bedeutung der jeweiligen
Massnahme für das Bauwerk. Beim Hotzenhaus ist beispielsweise der Fussbodenbelag aus
wiederverwendeten Dachziegeln wichtig für den Ausdruck, gleichzeitig unterstreicht er eine
Herangehensweise, die auch den Holzbau dieses Gebäudes bestimmt; dagegen ist die Fertigung
des Erdkellers unter dem Hochstudhaus von Birrwil für die Analyse des Hauses weniger relevant.
Auf der Grundlage der Analysen konnten wie bei einer forensischen Untersuchung Schlüsse
über den Fertigungsprozess selbst gezogen werden.59 Die Beobachtung der Bauten wurde durch
Dokumentationen, Interviews mit Beteiligten und Fachliteratur ergänzt. Einzelne Beobachtungen
mögen evident erscheinen, wichtig aber ist, sie im Kontext und im grösseren Zusammenhang
zueinander zu betrachten.
59
In den Ingenieurwissenschaften existiert der Begriff des ‹Reverse Engineering›. Bei dieser
Vorgehensweise wird die Entwicklung und Fertigung existierender Konstruktionen vom Ergebnis aus
nachempfunden, um Verbesserungsmöglichkeiten oder Fehler zu finden. Vgl. Raja 2008.
Befestigung der Beplankung
des Tenntores am Hochstudhaus in Birrwil mit Holznägeln
29
Auswahl der Fallbeispiele
Die Fallbeispiele sind unspezifisch, aber nicht willkürlich gewählt.
Bei den untersuchten Fallbeispielen wird nicht das Spezifische, sondern das Allgemeine gesucht.
Sie sind unspezifisch, aber nicht beliebig. Die Gründe für den Fokus auf dem Zimmererhandwerk
wurden bereits erläutert. Die Analysen der Bauten sind beispielhafte Blicke auf das
Zimmereigewerbe in der Schweiz in verschiedenen Ausprägungen der Mechanisierung. Jedes
Fallbeispiel steht zudem für eine bestimmte Einordnung handwerklicher Arbeitsschritte in den
Gesamtprozess des Bauens.
Beim Bau des barocken Hochstudhauses kam handwerkliche Fertigung selbstverständlich
zum Einsatz. Es stellt in unserem Kulturkreis ein Referenzobjekt für handwerkliches Bauen.
Auch beim Hotzenhaus wurde bewusst handwerkliche Fertigung eingesetzt, jedoch war diese
zur Erbauungszeit in den 1980er Jahren nicht mehr selbstverständlich. Die Totenstube und das
Ferienheim Büttenhardt adaptierten handwerkliche Konstruktionstypologien. Die Konstruktionen
der neuen Monte-Rosa-Hütte und des Tamedia-Gebäudes beruhen auf mechanisierten und
computerunterstützten Techniken. Nur bei der Ersteren wurde eine atmosphärische und formale
Nähe zum handwerklichen Ausdruck der alten Alphütten gesucht. Auch bei diesen Gebäuden
war die Rolle handwerklicher Arbeitsschritte genau zu untersuchen. Die unterschiedlichen Arten
des Umgangs mit der Fertigungsweise wurden an den einzelnen Fallbeispielen überprüft und
schliesslich an den übrigen getestet.
Die Arbeit betrachtet handwerkliche Fertigung aus Sicht der Architektur. Die Auswahl der
Fallbeispiele fokussiert daher auf Gebäuden, bei denen die Konstruktion nicht nur pragmatisch
als Tragstruktur der Bauten dient, sondern darüber hinaus in den jeweiligen Entwürfen
thematisiert wurde. Die Konstruktion bestimmt den Ausdruck der Gebäude mit und ist ein
architektonisches Gestaltungsmittel. Das bedeutet, dass bei den meisten Fallbeispielen auch an
der Planung Personen mit einem hohen konstruktiven Wissen oder handwerklicher Erfahrung
beteiligt waren.
Die Beschränkung auf sechs Fallbeispiele ermöglichte eine grosse Tiefe der Bearbeitung. Die
jeweiligen Bauprozesse konnten detailliert nachvollzogen werden und die Bauwerke selbst
eingehend analysiert werden.
Synthese
In der Synthese wurde überprüft, ob die aufgestellte Definition des handwerklichen Bauens
sich für die Fallbeispiele bestätigen lässt. Die drei Thesen, die zusammen die Definition bilden,
wurden mit der Analyse der Fertigungsprozesse verglichen. Die an den Bauten gefundenen
30
Indikatoren geben Aufschluss über das Vorliegen bestimmter Fertigungsweisen.
Weiterhin wurde unterschieden, in welcher Form handwerkliche Fertigung in die jeweiligen
Prozesse eingebunden war. Hier lassen sich unterschiedliche Strategien im Umgang mit der
Fertigung unterscheiden. Sie betreffen einerseits die Einbeziehung der Fertigungsweisen in die
Abläufe selbst, andererseits sollen sie bestimmte Eigenschaften der Bauwerke hervorbringen.
Auf diese Weise lässt sich ein prototypischer handwerklicher Bauprozess beschreiben und von
einem fragmentierten Prozess unterscheiden. Ebenso können Aussagen über die formalen und
konstruktiven Möglichkeiten getroffen werden, die aus der Fertigungsweise für das Bauwerk
entstehen.
Schliesslich kann die Bedeutung der Fertigung für die potentielle subjektive Aneignung eines
Bauwerks durch den Betrachter beschrieben werden.
Die empirische Komponente
Empirie ist in dieser Arbeit wichtig, um die richtigen Fragen zu stellen und den nicht vollständig
rationalisierbaren Komponenten handwerklicher Fertigung auf die Spur zu kommen. Sie muss so
weit es geht nachvollziehbar gemacht werden.
Besonders die impliziten Komponenten des Wissens, die Fertigkeiten und Erfahrungen, sind
per Definition nicht abstrakt darstellbar. Für eine fundierte Reflexion des Themas ist es daher
hilfreich, die theoretische Betrachtung durch eine praktische Auseinandersetzung zu ergänzen.
Ich habe in den letzten Jahren bei vielen Gelegenheiten handwerklich mit dem Material Holz
gearbeitet. Es ist nicht möglich, das tatsächliche Erlernen eines Handwerks zu simulieren. Es
ist aber wichtig, auch bei einer nicht-professionellen Herangehensweise das Handwerk ernst
zu nehmen und keine geringeren Anforderungen an die eigene Arbeit zu stellen. Ich habe
versucht, die Reflexion der eigenen Erfahrung soweit möglich in die Arbeit zu integrieren. Diese
Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit sind teilweise nicht objektivierbar. Dennoch stellen sie
eine wichtige Ergänzung zur theoretischen Beschäftigung mit Fertigungsweisen dar.
Einerseits kann ein Wechsel der Perspektiven hilfreich sein, um die Bezugssysteme des eigenen
Denkens zu erkennen und zu hinterfragen. Andererseits erleichtert die eigene Erfahrung, die
Beweggründe für bestimmte Herangehensweisen nachzuvollziehen, wie ein einfaches Beispiel
zeigt. In einer wissenschaftlichen Arbeit60 wurde vom Autor Unverständnis darüber geäussert,
60
Schindler 2009, S. 118: «Da die Leserichtung durch die veränderliche Lage der Bauteile nicht eindeutig
war, wurde die Zahl 4 als IIII und die Zahl 9 als VIIII ausgeführt, um eine Verwechslung mit der Ziffer 6 (VI)
bzw. 11 (XI) zu vermeiden.» Dazu in Fussnote 413: «Es ist anhand der angegebenen Literatur nicht ganz
nachzuvollziehen, wie die ‹IV› mit der ‹VI› zu verwechseln ist, da die Leserichtung durch die Ausrichtung des V
gegeben zu sein scheint.»
31
warum Zimmerleute bei den Abbundzeichen, welche die gefertigten Balken markieren, statt
der römischen IV oft die IIII benutzten, da IV und VI nicht zu verwechseln seien. Aufgrund
praktischer Erfahrung ist es jedoch nachzuvollziehen, dass gerade in der oft unübersichtlichen
Situation während des Baus die Ähnlichkeit der Zahlen ein bewusstes Hinschauen erfordert,
gerade wenn man aus unterschiedlichen Richtungen auf das bezeichnete Bauteil schaut. IIII und
VI können dagegen sofort intuitiv richtig unterschieden werden. Diese Schreibweise dient also
dem pragmatischen Ausschliessen einer möglichen Fehlerquelle.
Die direkte, körperliche Erfahrung beeinflusst das Einschätzen von Situationen auf einer
grundsätzlichen Ebene. Der Zimmerer und Bauingenieur Martin Antemann definierte Erfahrung
als «Momente, die man kraft eigenen Erleidens verinnerlicht hat.“61 Mühe gehört für ihn
dazu, eine Erfahrung wirklich zu verinnerlichen, so wie man durch das Anfassen einer heissen
Herdplatte nachhaltig lernt, das in Zukunft zu lassen. Wer die Erfahrung gemacht hat, mit einem
Beil einen Stamm zu einem Balken zu bearbeiten, weiss genau, wie viel Anstrengung und
Energie in dieser Arbeit steckt. Das hat auch Auswirkungen auf die Einstellung zum Material und
das Denken beim Lösen einer Bauaufgabe. Die eigene Erfahrung mit Handwerk erlaubt es, solche
Denkweisen bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen zu können. Subjektive Erfahrung muss
dabei immer klar von Fakten getrennt werden.
61
Antemann 2015. Diese Ansicht wird z. B. auch von den Zimmerern Wolfram Graubner und Yves
Dusseiller geteilt.
Rechte Seite: Diese beiden Möbel wurden vom Verfasser in Zusammenarbeit mit Oliver Zumbühl
entworfen und ausgeführt. Das Projekt wurde von der Albert Koechlin Stiftung gefördert.
32
33
5. David Pyes «The Nature and Art of
Workmanship»
Eine wichtige Grundlage für diese Arbeit bildet David Pyes Buch «The Nature and Art of
Workmanship». Dort führt er einige Konzepte und Begriffe ein, die für die Betrachtung des
Handwerks allgemein sehr wichtig sind.
Die Grenzen des Entwurfes
«Now a design is in effect a statement of the ideal form of the thing to be made, to which the
workman will approximate in a greater or less degree. In a designer›s drawing all joints fit
perfectly!»62
David Pyes Konzepte handwerklicher Arbeit sind für die Betrachtung der Fertigungsspuren
besonders wertvoll, da sie konsequent vom gefertigten Objekt ausgehen. Er zieht eine klare Linie
zwischen dem Entwurf (‹design›) und seiner Ausführung (‹workmanship›): «Design is what, for
practical purposes, can be conveyed in words and by drawing: workmanship is what, for practical
purposes, can not.»63
Pye geht davon aus, dass der Entwurf nicht alle Faktoren bestimmen kann, welche über die
Qualität des gefertigten Objektes entscheiden. Manches wird in der Fertigung erst entschieden
und hängt von den Ausführenden ab. In dieser Phase existieren Einflüsse auf das Gebäude, die
erst nach dem Entwurf wirksam werden, und die in der Abstraktion durch Modell, Plan oder
Beschreibung nur indirekt abgebildet werden können. Hierzu gehören auch die Fertigungsspuren.
Diese Auswirkungen der Fertigung auf die Architektur wirken in allen Massstäben: Sie betreffen
teilweise winzige Nuancen, die in der Summe eine Wirkung auf die gebaute Architektur haben
können, aber auch die Konzeption der gesamten Konstruktion.
Freie und regulierte Umsetzung
Neben der Unterscheidung zwischen riskanter und determinierter Fertigung unterscheidet er
zwei weitere Arten der Fertigung, die freie und die regulierte Umsetzung einer Vorgabe oder
eines Entwurfes (‹free workmanship› und ‹regulated workmanship›64 ). Letztere beschreibt
62
Pye (1968), S.31.
63
Pye (1968), S.17.
64
Pye 1968: «Let us say that, where the naked eye can detect no disparity between achievement and idea,
the workmanhip is ‹regulated›. Where there are evident (and usually intentional) disparities, (...), where precise
repetition is on the whole avoided, let us say the work is ‹free›» (S. 34).
34
die völlige Übereinstimmung des Endproduktes mit einem Entwurf, während die erstere
Abweichungen von diesem Ideal zulässt. Das können merkbare Abweichungen von einer geraden
Linie, unregelmässige Oberflächen oder auch Arbeitsspuren sein. Freie Umsetzung ist nicht
gleichbedeutend mit handwerklicher Fertigung, doch liegt gerade hierbei die Verantwortung
darüber, wie nahe die Ausführung genau dem Ideal des Entwurfes kommt, bei den Ausführenden.
Diese Arbeit kann also durchaus auch eine hohe geistige Leistung bedeuten.
Diversität
Sein Begriff der Diversität (‹diversity›) beschreibt eine formale Eigenschaft eines Objektes,
die durch die freie Umsetzung eines Entwurfes entstehen kann.65 Sie ist nahe an dem, was
John Ruskin in «The Nature of Gothic» mit einer «unaufhörlichen Vielfalt»66 eines Gebäudes
beschreibt: eine Vielzahl unterscheidbarer und unverwechselbarer visueller Details, welche die
Oberfläche eines Gegenstandes überziehen. Sie bezeichnen bestimmte, unterscheidbare Inhalte
als Ausschnitte aus der Gesamtheit eines grösseren Bildes.
Arts and Crafts? Pyes Kritik an John Ruskins «The Nature of Gothic»
Eine Abgrenzung zum Handwerksbild der Arts-and-Crafts-Bewegung ist notwendig für eine
objektive Diskussion des Themas. Dies wird am Beispiel von John Ruskins Position in «The
Stones of Venice» erläutert.
Der britische Kunsttheoretiker John Ruskin lieferte mit dem Text «The Nature of Gothic» eine
inhaltliche Grundlage der Arts-and-Crafts-Bewegung. In seiner Beschreibung erwächst die
Vielfalt («variety»67) gotischer Gebäude – oder deren Diversität, um Pyes Ausdruck zu benutzen
– direkt aus der Liebe zu Abwechslung und Variation («love of change»68) und der Individualität
der Ausführenden. Das unterstellt, dass die Ausführenden genug Freiheiten im Prozess für die
Umsetzung von entwerferischen Vorgaben haben: Für Ruskin entsteht die Qualität der gotischen
Bauten direkt aus dem, was Pye als freie Umsetzung eines Entwurfes bezeichnet. Präzision als
Kriterium guter Arbeit sieht Ruskin als inhuman an: «Men are not intended to work with the
65
Pye 1968, S. 35: «In free workmanship the flat surface is not quite flat but, when seen from close
by, shows a faint pattern of tool marks: and the straight edge is not quite straight, but, seen close, shows slight
divagations. The effect of such approximations is to contribute very much to the aesthetic quality in workmanship
which I shall call diversity.»
66
Ruskin 2007, S. 172: «We have now to consider what reward we obtain for the performance of this
duty, namely, the perpetual variety in every feature of the building.» Der Text ist ein Kapitel seines 1851 bis 1853
erschienenen Werks «The Stones of Venice».
67
Ebd. S. 172.
68
Ebd. S. 154.
35
accuracy of tools to be precise and perfect in all their actions. If you will have that precision
out of them, and make their fingers measure degrees like cog-wheels, and their arms strike
curves like compasses, you must unhumanize them.»69 Die Eigenschaften des Handwerkers und
die Freude an der Arbeit sind es für ihn, welche direkt die entsprechenden Eigenschaften des
Gebäudes erzeugen.
Pye gesteht Ruskin wichtige Erkenntnisse in Bezug auf das Handwerk zu, stellt diesen aber
eine massive Kritik entgegen.70 Sie beruht vor allem darauf, dass dieser mit dem Ablehnen
von regulierter Umsetzung einen grossen Teil handwerklicher Arbeit abwertet, nämlich die
mit handwerklichen Mitteln erfolgende, sehr regulierte Ausführung von Entwürfen. Dazu
Ruskin: «Wherever the workman is utterly enslaved, the parts of the building must of course be
absolutely like each other; for the perfection of his execution can only be reached by exercising
him one thing, and giving him nothing else to do. The degree in which the workman is degraded
may be thus known at a glance, by observing whether the several parts of the building are similar
or not (...).»71
Pye argumentiert, dass gerade zur Zeit Ruskins die meisten sehr regulierten Arbeiten durch
riskante Fertigung entstanden, was ein grosses handwerkliches Können erfordert. Diese Art der
Arbeit ignoriere Ruskin: «What Ruskin was inveighing against was not hard labor, but patient
work.»72
Die positive Wertung Ruskins für das freie Umsetzen eines Entwurfes offenbart nach Pye ein
weiteres Missverständnis: Er wertet die Arbeit nach ihrem kreativen Moment. «He writes (...) as
though workmanship were almost synonymous with ornament.»73 Dass Ruskin eine Arbeit nur
dann als human anerkenne, wenn sie ein entwerferisches Element hat, entwerte die Motivation,
die aus dem Beherrschen der Arbeit kommt, und damit die Ausführung selbst.
Dies offenbart eine grundlegende Diskrepanz. Ruskin stuft die Arbeit nach dem Element der
Kreativität ein und wertet dadurch diejenige Arbeit ab, die sich einem bestimmten Zweck
unterwirft. Dazu passt, dass Ruskin nicht zwischen dem Bauhandwerker und dem Bildhauer
trennt. Während er das kreative Moment der handwerklichen Arbeit glorifiziert, übersieht
er eine Qualität der Arbeit, die für Pye zentral bei handwerklicher Fertigung ist, nämlich
die Unterordnung des eigenen Ego unter die gestellte Aufgabe. Damit hat der britische
69
Ebd, S. 161.
70
Pye 1968, S. 126: «The intrinsic importance of these ideas is not diminished by the fact that so much
rubbish has derived from illegitimate extensions of them.»
71
Ruskin 2007, S. 161.
72
Pye 1968, S.118.
73
Ebd. S. 118.
36
Kunsthistoriker eine Sichtweise auf Handwerk begründet, die bis heute nachwirkt.
Pyes und Ruskins Auffassungen von Handwerk stehen sich diametral gegenüber. Der
Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts beurteilt Handwerk nach der kreativen Originalität, die
sie aufweist; eigentlich spricht er oft über Kunsthandwerk. Pye hingegen sieht das Ideal des
Handwerks in einer Arbeit, die sich der gestellten Aufgabe unterordnet, ohne per se einen eigenen
Ausdruck anzustreben, solange dies der Aufgabe widerspricht. Für Pye hat Handwerk eine
dienende Funktion.
Ruskins Thesen bilden die Grundlage für jene vermeintliche Dualität, die Handwerk als
rückwärtsgewandte, letztlich irrelevante und auf formale Eigenschaften von Rustikalität und
Unpräzision reduzierte Form der Fertigung der industriellen Moderne gegenüberstellt.
Für John Ruskin wäre diese
Arbeit, die sehr regulierte
Umsetzung eines Entwurfes,
wahrscheinlich das Werk eines
versklavten Handwerkers.
Detail eines barocken
Schranks im Mainfränkischen
Museum in Würzburg.
37
6. Exkurs: Spezifika des Zimmererhandwerks
Die folgende kurze Einführung in die Besonderheiten des Zimmererhandwerks bildet die
Grundlage für die weiteren Ausführungen.
Abgrenzungen
In der frühen Neuzeit ist die Nennung des Zimmererhandwerks als eigenständiger Beruf bereits
selbstverständlich.74 Die Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert75 unterscheidet die Zimmerei
(‹Charpente›) von der Arbeit des Bautischlers (‹Menuisier en Batiments›). Aus den dort
beiliegenden Kupferstichen geht hervor, dass die Zimmerer mit der Konstruktion von Häusern,
Dächern und Maschinen in Holz befasst sind, also konstruktive, statisch wirksame Bauteile
bearbeiten, während die Bauschreiner Türen, Fenster, Täferungen und Einrichtungen bauen.
Diese Unterteilung gilt im Grossen und Ganzen bis heute.
Es kann festgehalten werden, dass die klassischen Arbeiten der Zimmerei die Konstruktion
des Hauses umfassen. Die Arbeit ist geprägt durch den Umgang mit schweren Bauteilen und
physischer Anstrengung.
Werkzeuge
Handwerkzeuge ohne Maschinenantrieb
Das wichtigste persönliche Werkzeug ist bis heute der Latthammer (Zimmermannshammer)
mit zwei ungleich langen Spitzen. Er dient nicht nur dem Einschlagen und Ziehen von Nägeln,
sondern auch als Hebel und zum dosierten Bewegen schwerer Lasten. Die längere Spitze ins
Holz geschlagen ergibt einen Handgriff und Hebel zum Versetzen schwerer Bauteile.
Die Bedeutung der Axt für das vormoderne Zimmern ist kaum zu überschätzen. Sie wurde vom
Fällen der Bäume über deren Bearbeitung zu Balken bis zur Herstellung von Verbindungen
und zur Oberflächenbehandlung benutzt. Die Fällaxt, die der allgemein bekannten Form einer
Axt entspricht, wurde zum Fällen der Bäume verwendet. Mit der Bundaxt, die eine schmale
Schneide und oft einseitigen Anschliff hat, werden Kerben hergestellt und Stämme grob vierseitig
74
In einer Darstellung der Karfreitagsprozession in Trier aus dem Jahr 1778 ist ein Zimmermann durch
einen Hammer und eine Stossaxt kenntlich gemacht, während ein Schreiner Gestellsäge und Hobel trägt. Die
Stossaxt im Bild ähnelt sehr der ‹Besaiguë› genannten, in Frankreich bis heute üblichen Form, wie sie auch in
Didérots Enzyklopädie gezeigt wird. Abbildung in Dühr 2015, S. 29.
75
38
Didérot, d`Alembert 2009.
Die Tafeln 48 bis 51 zum Kapitel «Charpente» aus der Enzyklopädie von Didérot und d`Alembert
von 1765 zeigen Zimmererwerkzeuge, die sich bis heute im Prinzip kaum verändert haben.
39
besäumt, während das Breitbeil zur feineren
Oberflächenbehandlung genutzt wird. Die
Kreuzaxt mit zwei schmalen Klingen, von
denen eine längs und eine quer zum Griff
steht, dient dem Herstellen von Nuten und
Zapfenlöchern. In jüngerer Zeit wird die Axt
vor allem bei der Aufrichte als Hammer zum
Eintreiben langer Sparrennägel und als Hebel
gebraucht. Die Entwicklung leistungsfähiger
Akkuschrauber hat sie weitgehend durch
Holzschrauben ersetzt. Allenfalls kommt sie
noch als Werkzeug zum An- und Einpassen an
nicht sichtbaren Stellen zum Einsatz.
Das Stemmzeug besteht aus den Stechbeiteln
oder Stemmeisen, die von Hand oder mit dem
Glätten einer Balkenfläche mit dem Breitbeil.
Am Bock lehnt eine Bundaxt, mit dem vorher
das Material ‹abgeschwartet›wird.
Hammer getrieben sind. Im Unterschied zu
einem Meissel sind diese nur einseitig gefast,
die Rückseite (Spiegelseite) ist völlig plan
und kann als Anschlag und Referenzfläche
genutzt werden. Hiermit werden Zapfenlöcher
oder Blattsassen gestemmt oder nachgearbeitet. Die Stossaxt ist, ungeachtet des Namens, eine
76
grössere Form des Stemmeisens, die jedoch nur von Hand getrieben wird und zum Glätten und
Anpassen von Verbindungen dient.
Eine weitere wichtige Gruppe von Werkzeugen bilden die Sägen. Je nach Zweck unterscheidet
sich die Zahnung. Für Schnitte quer zur Faser (‹ablängen› und ‹absetzen›) arbeiten die Zähne
eher schneidend, mit der Faser eher schabend beziehungsweise wie viele kleine, hintereinander
angeordnete Hobeleisen. Die Gestellsäge oder Klobsäge mit Längsschnittzahnung dient
dem Herstellen von Brettern aus Balken oder dem Herstellen von Kreuzrahmen (ViertelQuerschnitten) aus Rundhölzern. Sie wird von zwei Personen geführt, während das Werkstück
auf dem Sägebock oder über der Sägegrube liegt.77 Heute ist dieser Schritt praktisch vollständig
auf Sägewerke übertragen. Der Fuchsschwanz oder die Gestellsäge mit Querschnittzahnung
werden vor allem zum Herstellen von Holzverbindungen eingesetzt.
76
‹Blattsasse› bezeichnet die taschenförmige Ausnehmung in einem Balken, welche das Blatt
eines rechtwinklig oder schräg hierzu angebrachten Konstruktionsholzes aufnimmt. Kopfbänder früher
Fachwerkkonstruktionen sind oft auf diese Weise in Ständer und Rähme eingeblattet.
77
Diese Arbeitsschritte sind bereits teilweise im Mittelalter in Sägemühlen mechanisiert worden.
Handgesägte Balken oder Bretter weisen unregelmässigere Spuren, manchmal mit sich veränderndem Winkel,
auf, die Sägespuren der Sägemühlen sind homogener.
40
Im Vergleich zum Möbelschreinern ist der Hobel beim Zimmern nicht sehr bedeutsam, kommt
jedoch auch hier zur Anwendung. Ein bestimmter, ‹Gesellenschinder› genannter Hobel78 wurde
zum Glätten von Konstruktionshölzern mit besonders hohen Anforderungen an die Sichtflächen
genutzt, vor allem aber bei Einbauteilen wie Toren.
Nut- und Falzhobel brauchte es zum Herstellen von Nut und Kamm an Brettern. Profilhobel
ermöglichen das Herstellen von Zierprofilen an besonderen Stellen, vor allem im Ausbau.
Das Ziehmesser mit zwei Griffen an beiden Seiten der Klinge wird benötigt, um die Rinde am
Baumstamm zu entfernen, damit der Schnurschlag zur Definition der fertigen Balkengeometrie
angebracht werden kann. Auch das Herstellen von Fasen oder von Holznägeln aus gespaltenem
Eichenholz ist damit möglich.
Sehr wichtig ist das Reisszeug: Zimmererwinkel, Bleistifte, Lineale, Lote und Schlagschnur.
Letztere wird entlang der anzureissenden Linie gespannt, senkrecht dazu weggezogen und
zurückschnappen gelassen, was einen geraden Strich auch auf unebenem Grund hinterlässt.79
Früher in nassem Holzkohlestaub gewälzt, ist es heute ein kreidegefülltes Behältnis aus
Duroplast. Das Richtscheit ist heute durch die Wasserwaage ersetzt.
Bohrer, ursprünglich als Löffelbohrer mit von Hand zu drehendem, T-förmigem Griff, sind
unersetzlich für die Herstellung der Löcher für die Holznägel, die im westlichen, traditionellen
Holzbau als Lage- und Zugsicherung der meisten Verbindungen dienen. Sehr wichtig ist der
Bohrer auch zur Effizienzsteigerung beim Stemmen von Zapfenlöchern. Hier werden mehrere
Löcher nebeneinandergesetzt, so dass mit dem Stemmzeug nur noch die Wände der Zapfenlöcher
geglättet werden müssen.
Unerlässlich sind auch Hilfsmittel wie Böcke, auf denen das Holz zum Bearbeiten ruht und
eiserne Bundhaken, mit denen es darauf befestigt wird. Seile, Flaschenzüge, Spanngurte,
Hämmer und Hebel bzw. Kuhfüsse oder Nageleisen, sowie Schraubzwingen sind bis heute bei
der Aufrichte unersetzlich.
78
Hobel mit grossem Hobelkasten und zwei Paaren seitlicher Griffe, der von zwei gegenüberstehenden
Personen geführt wird. Die traditionelle Bezeichnung ist ‹Gesellenschinder› in Süddeutschland gemäss Gindhard
2014. Analog dazu wird ein solcher Hobel in der Encyclopédie von Didérot und d`Alembert als ‹Galère›,
(übersetzt ‹Galeere›, aber auch ‹Plagerei, Schinderei›) bezeichnet.
79
Hierzu Ōdate 1998, S. 17: «The skill required for this task is enormous, not only in sawing but in
snapping the line, because many thin lines must be snapped in the complicated surface of the log. Even a slight
uncertainness of the line is not permitted in this work. In the seemingly simple act of snapping a line, great skill
and training are hidden.»
41
Während in ländlichen Gebieten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ganze
Häuser nur mit Handwerkzeugen gebaut wurden, ist heute die Herstellung von Holzverbindungen
für den Neubau weitgehend auf stationäre digitale Abbundanlagen übertragen. Viele
Handwerkzeuge sind jedoch auch im heutigen Zimmern noch mehr oder weniger in Gebrauch,
vor allem für Anpassungen vor Ort. Ein wichtiges Feld sind Restaurierungen und Arbeiten im
Bestand. Hier kommen sie noch oft zum Einsatz, namentlich beim Anpassen neuer Bauteile
an den Bestand. In Fällen, in denen nicht seriell herstellbare Teile gebraucht werden, kann das
Handwerkzeug eine flexible und effiziente Alternative sein.
Elektrische Handmaschinen / Abbundmaschinen
Diese handgeführten Maschinen ersetzen oft die entsprechenden Handwerkzeuge, beruhen aber
auf ähnlichen Prinzipien. Am wichtigsten ist heute die Handkreissäge, mit der Verbindungen
geschnitten und Abläng- oder Besäumschnitte hergestellt werden können. Die Bedeutung der
Handkreissäge als Universalwerkzeug für zeitgenössische Zimmerer kann vielleicht mit jener
der Axt in früheren Zeiten verglichen werden. Kettenstemmer fräsen Zapfenlöcher, Kervenfräsen
können winkelförmige Ausnehmungen beispielsweise in Sparren in voreingestellten Winkeln
fräsen. Hierzu und zum Ablängen werden oft mehrere Hölzer mit grossen Zwingen (‹Knechten›)
hintereinander gespannt und in einem Arbeitsgang bearbeitet. Hand-Oberfräsen ersetzen die
Kreuzaxt zum Herstellen von Nuten. Hobel sind oft deshalb unnötig, weil die Hölzer bereits
im Werk vor Anlieferung maschinell gehobelt werden; entsprechend müssen diese Hölzer
sehr sorgsam behandelt werden, wenn sie am Bau sichtbar bleiben sollen. Zum Nacharbeiten
von Flächen oder zur flächigen Materialabnahme dienen Elektro-Handhobel mit drehender
Messerwelle. Die Entwicklung leistungsfähiger Akkuschrauber und entsprechender Schrauben
hatte in letzter Zeit einen grossen Einfluss auf Holzkonstruktionen. Besonders, da diese exakt
berechenbar sind, werden sie vermehrt konstruktiv eingesetzt, was die Konstruktionsweise
grundlegend beeinflussen kann.
Nagel- oder Klammerpistolen und Magazinschrauber beschleunigen manche Arbeitsschritte,
ohne deren technisches Prinzip zu verändern. Erwähnenswert ist, dass sie viel weniger Können
verlangen als das Eintreiben von Nägeln mit dem Hammer.
Stationärmaschinen
Das Aufsägen von Stämmen in Längsrichtung wurde bereits früh in Sägemühlen mit Wasseroder Windantrieb verlagert, was eine gewisse Vorfertigung und Normierung nahelegt. Während
vormoderne Zimmerer praktisch mit dem Inhalt einer Werkzeugkiste ein Haus bauen konnten,
ist der Investitionsaufwand einer Zimmerei heute ungleich höher. Entsprechend verlagerte sich
der Ablauf der Abbundarbeiten von der Baustelle oder (wechselnden) Richtplätzen in feste
Abbundhallen mit entsprechender Infrastruktur. Die Umstellung auf stationäre Maschinen
erfolgte schrittweise und nicht einheitlich. Grob kann man sagen, dass diese Entwicklung zu
42
Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte und ihren bisher letzten Schub mit der Digitalisierung
erhielt.
Maschinen in Zimmereien umfassen heute die klassischen Werkzeugmaschinen von
Schreinereien wie Tisch- beziehungsweise Formatkreissägen, Dicken-, Abricht- oder
Vierseithobelmaschinen sowie Fräsmaschinen. Die Abbundsäge erlaubt durch mehrere
hintereinander angeordnete Sägeblätter das serielle Herstellen bestimmter Profilquerschnitte oder
Zapfenverbindungen.
Eine sehr einschneidende Veränderung im Zimmererhandwerk ist die Einführung CNCgesteuerter Abbundmaschinen, welche durch verschiedene wechselbare Werkzeuge wie Fräser
und Sägeblätter per Computer definierte Geometrien an Konstruktionshölzern anbringen
können und es so möglich machen, den kompletten Abbund zu automatisieren. Der hohe
Investitionsaufwand bedingt, dass manchmal grössere Firmen den sogenannten Lohnabbund für
kleinere Betriebe übernehmen.
Eine der Abbundhallen der Holzbau AG in Mörel VS im Jahr 2016.
43
Organisation
Branche
Der Bau des Hochstudhauses in Birrwil erfolgte mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Truppe
von Zimmerern, die von der Bauherrschaft und lokalen Hilfskräften unterstützt wurden. Die
Arbeiten umfassten alles Notwendige vom Fällen der Bäume bis zur Fertigstellung. Im Bezug
auf die Arbeitsorte war man flexibel. Da die schweren Stämme sicher nicht unnötig transportiert
wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Bäume im Wald entastet und direkt zur
Baustelle transportiert wurden. Das Bearbeiten zu Balken und der Abbund erfolgten dort.
Die zum Bau hölzerner Konstruktionen notwendigen Arbeitsschritte sind dagegen heute oft auf
verschiedene spezialisierte Betriebe verteilt. In Sägewerken werden aus Stämmen Balken oder
Konstruktionsholz mit normierten Dimensionen und nach Sortierklassen klassifiziert hergestellt.
Sägereien werden auch mit Hobelwerken oder Einrichtungen zum Verleimen kombiniert, um
Leimbinder als Lagerware oder als Sonderanfertigungen herstellen zu können. Die eigentliche
Zimmererarbeit beginnt mit dem Abbund, der meist per CNC-Anlage erfolgt, praktisch immer
aber in einer Abbundhalle. Sehr wichtig ist das Montageteam, das die gefertigte Konstruktion
auf der Baustelle aufrichtet. Günstige Transportpreise bedeuten, dass das Holz zwischen diesen
Stationen teilweise sehr weit transportiert wird.80
Transport und Vorfertigung
Auch im vormodernen Zimmererhandwerk existierte Vorfertigung. Besonders in engen
Städten wurden Konstruktionsteile wie Wände oder Binder auf einem Richtplatz liegend
abgebunden und zusammengebaut. Danach wurden die Nagellöcher gebohrt, die Hölzer mit
Abbundzeichen markiert und zum Transport wieder demontiert. Der grösste Unterschied heutiger
Transportmöglichkeiten liegt in den grösseren möglichen Dimensionen der Bauteile sowie in der
Tatsache, dass sie vor dem Transport nicht mehr komplett demontiert werden müssen. Früher
lag die Obergrenze der Bauteilgrösse da, wo sie mit menschlicher Körperkraft noch sinnvoll
und effizient zu handhaben waren. Heute ist der Strassentransport limitierender Faktor für die
Dimensionen.81
Im vormodernen Zimmern mag es den Fall gegeben haben, dass ganze Wände oder Binder
im Liegen zusammengebaut und dann mit Flaschenzügen in die Vertikale gezogen wurden.
Zeitgenössische Darstellungen wie die Luzerner Bilderchronik von Diebold Schilling aus dem
80
Ein Zimmerer berichtete im Gespräch mit dem Verfasser, dass es heute in der Schweiz günstiger sein
kann, importiertes Holz anstatt regionaler Stämme zu verarbeiten.
81
Hier wiederum ist das Strassennetz ausschlaggebend: Durchfahrtshöhen und Kurvenradien limitieren
den wirtschaftlichen Transport.
44
frühen 16. Jahrhundert zeigen jedoch, wie Gebäude Balken für Balken aufgerichtet wurden.
Der Einsatz von Kränen hat insofern die Möglichkeiten zur Vorfertigung stark erhöht und
Elementfertigung erst ermöglicht.
Montage / Aufrichte
Die Aufrichte ist sehr wichtig, da sie die Konstruktion bereits stark mitbestimmen kann; im
heutigen Zimmern kann man vom zentralen Thema sprechen. Sie beschreibt die Montage der
fertigen Konstruktion am endgültigen Standort. Im klassischen Zimmern zeigt sich hier erstmals,
ob der Abbund richtig war und alle Komponenten passen. Dieser besondere Charakter der
Aufrichte zeigt sich darin, dass nach deren Erfolg bis heute das Richtfest gefeiert wird.
Der Ablauf muss genau geplant sein, und die Bauteile müssen sehr genau zueinander ausgerichtet
werden. Selbst bei sehr genau gefertigten Elementen gibt es in der Montage genug Spielraum,
diese so ungenau zu versetzen, dass die Ungenauigkeiten im weiteren Bauablauf hoch
problematisch werden können. Unpräzision bei den unteren Elementen kann sich im weiteren
Montageverlauf kumulieren. Insofern ist die Montage eine anspruchsvolle Arbeit, die grosse
Verantwortung erfordert. Während Knoten und Verbindungen oft Standardlösungen sind, ist die
Montage bei jeder Baustelle anders.82
Bei der Montage offenbart sich – durch den Umgang mit den schweren Bauteilen, das Arbeiten in
Höhen und eine gewisse Gefahr – auch die physische Prägung im Holzbau.
82
Für Zimmerer und Bauleiter Martin Antemann ist der am schwierigsten zu kontrollierende Bereich im
Holzbau-Prozess nicht der Abbund im Werk, sondern die Montage auf der Baustelle. Daher muss diese als erste
planerisch gelöst werden.
45
Kollektiv
Zimmern ist eine kollektive Arbeit, die eine hierarchische Organisation erfordert. Das Arbeiten
in Gruppen und das möglichst effiziente Zusammenspiel der Kräfte der einzelnen Personen beim
Handhaben schwerer Lasten erfordert Koordination, genauso wie der Einsatz unterschiedlich
qualifizierter Personen an der richtigen Stelle. Meistens ist die Verantwortung über die gesamte
Baustelle bei einer Person gebündelt. Darüber hinaus ist diese Art der Arbeit nur möglich,
wenn ein Konsens im Bezug auf die Art und Weise der Arbeit besteht und auch die Einzelnen
Verantwortung übernehmen. Zuerst gilt das für die Sicherheit, da sorgloses Hantieren die
anderen gefährden kann. Aber auch bei der Arbeit selbst gibt es Gelegenheiten, wo die Qualität
des Schrittes kaum durch Kontrolle gewährleistet werden kann. Das richtige Verkleben
einer Dampfbremse oder die Passung einer Holzverbindung muss vom Ausführenden selbst
gewährleistet sein.
Material
Im historischen Zimmererhandwerk lag der Fokus auf einem sparsamen (nachhaltigen) Umgang
mit dem Material Holz, was sich in der mehrfachen Verwendung von Bauholz niederschlug.83
Reith stellt sogar die Frage, ob Einsparung und Wiederverwendung von Rohstoffen im
Handwerk höher gewichtet wurden als die Entwicklung des Arbeitsprozesses zur Einsparung
von Arbeitskosten.84 Dabei ist nicht nur das Material selbst wertvoll, sondern auch die darin
gespeicherte Arbeit; erspart doch die Wiederverwendung eines Balkens die sehr anstrengende
Arbeit des Bebeilens, Aufsägens und Transportierens, vom Fällen des Baums ganz abgesehen.
Es kann hier nicht geklärt werden, inwieweit dieser Umgang mit dem Material aus ökonomischen
Gegebenheiten oder aus dem Handwerk selbst stammt und inwieweit dies kulturell verankert ist.
Obwohl nicht entscheidend, zeigt dies die Möglichkeiten des Handwerks, mit dem vorhandenen
und nicht homogenisierten Material zu arbeiten. Zudem verweist es auf die zentrale Rolle, die das
Material im Handwerk spielt.
Holz ist zunächst ein gerichteter Werkstoff. Nicht nur sind die Baumstämme linear, auch in der
Struktur des Holzes macht sich diese Linearität durch die Faserrichtung bemerkbar. Holz hat
83Dazu Gerner 2003, S. 50: «Das Bauholz wurde uneingeschränkt so lange – also auch drei-, vieroder fünfmal – wieder verwendet, wie die Holzqualität es zuliess.» Dies muss bei der Altersbestimmung von
Strukturen durch Dendrochronologie (die Altersbestimmung von verbautem Holz durch den Vergleich der
Jahrringstruktur) immer darauf geachtet werden, da es sonst zu massiven Fehldeutungen kommen kann.
84
Reith 1998, S. 26: «Es wäre angesichts dieser Kostenstruktur natürlich eine interessante Frage,
wieweit in der handwerklichen Produktion der Einsparung von Rohstoffen bzw. ihrer Wiederverwertung ein weit
grösseres Gewicht zukam als einer Weiterentwicklung der Produktionstechnik des Gewerbes zur Reduktion der
Arbeitskosten.»
46
verschiedene Eigenschaften, je nachdem, in welcher Richtung zu den Fasern die Last auftritt.
Zwischen den Fasern lässt sich Holz spalten, was bei der Bearbeitung mit Handwerkzeugen oft
genutzt wird.
Eine wichtige Eigenschaft ist das Arbeiten des Holzes, das heisst, seine Volumenänderung mit
Aufnahme oder Abgabe von Wasser aus der Umgebung.85 Diese Bewegungen sind innerhalb
desselben Bauteils sehr inhomogen; in Faserrichtung findet mit insgesamt 0,1 bis 0,3 % die
geringste Längenänderung statt, radial sind es ca. 5 % und tangential in Richtung der Jahrringe
sogar 10 %.86 Dies führt beim Trocknen zwangsläufig zu Spannungen im Holz, welche sich durch
Risse oder unerwartete Geometrieänderungen wie Biegen und Verdrehen mit grosser Kraft zeigen
können. Dieser Faktor ist bestimmend für viele Konstruktionen. Spannungen, die durch das
Einbauen von Hölzern mit nicht parallel verlaufender Faser entstehen, können durch konstruktive
Massnahmen kompensiert werden. Dies sind z. B. Füllungen, die sich frei in Nuten liegend
ausdehnen und zusammenziehen können, das Vorsehen von Toleranzräumen für Setzmasse oder
auch flexible Konstruktionen wie Gratleisten, die das Bewegen der Hölzer relativ zueinander
erlauben. Schliesslich kann durch Verleimen das Arbeiten des Holzes stark minimiert werden,
wie es bei Leimholzbalken geschieht. Hierzu sind aber Arbeitsschritte vom Trocknen über das
Hobeln und Leimen erforderlich.
Das Material selbst ist inhomogen. Es besteht je nach Art ein grosser Härteunterschied zwischen
Früh-und Spätholz (den hellen beziehungsweise dunkleren Bereichen der Jahrringe). Äste, Risse
oder Fehler verändern die Eigenschaften innerhalb desselben Stammes. Splintholz87 unterscheidet
sich je nach Holzart stark in den Eigenschaften und der Dauerhaftigkeit von Kernholz.
Während diese Inhomogenität eher Auswirkungen auf die direkte Verarbeitung hat, ist die
vielleicht entscheidendste Eigenschaft des Holzes als Konstruktionsmaterial – neben dem
Arbeiten – seine Empfindlichkeit gegen Feuchte. Liegen entsprechende Bedingungen vor, grob
gesagt eine bestimmte Temperatur und genug Wasser, dann sind die organischen Bestandteile
des Holzes Nahrung für holzzerstörende Pilze und Insekten. Ist das Holz jedoch ausreichend vor
85
Diese Eigenschaft war bis zur Verbreitung homogenisierter Holzwerkstoffe bestimmend für
Konstruktionen in Holz. Vgl. hierzu Büchner 2011, S. 4: «Auch altes, lange gelagertes Holz arbeitet noch. Daraus
folgert, dass auf das ‹Arbeiten› grösstmöglicher Bedacht zu nehmen ist. Ohnedem wäre das Tischlergewerbe in
vollem Umfange zu erlernen, nicht so schwer.»
86
Schwindmasse zwischen Fasersättigungsbereich (ca. 30 % Holzfeuchte) bis Darrtrocken (0 %).
Angaben nach Nutsch 2007, S. 50. Die Schwindung vom lufttrockenen Holz zu seinem endgültigen Zustand
im Bauwerk ist entsprechend geringer. Dennoch können auch kleinere Volumenänderungen in Holzbauteilen,
bei denen die Faser nicht der Längsachse folgt, zu Verdrehen, Schüsseln oder Biegen führen und auch auf diese
Weise eine Konstruktion schädigen.
87
Bei einigen Holzarten bilden die jeweils äusseren Jahrringe das Splintholz. Dieses kann sehr wenig
dauerhaft und besonders anfällig für Insekten- und Fäulnisbefall sein.
47
Feuchte geschützt, können hölzerne Konstruktionen eine sehr lange Lebensdauer erreichen. Diese
Eigenschaft des Holzes ist entscheidend für seine Verwendung am Bau und von der Planung des
konstruktiven Holzschutzes bis zur Auswahl und Ausbildung von Verbindungen stets präsent.
Aufgrund der erforderlichen Genauigkeit der Passungen in den Holzverbindungen verlangt das
Material ein genaues Arbeiten. Die Masstoleranzen, das zulässige beziehungsweise für eine
Konstruktion ertragbare Mass an geometrischer Unpräzision sind beim Holzbau niedriger als z.
B. beim Mauern.88
Für die Bearbeitung selbst ist es wichtig, dass Holz nicht aufbauend bearbeitet wird, wie es
beispielsweise beim Mauern geschieht, sondern subtraktiv. Wurde einmal Material abgenommen
(z. B. abgesägt), ist dies nur schwer korrigierbar, was sich zwangsläufig auf die Konzentration
und die Voraussicht auswirken muss.
Schliesslich sind die Einzelbauteile relativ schwer. Der Umgang mit schweren Lasten hat
Auswirkungen auf die Arbeitsweise, indem reine Kraftanwendung durch Massnahmen wie Hebel,
Spannvorrichtungen oder dosierte Hammerschläge ergänzt wird. Nicht nur der Kraftaufwand
an sich ist entscheidend, sondern wie dieser dosiert an der richtigen Stelle eingesetzt werden
kann. Es erfordert eine gewisse Umsicht, Bauteile so wenig wie nötig und so sicher wie möglich
bewegen zu können.
Mit der umfassenden Verfügbarkeit von Plattenwerkstoffen wurde die wichtigste Eigenschaft
nicht homogenisierten Holzes, das Arbeiten, ausgeschaltet. Durch Verleimen von Lamellen
können Halbzeuge in gewünschten, auch grossen Dimensionen hergestellt werden, die darüber
hinaus leichter in abstrakten Berechnungen fassbar sind. Diese Homogenisierung hat auch
Folgen bezüglich des Energieverbrauchs und des Ausdrucks des Holzes, aber auch für die daraus
entstehenden Bauwerke. Limitierender Faktor der Lebensdauer ist hier nicht unbedingt das Holz
selbst, sondern kann auch die Leimfläche sein.
88
Duden: «Toleranz: (besonders Technik) zulässige Differenz zwischen der angestrebten Norm und den
tatsächlichen Maßen, Größen, Mengen o. Ä».
48
Diese Konstruktionshölzer sind aus jeweils drei
Lagen verleimt, da Lärche stärker als andere
Nadelhölzer zum Verwerfen neigt. Sie sind
maschinengehobelt und in einer Abbundanlage
bearbeitet.
Der handgehauene Balken zeigt die stark
faserige, lineare Struktur, die das Arbeiten mit
dem Holz bestimmt.
Längs zur Faser wird anders gearbeitet als
quer dazu. Beim Herstellen des Zapfens wird
hier quer zur Faser mit dem Stechbeitel gestemmt. Längs kann das Holz auch gespalten
werden.
49
Schwelle Ferienheim Büttenhardt
50
II Bauhandwerk
1. Drei Thesen zum handwerklichen
Arbeitsschritt In diesem Kapitel werden drei Thesen vorgestellt, welche zusammen eine Definition
handwerklicher Arbeitsschritte ergeben. Handwerk wird durch eine Kombination spezifischer
Wissensarten bestimmt. Zudem interagieren die Ausführenden direkt mit dem Material und
bestimmen das Kriterium der Angemessenheit.
Obwohl diese Betrachtung des Handwerks von der gebauten Architektur ausgeht, ist es nötig,
die Ausführenden in die Betrachtung einzubeziehen, soweit sie den Ablauf der Prozesse und
deren Ergebnisse bestimmen. Die Definition muss diesem integralen Charakter handwerklicher
Fertigung und der gegenseitigen Verknüpfung von Einflüssen gerecht werden.
These 1: Können und Wissen
Vitruv
Vitruvs Beschreibung der ‹fabrica› steht im Zusammenhang mit der Beschreibung des Wissens,
das Architekten für ihre Arbeit benötigen: «Dieses [Wissen] erwächst aus fabrica (Hand-Werk)
und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmässig)
überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die
mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt
wird.»89
89
Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 23: Fensterbusch merkt an, dass die Übersetzung der Definition von
‹fabrica› an dieser Stelle nicht ganz eindeutig ist, so dass er seine Version mit der Beschreibung der Entstehung
des Berufsstandes der ‹fabri› im 2. Buch abglich. Auch dort sind ‹Übung›, ‹Geschicklichkeit›, und die ‹tägliche
Betätigung› zentrale Punkte.
51
Diese Darstellung gibt Hinweise auf den Charakter des Wissens der ‹fabrica›. Die explizite
Erwähnung der stetigen Wiederholung zielt auf das manuelle Können und die Erfahrungen
ab, die durch Übung entwickelt werden.90 Diese physischen Fertigkeiten allein sind für Vitruv
jedoch kein ausreichendes Kriterium für ‹fabrica›. Die Arbeit muss darüber hinaus ‹überlegt›
(‹meditatio›) geschehen. Ausdrücklich werden nicht nur die Hände geübt, sondern auch der
‹Geist›. Diese Kombination aus Wissen und Können soll im Folgenden genauer betrachtet
werden.91
Explizites Wissen
Explizites Wissen ist formulierbar, kommunizierbar und abstrahierbar.
Im Buch «The Concept of Mind» unterschied der Philosoph Gilbert Ryle92 zwei verschiedene
Formen des Wissens. Mit ‹knowing that› bezeichnet er jene Wissensformen, welche
aufgeschrieben oder verbal vermittelt werden können. Faktenwissen gehört zu diesem expliziten
Wissen. Es ist kodifizierbar, kommunizierbar und kann abstrahiert werden. Im Handwerk gehört
hierzu alles, was sich (theoretisch) in einem Fachbuch abbilden liesse.
Dies gilt für das Materialwissen um die spezifischen Eigenschaften des Holzes. Es ist für
dessen Einschätzung während der Bearbeitung relevant und dient der kraftsparenden Arbeit,
zum Vermeiden von Fehlern wie Ausreissen oder Spalten oder um Schwächen im Material zu
erkennen. Auch zum Abschätzen des Materialverhaltens am fertigen Bauwerk ist Materialwissen
nötig. Ebenso wichtig ist das Wissen um die theoretische Wirkweise des Werkzeugs und
seine Pflege. Konstruktionswissen schliesslich beinhaltet das Verstehen der Funktion von
einzelnen Holzverbindungen sowie deren Zusammenwirken in einem grösseren, komplexen
Konstruktionssystem.93 Konstruktionswissen ist also nicht unabhängig vom Materialwissen zu
betrachten.
90
Das Können (‹skills›) wird z. B. als Bestandteil des Handwerks beschrieben bei Pye 1968, Adamson
2007, Sennett 2008, Haefeli et al. 2011. Auch für Karl Marx 1867/1983 ist die ‹Virtuosität der Hand› implizit
Bestandteil des Handwerks, z. B. S. 312, S. 345.
91
‹Wissen› ist nicht mit dem technischen Begriff der ‹Information› gleichzusetzen. Der Begriff der
‹Information› wurde, wie Schindler 2009 zeigt, von dem Mathematiker Norbert Wiener 1948 im Kontext
der Kybernetik eingeführt und beschreibt den Inhalt einer Nachricht, die sich aus Zeichen zusammensetzt.
‹Information› könnte in diesem Zusammenhang z. B. die Geometrie eines zu fertigenden Bauteils sein. Sie ist
abstrahierbar, z. B. in einem Code, und kann in einem Plan oder 3-D-Modell konkretisiert werden. Wissen ist
hingegen teilweise nicht abstrahierbar, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
92
Ryle 2009.
93
Graubner 2014a bezeichnet die Holzverbindungen als die ‹DNA der Konstruktion›.
52
Implizites Wissen: das Können
Das Können bildet einen wichtigen Teil des handwerklichen Wissens, das nicht kodifizierbar
ist. Dieses ‹stille› Wissen wurde von Gilbert Ryle und Michael Polanyi (‹tacit knowledge›)
beschrieben. Es wird durch die Wiederholung von Arbeitsschritten gelernt und ist mit Werkzeug
und Material verknüpft. Intuition, das unbewusste Erkennen von Mustern, ist ein passiver Teil des
impliziten Wissens.
Das Gegenstück zum ‹knowing that› nennt Ryle ‹knowing how›. Er argumentiert, dass viele
Aktivitäten, geistige wie physische, nicht Ergebnis intellektueller Vorgänge sind.94 Dieses
Wissen kann nur durch wiederholtes Üben erworben und gefestigt werden und ist nicht verbal
zu vermitteln. So kann die Tätigkeit des Radfahrens zwar beschrieben, jedoch nicht durch die
Rezeption der Beschreibung alleine erlernt werden. Dieses Lernen ist personengebunden95 und
kann nicht intellektuell nachempfunden werden.
Das ‹stille› Wissen kann auch mit dem von dem Philosophen Michael Polanyi eingeführten
Begriff der ‹tacit knowledge› beschrieben werden: «I shall reconsider human knowledge by
starting from the fact that we can know more than we can tell.»96 Sowohl Ryle als auch Polanyi
betrachten also die physischen Fertigkeiten als eine Wissensform im Sinne des Vermögens,
etwas zu tun. Das Besondere des hier beschriebenen ‹stillen› Wissens ist, dass es nicht nur
unausgesprochen vorausgesetzt wird, sondern überhaupt nicht kodifizierbar ist: Es entzieht
sich der Versprachlichung und ist subjektiv. Die Weitergabe erfolgt durch Nachahmen,
Hineinversetzen (‹indwelling›97) und schliesslich durch eigene Praxis. Verbale Erklärungen
können den Lernprozess begleiten und ergänzen, nicht ersetzen.98 Hierzu Polanyi: «The
performer co-ordinates his moves by dwelling in them as parts of his body, while the watcher
tries to corellate these moves by seeking to dwell in them from outside. He dwells in these moves
by interiorizing them. By such exploratory indwelling the pupil gets the feel of a master›s skill
and may learn to rival him.»99
94
Ryle 2009, S. 15 f.: „Intelligent practice is not a step-child of theory. In the contrary theorising is one
practice amongst others and is itself intelligently or stupidly conducted.»
95
In Japan können Personen zum ‹lebenden Nationalschatz› ningen kokuhō (offiziell ‹Jūyō mukei
bunkazai hojisha›, ‹Träger des immateriellen Kulturerbes›), erklärt werden. Diese Praxis reflektiert die Tatsache,
dass implizites Wissen an den Träger gebunden ist.
96
Polanyi 1966, S. 4
97
Ebd. S. 16 f.
98
Jan Kollwitz erklärt in einem Interview über seine traditionelle handwrkliche Ausbildung in Japans,
dass dort konsequent auf Erklärungen und explizites Zeigen verzichtet werde. Die Lernenden sollen selbst
herausfinden, wie und warum Abläufe in einer bestimmten Art und Weise geschehen. Peters 2010, S.60.
99
Polanyi 1966, S. 30.
53
Das implizite Wissen ist ein wichtiger und selbstverständlicher Teil des Handwerks.100 Man
kann es auch als die ‹Fertigkeiten› oder das ‹Können› bezeichnen. 101 In der Beschreibung
seiner traditionellen Ausbildung zum Bauschreiner macht der amerikanisch-japanische Künstler
und Autor Toshio Odate die beschriebene Rolle der persönlichen Fertigkeiten deutlich.102 In
einem langwierigen Prozess eignete er sich durch Nachahmung und stetige Wiederholung von
Bewegungsabläufen die Fähigkeiten des Handwerks an. Gleichzeitig lernte er die Einstellung
zum Werkzeug, zum Material und zur Arbeit nicht nur theoretisch, sondern bettete diese
umfassend im Unterbewusstsein ein.103
Dabei ist die Arbeit nie wirklich repetitiv: Man bohrt nie zweimal denselben Balken, hobelt
nie zweimal dasselbe Brett. Die minimalen Unterschiede und Eigenheiten des Materials, des
Werkzeugs und der Situation zwingen dazu, die Bewegungen und das Vorgehen auch bei simplen
Arbeitsschritten stets anzupassen, auch wenn dies nicht mehr bewusst geschieht. Handwerkliche
Arbeitsschritte sind in diesem Sinne eher Graduierungen als Wiederholungen. Das jeweils
notwendige Mass an implizitem Wissen ist von aussen ohne entsprechende Erfahrung kaum
einzuschätzen.104 Auch Sennett betont den Wert der Wiederholung für den Lernprozess und
spricht davon, «eine eingeschliffene Praxis [zu] üben, und von innen heraus [zu] verfeinern».105
Michael Polanyi betonte, dass zum Lernen des impliziten Wissens das unvoreingenommene
Nachahmen wichtiger sei als das Verstehen, was ein Vertrauen des Lernenden in die Lehrenden
voraussetzt: „In order to share this indwelling, the pupil must presume that a teaching which
appears meaningless to start with has in fact a meaning which can be discovered by hitting the
100
Wie selbstverständlich ein gewisses Mass an Können im traditionellen Handwerk war, zeigt die
Tatsache, dass in Zimmerer-Lehrbüchern aus dem 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tage beinahe nur explizites
Wissen vermittelt wurde und wird, während das implizite Wissen vorausgesetzt wird; es wird
z. B. sehr selten ein Bewegungsablauf oder das genaue Ausführen eines Arbeitsschrittes beschrieben. Schüblers
Zimmererlehrbuch konzentriert sich auch auf geometrische (Abbund-) Probleme (Schübler 1998). In heutigen
Do-it-Yourself-Büchern oder entsprechenden Blogs werden dagegen konkrete Anweisungen zum Gebrauch von
Werkzeugen und Techniken gegeben, da deren Zielgruppe dieses Können nicht mehr automatisch gelernt hat.
101
Sabine Wilp 2014 spricht vom Handwerk als dem ‹Archiv des praktischen Wissens›.
102
Ōdate 1998.
103
Dieses Wissen ist nicht nur nicht formulierbar. Sein Aufbau geschieht so langsam, dass es selbst für
diejenigen, die diese Fertigkeiten haben, manchmal kaum bewusst reflektiert, sondern für selbstverständlich
gehalten wird.
104
Vgl. hierzu den Bericht eines ‹Selbsthilfeprojektes› der frühen 1980er Jahre. Hier werden zwei
Initiatoren des Projektes zitiert, bei dem ungelernte Personen in Eigenleistung zusammen mit professionellen
Handwerkern eine Hofanlage renovierten. Blomeyer, Tietze 1984, S. 68: «Ursprünglich haben wir so kalkuliert,
dass wir für eine Gesellenstunde zwei Selbsthelferstunden als gleichwertig ansetzten. Das allerdings war ein
verheerender Irrtum. Bei einem Vergleich der Arbeitsleistung einer Facharbeiterstunde und unserer Leistung bei
qualifizierten Arbeiten, wo man Ahnung haben musste, war das Verhältnis häufig 1:10. Erst im Laufe der Zeit
haben wir uns 1:2 angenähert.»
105
54
Sennett 2009, S. 56.
same kind of indwelling as the teacher is practicing. Such an effort is based on accepting the
teacher’s authority.“106
Als eine passive Komponente des impliziten Wissens könnte man die Intuition bezeichnen, das
unbewusste Erkennen von Mustern.107 Durch den Abgleich mit vorher Erlebtem können sehr
schnell und ohne Nachdenken Situationen eingeordnet oder Entscheidungen getroffen werden.
Beim Bearbeiten von Holz beispielsweise wird nicht nur die Eignung eines Balkens für die
jeweilige Aufgabe beurteilt, sondern auch das Material- und Werkzeugverhalten bei jedem Schlag
mit der Axt und jedem Schnitt mit der Handkreissäge permanent neu überprüft und eingeschätzt.
Das stetige Beurteilen bedeutet ein Denken in Referenzen und Vergleichen. Es ergänzt das
analytische Denken in Argumentationsketten. Jede Situation wird permanent mit dem eigenen
Erfahrungsschatz abgeglichen. Das Denken ist dabei nicht von den körperlichen Bewegungen zu
trennen. Mit zunehmenden Fertigkeiten wächst auch die Fähigkeit, sich auf andere Werkzeuge,
Materialien und Situationen einzustellen. Handwerkliches Wissen ist dynamisch und entwickelt
sich stetig weiter.
Zum impliziten Wissen gehört auch eine Entwicklung des Formempfindens, die nicht auf
das Auge beschränkt ist, sondern auch die Koordination von Hand und Auge betrifft. Diese
Urteilsfähigkeit erfasst all jene Formen, deren Entstehung in der Kontrolle der Ausführenden
liegt.108
106
Polanyi 1966, S. 61.
107
Diese Definition folgt Wagner 2005.
108
Bootsbauer z. B. trainieren das Erkennen einer ‹strakenden›, d. h. gleichmässigen Kurve, wie der
Bootsbauer Larry Pardey in seinem Lehrbuch beschreibt (Pardey 1999). Die Gleichmässigkeit der Kurve ist dabei
ursprünglich nicht nur ein ästhetisches Kriterium. Jede Unregelmässigkeit in der Kurve erschwert das genaue
Aneinanderpassen von Planken-Längskanten und bildet eine Punktlast in der fertigen Konstruktion: «Recognizing
Kein Schlag ist wie der andere,
stets wird minimal angepasst.
55
Explizites und implizites Wissen liegen im Handwerk in komplexen Verknüpfungen vor.
Das kann an einem einfachen Beispiel wie dem Austausch eines tragenden Balkens in einem
Dachstuhl erklärt werden: Grundlage für diese Tätigkeit ist explizites Wissen über die
Funktionsweise des Dachstuhls. Es muss klar sein, wie der Balken belastet wird, wo genau Zug
und Druck vorliegt. Das spätere Verhalten der verschieden trockenen Hölzer muss berücksichtigt
werden, ausserdem muss die anzuwendende Reparaturverbindung bekannt sein. Das Verhalten
des Dachstuhles während der Arbeit, das Herstellen von Provisorien (der Hängepfosten muss
abgestützt werden, um während des Austauschs nicht zu sacken), der zeitliche Ablauf sowie
allfällige Gefahren müssen berücksichtigt sein.
Darüber hinaus kommt während des Prozesses durchgehend implizites Wissen zur Anwendung.
Dies beginnt bei der Art und Weise der Behandlung des Holzes beim Herstellen der Verbindung
und schliesst mit ein, wie der schwere Balken in der Enge des Daches bewegt oder gegen
die Reibung mit Hilfe von Hebeln, Nageleisen und Hammer an seinen Platz gebracht wird.
Schliesslich muss die Arbeit in den Kontext des Bauwerks als Gesamtheit eingeordnet werden.
this fairness [of a line] is a developed skill. A boatbuilder who has a ‹good eye› always ends up with a more
artistic, professional looking, easier-to-plank boat.»
Keine Standardlösung:
Der Austausch dieser
Bundstrebe war vor allem
deshalb schwierig, weil er
nicht einfach in seine Lage
gekippt werden konnte. Hier
wirken implizites und explizites
Wissen zusammen.
56
Abstufungen des handwerklichen Wissens
Das handwerkliche Wissen kann in drei Stufen eingeteilt werden. Sie reflektieren die Einbettung
des jeweiligen Arbeitsschrittes in den Gesamtprozess.
Als Kriterium einer Einstufung des handwerklichen Wissens kann gelten, inwieweit ein
Arbeitsschritt im Kontext des Gesamtprozesses gedacht werden kann.
In der ersten Stufe wird Wissen und Können auf den jeweils vorliegenden Arbeitsschritt bezogen,
beispielsweise eine bestimmte Holzverbindung herstellen zu können. Diese Stufe nehmen
Lehrlinge ein. Sie lernen zuerst eine Anzahl solcher Schritte und wiederholen sie, wodurch
Erfahrung im Umgang mit Material und Werkzeug aufgebaut wird.
Die zweite Stufe bezieht das Wissen um die vorherigen und die folgenden Arbeitsschritte in
die Arbeit ein. So kann effizienter, weil vorausdenkender gearbeitet werden. Da Anstrengung
sehr direkt fühlbar ist, wird Erfahrung oft zum Einsparen von Kräften genutzt und in die
Gewohnheiten eingebettet: Erfahrene Handwerker brauchen nur so viel Kraft wie nötig.
In der dritten Stufe kann der einzelne Arbeitsschritt in den Zusammenhang des gesamten
Bauwerks eingeordnet werden. Hier fliessen implizites und explizites Wissen in komplexen
Verknüpfungen zusammen. Das Einschätzen, welcher Schritt der am besten geeignete ist und wie
lange er braucht, die komplexe Logistik der Kombination von Schritten, die oft nur in bestimmten
Reihenfolgen Sinn macht, und das Beurteilen ihrer Auswirkung auf spätere Bauphasen gehören
hierzu. Wichtig ist auch das Choreografieren von Arbeiten, die gemeinschaftlich erfolgen, wie die
Aufrichte grösserer Bauteile. Alle Massnahmen müssen im Massstab des gesamten Bauwerkes
beurteilt werden können. Die Erfahrung mit verschiedenen Situationen erlaubt, durch Anpassen
von Lösungen aus dem Fundus der Erfahrung auch auf völlig neue Situationen reagieren zu
können.
57
These 2: Menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material (Risiko)
‹Risiko› statt ‹Handarbeit›
Handarbeit ist kein klares Kriterium für handwerkliches Bauen. Geeigneter ist David Pyes
Unterteilung in riskante und determinierte Fertigung.
Vitruv erwähnt in seiner Beschreibung des Handwerks auch die direkte menschliche Interaktion
mit dem Werkstoff: die «Formgebung (...) mit den Händen am Werkstoff, je nachdem aus
welchem Stoff das Werk besteht...»109 Das Lernen des impliziten Wissens geschieht ohne
abstrahierende Zwischenschritte direkt über die Wechselwirkung des Bearbeitenden mit dem
Material. Der Aufbau der Fertigkeiten ist die Reaktion auf deren Rückmeldungen.
Soll die menschliche Interaktion mit dem Material ein Kriterium für handwerkliche Fertigung
sein, so muss bei genauerem Hinsehen jedoch genauer bestimmt werden, wann eine solche
Wechselwirkung tatsächlich stattfindet. Eine naheliegende Einschränkung wäre, sie einfach als
‹Arbeit mit den Händen am Material› zu definieren.110 David Pye hingegen lehnt ‹Handarbeit›
als Unterscheidungsmerkmal für handwerkliche Arbeit ab, da dieses Kriterium zu massiven
Abgrenzungsschwierigkeiten führt. «Is anything made by hand?“ fragt er rhetorisch und fügt
hinzu, dass ausser Korbflechten und Bandkeramik eigentlich kein Handwerk ohne Werkzeuge
auskommt.111 Er bemerkt auch, dass es für das gefertigte Objekt irrelevant ist, welche Energie das
Werkzeug antreibt.112 Paulinyi kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass eine Trennung zwischen
Hand- und Maschinenarbeit nicht über eine Beschreibung der Werkzeuge zu lösen ist.113
Sobald ein Werkzeug zwischen die Hand der Ausführenden und das Material
‹zwischengeschaltet› wird, genügt ‹Handarbeit› nicht mehr als unterscheidendes Kriterium.
Pyes Unterscheidung zwischen riskanter und determinierter Fertigung erlaubt hingegen eine
klare Definition menschlicher Interaktion. Die Kontrolle des Risikos durch die Ausführenden
109
Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 23.
110
Die Hand wird gern als Pars pro Toto für das implizite Wissen genutzt. Neben Vitruv vgl. z. B. Juhani
Pallasmaas Buchtitel «The Thinking Hand», Pallasmaa 2009.
111
Pye 1968, S. 25: „Some things actually can be made without tools it is true, but the definition is going
to be rather exclusive for it will take in baskets and coiled pottery, and that is about all.»
112
Pye 1968, S. 25 f.: «Now we are faced with having to agree that the distinction between handicraft and
not-handicraft has nothing to do with the result of handicraft – the thing made: for no one can possibly tell by
looking at something turned, whether it was made on a power-driven, foot-driven, boy- or donkey-driven lathe.»
113
Paulinyi 1990, S. 301: «Ausserdem kam ich zur Überzeugung, dass ein zentrales Problem, nämlich
die klare Herausstellung der Trennungslinie zwischen Handarbeit und Maschinenarbeit über Definitionen des
Handwerkzeuges und der Arbeits-(Werkzeug-)Maschine, wie es K. Marx, später F. Relaux und andere versucht
haben, kaum zu lösen ist.»
58
Beim Bau dieser hölzernen Yacht wurde die
mehrfach gekrümmte Form frei Hand mit einem
Winkelschleifer ausgearbeitet. Es handelt sich
klar um riskante Fertigung, ungeachtet der
Energiezufuhr der Maschine: Das Risiko und
seine Kontrolle liegen bei der ausführenden
Person.
bei der riskanten Fertigung erlaubt den Aufbau des impliziten Wissens. Bei dieser Eingrenzung
ist die Art des Werkzeugs oder der Krafterzeugung nicht per se relevant, sie ist auch nicht
auf ‹klassische› Handwerkzeuge beschränkt. Wird beispielsweise ein Winkelschleifer mit
Schleifscheibe benutzt, um freihändig komplexe Kurven zu fräsen, so liegt riskante Fertigung
vor, also auch direkte Interaktion mit dem Material.114 Bei der determinierten Fertigung hingegen
ist ein Wissensaufbau des impliziten Wissens durch die direkten Rückmeldungen des Materials
nicht möglich, da auch diese Rückmeldungen von der Person des Ausführenden entkoppelt sind.
Hier liegt also keine menschliche Interaktion mit dem Material und Werkzeug vor, selbst wenn
eine ausführende Person das Werkstück von Hand an der Schablone vorbeibewegt hat.
Handwerkliche Fertigung schliesst die direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und
Material ein. Sie liegt dann vor, wenn die Verantwortung über das Gelingen des Arbeitsschrittes
beim Ausführenden liegt.
Die Person, die eine Baustelle leitet, trägt nach aussen hin die Verantwortung über die
Baustelle, organisiert und überwacht die Arbeiten und passt den jeweiligen Plan an die
spezifischen Gegebenheiten an. In dieser Rolle kommen komplexe logistische und auch
114
Paulinyi zieht die Grenze zwischen ‹Hand-Werkzeug-Technik› und ‹Maschinen-Werkzeug-Technik›
ebenfalls an dem Punkt, wo die «Relativbewegung zwischen Werkzeug und Werkstück (...) direkt vom Menschen
bestimmt wird.» Paulinyi 1990, S. 306. Dies entspricht weitgehend Pyes Definition. Durch die Einführung des
Begriffes des ‹Risikos› ist Pyes Beschreibung jedoch prägnanter und leichter fassbar.
59
betriebswirtschaftliche Anforderungen zum Wissen hinzu. Zimmern ist dabei immer eine
konstruktiv-räumliche Aufgabe, welche über die Fertigung des einzelnen Bauteiles hinausgeht.
Werkzeug
Das Werkzeug ist das Medium für die Wechselbeziehung zwischen Ausführenden und Material.
Das Können ist an die Werkzeuge gebunden.
Bauhandwerk ohne Werkzeug115 ist nicht denkbar. Die Handsäge wie die elektrische
Handkreissäge formen das Material, während sie umgekehrt Eigenschaften des Materials für die
Bearbeitenden fühlbar machen. Die Fertigkeiten sind zuerst an das Werkzeug gebunden.
Michael Polanyi beschreibt die Einbettung des Werkzeuges in das implizite Wissen als dessen
«semantischen Aspekt»116. Am einfachen Beispiel eines Taststockes erklärt er die Wirkweise
des Werkzeuges im impliziten Wissen: das Bewusstsein des Stockes in der Hand wird in einem
Lernprozess umgewandelt in das Bewusstsein der Berührung des Stockes mit einem Objekt. Die
Empfindung des Stockes bekommt insofern eine Bedeutung, als sie ein Gefühl des mit dem Stock
berührten Gegenstandes einschliesst.117
Das Werkzeug wird in diesem Sinne zur Verlängerung des Körpers und zum Teil des impliziten
Wissens, welches durch seinen Gebrauch aufgebaut wird. Dies geschieht durch die direkte
Rückmeldung vom Material über das Werkzeug und damit auch die Hand als Medium.118
Alle Sinne sind in die Beurteilung eingebunden. Beim Sägen wird der Materialwiderstand
gespürt, die Abweichung von der Schnittlinie gesehen, ein verbrannter Geruch deutet ebenso auf
Schwierigkeiten beim Schnitt hin wie ein ungewohntes Geräusch der Säge.
115
Laut Duden: «Werkzeug: a. für bestimmte Zwecke geformter Gegenstand, mit dessen Hilfe etwas
[handwerklich] bearbeitet oder hergestellt wird b. Gesamtheit von Werkzeugen, die für eine Arbeit gebraucht
werden», hier ist also die zweite Bedeutung gemeint.
116
«semantic aspect of tacit knowing»: Paulinyi 1966, S. 13.
117
Ebd., S. 12 f.: «Anyone using a probe for the first time will feel its impact against his fingers and palm.
But as we learn to use a probe, or to use a stick for feeling our way, our awareness of its impact on our hand is
transformed into a sense of its point touching the objects which we are exploring. This is how an interpretative
effort transposes meaningless feelings into meaningful ones (...). This is so also when we use a tool. We are
attending to the meaning of its impact on our hands in terms of its effect on the things to which we are applying
it.»
118
Es ist evident, dass die Hand eher in der Lage ist, Unregelmässigkeiten einer Oberfläche zu erfassen,
als das Auge. Das wird besonders beim Glätten von Holzoberflächen durch Hobeln oder Schleifen deutlich.
Wichtiger noch als der Blick längs der Oberfläche ist das Fühlen mit der Handfläche.
60
Jedes Handwerk hat seine spezifischen Werkzeuge119. Das Lernen durch Üben ist an das
Werkzeug geknüpft, das die jeweiligen Abläufe stark mitbestimmt. Diese Rolle des Werkzeuges
als Erweiterung der Hand macht deutlich, warum ein sehr persönliches Verhältnis dazu
entstehen kann – erst das Werkzeug ermächtigt, etwas zu schaffen. Es ist naheliegend, dass es
auch symbolhafte Bedeutung bekommen kann. Ein verbreitetes Berufszeichen der Zimmerer
zeigt Axt, Breitbeil, Säge und Zirkel. Auch Handwerker ohne Sinn für solche Traditionen
werden ihr Werkzeug in Ordnung und geschärft halten, um gute Ergebnisse und vor allem
einen reibungslosen Arbeitsablauf zu ermöglichen.120 Die von Odate beschriebene mystische
Aufladung des Werkzeuges im japanischen Handwerk kann jedoch nicht auf das europäische
übertragen werden.121 Eine aktuelle Überhöhung des Werkzeuges ist eher ein Phänomen der
‹Wiederentdeckung› des Handwerks durch interessierte Laien.
Wie sehr das Können an die Werkzeuge gebunden ist zeigt der Bericht eines Zimmerers, der
in der experimentellen Archäologie tätig ist. Im französischen Guédelon wird gegenwärtig
eine prototypische mittelalterliche Burg mit den rekonstruierten Mitteln der damaligen Zeit
errichtet. Er berichtet, dass die dortigen Zimmerleute im Lauf der Zeit im Umgang mit der Axt
eine Erfahrung gewinnen konnten, die heute nicht mehr die Regel ist. Waren diese Fertigkeiten
einmal erreicht, begannen sie, auch Holzverbindungen mit der Axt zu bearbeiten, die sonst eher
mit Stechbeiteln hergestellt wurden. Hier konnte also mit dem Anwachsen der Fertigkeiten eine
riskantere, dafür effizientere Arbeitsweise gewählt werden.122
Je geringer die Bandbreite der verwendeten Werkzeuge ist, desto grösser kann die Übung mit
dem einzelnen sein. Je grösser dieses Können wiederum ist, desto weniger bedarf es anderer
Werkzeuge. Eine grundsätzliche Veränderung der Arbeitsweise würde auch einen Verlust des
mit dem Werkzeug verbundenen impliziten Wissens bedeuten, was wiederum die Effizienz
119
Ōdate 1998, S. 11: «You may begin to see that the shokunin`s art is difficult, if not impossible, to
separate from his work space, his tools and his equipment.»
120
vgl. dazu Blomeyer, Tietze 1984, S. 76 zu den Werkzeugen von wandernden Zimmerergesellen: «Als
nicht realistisch erwiesen sich der totale Verzicht auf eigenes Werkzeug oder die Beschränkung auf die wenigen
Werkzeuge, die man auf der Fusswanderung bequem mit sich tragen kann. Nicht alle Werkzeuge sind vor
Ort beliebig ausleihbar. Zustand, Wartung und Handhabungseigenschaften entsprechen oft nicht den eigenen
Ansprüchen des Handwerkers.»
121
Ōdate 1998, S. 179: «What the Westerner should understand about Japanese tools is that an appreciation
of them involves much more than simple utility. I have already alluded to the fact that a plane blade is not
necessarily of the highest quality just because it cuts well. For the shokunin, utility and appearance must be
enhanced by a tools ‹presence›, that is, its refinement and dignity.»
122
Der Zimmermeister Thomas Gindhard berichtet vom Beispiel einer Renovation, wo das Herstellen von
Kerven in Sparren mit der Axt «schneller ging, als die Kervenfräse aus dem Auto holen zu gehen», Gindhard
2014.
61
vermindert.123 Dies kann die «Beschränkung der Handwerkzeuge auf wenige Prinzipien»124
erklären. Die Werkzeuge sind also über die rein technischen Anforderungen hinaus mit dem
jeweiligen Handwerk verknüpft.
Material
Das Material gibt der Hand Rückmeldungen, die Bearbeitung ist eine Wechselwirkung zwischen
Hand und Holz.
Neben der Hand und dem Werkzeug ist das Material die dritte Komponente beim Aufbau des
impliziten Wissens. Ist die direkte Interaktion mit dem Material – nicht allgemein mit Holz,
sondern mit dem konkret vorliegenden, individuellen Stück Holz mit seinen individuellen
Besonderheiten – ein Bestandteil des Handwerks125, dann gehört hierzu die aus Erfahrung
gewachsene Fähigkeit zum Einschätzen dieses Materials. Je nach Wachstum des Baumes,
der Trocknung, Holzfehlern und Einschnitt können innerhalb einer einzigen Holzart grosse
Unterschiede im Bezug auf die Festigkeit, die Witterungsresistenz und das Arbeiten auftreten.
Heutige Festigkeitsnormen können auf diese Unterschiede durch formale Kriterien wie
Sortierklassen Rücksicht nehmen. Die individuelle Beurteilung ermöglicht hingegen, konkrete
Qualitäten des Materials wie eine besondere Wuchsrichtung für die Konstruktion zu nutzen. Auch
manche Techniken wie das Spalten werden erst durch die direkte Beurteilung möglich.126
123
Gerner 2003: «Hauptziele der Zimmererarbeit war es, konstruktiv rationelle, sichere – heute würde man
sagen, nachhaltige – Ergebnisse zu erzielen. Dazu gehörte schnelle Arbeit mit ‹groben› Werkzeugen wie Äxten,
Beilen, Schrotsägen, weiter sägerauhe, gebeilte oder gedechselte Oberflächen und schliesslich Holzverbindungen,
die sich mit den genannten Werkzeugen wiederum rationell herstellen liessen.»
124
Schindler 2009, S. 97. Das wenig elaborierte Äussere älterer Handwerkzeuge im Vergleich zu heutigen
darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese sehr optimiert für den jeweiligen Zweck sind. Die im
Traktat von André Roubo dargestellte Hobelbank z. B. besteht nur aus einer massiven Platte, sowie den darin
eingezapften ebenfalls massiven Beinen, und hat kaum bewegliche Teile wie Zangen usw. Der amerikanische
Journalist, Schreiner und Buchautor Christopher Schwarz, der auch Herausgeber einer Übersetzung von Roubos
Werk ist, konnte durch Nachbau und Gebrauch dieser Hobelbank deren sehr breite und effiziente Verwendbarkeit
darstellen. Vgl. Schwartz 2015.
125
126
Adamson (2007, S.1) spricht von ‹craft› als «specific processes carried out in specific materials».
Gespaltenes Holz produziert keinen Verschnitt und ist durch die unverletzt, die ganze Länge
hindurchgehenden Fasern sehr viel stärker als Gesägtes. Weiterhin nimmt es weniger Wasser auf, da dieses zuerst
über die verletzten Zellwände der Fasern eindringen kann. Schindeln sind daher in der Regel gespalten. Spalten
ist darüber hinaus sehr viel effektiver als das längsseitige Aufsägen von Hand. Dagegen ist der durch Spalten
entstehende konische Querschnitt für die determinierte Fertigung kaum geeignet.
62
These 3: Angemessenheit
Neben dem spezifischen, handwerklichen Wissen und der direkten menschlichen Interaktion
gibt es eine dritte Komponente der Definition. Nicht Perfektion, sondern Angemessenheit ist das
Kriterium, die Qualität handwerklicher Arbeit zu bewerten.
Ethos
Ein Ethos umfasst ungeschriebene Regeln des Handwerks. Bei dessen Entstehen sind
pragmatische und kulturelle Aspekte nicht zu trennen. Das Ethos wird in der Lehrzeit
weitergegeben und kann, wie die Erfahrung, verinnerlicht sein.
Um das Risiko eines gescheiterten Arbeitsschrittes zu reduzieren, genügen die Fertigkeiten der
Ausführenden nicht. Sie müssen nicht nur ‹können› und ‹wissen›, sondern auch ‹wollen›, also
Sorgfalt (Pye: ‹care›) aufbringen. In diesem Falle wird also eine vorausschauende, prospektive
Verantwortung für das Gelingen des Arbeitsschrittes übernommen. Die Ausführenden müssen
motiviert sein, diese Verantwortung anzunehmen. Theoretisch wäre die notwendige Sorgfalt auch
durch äusseren Druck zu erreichen, dies scheint jedoch bei näherem Hinsehen wenig realistisch.
Im Kapitel «Geschwächte Motivation»127 erläutert Sennett am Beispiel der Bauwirtschaft der
Sowjetunion, dass ein von aussen kommender moralischer Imperativ wenig erfolgversprechend
ist. Bei den meisten Zimmererarbeiten folgen sehr viele Einzelschritte aufeinander. Jeder einzelne
bietet die Möglichkeit von Nachlässigkeiten, deren Folgen oft nicht oder sehr spät sichtbar
werden. Die Überwachung müsste praktisch eins zu eins geschehen128. Palla zitiert aus dem 1697
127
Sennett 2009, S. 43.
128
Bei waagerechten Ausfachungsbohlen, die mit Nut und Kamm verbunden sind, genügt es, die Bretter
mit der Nut nach oben anstatt nach unten einzubauen, um die potentielle Lebensdauer der Konstruktion stark
einzuschränken, da sich in den Nuten eindringendes Wasser sammeln und Fäulnis hervorrufen kann. An der
fertigen Konstruktion würde man diesen Fehler nicht sehen. Ein aktuelles Beispiel ist das gewissenhafte
Es ist praktisch unmöglich, das Gelingen der
vielen einzelnen Schritte durch reine Kontrolle
zu gewährleisten, wenn Können und Sorgfalt
nicht vorliegen.
63
erschienenen Buch über den Schiffbau von Cornelis van Yk, der die Unumgänglichkeit
von ‹Treue und Gewissenhaftigkeit› der Zimmerleute betont, da eine Überwachung aller
Arbeitsschritte praktisch nicht möglich sei.129 Auch bei Vitruv ist die Rede von einem «Streben,
das ihnen [den ‹fabri›] beigesellt war».130
Tatsächlich ist das innere Streben nach Qualität der Kern von Sennetts Definition des Handwerks:
ein «dauerhaftes menschliches Grundbestreben (...) eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu
machen.»131
Der Architekt und Philosoph Martin Düchs beschreibt in seiner Untersuchung von «Ethik
und Moral des Architekten» ein Ethos als die «Sitten, Normen und Gebräuche», die innerhalb
einer bestimmten «gesellschaftlichen Gruppe» gelten.132 Diese unausgesprochen geltenden
Normen sind also nicht willkürlich, aber wandelbar. Das Ethos bildet das Bezugssystem der
handwerklichen Fertigung. Somit entspricht es einer Haltung, die sich (langsam) anpasst und
im Detail unterschiedlich verstanden werden kann.133 Es ist zeit- und gesellschaftsgebunden
und abhängig vom kulturellen Umfeld. In verschiedenen Kulturen kann es unterschiedliche
Ausprägungen erhalten: Das Ethos des japanischen ‹shokunin› ist ein anderes als das des
europäischen Zimmerers im 18. Jahrhundert, dieses wiederum anders als das seiner heutigen
Kollegen.
Während die genaue Ausprägung des Ethos – was genau als Regelkanon vorliegt – abhängig
vom kulturellen Kontext und wandelbar über die Zeit ist, kann das Vorhandensein eines Ethos
unabhängig vom Kulturkreis zur Beschreibung einer handwerklichen Fertigungsweise gehören.
Das Streben nach einer hohen Qualität der Arbeit als Teil des handwerklichen Ethos kommt
in vielen Definitionen des Handwerks vor. Bei Pye ist es vor allem im Begriff der Sorgfalt
(‹care›) enthalten. Graubner bezeichnet Handwerk sogar als eine «Lebenseinstellung» mit dem
Ankleben von Dichtungsfolien. Die Möglichkeiten, am Bau solche Fehler zu machen, sind sehr reichhaltig.
129
Das Buch «De Nederlandsche Scheepsbouwkonst» von Cornelis van Yk erschien 1697 in Amsterdam.
Zitiert nach Palla 2014.
130
Vitruv, Fensterbusch 1981, S. 83.
131
Sennett 2009, S. 19.
132
Düchs 2011, S. 41: «Unter ‹Moral› verstehe ich die Sitten, Normen und Gebräuche, die in einer
Gesellschaft gelten, ohne dass sie explizit begründet wären. ‹Ethos› verstehe ich analog zum Begriff der Moral,
allerdings bezieht sich die Geltung der Normen, Sitten und Gebräuche nur auf ein näher zu bestimmendes
gesellschaftliches Subsystem bzw. eine gesellschaftliche Gruppe.»
133
Das schwierige Wort der ‹Handwerksehre› ist in diesem Zusammenhang zu sehen und meint nichts
anderes als das Einhalten bestimmter (Verhaltens-) Normen, die innerhalb einer Gemeinschaft, hier den anderen
Handwerkern, gelten.
64
Anspruch der «Verfeinerung des Charakters»134 des Handwerkers. Für ihn ist handwerkliches
Arbeiten das Schaffen mit einem Ziel, welches der Erfüllung individueller Vorstellungen
übergeordnet ist. Nach seiner Ansicht hat Handwerk eine dienende Funktion, die dem Bedürfnis
nach «Selbstdarstellung des Individuums»135 widerspricht; es strebt also keine Originalität an.
Diese Haltung beruht auf Traditionen, auf einem Lernen durch Imitieren und der Einordnung des
Individuums in Hierarchien.
Das handwerkliche Ethos entsteht jedoch aus verschiedenen Einflüssen und ist auch eng mit
pragmatischen136 Gesichtspunkten verknüpft. Die abgelieferte Qualität bestimmt die Reputation
des Handwerkers, von der das Einkommen abhängen kann. Eine schlechte Arbeit ist gerade
im Zimmern oft sehr gut sichtbar. Die unmittelbare Konfrontation mit seinem Versagen formt
Handwerker insofern, als dass die Selbstlüge nur schwierig möglich ist. Schlechte Arbeit
kann das Vertrauen Fachfremder in die eigene Arbeit oder den Berufsstand schädigen. Das
wiederum fördert eine gewisse soziale Kontrolle innerhalb des Berufes. Polanyi nannte eine
solche Art der inneren Qualitätssicherung im Kontext der Wissenschaft ein «system of mutual
control»137. Schlecht ausgeführte Arbeit bedeutet oft auch zusätzliche Kosten aus Garantiefällen.
Schon immer bestand auch potentiell Gefahr für Leib und Leben. So liegt es nahe, dass unter
bestimmten Umständen zumindest ein Interesse an Qualitätskontrolle vorhanden sein muss,
selbst wenn man Sennetts These des ‹menschlichen Grundstrebens› nicht folgen möchte.
Ein Ethos ist nicht von pragmatischen Gedanken zu trennen, andererseits kann man es auch nicht
auf rein eigennützige Beweggründe reduzieren. Sehr wichtig ist auch die gesellschaftlich-soziale
Anerkennung des Handwerkers. Ist sie verloren, kann auch das Ethos schwer aufrecht gehalten
werden.
Handwerkliche Prägung
Wie in der Ausbildung das implizite Wissen durch ständige Wiederholung von
Körperbewegungen aufgebaut wird, so gilt das auch für Gewohnheiten, für die Art und Weise
wie etwas getan wird: Auch das Ethos kann verinnerlicht werden. Auf diese Weise werden auch
Qualitätsstandards oder innere Haltungen durch Abschauen und Hineinversetzen übernommen,
134
Graubner 2014 b.
135Ebd.
136
Duden: «pragmatisch: auf die anstehende Sache und entsprechendes praktisches Handeln gerichtet;
sachbezogen». Auch der Bauingenieur und Zimmerer Martin Antemann betont die pragmatische Denkweise im
Handwerk. Antemann 2015.
137
Polanyi beschreibt die Selbstkontrolle der Wissenschaft so: „I would call this the principle of mutual
control. It consists, in the present case, of the simple fact that scientists keep watch over each other. Each scientist
is both subject to criticism by all others and encouraged by their appreciation of him.“ Polanyi 1966, S. 72
65
die Teil einer persönlichen Arbeitsweise werden können.138 Nach Graubner wird Ethos im
Handwerk während der Lehre als ‹Haltung zu den Dingen› verinnerlicht. Die Ausbildung
bedeutet also nicht nur ein Vermitteln von Wissen, sondern stellt auch eine Konditionierung im
Bezug auf die Herangehensweise an die Arbeit dar.
Neben dem in der Lehre übernommenen Ethos formt die physische Auseinandersetzung mit dem
Material mit Anstrengungen, aber auch mit Herausforderungen eine handwerkliche Prägung, die
wie das Wissen integral ist und geistige und physische Komponenten umfasst.
Die Beschränkung der Ressourcen
Das Ideal handwerklicher Arbeit ist nicht absolute Perfektion. Die Beschränkung der Ressourcen
limitiert den absoluten Anspruch.
Es wäre ein Missverständnis, im Zusammenhang mit dem Ethos das Streben nach absoluter
Perfektion als einen Teil der Definition des Handwerks zu sehen. Das wird auch in Sennetts
Beschreibung deutlich: wenn er von «Besessenheit» 139 spricht, so meint er das ausufernde
Ausleben eines Qualitätsanspruches, der in keinem Verhältnis zur Aufgabe steht. Es ist auch
möglich, die Arbeit zu gut zu machen. 140
Dies hat mit der Ökonomie141 der eingesetzten Ressourcen zu tun. Im Falle der handwerklichen
Fertigung sind die Ressourcen einerseits die eingesetzte Arbeitszeit (als Lebenszeit und als
bezahlte Arbeitszeit der Ausführenden), die Energie (auch im Sinne der einzusetzenden Kraft
und Anstrengung) und das Material (welches einen eigenen Wert hat, vielleicht schwierig
zu beschaffen ist, oder für dessen Bereitstellung bereits einiges an Arbeitszeit oder Energie
aufgewendet werden musste).142 Der Einsatz dieser Ressourcen kann gegeneinander aufgewogen
138
vgl. hierzu ein Zitat, in dem die Zusammenarbeit zwischen Laien und Zimmerergesellen beschrieben
wird, aus Blomeyer, Tietze 1984, S. 75: «Die Gesellen hatten anfangs ziemlich Schwierigkeiten mit uns. Wir
aber auch mit ihnen. Ein Problem waren sicherlich die unterschiedlichen Fähigkeiten und die daraus wachsende
‹Hierarchie in der Arbeit›. Dann war es aber sicherlich auch die Arbeitsweise. Wir wollten etwas lernen, und die
Gesellen wollten was fertighaben. Vereinfacht gesagt, es immer mit Anfängern und Dilettanten zu tun zu haben,
war für sie, glaube ich, ganz schön schwierig.»
139
Sennett 2009, S. 19.
140
Der Bootsbauer Harry Brian beschreibt die Schwierigkeit, die es vielen Neueinsteigern in das
Handwerk bereitet, zwischen innerem Qualitätsanspruch und ökonomischen Notwendigkeiten abzuwägen. Brian
2009.
141
Dies ist nicht monetär zu verstehen. Hier benutze ich den Begriff Ökonomie in seiner allgemeineren
Bedeutung im Sinne von einem sparsamen Umgang mit etwas. Vgl. Duden: «Ökonomie: (...) 3.
Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit; sparsames Umgehen mit etwas, rationelle Verwendung oder rationeller Einsatz
von etwas.»
142
66
Die Ressourcen können bis zu einem gewissen Grade gegeneinander aufgewogen werden. Mit genug
werden. Hierbei sorgt die Ökonomie für einen verhältnismässigen Einsatz der zur Verfügung
stehenden Mittel. Sie reicht jedoch über puren Pragmatismus hinaus. Toshio Odate beschreibt,
dass Ethos und Selbstverständnis des japanischen Handwerkers ‹shokunin› nicht nur durch
das Können, sondern immer durch die Kombination aus Können und Schnelligkeit bestimmt
wird.143 Er erwähnt wiederholt, dass der sorgsame Umgang mit der eigenen Arbeitszeit und
dem zur Verfügung stehenden Material auch aus einem übergeordneten, gesellschaftlichen
Verantwortungsgefühl herrührt. Auch wenn die Ausprägung des japanischen Handwerksethos
einen Extremfall darstellt, kann der sparsame Umgang mit Ressourcen im Handwerk nicht auf
jeweils rein technische, gesellschaftliche oder ethische Gründe reduziert werden.
Absicht
Die Absicht eines Entwurfes bestimmt den Umgang mit beschränkten Ressourcen. Sie geht über
reine Funktion hinaus.
Handwerkliche Arbeit hat also keine absoluten, sondern relative Qualitätsstandards, die immer
mit dem jeweiligen Ressourceneinsatz abzuwägen sind.
Das anzustrebende Ergebnis wird durch die jeweilige Absicht des Bauwerks vorgegeben.
Zeit kann fehlende Energie kompensiert werden, mit zusätzlicher Energie kann der Prozess beschleunigt werden.
Die Pyramiden wurden mutmasslich mit Hilfe der kumulierten Arbeitszeit tausender Personen gebaut, welche
heute durch die nicht-menschliche Energie von Maschinen kompensiert werden könnte.
143
Ōdate 1998, S. VIII: «(...) shokunin means not only having technical skill, but also implies an attitude
and social consciousness. (...) The value of an object is dependent on a subtle combination of skill and speed. (...)
In short, the pride of the shokunin is the simultaneous achievement of skill and speed. One without the other is
not shokunin.»
In diesem Falle war es im Sinne der Absicht,
Fertigungsspuren zu verwischen: Beim
Geländer an The Monument in London
(Renovation Julian Harrap Architects) wurden
durch handwerkliches Nacharbeiten die
Schweissnähte beinahe vollkommen verborgen.
67
Etymologisch kommt das Wort vom ‹absehen› im Sinne von «zielen, eine Schusswaffe auf
jemanden richten»144 – entsprechend schliesst die Absicht ein konkretes Ziel ein.
Das ‹Gelingen› eines Bauwerks kann nur anhand einer klaren Zieldefinition gemessen werden.
So umfasst es all das, was das Gebäude erfüllen soll und geht über die reine Funktion hinaus. Sie
bildet die Grundlage eines architektonischen Konzeptes. Die Absicht muss dabei nicht explizit
formuliert worden sein, ebenso kann sie durch Tradition oder Konventionen vorgegeben werden.
Balance: Die Angemessenheit
Angemessenheit beschreibt die Balance zwischen dem durch die Absicht definierten angestrebten
Ergebnis einerseits und den eingesetzten Ressourcen andererseits. Sie ist letztlich der Grund für
viele Spuren der Fertigung, die am Bauwerk bleiben.
Die beschränkten Ressourcen müssen gegen die angemessene Qualität für die jeweilige Aufgabe
aufgewogen werden, um zu einem Optimum, einer Balance zu gelangen. Die Angemessenheit
der eingesetzten Mittel bestimmt als relatives Kriterium, ob diese Balance eingehalten wurde.
Sie kommt Vitruvs Begriff des decorum sehr nahe, der ebenfalls die Wahl der angemessenen
Mittel für einen bestimmten architektonischen Zweck beschreibt.145 Insofern ist er auch
übertragbar auf die Art und Weise, wie das Gebäude ausgeführt wird. Ein immenser Aufwand
zum Erreichen hoher geometrischer Präzision an einer Stelle, wo diese nicht für die Absicht
des Objektes wichtig ist, wäre unangemessen.146 In einem Dachstuhl mit grossem Aufwand
alle Bearbeitungsspuren zu entfernen und eine ebenso exakte Geometrie wie beispielsweise im
Eingangsbereich zu erreichen, wäre unpassend.
Pye bemerkt, dass eine vollkommene Übereinstimmung des ausgeführten Objektes mit einem
abstrakten Entwurf nicht automatisch positiv zu werten ist, wenn diese Übereinstimmung
144
Kluge, Seebold 2011, S. 9: «Absicht: Sf std. (16.Jh., Form 17.Jh.). Für älteres Absehen, bei dem sich
die Bedeutung ‹Bestreben, Augenmerk› aus konkretem ‹Ziel, Visier› entwickelte. Zu absehen ‹eine Schusswaffe
auf jmd. richten› (daraus es auf jemanden oder etwas abgesehen haben). Das baugleiche absehen von etwas wohl
unter dem Einfluss von lt. despicere ‹verachten, nicht beachten›».
145
Vitruv, Fensterbusch 1981, S. Buch 1 Kap. II. 5 – 8: «Decor wird durch Befolgung der Satzung,
die die Griechen Thematismos nennen oder durch Befolgung von Gewohnheit oder durch Anpassung an die
Natur erreicht; (...) Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellnymphen werden Tempel, die in korinthischem
Stil errichtet sind, die passenden Eigenschaften zu haben scheinen, weil für diese Götter wegen ihres zarten
Wesens Tempel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken (Voluten) geschmückt sind, die
richtige Angemessenheit in erhöhtem Masse zum Ausdruck zu bringen scheinen. (...) Wenn nämlich das Innere
geschmackvoll ausgeführt ist, die Zugänge aber niedrig und unansehnlich anzusehen sind, dann wird ihnen
die Angemessenheit (decor) fehlen. (...) Ebenso wird decor von Natur her da sein, wenn für Schlafzimmer und
Bücherzimmer vom Osten her Licht gewonnen wird (...).» Cicero hat in «de oratore» den Begriff des ‹decorum›
für die je nach Anlass ‹angemessene› Form eines Vortrages verwendet.
146
Geometrische Unpräzision kann den Ausdruck eines Bauwerks (mit-) bestimmen oder gezielt zum
Erreichen eines bestimmten Ausdrucks genutzt werden. Das japanische Wabi-Sabi, gewollte (und extrem
kontrollierte) geometrische Unpräzision, teilweise in einem von Perfektion geprägten Umfeld, ist dabei ein
Beispiel für einen sehr elaborierten Umgang mit diesem Phänomen.
68
Aufwand bedeutet, der durch den Zweck nicht gerechtfertigt ist. Auch Sennett betont: « the
craftsman does things with minimal force»147. Das Ideal ist nicht ‹so gut es geht›, sondern ‹gut
für den bestimmten Zweck›. Es ist Teil der Verantwortung der Ausführenden zu entscheiden, wie
nahe sie der Zielvorgabe kommen müssen, und wann es ‹gut genug ist›. Sie sind die Sachwalter
der Ressourcen gegenüber dem Auftraggeber und letztlich der Gesellschaft.148
Der Grund für geometrische Unpräzision im Handwerk ist entsprechend kein technischer,
sondern ein ökonomischer. Hier wird die richtige Balance aus Aufwand und Wirkung gesucht.
Die Ergebnisse handwerklicher Fertigung werden oft mit Arbeitsspuren oder geometrischen
Ungenauigkeiten in Verbindung gebracht oder sogar mit diesen gleichgesetzt.149 Dass diese
Unpräzision bei handwerklicher Fertigung nicht aus technischen Zwängen heraus auftritt,
beweisen Beispiele aus dem barocken Holzbau – beispielsweise die Stiftsbibliothek in St. Gallen.
Hier wurde ohne Maschineneinsatz eine Präzision erreicht, die sich mit jener mechanisierter
Methoden vergleichen lässt. Je höher jedoch der Anspruch an die geometrische Präzision ist,
desto grösser wird der Zeitaufwand.
Angemessenheit kann auf eine sehr direkte Art Teil der handwerklichen Prägung sein: Wenn
die physische Erfahrung der Mühe und des Aufwandes zum Herrichten des Materials so präsent
ist, dass es als unangemessen empfunden wird, mit diesem Material nicht verantwortungsvoll
umzugehen.
Auch die Angemessenheit kann ins Ethos eingebettet sein, das ein Bezugssystem ausserhalb des
Individuums darstellt. Gebaute Beispiele einer bestimmten Typologie erlauben beispielsweise,
sich an den jeweils geltenden Standards zu orientieren. Gibt es in der Umgebung viele
Referenzbeispiele, so ist es für Handwerker wie Auftraggeber leicht, die für die vorliegende
Aufgabe ‹richtige› Balance aus Ressourcen – Kraft, Material, Zeit – und erreichtem Ergebnis zu
bestimmen. Traditionen und Ethos können also kollektive Übereinkünfte liefern, was angemessen
ist. Ryle argumentiert bei der Beschreibung des impliziten Wissens, dass auch das Beurteilen,
was passend oder unangebracht ist, ins implizite Wissen eingeht.150
147
Sennett, Boesch 2012.
148
Odate S. 5: «The materials provided to us were often expensive – wood that had been drying for at least
a generation, often special wood prized for its grain. (...) If we made mistakes, no matter how small, they were
permanent reproaches to us, and they could never be truly forgiven or forgotten. Even if we apologized, it was not
simply a matter of the customer shrugging off the error: the mistakes would remain, and nothing could be done
about this. We carried the knowledge of our mistakes all the rest of our lives.»
149
Schindler 2009: «Die Oberflächen eines mit Hand-Werkzeug-Technik bearbeiteten Werkstücks können
geometrisch nicht plan sein – einerseits wegen der Differenz zwischen dem Schnurschlag und der mit Hilfe
des Augenmasses ausgeführten Werkzeugbewegung und andererseits durch die inhomogene Komposition des
Holzwerkstücks.»
150
Ryle 2009, S. 19 f.: .»Intelligently reflecting how to act is, among other things, considering what is
69
Der Kaiserpfosten
Das Beispiel eines in Eichenholz gezimmerten Dachstuhles veranschaulicht den handwerklichen
Umgang mit der Angemessenheit.
Der Dachstuhl eines barocken Bauernhauses besteht aus vier Bindern, welche alle ähnlich
aufgebaut sind, mit einer wichtigen Ausnahme.
Nur einer spannt über die ganze Breite des Hauses, während die anderen alle in der Länge durch
Wände unterstützt werden. Nur bei dem freitragenden gibt es als Besonderheit einen zentralen
Hängepfosten, der am First zwischen den beiden Bundstreben aufgehängt ist und bis zum unten
liegenden Zerrbalken durchläuft. Da dieser fast neun Meter lange Balken nicht auf einer Wand
aufliegt, ist der Hängepfosten notwendig, um dessen Durchhängen zu verhindern.
Der Hängepfosten ist durch Fasen geschmückt, die mit konkaven, abgesetzten Enden versehen
sind. Der Schmuck an sich ist nicht bemerkenswert, sondern die Tatsache, dass er überhaupt
existiert. An keiner anderen Stelle des Daches kommen solche Fasen oder solcher Schmuck vor,
eine Zweitverwendung des Pfostens ist ebenfalls ausgeschlossen. Zu genau sind die Fasen auf die
Knotenpunkte abgestimmt. Eine repräsentative Funktion scheidet ebenfalls aus: Dieser Binder
überspannt den Heuboden und ist am fertigen Haus praktisch nicht sichtbar.
Die Erklärung liegt im Begriff des ‹Kaiserpfostens› (engl. ‹king post›). Diesem Bauteil, welches
den gesamten Binder zusammenhält, wurde besondere Aufmerksamkeit der Ausführenden zuteil.
Nur hier gibt es diesen Schmuck, an allen anderen Stellen des Dachstuhls wurde die Arbeit sehr
effizient ausgeführt. Die Passungen der Holzverbindungen sind sehr genau, aber die Oberflächen
weisen starke Beilspuren auf.
Ist der Schmuck des Kaiserpfostens angemessen? Schliesslich wurde hier mehr Arbeitskraft
als notwendig in das später praktisch unsichtbare Bauteil gesteckt. Gemessen am Aufwand
der Bearbeitung des gesamten Dachstuhles ist die hier konzentrierte Mehrarbeit jedoch
verschwindend gering. Hier wurde eine Tradition gewahrt, welche aus der Wertschätzung der
eigenen Arbeit entstand und wichtig für die Motivation ist.151 Beim Abwägen zwischen den
Ressourcen und der Absicht besteht immer ein Ermessensspielraum.
Gemessen an der Absicht, ein haltbares, tragfähiges Dachtragwerk für ein Wohnhaus mit
pertinent and disregarding what is inappropriate. Must we say that for the hero`s reflections how to act to be
intelligent he must first reflect how best to reflect how to act? The endlessness of this implied regress shows that
the application of the criterion of appropriateness does not entail the occurrence of a process of considering this
criterion.»
151
W. Graubner zeigte bei einem Vortrag am 18.03.15 in Luzern ein Bild eines Kaiserpfostens im
Dachstuhl einer Kirche, der, obwohl völlig versteckt, dennoch stark geschmückt (spiralig geschnitzt) war.
70
grossem Ökonomietrakt herzustellen, sind die Massnahmen absolut angemessen. Dasselbe gilt
für die Beschränkung der Ressourcen: Das vorhandene Holz wurde möglichst vollständig und
seinem Einsatzzweck entsprechend optimiert so eingebaut, dass eine Konstruktion mit langer
Lebensdauer entstand. Ein Glätten der Hölzer wäre wiederum eine Verschwendung an Arbeitszeit
und Kraft gewesen. Gerade in diesem von Pragmatismus geprägten Kontext bedeutet der
eigentlich minimale, aber nicht notwendige Mehraufwand für das Herstellen der Zierfasen eine
besondere Aufmerksamkeit, die der Arbeit bewusst gewidmet wird. Im Laufe der Zeit ist diese zu
einem Teil der Tradition geworden.
Der Kaiserpfosten ist die vertikale Säule in Bildmitte unten.
Er ist am gesamten Dachstuhl das einzige Bauteil mit den
beschriebenen Zierfasen, wie rechts zu sehen.
71
2. Thesen: die Fertigungsweisen in der
Architektur
Die in den vorigen Kapiteln erörterten Thesen – Können und Wissen, menschliche Interaktion mit
dem Material und Angemessenheit – definieren eine handwerkliche Fertigungsweise. Sie kann je
nach der Breite der Verantwortung differenziert werden. Verschiedene weitere Fertigungsweisen
werden vorgestellt.
Handwerkliches Bauen
Von handwerklicher Fertigung kann gesprochen werden, wenn alle drei der als Thesen
eingeführten Kriterien erfüllt sind:
Erstens wird explizites und implizites Wissen kombiniert angewendet.
Zweitens besteht eine direkte Interaktion zwischen den Ausführenden und dem Material
über das Medium des Werkzeugs. Die Verantwortung für das Gelingen des Arbeitsschrittes liegt
bei den Ausführenden.
Drittens wird das Ergebnis des Arbeitsschrittes nicht an absoluten Standards gemessen, sondern
hinsichtlich der Angemessenheit.
Für diese Arbeit möchte ich für die handwerkliche Fertigung in der Architektur den Begriff
handwerkliches Bauen benutzen. Die Faktoren, welche bei Pye die Kontrolle des Risikos
ermöglichen, ‹judgement›, ‹dexterity› und ‹care›, sind in dieser Definition enthalten. Die
Beurteilung und das Können (‹judgement› und ‹dexterity›) entsprechen der Kombination aus
explizitem und implizitem Wissen, die Sorgfalt (‹care›) spiegelt sich in der Beurteilung der
Angemessenheit. Das Übernehmen von Verantwortung ist Teil des Handwerks. Eine wichtige
graduelle Unterscheidung, die in Pyes Konzept der riskanten Fertigung nicht enthalten ist, liegt
aber in der Spanne der Verantwortung. Die Frage ist dabei: Was wird als das zu schaffende
Werk152 angesehen? Es ist ein grosser Unterschied, ob Ausführende verantwortlich für das
jeweilige Bauteil sind, an dem sie arbeiten, oder das gesamte Gebäude als das Werk ihrer
Arbeit ansehen. Auf diese Weise lassen sich drei Abstufungen des handwerklichen Bauens
unterscheiden.
152
Kluges Ethymologie setzt ‹Werk› in Verbindung mit «wirken: (...) Die Bedeutung ist in den frühen
germanischen Sprachen allgemein ‹machen, herstellen›». Werk ist in diesem Sinne etwas Hervorgebrachtes,
Hergestelltes. Kluge, Seebold 2011.
72
Fragmentiertes handwerkliches Bauen
Beim fragmentierten handwerklichen Bauen ist die Verantwortung auf den vorliegenden
Arbeitsschritt beschränkt: eine Arbeit kann nach Anweisung ausgeführt werden, ohne dass
dieser Schritt in die Gesamtheit des Bauprozesses eingeordnet wird. Zwar gelten hier alle drei
Kriterien handwerklicher Fertigung. Die Angemessenheit kann jedoch nicht an der Absicht des
Gebäudes gemessen werden. Das Bezugssystem für die Verantwortung ist in diesem Falle nur der
vorliegende Arbeitsschritt.
Integrales handwerkliches Bauen
Im Gegensatz dazu erstreckt sich beim integralen handwerklichen Bauen die prospektive
Verantwortung über den Arbeitsschritt hinaus auf das gesamte Gebäude als Werk. Nur in diesem
Falle kann sich die Angemessenheit auf die Absicht des Bauwerks beziehen.
Voraussetzung ist ein synthetisches Verständnis des Prozesses seitens aller Beteiligten, und ein
Verständnis der Konstruktion und der Absicht des Gebäudes auf Seiten der Ausführenden. Nur
da, wo alle Beteiligten eine verlässliche Vorstellung des Ganzen haben, kann auch der Einzelne
auf die bewusste Übernahme von Verantwortung durch den anderen bauen.
73
Exkurs: Handwerkliche Lebensweise
Die Verantwortung kann sich über das Bauwerk hinaus auf ein übergeordnetes Bezugssystem
erstrecken. Dies kann die Kultur, die Geschichte oder die Gesellschaft sein. Hier kann man von
einer handwerklichen Lebensweise sprechen.153
Mit der Metapher der ‹Büchse der Pandora› beschreibt Richard Sennett ein Problem der
Verantwortung. Wird eine Sache um ihrer selbst willen gut gemacht, dabei bleibt aber
die Bewertung dieser Sache auf einer übergeordneten Ebene aus, so kann im grösseren
Zusammenhang Schaden entstehen. Als Beispiel nennt er die Entwickler der Atombombe. Auch
hier liegt das Problem im Massstab der Verantwortung: Gemessen am Projekt ‹Atombombe› ist
eine erfolgreiche Weiterentwicklung positiv zu werten, gemessen an übergeordneten Massstäben
ist diese Wertung potentiell eine andere. Sennett geht auf Hannah Arendts Beschreibung des
Homo faber zurück.154 Wenn für diesen die Arbeit einen Wert an sich hat, spielt der Zweck
dieser Arbeit keine Rolle. Eine handwerkliche Lebensweise im oben beschriebenen Sinne würde
dagegen bedeuten, dass stets auch die Auswirkungen des eigenen Tuns soweit möglich bis in die
letzte Konsequenz mitgedacht werden.
Diese Lebensweise kann einen grossen Einfluss auf das jeweilig gültige Ethos haben. Da hier
jedoch auf die Herstellung statt auf die Herstellenden fokussiert wird, soll im Rahmen dieser
Arbeit nicht vertieft darauf eingegangen werden.
Qualifizierte manuelle Fertigung
Eine andere Fertigungsweise ist die qualifizierte manuelle Fertigung.
Ein Beispiel hierfür ist das Zusammenstecken vorgefertigter Teile. Hier ist explizites und
implizites Wissen notwendig, um die Bauteile ohne Schäden anordnen zu können. Das Hantieren
bedeutet direkte menschliche Interaktion. Im Unterschied zur handwerklichen Fertigung
liegt jedoch die Beurteilung der Angemessenheit des einzelnen Arbeitsschrittes nicht bei
den Ausführenden. Das Ergebnis des Schrittes ist in einer Weise vorgegeben, so dass keine
Beurteilung des Ausführenden mehr möglich ist.
153
Nach Wolfram Graubner schliesst Handwerk ein synthetisches Denken ein, welches eine
Grundvoraussetzung für das Übernehmen von Verantwortung über den gesamten Bauprozess hinweg ist.
Graubner, 2014 b.
154
Arendt, 1960, S. 100 f.: «Diese Handwerker, die Solon noch Söhne der Athene und des Hephaistos
nennt, werden dann später zu (...) den Banausen; denn schon das griechische Wort hatte die Nebenbedeutung des
Philiströsen und bezeichnet Leute, die nur an dem Handwerk interessiert waren und gleichgültig für öffentliche
Angelegenheiten. (...) Es wird sich später zeigen, dass abgesehen von der Verachtung der Arbeit die Griechen
gute Gründe hatten, dem ‹Banausischen› der Handwerker bzw. der Mentalität von Homo Faber zu misstrauen.»
74
Es mag naheliegend erscheinen, dass dies für die Montage bzw. Aufrichte gezimmerter
Konstruktionen zutrifft. Hier handelt es sich aber meistens um handwerkliche Fertigung. Auch
bei sehr genauem Abbund lassen die Geometrien der Bauteile genug Spielraum für ungenaues
Ausrichten. Die relative Lage der Komponenten zueinander muss sehr genau geprüft werden, da
sich Ungenauigkeiten im späteren Prozess kumulieren und grosse Probleme hervorrufen können.
Die Einschätzung der Angemessenheit der Arbeit ist also wichtiger Teil der Aufrichte.
Manuelle Fertigung
Liegt lediglich die individuelle Interaktion vor, während weder Können und Wissen noch
eine Einschätzung der Angemessenheit für die Arbeit notwendig sind, so kann von manueller
Fertigung gesprochen werden. Können und Verantwortung sind vom Ausführenden an andere
Institutionen ausgelagert. Chaplins Fliessbandarbeiter in «Modern Times» ist das klassische
Beispiel für diese Fertigungsweise.
Determinierte Fertigung
Bei der determinierten Fertigung im Sinne Pyes fehlt die direkte Interaktion mit dem Material:
Das Ergebnis der Arbeit wird nicht während der Fertigung durch die Ausführenden bestimmt,
sondern bereits vor deren eigentlichem Beginn festgelegt.
Dabei ist es durchaus möglich, dass der Arbeit Können und Fertigkeiten zu Grunde liegen, und
auch die Einschätzung der Angemessenheit kann notwendig sein. Der Kontakt und die direkten
Rückmeldungen des zu bearbeitenden Materials spielen jedoch keine Rolle.
Dies gilt für automatisierte und mechanisierte Arbeiten. Ein Beispiel ist auch die
computergesteuerte CNC-Fräse, da hier keine direkte Wechselwirkung zwischen Bearbeitenden
und Material stattfindet. Jede Rückmeldung des Materials zum Bearbeitenden geschieht nur
mittelbar: Sie kann nur bewusst und intellektuell reflektiert werden, jedoch nicht zum Aufbau des
impliziten Wissens beitragen.
Bricolage
Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss benutzte den Begriff des ‹Bricoleur›, des Bastlers, für
jemanden, der mit gefundenem, eventuell ungeeignetem und nicht spezifischem Werkzeug
arbeitet. Der Begriff dient ihm als Hilfsmittel, um eine Geisteshaltung anschaulich zu machen,
das «mythische Denken»155. Bei Lévi-Strauss› Bricoleur fehlen die entsprechenden Mittel
155
Lévi-Strauss 2009, S. 29: «Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt
und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind. Die Eigenschaft des
75
zur Durchführung einer Arbeit, er hat aber dennoch das Bestreben, die Arbeit mit den ihm
zur Verfügung stehenden Mitteln zu Ende zu führen und gut zu machen. Gerade aus diesem
Mangel kann Besonderheit entstehen. Dies ist übertragbar auf das Können, das auch ein Mittel
zum Erreichen des Ziels ist und dessen Fehlen durch Improvisation, Zweckentfremdung und
Ausprobieren kompensiert werden muss. Es geht also nicht um Pfuscharbeit. Die Ausführenden
interagieren mit dem Material und beurteilen die Angemessenheit; es fehlt ihnen jedoch das
spezifische implizite und explizite Wissen für die jeweilige Arbeit.156
Exkurs: Meta-Handwerk
Sennetts Auffassung von Handwerk ist, wie bereits erwähnt, viel weiter gefasst als die hier
vorgeschlagene Definition; für ihn kann auch die Arbeit von Architekten handwerklich sein. Es
ist jedoch ein Unterschied, ob physisch mit dem Bauwerk interagiert wurde oder ob eine geistige
Arbeit vorliegt, die nur mittelbaren Einfluss auf das Physische hat.
Die Definition für diese Arbeit muss deutlich genug sein, eine Abgrenzung von Planung
und Ausführung zu ermöglichen. Bei Architekten kann Können und Wissen vorliegen, auch
Erfahrungswissen spielt eine grosse Rolle. Entscheidungen über die Angemessenheit der
Ergebnisse können von ihnen getroffen werden. Im Verhältnis zu ihrer physischen Manifestation
– dem Gebäude – spielt sich die Arbeit von Architekten jedoch auf einer Meta-Ebene ab,
welche mit der Physis des Bauens nur mittelbar und indirekt durch die Phase der Ausführung,
verbunden ist. Auch Entscheidungen der Angemessenheit resultieren nicht in einem physischen
Ergebnis, sondern in einer mehr oder weniger abstrakten Anweisung zu dessen Fertigung. Diese
Arbeitsweise kann im Bezug auf das Bauwerk mit Meta-Handwerk bezeichnet werden und spielt
für die Betrachtung des Bauhandwerks keine Rolle.
mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung
merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muss es sich ihrer bedienen, an
welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand. Es erscheint somit als eine Art
intellektueller Bastelei, was die Beziehungen, die man zwischen mythischem Denken und Bastelei beobachten
kann, verständlich macht.»
156
Der Bricoleur ist nicht mir dem Dilettanten gleichzusetzen. In der ursprünglichen Bedeutung ist
dieser eine Person, die sich aus Liebhaberei mit einem Fach befasst, aber keine professionelle Ausbildung
dazu hat. Der Begriff beinhaltet nach dieser Definition keine Wertung. Für die oben genannten Kriterien hat es
keine Bedeutung, ob eine Person ein Handwerk professionell ausübt oder nicht. Ein Dilettant kann durchaus
handwerklich tätig sein.
76
Übersicht der Fertigungsweisen
•notwendig
x
nicht erforderlich
en
09.03.16
Implizites und explizites Wissen der Ausführenden
Menschliche Interaktion (Risiko)
Angemessenheit von Ausführenden beurteilt
•
•
x
•
•
x
x
•
•
•
x
x
x
•
•
x
x
x
•
•
•
Handwerkliche Fertigung
qualifizierte manuelle Fertigung
manuelle Fertigung
determinierte Fertigung
determinierte Fertigung
determinierte Fertigung
Bricolage
77
3. Thesen: Bauprozesse
Bauprozesse bestehen aus der kombinierten Leistung verschiedener Ausführender, die als
Kollektiv ein Bauwerk erstellen. Wesentliche Charakteristika handwerklichen Bauens lassen sich
erst am Prozess definieren.
Der handwerkliche Bauprozess
Integrale handwerkliche Fertigung ist die Voraussetzung für einen handwerklichen Bauprozess.
Dieser bedeutet, dass Verantwortung geteilt werden muss.
Der Bauprozess bezeichnet den zielgerichteten Verlauf der physischen Ausführung eines Planes
bis zum fertigen Bauwerk. Integrales handwerkliches Bauen kann direkte Auswirkungen auf
den Prozess haben. Wenn sich die Verantwortung der Ausführenden und die Bewertung der
Angemessenheit auf das gesamte Bauwerk erstreckt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass ein
Verteilen der Verantwortung im Prozess berücksichtigt sein kann. Im handwerklichen Prozess
ist die Verantwortung für das Gelingen des gesamten Bau-Werks unter den Planenden und
Ausführenden geteilt.
Die Planenden geben einen Teil ihrer Verantwortung, wie die Lösung spezifischer Details
oder Montagefragen, an die Herstellenden weiter. Vorgegeben ist, was entstehen soll; die
Verantwortung darüber, wie es genau geschehen soll, bleibt bei den Ausführenden. Die mit
der Ausführung einer Holzverbindung beschäftigten Handwerker müssen also in einem
solchen Prozess nicht nur Schlitz und Zapfen passend herstellen, sondern auch beurteilen,
ob und in welcher Form diese Art der Verbindung an diesem Ort überhaupt angemessen ist.
Die Voraussetzung für einen handwerklichen Bauprozess ist daher das Überwiegen integraler
handwerklicher Fertigung.
Die geteilte Verantwortung kann soweit gehen, dass es auch Freiheiten in der endgültigen
Umsetzung eines Planes geben kann – im Sinne der freien Umsetzung einer Vorgabe.
Das setzt voraus, dass allen Beteiligten die Absicht des Entwurfes klar ist. Es bedeutet aber
nicht zwangsläufig, dass alle den kompletten Prozess vollständig durchschauen. Wie bereits
beschrieben, gibt es abgestufte Kompetenzen und folglich abgestufte Verantwortung innerhalb
der Bautruppe. Auf diese Weise kann das Bauen als kollektive Leistung aus verschiedenen
Arbeitsschritten und Arbeitsgattungen reflektiert werden, die an der Herstellung eines Werkes
beteiligt sind.
78
Fragmentierter Prozess: Manufaktur und Industrie
Das Gegenstück zum handwerklichen ist ein fragmentierter Prozess. Dessen Prototyp ist die
Manufaktur, die Weiterentwicklung die industrielle Fertigung.
Dem handwerklichen Bauprozess lässt sich der fragmentierte Prozess entgegensetzen. Seine
Besonderheit ist, dass die Verantwortung zentralisiert und von der Ausführung weg verlagert ist.
Die Verantwortung liegt bei den Planenden. Die Ausführenden selbst übernehmen höchstens die
Beurteilung der Einzelteile ohne einen Bezug zum Ganzen. Der Prototyp dieser Art des Prozesses
ist die Manufaktur. Dort tätige Handwerker sind dafür verantwortlich, einzelne Bauteile nach
genauer Vorgabe herzustellen, ohne dass sie das ganze Bauwerk oder dessen Absicht überhaupt
interessieren müssen. Die Verantwortung für die sinnvolle Einordnung der jeweiligen Schritte
in den Gesamtprozess ist von dem Ausführenden auf eine externe Instanz übertragen und
zentralisiert. Die Manufaktur ermöglicht auch, das notwendige implizite und explizite Wissen
der einzelnen Bearbeitenden auf einen oder wenige Arbeitsschritte zu beschränken. Durch die
viel grössere Übung durch Repetition könne diese im jeweiligen Schritt sehr produktiv sein, was
letztlich die Effizienz einer Manufaktur ausmacht. Da die Bearbeitenden allerdings in ein System
verteilten Wissens und Verantwortung eingebunden sind, ist dieses System vergleichsweise
unflexibel.157
Hier zeigt sich, dass auch in einem fragmentierten Prozess handwerkliche Arbeitsschritte
möglich sind, wie es Marx für die Manufaktur beschrieb.158 Die meisten zeitgenössischen
industriellen Produktionsweisen sind ebenfalls fragmentierte Prozesse, wobei hier handwerkliche
Arbeitsschritte eher die Ausnahme bilden. In fragmentierte Prozesse können also verschiedene
Fertigungsweisen integriert werden, auch wenn die determinierte Fertigung heute vorherrscht.
Die möglichen Auswirkungen der verschiedenen Prozessarten auf das gefertigte Bauwerk sollen
anhand der Untersuchung der Herstellungsspuren an den Fallbeispielen näher beleuchtet werden.
157
Ganz zu schweigen von der Qualität der zu verrichtenden, repetitiven Arbeit, was wiederum Folgen für
die Produktivität haben kann.
158
Marx 1983, S. 274 f.: «Zusammengesetzt oder einfach, die Verrichtung [in der Manufaktur] bleibt
handwerksmäßig und daher abhängig von Kraft, Geschick, Schnelle, Sicherheit des Einzelarbeiters in
Handhabung seines Instruments. Das Handwerk bleibt die Basis.»
79
Eckvorstösse Totenstube
80
III Die Fallbeispiele
1. Indikatoren als Hinweise auf die Thesen am
Gebäude
In diesem Abschnitt sollen die Fallbeispiele vorgestellt und analysiert werden. Einleitend wird
kurz auf die Indikatoren eingegangen sowie auf die Unterscheidung zwischen inkrementeller und
direkter Arbeitsweise, die einen grossen Einfluss auf das Entstehen von Spuren hat.
Inkrementelle und direkte Arbeitsweise
Viele Arbeitsspuren gehen eher auf die Unterscheidung zwischen inkrementeller und direkter
Arbeitsweise zurück als auf handwerkliche Fertigung.
Viele traditionelle Techniken beim Zimmern lassen sich als inkrementelle Arbeitsweise
beschreiben. Beispielsweise wird sich mit einer Axt der gewünschten Geometrie angenähert.
Je näher der Bearbeitende der gewünschten Geometrie kommt, desto feiner werden die
Abstufungen, was die Genauigkeit, aber auch die Bearbeitungszeit erhöht. Wird dieser Prozess
unterbrochen, sobald ein für die gewünschte Intention angemessener Zustand erreicht ist, so
bleiben die entsprechenden Spuren bestehen159 – der Grund für diese Spuren ist wiederum das
Kriterium der Angemessenheit.
Viele Bearbeitungsspuren an handwerklich gefertigten Objekten gehen auf diese inkrementelle
Arbeitsweise zurück. Sie darf aber ebenso wenig wie die freie Umsetzung mit handwerklicher
Fertigung gleichgesetzt werden. Auch beim CNC-Fräsen, einer determinierten Fertigungsweise,
muss eine Balance aus Geschwindigkeit und Feinheit der Oberflächen gefunden werden.
Materialabtrag geschieht mit gröberen Fräsköpfen und schnellerem Vorschub, das Schlichten
der Oberfläche dann in immer feineren Abstufungen, bis beim Erreichen einer gewünschten
159
Pye 1968, (S. 34) spricht in diesem Zusammenhang von «gradualness»: «The shipwright with his adze
does not finish off the surface by removing handfuls of wood each stroke but in short light strokes taking off the
wood in thin shavings.»
81
Oberflächenbeschaffenheit der Prozess unterbrochen wird. Wie das Beil arbeitet sich der CNCFräser schrittweise an die gewollte Schnittfläche heran. Inkrementelle Arbeitsweise lässt also
viele Bearbeitungsspuren entstehen, ist aber nicht an eine bestimmte Fertigungsweise gekoppelt.
Dagegen schneidet eine Handkreissäge direkt an der Schnittlinie und hinterlässt so eine
geometrisch definierbare Fläche, was ich die direkte Arbeitsweise nennen möchte. Dennoch
liegt hier riskante und potentiell handwerkliche Fertigung vor, da der Schnitt an der Linie
entlang von Können und Sorgfalt des Ausführenden bestimmt wird. Dieser Unterschied erklärt
die geometrische Exaktheit der Bauteile bei manchen zeitgenössischen, handwerklich erstellten
Bauwerken.
Indikator 1: Art des Vorkommens von Spuren
Es gibt keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Spuren
und bestimmten Fertigungsweisen. Spuren des Fertigungsprozesses sind also nicht zwingend
auf handwerkliche Fertigung zurückzuführen. Dennoch können sie als Indikatoren für diese
Fertigungsweise gelten, indem ihre Ausprägung Hinweise auf die Fertigung erlaubt. Der
Umkehrschluss ist aber nicht zulässig: die Abwesenheit des Indikators heisst nicht, dass es keine
handwerkliche Fertigung gab.
Beim ersten Indikator ist nicht das ‹Was›, sondern das ‹Wie› ausschlaggebend: Sind Spuren in
angemessener Weise am Gebäude zu finden, ist das ein Hinweis auf handwerkliche Fertigung.
Dieser Indikator erlaubt Rückschlüsse darüber, ob Können und Wissen beim Bau notwendig
waren und ob direkt mit dem Material interagiert wurde. Am wichtigsten ist, dass die
Einschätzung der Angemessenheit durch die Ausführenden hier ablesbar wird. Ob diese Spuren
am fertigen Bauwerk sichtbar sind, ist eine Entscheidung in Bezug auf die Angemessenheit. Sind
die vorliegenden Spuren nicht angemessen, liegt keine handwerkliche Fertigung vor.
Indikator 2: Spuren situativen Reagierens
Sind am Gebäude Merkmale zu finden, die auf das direkte Reagieren auf eine Situation
zurückgehen, gibt das Hinweise auf direkte Interaktion mit dem Material. Die
«Zusammenpassbau»160 genannte Methode der Fertigung ist ein Beispiel für situatives Reagieren.
Der Begriff bedeutet, dass ein Werkstück als Schablone zum Anriss seines Gegenstückes benutzt
wird. So können beispielsweise Holzverbindungen effizient gefertigt werden.161
160
161
Schindler S. 110, im Gegensatz zum «Austauschbau», S. 158.
Dies ist beim Möbelbau denkbar; viele handwerklich gefertigte Schwalbenschwanzverbindungen
sind beispielsweise so unregelmässig, dass sie nur auf diese Weise entstanden sein können. Beim Zimmern ist
82
Indikator 3: Iterativer Prozess
Das situative Reagieren auf eine bestimmte Situation kann über einzelne Arbeitsschritte hinaus
Einfluss auf den Prozess haben. Bildet jeweils ein Schritt den Ausgangspunkt für den nächsten,
entwickelt sich ein iterativer Prozess, der am Bauwerk ablesbar bleiben kann.
Dieser Indikator gibt Hinweise auf die Spanne der Verantwortung über den jeweiligen
Arbeitsschritt hinaus, da jeder Schritt potentiell auch noch viel später im Prozess Auswirkungen
haben kann und jede individuelle Entscheidung während der Ausführung in Bezug auf ihre
Auswirkungen für das gesamte Bauwerk geprüft werden muss. Die Möglichkeit der freien
Umsetzung einer Vorgabe muss von den Ausführenden selbst eingeordnet und beurteilt werden.
Analyse der Fallbeispiele
Im Folgenden werden die untersuchten Fallbeispiele vorgestellt und analysiert. Die Bauwerke
werden in allen Massstäben betrachtet, indem jeweils der Baukörper, die Konstruktion und das
Material beschrieben werden.
Aus der Analyse des Bauwerks selbst können die Absicht des Gebäudes und die jeweils
herrschenden Beschränkungen der Ressourcen als Rahmenbedingungen des Bauprozesses
erschlossen werden. Der jeweilige Ausdruck wird aus heutiger Sicht dargestellt.
Bei der Beschreibung der angewandten Fertigungsweisen und bei der Einschätzung des Umgangs
mit der Angemessenheit können die Indikatoren helfen. Schliesslich werden die Bauprozesse in
Bezug auf die Verteilung der Verantwortung eingeordnet.
diese Möglichkeit jedoch nicht uneingeschränkt sinnvoll, da es in manchen Fällen viel zu aufwendig wäre, die
schweren Balken zum Anzeichnen in exakt der richtigen Stellung übereinanderzulegen.
Die Oberflächen der Balken zeigen Spuren der inkrementellen Bearbeitung mit dem Beil, die aus
Gründen der Angemessenheit nicht weiter geglättet wurden. Die Unterschiede ergeben sich aus
dem unterschiedlichen Können der Bearbeitenden.
83
84
2. Hochstudhaus in Birrwil: Analyse
Geschichte
Die Errichtung des Hochstudhauses, auf einer Hangkante in Birrwil über dem Hallwilersee
gelegen, kann nach einer Inschrift auf das Jahr 1692 datiert werden. Spätere Veränderungen
nahmen dem Gebäude etwas von seiner Homogenität, besonders der Ersatz von Teilen der
Holzkonstruktion durch Mauern. Sie sind aber weitgehend klar von der ursprünglichen
Konstruktion zu unterscheiden.
Baukörper
Ein massives Walmdach162 mit grossen Dachüberständen überdeckt den zweigeschossigen
Baukörper. Er enthält den Wohnteil sowie den Tenn und die Stallungen. Im Wohnhaus bestehen
Fluchten von Einzelräumen. Die Unterteilung in zwei Wohnungen liegt quer zur Firstlinie. Der
Wirtschaftsteil ist nur im Erdgeschoss in zwei Stallabteile, Futtertenn und Tenne unterteilt, der
gesamte Dachraum ist offen.
Konstruktion
Der Begriff ‹Hochstud› bezeichnet die drei massiven Säulen, welche, von der Gründung in
einem Stück durchgehend, die Firstpfette tragen. Im unteren Teil dienen sie als Wandständer
der Innenwände, oberhalb der Wände sind sie durch «Windstreben und Sperrrafen»163 in Längsund Querrichtung ausgesteift, welche auf die Bundbalken der Ständerkonstruktion seitlich
aufgeblattet sind. Dach- und Hausgefüge sind somit nicht klar voneinander zu trennen.164
Die Wände sind Bohlenständerkonstruktionen, bei denen ein Gerüst aus waagerechten und
senkrechten Hölzern die Lastabtragung übernimmt. Dazwischen bilden in Nuten liegend
eingebaute Bohlen die eigentliche Gebäudehülle. Auch die Innenwände sind Teil des
Wandgefüges und als Bundwände mit den Aussenwänden zusammengefügt. Das untenliegende
Schwellengerüst aus Eichenholz legt den Grundriss fest. Darin sind die vertikalen Wandständer,
die bis zur Traufe reichen, sowie die Hochstude eingezapft. Der Rähm als oberer Abschluss
der Aussenwände ist zugleich Auflager für die Bundbalken165. Diese ragen weit über die
162
Hunziker 1992: »(...) für ehemalige Strohdachhäuser kennzeichnendes Vollwalmdach».
163
Ebd.
164
Hähnel 1969, S. 55: «Der frühe ‹Gerüstbau› kennt wohl eigene Wandgefüge (Lehmbau, Flechtwerk
usf.), aber kein Dachgefüge als eigenständiges Gefügeteil – das First- oder Hochsäulengerüst des Hausgefüges
trägt unmittelbar die Dachdecke. Diese Gefügeeinheit geht mit der Trennung der Gefügeglieder des Wand- und
Dachbereiches verloren.»
165
Es handelt sich um eine Unterrähmkonstruktion, bei der sich der Rähm direkt unterhalb der
Bundbalkenebene befindet.
85
Wände hinaus; die Rofen des Daches lagen ursprünglich nur hier und oben am First auf.166 Die
lange Auskragung wird durch «barock profilierte Büge»167 wiederum auf die Wandständer der
Aussenwand abgeleitet. Kopfbänder übernehmen die Aussteifung. Zwischen den Wandständern
liegen Riegel in der Ebene der Decken sowie der Fenster-Sohlbänke.
Es besteht eine klare Abstufung der Bauteile, die je nach Belastung umso massiver dimensioniert
sind. Auch hinsichtlich der Langlebigkeit können die Bauteile hierarchisiert werden: An
gefährdeten Punkten werden ‹Opfer›-Bauteile wie Bretter oder Schalungen eingesetzt, welche
leicht zu ersetzen sind und ihrerseits die Primärstruktur schützen. Ein Extrembeispiel hierfür
ist das ursprüngliche Strohdach, das regelmässig ausgetauscht werden musste. Darüber hinaus
werden je nach ihrer Gefährdung resistentere, dafür wertvollere Materialien eingesetzt, wie
beispielsweise bei den eichenen Schwellen.
Alle Verbindungen der ursprünglichen Primärkonstruktion sind Holz in Holz ausgeführt.
Zapfenverbindungen überwiegen, es kommen aber auch Blattverbindungen vor. Die Querschnitte
der Bauteile werden durch die Holzverbindungen geschwächt. An die Hochstude treffen auf
der Ebene der Traufe ein Bundbalken und ein in Firstrichtung liegender Balken kreuzweise
aufeinander; an dieser Stelle ist der Querschnitt des Hochstudes etwa auf die Hälfte reduziert.
Teilweise bilden die Knoten ‹Wasserfallen›; auftreffender Schlagregen könnte auf horizontalen
Flächen in die Konstruktion eindringen, im Knoten nach unten laufen und, dort eingeschlossen,
Fäulnis verursachen. Dies wird jedoch durch den sehr grossen Dachüberstand kompensiert.
Material
Das sehr dauerhafte, aber schwere Eichenholz, bei dem besonders gerade, längere Stücke schwer
zu beschaffen sind, wurde nur für die stark der Bodenfeuchtigkeit ausgesetzten Schwellen
eingesetzt. Es ist splintfrei eingebaut. Die gesamte übrige Konstruktion besteht aus dem regional
vorherrschenden Nadelholz168, ebenso Fenster und Türen. Obwohl viele der Konstruktionshölzer
mit Mark verarbeitet sind (die Kanthölzer beinhalten auch den Kern des Baumes), sind nur sehr
vereinzelt Risse erkennbar. Die Kanten sind meistens fehlkantig und mit dem Faserverlauf gefast.
Anscheinend wurde hier an manchen Stellen nicht nur die Holzart, sondern auch das individuelle
166
Heute existieren zusätzliche Mittelpfetten, welche mit Streben zu den Hochstuden hin abgestützt sind.
Pfetten und Streben sind nicht russgeschwärzt, im Gegensatz zu allen aus der Erbauungszeit erhaltenen Hölzern
des Dachraumes. Daher liegt es nahe, dass die Mittelpfetten erst mit dem Ersatz des Strohdaches durch das
schwerere Ziegeldach eingebaut wurden, um Durchbiegungen durch die zusätzlichen Lasten zu verhindern. Auch
die Anzahl der Rofen scheint zu diesem Zeitpunkt verdoppelt worden zu sein, da auch nur jede zweite geschwärzt
ist. Zu dem Zeitpunkt wurde also spätestens die offene Rauchführung durch Kamine ersetzt.
167
168
Hunziker 1992, S. 3
Wahrscheinlich ist es Fichte, wie es an ähnlichen Bauten der Region nachgewiesen werden konnte.
Gesprächsprotokoll Niederberger, C. (2015, Mai 6). Gespräch mit U. Herres, 06.05.2015. Möglich wäre auch
Weisstanne.
86
Stück Holz nach der jeweiligen Funktion beziehungsweise dem Einsatzort ausgewählt. An
den Enden der Schwellen am Scheunentor, wo auch die Bundwandschwelle und Torpfosten
eingezapft sind, verlaufen die Fasern der Schwelle nicht linear; es könnte der Wurzelansatz sein,
was einem Abscheren des Vorholzes vorbeugt.
Oberflächen
Die Erscheinung der Oberflächen wird vor allem durch die Alterung geprägt. Im grossen
Massstab sind sie geometrisch plan und glatt, die Ungenauigkeiten durch Bearbeitungsspuren und
Alterung sind, abgesehen von den unregelmässigen, dem Faserverlauf folgenden Fasen, nur im
Nahbereich erkennbar.
Schmuck
Am Gebäude gibt es einige explizite Schmuckformen wie die geschnitzten Kopfbänder der
Bundbalken oder die Kielbögen über Türstürzen. Zusätzlich jedoch gibt es an der Konstruktion
etliche kleine, ornamental ausgebildete Details, welche ihren Ursprung meistens in einer
funktionalen Form haben.
Wenige Holzverbindungen wurden als Schmuckverbindungen ausgebildet. Dies sind nur die
Schwalbenschwänze über dem südlichen Tenntor. Man kann hier von einer Absicht ausgehen,
da die Wichtigkeit dieses Ortes durch die Inschrift belegt ist, und die Verbindung ebenso gut
als Zapfenverbindung, wie sonst überall, oder rückseitig hätte angebracht werden können. Am
Torblatt selbst sind noch Reste aufgemalter Zimmererwerkzeuge erkennbar.
Über das gesamte Bauwerk verteilt gibt es an den Kanten von Konstruktionshölzern Fasen, die
an den Enden halbrund abgesetzt sind. Stirnseiten von Brettern weisen eine Kette von halbrunden
Schnitzereien («Öhrli» 169) auf. Der Schmuck ist in diesem Falle nicht von einer funktionalen
Begründung zu trennen; sowohl Öhrli als auch Fasen verhindern das Ausreissen von Fasern an
den fragilen Kanten; nur die Art und Weise der Ausführung ist schmückend.170
Die Verteilung dieser Zierdetails ist zu flächendeckend, um auf eine repräsentative Funktion
reduziert werden zu können. Auf dem Abbundplatz hingegen ist die Sichtbarkeit der Details eine
völlig andere.
169
Nach Einschätzung des Denkmalpflegers Claus Niederberger sind solcherart abgesetzte Fasen von der
Gotik bis in den Spätbarock in der Region die Regel; die ‹Öhrli› sind in der Region zwischen dem 14. und 18.
Jahrhundert sehr verbreitet (Niederberger 2015).
170
Die halbrund konkav geschnitzten Formen sind natürliche Folge der Benutzung eines Ziehmessers.
Längs der Holzfaser ist es sinnvoll, eine gerade Fase anzubringen. Beim Stirnholz sieht das anders aus: Würde
man hier mit dem Ziehmesser entlangfahren, wäre die Gefahr gross, die letzten Fasern an der Brettkante
abzubrechen. Daher sind die Öhrli hier auch vom Herstellungsvorgang her gedacht sinnvoll.
87
Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Tenntor mit Inschrift und Resten aufgemalter
Zimmererwerkzeuge / Aufgedoppelte Brettertür / profilierter Bug unter Bundbalken / ‹Öhrli› /
halbrund abgesetzte Fase.
Unten: Verformungsgerechtes Aufmass des Bereiches um das Tenntor, Original M 1/20, hier ohne
Massstab.
88
89
Der empirisch entwickelte Typus: Das
Hochstudhaus in Birrwil
Rahmenbedingungen
Absicht
Die Absicht des Hochstudhauses kann nur implizit erschlossen werden. Es ist klar in eine
bestimmte Typologie einzuordnen, die in der Region verbreitet vorkommt.171 Man kann also
folgern, dass bei der Konzeption des Hochstudhauses bei allen Beteiligten Einigkeit über die
Gestalt, die Funktionsweise und die Konstruktion des Hauses bestand.172
Der Entwurf des Hauses lag in dem Fall nicht in Form einer Zeichnung vor, welche gleichzeitig
die physische Manifestation eines Entwurfes und die Abstraktion eines physischen Bauwerks
darstellt, sondern als durch Tradition vorgegebene Typologie.173 Als Absicht des Gebäudes kann
die Errichtung eines nach den Regeln der Kunst erstellten Gebäudes innerhalb der Typologie
impliziert werden.
Beschränkung
Für die Erbauungszeit des Hauses gibt es Hinweise auf eine Knappheit und einen Raubbau
an Holz.174 Doch selbst wenn in der Umgebung genug Holz vorhanden war, bedeutete dessen
Gewinnung eine enorm anstrengende, personalintensive und auch gefährliche Arbeit. Das gilt
für das Fällen, das Aufarbeiten und den Transport der teilweise sehr langen Hölzer. Es kann hier
171
Hunziker 1992, , S. 4: «Herausragendes Einzelobjekt der intakten gassenähnlichen Strassenbebauung
des 17./18. Jh. im Zopf». Die benachbarten Hochstudhäuser sind zum Teil erhalten. Brunner (1977) beschrieb
den Typus des Hochstudhauses beispielhaft anhand des Chablihus in Gettnau, welches in der Konzeption dem
Birrwiler Haus weitgehend entspricht.
172
In diesem speziellen Fall ist es möglich, dass Bauherr und verantwortlicher Zimmerer die selbe
Person waren. Hinweis darauf könnten erhaltene Abbildungen von Zimmererwerkzeugen an prominenter Stelle
geben. Diese wurden auf die Türblätter des südlichen Tenntores gemalt, direkt unterhalb der in den Sturzriegel
eingeschnitzten Initialen und dem Erbauungsdatum.
173
Statt durch Entwurfsarbeit wurde diese empirisch im Laufe der Zeit entwickelt, geprüft und verbessert
bzw. angepasst. Umgekehrt könnte man daraus die These ableiten, dass der architektonische Entwurfsprozess
ein Kondensat ist, eine zeitlich stark gestraffte Imitation dieses Entwicklungsprozesses, bei der eine geistige
Simulation empirischen Ausprobierens stattfindet.
174
Horat (Horat 2007) beschreibt dies z. B. für die Glashütten des Entlebuch des 18. Jahrhunderts, die
wegen Abholzung immer wieder ihre Standorte wechselten. Es kann auf keinen Fall geschlossen werden, dass
vormoderne Gesellschaften keinen Raubbau kannten, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt Belege, dass das Material
an sich nicht als besonders zu schonende Ressource gesehen wurde. Andererseits war die Wiederverwendung
von Bauholz eher die Regel als die Ausnahme, es wurden sogar ganze Häuser transloziert (Fahrnisbauten). Claus
Niederberger teilt die Ansicht, dass das Material nicht (nur) wegen seines Wertes an sich, sondern auch und vor
allem wegen der darin gespeicherten Arbeit wertvoll ist (Niederberger 2015).
90
nicht klar zwischen Material und eingesetzter Arbeitskraft und Energie getrennt werden. Nicht
nur das Material an sich ist wertvoll, sondern die darin gespeicherte Arbeit.
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Die angewandten Techniken bedingen eine grosse Erfahrung mit den Hauptwerkzeugen Beil
und Säge. Spuren dieser Werkzeuge finden sich praktisch flächendeckend. Das explizite Wissen
umfasst vor allem Fragen des konstruktiven Holzschutzes, also der Langlebigkeit, sowie der
Wirkweise der Fügungen und das vorausschauende Berücksichtigen der Holzbewegungen
durch das Arbeiten. Der effiziente Materialeinsatz sowie die Einschätzung der notwendigen
Dimensionen der jeweiligen Bauteile gehören zum expliziten, jedoch aus Erfahrung gewonnenen
Wissen. Die Umsetzung des überlieferten Typus erfordert ein Verständnis seiner Wirkweise und
ein Anpassen an gegebene, konkrete Situationen.
Erst der tägliche Umgang mit der Axt als Hauptwerkzeug ermöglicht eine grosse Effektivität.
Beim Hochstudhaus wurden Bauteile mit Zimmerertechniken hergestellt, die in anderem
Kontext auch anders hätten entstehen können. Die Aussentüren beispielsweise sind als
Brettertüren hergestellt, die von Gratleisten zusammengehalten werden. Aussen sind die
Türen mit der Imitation eines Rahmens benagelt, es wird also eine andere Konstruktionsweise
imitiert. Der Bauforscher Ernst Brunner zieht in seiner Beschreibung der Bauernhäuser des
Kantons Luzern zwischen beiden Techniken eine Linie und grenzt die Brettertüren als «robuste
Zimmermannsarbeit» von der «feineren, schreinermässigen ‹Arbeit auf Rahmen und Füllung›»
ab, die Imitation des Rahmens auf der Brettertür nennt er «naiv-handwerkliche Vortäuschung».175
Einerseits wurde hier also ein Ausdruck gesucht, welcher nicht mit der eigentlichen Konstruktion
der Tür übereinstimmt,176 vielleicht wurde mit der Imitation das Bild einer verfeinerten,
urbaneren177 Bauweise gesucht. Andererseits ist die Brettertür aber auch dadurch erklärbar, dass
man die Prägung der Zimmerer auf ihre Werkzeuge und Techniken hin berücksichtigt.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Die riskante Fertigung mit dem Beil und der Säge, die Herstellung der Verbindungen und auch
die Aufrichte bedeutet menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material durch den ganzen
175
Brunner 1977, S. 136.
176
Bzw. sie sogar konterkariert, da der aufgenagelte Rahmen das Arbeiten des Holzes verhindert.
177
Zünfte, mit den ihnen eigenen strengen Trennungen zwischen den Gewerken wie Schreinern und
Zimmerern, spielten auf dem Land keine grosse Rolle. Eine gute Einführung gibt z. B. Schulz 2010.
91
Prozess hindurch. Die verwendeten Werkzeuge bedingen alle eine riskante Fertigung, da sie fast
durchweg auf Anschläge, Führungen und Ähnliches verzichten. Der Indikator des situativen
Reagierens ist an vielen Stellen ablesbar. Das gilt für das Ausnutzen der Wurzelansätze an den
Eichenschwellen, die Holzverbindungen und vor allem die Werkzeugspuren.
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Gemessen an der Absicht des Bauwerks sind die meisten erkennbaren Spuren angemessen.
Die ablesbare, angewandte Fertigungsweise ist von einer Balance zwischen der Erfüllung der
angestrebten Aufgabe einerseits und effizientem Ressourceneinsatz andererseits geprägt. Die
Anstrengung der Arbeit mit der Axt führt dazu, dass diese im Sinne einer Balance aus Aufwand
und Wirkung sehr dosiert eingesetzt wurde. Das bedeutete, dass je nach Lage eines Bauteils im
Bauwerk ein unterschiedlicher Aufwand an (bearbeitetem) Material und Arbeit eingesetzt wurde.
So ist der Rähm über dem südlichen Tenntor durch eine Blattverbindung gestossen. Da sie nur
sehr eingeschränkt Momente übertragen kann, ist sie hier ohne eine Unterstützung nicht optimal
angeordnet, sie ‹hängt in der Luft›. Ein Verschieben der Verbindung über einen Ständer würde
jedoch wiederum Materialverlust in der Länge bedeuten. Das vorhandene Holz nicht abzulängen
war offensichtlich wichtiger, als den Stoss perfekt auszuführen. Die Ausfachungen von
Innenwänden wurden konisch besäumt, das heisst die Brettkanten sind nicht parallel zueinander,
sondern parallel zur Baumkante geschnitten, was weniger Verschnitt bedeutet.
Die meisten am Bauwerk zu findenden Arbeitsspuren sind in letzter Instanz Spuren von
Entscheidungen der Ausführenden. Dabei ist es nicht relevant, ob diese aus bewusster Reflexion
oder aus verinnerlichten Gewohnheiten bestehen. Das Kriterium der Angemessenheit entscheidet,
ob einmal entstandene Spuren sichtbar bleiben oder nicht. Je nach Ort im Bauwerk verschiebt
sich die Gewichtung zwischen Pragmatik und Anspruch leicht, indem sich auch je nach Ort die
Anforderungen verschieben, wie zwischen repräsentativen und versteckten, oder zwischen stark
oder schwach beanspruchten Stellen.
Die genaue Ausführung der Arbeit einschliesslich der angemessenen Spuren war allen
Beteiligten, Ausführenden wie Bestellenden durch das anschauliche Beispiel der bereits gebauten
Exemplare der Typologie klar: Es wurde ausgeführt, ‹wie man es so macht›.
Vorliegende Fertigungsweisen
Durch alle Arbeitsschritte herrscht eine klar handwerkliche Fertigungsweise vor.
92
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
Arbeitsschritt
Hochstudhaus in Materialaufbereitung
Birrwil
Abbund
Aufrichte
Ausbau
10.05.16
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
Fertigungsweisen
1
•
•
•
•
2
•
•
•
•
3
•
•
•
•
Fertigungsweise
Handwerk
Handwerk
Handwerk
Handwerk
Prozess178
Techniken und Werkzeuge/Freie und regulierte Umsetzung
Die Axt als das vorherrschende Werkzeug bestimmte die Fertigung. Es wurde nur an den Stellen
längs gesägt, an denen dünnere Querschnitte durch Halbieren oder Vierteln eines Stammes
gewonnen wurden sowie bei Brettern und Bohlen; ansonsten sind die Hölzer mit der Axt
geglättet.
Das Fügen von Bauteilen mit unterschiedlichen Formen und Querschnitten erfordert ein Arbeiten
mit Bezugsebenen. Brunner führte hierzu den Begriff der ‹Bundfluchten›179 ein: Jeder Balken
178
Für die Analyse dieses Gebäudes war es nötig, die Herstellungsprozesse zu erschliessen. Hierzu
gehörte die verformungsgerechte Bauaufnahme eines repräsentativen Teils der Südfassade (Bereich um das
Tenntor mit Inschrift, Datierung, Eingang), Genauigkeitsstufe IV nach Eckstein, Gromer 1986, im Masssab 1/20.
Dieser Bereich kann aufgrund der einbindenden Struktur von Dach, Bundwänden und Schwellenkranz und der
Lage innerhalb der erhaltenen Struktur, vor allem natürlich durch die Datierung am Sturzriegel des Tenntores
als erbauungszeitlich angesehen werden. Dieser Einschätzung folgt auch das Kurzkataster der Denkmalpflege.
Die Herstellungsprozesse sind teilweise anhand der Bearbeitungsspuren nachvollziehbar, darüber hinaus
sind vormoderne Zimmerertechniken und -werkzeuge in zeitgenössischen Abbildungen und Beschreibungen
gut dokumentiert. Darüber hinaus sind die Techniken überliefert und kommen in der Restauration oder bei
Rekonstruktionen auch heute noch zur Anwendung.
179
Brunner 1977, S. 120: «Der Zimmermann hat andere Richtordnungen als der Steinmetz. Dieser
rechnet mit Achsen, der Zimmermann aber mit bündigen Fluchten. So benennen wir denn mit der Wortbildung
Bundflucht eine handwerkliche Richtordnung, die unseres Wissens in der bisherigen Fachliteratur weder mit
diesem Ausdruck bezeichnet noch in ihrem Zusammenhang zeichnerisch zur Darstellung gebracht wurde. (...)
Diese Erscheinung ist nur an Gehäusen zu verfolgen, deren Gerüst aus Ständerwerk besteht und die aus einer Zeit
stammen, da die Werkhölzer noch mit dem Breitbeil beschlagen wurden. Schwellen, Stützen, Träger, Streben
und Büge hat man damals oft nur an zwei aneinanderstossenden Flächen rechtwinklig-vollkantig beschlagen,
93
besitzt mindestens eine geometrisch definierte, gerade und winklige Seite, die Bundseite,
während die anderen Seiten zum Einsparen von Ressourcen (Zeit, Material, Energie) weniger
reguliert bearbeitet sind. Diese Bundseite wird nach der Bundflucht hin ausgerichtet. So kann
es sein, dass die Bundseite einer Wand eine Ebene bildet, während die abgewandte Seite
unregelmässig ist. Die Bundseite weist auch die Abbundzeichen auf. Diese Bundflucht bildet
die Bezugsebene, von der aus Masse genommen werden. Durch diese Technik ist eine grosse
Effizienz möglich, da sich der Aufwand zum Herstellen absoluter Geometrien auf das Nötigste
beschränkt.
Umgang mit Toleranzen
Es ist wahrscheinlich, dass der Abbund des Hauses mit fällfrischem Holz erfolgte; jedenfalls
gilt dies für das Bebeilen der Rundhölzer. Grünes Holz ist ungleich einfacher mit der Axt zu
bearbeiten; mit dem Trocknen nimmt die Zähigkeit der einzelnen Fasern bereits nach kurzer
Zeit zu und macht das Herstellen einer so glatten Oberfläche unmöglich.180 Dem Umgang mit
Toleranzen durch das Arbeiten des Holzes kommt also hier eine grosse Bedeutung zu. Zum
einen geschieht dies durch die Verbindungen selbst. Bei Zapfenverbindungen zum Beispiel
schwindet der Teil mit dem Zapfenloch – quer zur Faser – sehr viel mehr als der Zapfen. Also
wird das Zapfenloch etwas tiefer ausgeführt als der Zapfen, damit die Verbindung durch das
Eigengewicht geschlossen bleibt und der Zapfen keine Last trägt. Breite Zapfen bedeuten auch
eine Einspannung der Hölzer, welche bis zu einem gewissen Grad gegen Verdrehen schützt.181
Die geometrische Genauigkeit der Konstruktion ist bemerkenswert. Selbst nach 300 Jahren ist
der verformungsgerecht aufgemessene Teil der Südfassade konform mit der entsprechenden
SIA-Empfehlung für Neubauten.182 Die Ausfachungen bestehen aus Bohlen, die frei in Nuten der
wobei man an den gegenüberliegenden Seiten eine oft beträchtliche und oft auch krumm verlaufende Baumkante
stehenliess.»
180
In einem Workshop mit einem Zimmerer und Restaurator wurden vier Fichtenstämme mit Bundaxt
und Breitbeil bearbeitet. Drei Stämme waren frisch geschlagen, der vierte einige Wochen getrocknet. Anstatt
mit der Axt saubere Späne wegschnitzen zu können, riss hier das Holz eher mit der Faser aus und war insgesamt
viel elastischer. Auch das Schnittbild wird so viel ungleichmässiger, so dass auch an den Arbeitsspuren die
Trockenheit potentiell erkennbar bleibt.
181
Dem sind Grenzen gesetzt. Gerade grosse Eichenholz-Querschnitte wie die Schwellen bringen
beim Arbeiten enorme Kräfte auf; an der westlichen Schwelle der Südwand ist eine leichte Verdrehung trotz
Zapfenverbindung erkennbar.
182
In SIA Empfehlung V414/10 § von1987 heisst es unter Punkt 4.2.3 «Montagebau in Holz»: «Für
Bauteile aus sägefrischem Schnitt- oder Rundholz bestehen keine Toleranzbedingungen» (S. 42) und unter 4.3.3.
«Der Umstand, dass Bauteile aus sägefrischem Holz auch in eingebautem Zustand grossen Formveränderungen
unterliegen (Biegung, Drehung), lässt für solche Bauwerke bzw. Bauwerkteile keine Toleranzbedingungen zu»
(S. 48). Dies träfe auf das untersuchte Bauwerk zu. Ein Abgleich des verformungsgerechten Aufmasses mit
den zulässigen Abweichungen von Horizontale, Lot und Geradheit im Montagebau Holz nach der V414/10
ergab jedoch, dass sich der untersuchte Gebäudeteil weitgehend innerhalb dieser Toleranzen befindet. Tab. 320
«Horizont» maximale Abweichung von der Horizontalen bei einer Messlänge 4m – 10 m = 12 mm; Tab. 330
«Lot» max. Abweichung von der Senkrechten bei Messlänge 2m – 4m = 16 mm; Tab. 341 «Geradlinigkeit», max.
94
Primärkonstruktion liegen und so beim Arbeiten keine Zwängungen aufbauen; diese Bohlen sind
trotz ihrer grossen Breite nicht gerissen.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Es gibt keine Hierarchie im Bezug darauf, wo am Gebäude Bearbeitungsspuren belassen
wurden: Die Spuren treten auch an prominenten Stellen auf, wie die Sägespuren am Zierbogen
des Haustürsturzes. Analog gibt es die genannten Zierformen auch an versteckten Stellen, im
Dachraum oder im Tenn hinter dem Flügel des Tenntores.
Die Oberflächen der Hölzer sind sorgfältig geglättet und die Verwitterung hat vor allem an
den Aussenwandflächen wahrscheinlich viele Spuren zum Verschwinden gebracht. Dennoch
sind Spuren der riskanten Fertigung praktisch flächendeckend vorhanden. Bei Ausschnitten
von Konstruktionshölzern kommt es vor, dass über die Linie gesägt wurde. Sägemarken
an Schnittflächen sowie Beilspuren bestehen unabhängig von der Lage des Bauteils im
Gebäude. Da aufgrund anderer Merkmale durchaus auf eine Hierarchisierung der Bauteile
nach Repräsentationsanspruch erschlossen werden kann, ist davon auszugehen, dass die
Bearbeitungsspuren an der Konstruktion als selbstverständlich angesehen wurden.
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Die Auslegung der Konstruktion liefert Hinweise auf einen iterativen Prozess. Es gibt kein
starres Raster. Die Achsabstände und die Dimensionen mancher Bauteile sind an die jeweiligen
Anforderungen und die vorhandenen Materialien angepasst. Auch die Bearbeitung der
Holzverbindungen legt einen iterativen Prozess nahe, da bei diesen teilweise Zusammenpassbau
vorliegt.
Die Fertigung des Hochstudhauses geschah in einem handwerklichen Prozess.
An der Konstruktion ist ablesbar, dass an sehr vielen Stellen während der Ausführung
Entscheidungen getroffen werden mussten. Dies gilt für die Hierarchisierung der Bauteile durch
verschiedene Dimensionen, die freie oder regulierte Umsetzung, die Schmuckformen, aber auch
für die Herstellung der einzelnen Verbindungen. Obwohl die meisten dieser Entscheidungen
prinzipiell in der tradierten Typologie festgelegt sind, liegt die Verantwortung über die
angemessene Ausführung bei den Bearbeitenden selbst. Eine durchgehende Überwachung durch
einen Meister ist hierbei unrealistisch, dieser hätte seine Augen buchstäblich überall haben
müssen.
Abweichung bei Messlänge 2m – 4m = 12mm.
95
Ausdruck der Fertigung
Die Einschätzung des Ausdruckes bei diesem Beispiel kann nur mit dem heutigen Blick erfolgen.
Der Ausdruck eines Bauwerks wie des Hochstudhauses von Birrwil stellt die Referenzgrösse
dessen dar, was heute als handwerklicher Ausdruck verstanden wird.
Beschreibung
Der Ausdruck der Fertigung ergibt ein Bild der Unschärfe, des Organischen und der
Selbstverständlichkeit.
Die Unschärfe entsteht im Kleinen aus den vielen Spuren freier Umsetzung. Dies sind zum
Beispiel die unregelmässigen Fasen, gewisse Ungenauigkeiten bei der Herstellung der Knoten
und Werkzeugspuren. Die Alterungsspuren wie Russ, Verwitterung und Abnutzung überdecken
diese Bearbeitungsspuren jedoch oft und bestimmen den Ausdruck des Materials mit. Es gibt eine
Vielzahl leichter Unregelmässigkeiten, eine hohe Dichte an visuellen Details und dadurch eine
hohe Komplexität. Die Unschärfe ist über das gesamte Bauwerk konsistent. Sie wirkt organisch
vom kleinen bis in den grossen Massstab, von den kleinen Unregelmässigkeiten der Oberflächen
bis zu den nicht völlig regelmässigen Abständen der Hochstude: Alle einzelnen Elemente fügen
sich ohne Brüche in das Haus als grösseres Ganzes ein.
Die Selbstverständlichkeit erwächst aus der klar ablesbaren Regelhaftigkeit der Konstruktion.
Ihre Struktur wirkt stark gliedernd. Es gibt keine klaren Gefügeeinheiten wie abgrenzbare, in sich
abgezimmerte Wandscheiben. Die Konstruktion durchwebt das gesamte Gebäude. Die grosse
Regelmässigkeit wird durch Abweichungen von der Gleichförmigkeit kontrastiert. Die meisten
Konstruktionsteile sind sichtbar. Die Verbindungen wurden nicht versteckt. Die Kraftflüsse sind
auch an den Knoten direkt ablesbar.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Der Ausdruck spiegelt aus heutiger Sicht die tatsächliche handwerkliche Fertigung wieder. Die
Unschärfen entstammen direkt der freien Fertigung und der Einschätzung der Angemessenheit
während des Bauprozesses. Die Selbstverständlichkeit resultiert daraus, dass die meisten
Entscheidungen durch die Konstruktion bedingt sind und am Bauwerk nachvollziehbar bleiben.
In diesem Falle ist die Übereinstimmung von Fertigung und Absicht evident, da in der Absicht
– ein Haus innerhalb der Typologie zu bauen – die Beschreibung des Ausdrucks stillschweigend
eingeschlossen ist.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Das ist durchweg der Fall. Eine einzige Ausnahme sind die erwähnten Aussentüren, bei denen
offensichtlich die formale Nähe zu einer anderen, urbanen Formensprache gesucht wurde. Gerade
96
diese Imitation an einer einzigen, aber wichtigen Stelle zeigt den unverkrampften Umgang
mit dem Ausdruck. Dieser war nicht gewollt, sondern ergab sich selbstverständlich aus der
pragmatischen Anwendung der gängigen Vorgehensweisen.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Der Ausdruck entsteht durch das individuelle Abwägen der Angemessenheit in allen Schritten
sowie durch eine Summe von vielen Einzelentscheidungen. Sie wurden zwar innerhalb eines
Regelwerks der Konstruktion, der Techniken und der Typologie getroffen. Es blieben aber so
viele Freiheiten, dass die Resultate der einzelnen Entscheidungen am Bauwerk ablesbar sind.
Im Uhrzeigersinn: Die Dachkonstruktion mit den Hochstuden / Die Verschränkung der
Bauteile geschieht auf allen Massstabsebenen / Eine ‹Wasserfalle› wie diese Nut kann nur im
regengeschützten Bereich dauerhaft sein. Sie erlaubt das Arbeiten der breiten Füllungen / Der
einbindende Sturzriegel der Tür zeigt das Tragen und Lasten klar auf.
97
98
3. Hotzenhaus: Analyse
Geschichte
Wolfram Graubner erstellte das Hotzenhaus183 mit Mitarbeitern in den Jahren 1982 bis 1985
weitgehend in Eigenleistung als Firmensitz und Werkstatt seiner Holzbaufirma. Der Architekt
Hugo Kückelhaus war in die Planung involviert.
Ursprünglich barg das massive Untergeschoss die Zimmerei, darüber lag das Planungsbüro
mit Gemeinschafts- und teilweise Wohnräumen. Später wurde das Planungsbüro in die drei
Dachgeschosse hinein erweitert und die Zimmerei durch mehrere Nebengebäude ergänzt. Später
wurde das Anwesen an ein buddhistisches Studienzentrum verkauft, das es heute mit minimalen
Veränderungen als Unterkunfts- und Begegnungsort nutzt.
Baukörper
Trotz offenkundiger Nähe zu traditionellen Bauernhausformen des südlichen Schwarzwaldes
ist das Haus bei näherem Hinsehen doch eine sehr eigenständige Konzeption. Sie ist geprägt
von Zimmerertechniken, wiederverwendeten Materialien und von experimentellen Ansätzen im
Kontext des ökologischen Bauens.
Die Grundrissgestaltung folgt keiner historischen Referenz. Sie ist durch zwei massive
Innenmauern geprägt, zwischen denen eine freie Raumdisposition in Grundriss und Schnitt
möglich war. An den Fassaden wechseln sich mineralische Abschnitte mit sichtbarem
Holzfachwerk ab. Es gibt keine klare horizontale Trennung zwischen mineralischem Sockel und
Holz-Aufbau.
Auch Dachform und Kubatur erinnern stark an die lokal vorherrschende Bauernhaustypologie.
Während in dieser jedoch Wirtschafts- und Wohnteil horizontal getrennt sind, ist die Trennung
183
Das Hotzenhaus beschreibt eigentlich eine bestimmte Bauernhaustypologie eines südschwarzwälder
Eindachhofes. Hierzu Fasolin, Rauch 2010, S. 38: «Am untersuchten Gebäude ist exemplarisch die Entwicklung
eines ursprünglich in Ständer-Bohlen-Bauweise errichteten Firstständerhauses mit strohgedecktem Rafendach
hin zu einem mehrfach erweiterten, als Hotzenhaus bezeichneten und teilweise massiven Vielzweckgebäudes
ablesbar. Dies könnte man vereinfacht als massive Ummantelung eines Holzhauses bezeichnen.» Die historische
Hotzenhaustypologie hat also die Besonderheit, dass diese Häuser sich alle parallel im Lauf der Zeit analog
zueinander veränderten, vom reinen Holzbau zu einer hybriden Holz-Stein-konstruktion. Auffallend ist die
Ähnlichkeit der ursprünglichen hölzernen Konstruktion dieses ‹Firstständerhauses› mit der Typologie des
Hochstudhauses, bis hin zum nachträglichen Ersatz hölzerner durch massive Bauteile. Hier zeigt sich, dass das
Haus Graubner nur auf den ersten Blick der traditionellen Typologie entspricht. Im Gegensatz zu historischen
Hotzenhäusern sind hier die massiven Wandteile von Anfang an wichtiger Teil der strukturellen und räumlichen
Konzeption, die Firstständer gibt es dagegen nicht.
99
hier vertikal. Kern des Büroteils ab dem Erdgeschoss ist eine zweigeschossige Halle zwischen
den beiden massiven Innenwänden.
Konstruktion
Abgesehen von den massiven Mauern besonders im Untergeschoss184, die sich teils bis ins Dach
hinein fortsetzen, ist die Konstruktion des Hauses ein Fachwerk in Stockwerksbauweise185 mit
einer Ausfachung aus liegenden Bohlen.
Die Holzbalkendecken liegen auf den Wänden der darunterliegenden Stockwerke auf, die
Balkenköpfe sind in den Fassaden sichtbar.
Das Pfettendach mit stehendem Stuhl ist in drei Geschossen ausgebaut und benötigt daher
eine vergleichsweise tragfähige Konstruktion. Die Sparren liegen unten auf Fusspfetten auf,
welche wiederum auf Kraghölzern ausserhalb der Wandebene angeordnet sind. Die nächste
Unterstützung ist ein Hochrähm186 in Wandebene, dann folgen zwei Mittelpfettenpaare und die
Firstpfette. Die Pfetten liegen auf den Fachwerk-Giebelwänden auf, zwei weitere Binderebenen
bilden die Fachwerk-Innenwände, die ihrerseits auf den massiven Innenmauern ruhen.
Die Verknüpfung von Holz- und Steinbauweise zieht sich bis ins Detail, so bestehen die Tür- und
Fensterstürze in den Mauern aus Eichenbalken.
Die Fachwerkwände sind jeweils ein Stockwerk hoch und stehen auf den darunter liegenden
Decken. Die Deckenbalken liegen ohne Aufkämmung auf den Schwellen auf und sind durch
Dollen in der Lage gesichert. Im Gegensatz zum Geschossbau ist beim Stockwerksbau eher eine
Trennung in einzelne Gefügeteile (Wandgefüge, Dachgefüge) möglich. Dies wird hier durch
die erwähnte vertikale und horizontale Verknüpfung von massiven und hölzernen Wänden teils
aufgehoben.
Technische Vorteile der Verzahnung von Mauern und Holzwänden sind die Speichermasse der
massiven Bauteile sowie die Aussteifung, welche die Mauern übernehmen. Die Fassaden im
184
Wandaufbau Mauerwerk von aussen nach innen: Kalkputz, Dämmziegel porosiert, Luftraum mit
Blähtonschüttung 10 cm, Tragmauer Vollsteine, Innenputz mit Heizschlangen im Sockelbereich (Graubner 1984).
185
Wandaufbau Fachwerk (gem. Graubner 1984) von aussen nach innen: Bohlenausfachung 4,5 cm
zwischen Wandständern aus Fichtenholz, Windpapier, Kork 3,5 cm, Kokosfaser-Dämmung 3,5 cm, Luftraum mit
Heizschlangen, Innenschalung.
186
Binding 1990, S. 27: «Rähm, horizontales, auf Ständer oder Stuhlsäulen (Stuhlrähm, regional auch
Pfette) aufgezapftes, längsverbindendes und die Wand oben abschliessendes Holz; Oberrähm-, Hochrähm- und
Unterrähmkonstruktion sind Zimmerungsarten, bei denen sich das Rähm oberhalb, mit Abstand oberhalb bzw.
unterhalb der Balkenlage befindet.»
100
Westen und Norden wurden als Witterungsschutz massiv ausgeführt.187 Jedoch scheinen auch
entwerferische Gründe relevant gewesen zu sein, indem die Verknüpfung der Bauweisen eine
bewusste Komposition darstellt. Graubner spricht von den Wänden als «mehrfach gestaffelte
Schicht»188. Ihre Plastizität wird gezeigt oder durch Massnahmen wie die erkerartigen Fenster
im Untergeschoss, die um Putzstärke zurückspringenden hölzernen Stürze oder die plastisch
gestalteten Fachwerkwände erhöht.
Die Verbindungen kommen weitgehend ohne metallische Verbindungsmittel aus.189 Sie werden
eher versteckt als inszeniert: Es gibt wenige als Zierformen interpretierbare Holzverbindungen.
Tatsächlich sind der durchgesteckte Zapfen an der Schwelle in der Südost-Ecke und einige
Längs-Überblattungen und Stirnversätze190 die einzigen, deren Prinzip unmittelbar erkennbar
ist.191 Da die Ausfachungen in Nuten der Wandständer frei beweglich sind, konnten ohne
Rissgefahr sehr breite Bohlen verwendet werden.
Material
Es war eine Entwurfsentscheidung, mit relativ wenigen Materialien auszukommen.192 Die
Konstruktionshölzer sind vollkantige, unverleimte und gehobelte Fichtenholzquerschnitte,
je nach Stärke markfrei eingeschnitten oder als volles Profil. Sie sind minimal mit dem
Handhobel gefast.193 Auch die Deckenbalken bestehen aus kerngetrenntem Fichtenholz mit
hochkant stehenden Querschnitten, verlegt mit einem relativ grossen Achsmass von circa 110
Zentimetern. Es wurde wintergeschlagenes Holz verwendet, welches als resistenter gegen
187
Graubner 2015.
188
Graubner 1984, S. 30.
189
Lediglich die doppelt liegenden Eichenschwellen auf den Mauern des Untergeschosses sind durch
Stabdübel verbunden und so gegen Verdrehen gesichert. Die Schwellen haben vor allem druckverteilende
Funktion und sind gleichzeitig Fensterstürze. Weiterhin wurden im Obergeschoss Deckenbalken unter die
Mittelpfetten gebolzt, um eine bestimmte Raumhöhe darüber zu gewährleisten. Die profilierten Bretter
zwischen den Deckenbalkenköpfen sind mit verzinkten Nägeln schräg in diese genagelt. In seinem Buch
«Holzverbindungen» (Graubner 1986) beschreibt Graubner technische Vorteile von metallfreien Verbindungen
vor allem in Bezug auf Langlebigkeit und Brandschutz, aber auch Ökologie. Die pragmatische Verwendung
schräg eingeschlagener Nägel zeigt, dass mit dem Thema der Holzverbindungen nicht dogmatisch umgegangen
wurde.
190
Binding 1990, S. 39: «Versatzung, Verbindung zweier schiefwinklig zusammentreffender Hölzer in
einer Ebene durch flaches Einschneiden der Hölzer.»
191
Der Gedanke liegt nahe, dass Wolfram Graubner hier durch die japanische Holzbautradition beeinflusst
wurde, welche auch komplizierte Verbindungen oftmals so versteckt, dass deren Wirkweise von aussen nicht
sichtbar ist. Graubners Buch «Holzverbindungen: Gegenüberstellungen japanischer und europäischer Lösungen»
erschien 1986.
192
Graubner 1984, S. 35.: «Man kann schon sagen, dass wir im ganzen Haus mit wenigen Materialien
ausgekommen sind.»
193
Graubner 2015.
101
Pilz- und Insektenbefall gilt als sommergeschlagenes.194 Für Bauteile, die mit Mauern in
Berührung kommen, wurde das dauerhafte Eichenholz verwendet. Das sind die Schwellen der
Fachwerkwände, Fenster- und Türstürze im Mauerwerk und die Fusspfetten195. Das Holz stammt
von nicht imprägnierten Rohlingen für Eisenbahnschwellen.
Die Konstruktionshölzer weisen grösstenteils schmale Trocknungs(längs)risse auf, während die
Ausfachungen weitgehend rissfrei sind. Es gibt keine erkennbaren Verformungen wie Verdrehen
oder Verkrümmen von eingebautem Holz.
Graubners Mannschaft verwendete viele gefundene Materialien. Das Arvenholz für Türen und
Täferungen wurde aus den mehrere hundert Jahre alten Balken eines Abrisshauses gesägt. Neben
den mineralischen Fussbodenbelägen ist auch die Biberschwanz-Dacheindeckung alt. Auch ganze
Bauteile wie Fenster und Innentüren wurden wiederverwendet.
Beim gesamten Bau wurde kein Zement oder Beton genutzt. Auch die Fundamente sind
mit Kalkmörtel gemauert. Der obere Abschluss der gemauerten Aussenwände unter den
Eichenschwellen und die Kämpfer der Arkade im Untergeschoss bestehen aus zugeschnittenen
Muschelkalk-Quadern.196
Oberflächen
Die Holzoberflächen aussen sind roh belassen und rotbraun verwittert. Die Fenster sind mit
Leinöl-Standöl behandelt.
Die Mauern wurden von Hand und ohne Anschlagschienen verputzt, was eine minimal
unebene Oberfläche ergibt.197 Im Eingangsbereich und in der Halle wurden als Bodenbelag
wiederverwendete Biberschwanz-Dachziegel und Schieferplatten verlegt.
In den Zimmern liegen geölte Fichte-Riemenböden, deren Fugen maximal etwa fünf Millimeter
aufgetrocknet sind. Alle original verwendeten Materialien sind massiv. Lediglich in der
194
Graubner 1984, S. 28: «Holzschutz durch Holzwahl. Insekten interessieren sich für die Stärke im Holz,
die bei im Sommer geschlagenem Holz auftritt. Das merkt man sofort, wenn man am Richtplatz arbeitet. Wenn
man sommergeschlagenes Holz verwendet, wimmelt es von Wespen, wenn man wintergeschlagenes hat, gibt es
keine.» Die Rolle der Fällzeit für die Haltbarkeit der Hölzer wird kontrovers diskutiert.
195
Das ist durch den Dachgeschossausbau nicht ohne Weiteres erkennbar, wird aber von Graubner erwähnt
(Graubner 1984, S. 30).
196
Aus ökologischen Gründen vermied Graubner nicht nur den Einsatz von Zement, sondern auch von
vorgefertigten Baustoffen wie Leimholz oder Plattenwerkstoffe. Als Grund gibt er die für deren Herstellung
notwendige Energie an (Graubner 2014a).
197
Dies war explizite Anweisung an die Ausführenden. Grauber 2015: «Ausführung unter Anleitung des
japanischen Putz-Meisters Akiro Kusumi. Der Putz wurde vor Ort angemischt mit Armierung aus Kälberhaar
einer benachbarten Bürstenfabrik sowie örtlichem Sumpfkalk.»
102
ehemaligen Zimmerei wurde bei der jüngsten Umwidmung der Dielenboden durch ein flächiges
Parkett mit einer Dehnfuge in Raummitte ersetzt.198
Insgesamt sind die Oberflächen im Detail relativ dreidimensional: Putz mit leichten
Ungenauigkeiten, Schiefer- und Biberschwanz-Bodenbeläge, Holzriemenböden und Täferungen,
Fachwerkoberflächen.
Schmuck
Die profilierten Sparren- oder Balkenköpfe traditioneller Hotzenhäuser fehlen hier. Lediglich
zwei horizontale Linien der Fassade, die Deckbretter zwischen den aussen sichtbaren
Deckenbalkenköpfen und die Brustriegel des Fachwerks sind profiliert.199
Dennoch existieren viele Details, bei denen die Grenze zwischen Funktion und Ornament
verschwimmt. Beispiele sind eine oktogonale Holzplatte am Kreuzungspunkt der Türfriese200, die
kleine konkave Holzscheibe am Kreuzungspunkt der Fenstersprossen201 oder die gedrechselten
Staketen der hölzernen Brüstungen in der Halle.
Die vertikalen Bretter der Balkonbrüstungen sind unterschiedlich breit und an den Seiten
geschwungen gesägt. Die unterschiedliche Breite beruht auf einer effizienten Materialausnutzung
der Bretter. Auch die Verlegung alter Biberschwanzziegel in Kalkmörtel als Bodenbelag in der
Halle ergibt ein ornamentales Verlegemuster. Im Inneren sind einige Decken mit Malereien von
Hugo Kückelhaus versehen.202
198
Grösse der einzelnen Elemente ca. 80 x 15 cm.
199
Graubner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Ornamentlosigkeit bewusst gebrochen
wurde, um ein Abgleiten in «Prinzipienreiterei « zu vermeiden. Graubner 1986, S. 26.
200
Die Innentüren bestehen aus Rahmen und Füllung mit kreuzförmigem Fries, wodurch Füllungen aus
nicht verleimten, breiten Brettern möglich wurden. Hier wurde wiederverwendetes Arvenholz aus einem Abbruch
verwendet.
201
Die Fenster bestehen aus Lärche und sind als Verbundfenster ausgeführt. Die Innenfenster haben
Sprossen, welche leicht profiliert und minimal zurückgesetzt sind. Am Kreuzungspunkt der Sprossen ist eine
runde Scheibe mit konkaver Fläche eingebaut. Die Aussenscheiben sind ohne Sprossen. Alle Scheiben sind
mit Kittfase abgedichtet. Die Fensterprofile sind auf Gehrung geschnitten, es gibt keine Konterprofile. Die
Fenstersprossen sind eine Entwurfsentscheidung, keine technische Notwendigkeit (sonst wären auch die
Aussenscheiben unterteilt). Graubner 2015: «Sie dienen einer differenzierten Schattenbildung und damit
Lichtgestaltung».
202
Graubner 2015: «Farbanstriche innen als Mineralfarben mit z.T. in der Landschaft gesammelten
Erdfarben. Deckenanstriche: Naturpigmente mit Zellulosekleister.»
103
Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Gebäudeecke mit sichtbaren Holzverbindungen / Die
abgeschrägte Kante leitet Regenwasser von der Konstruktion weg / Stürze aus Eichenholz /
Innentür aus wiederverwendetem Arvenholz mit oktogonaler Platte im Zentrum der Friese / Die
profilierten Füllbretter zwischen den Deckenbalken sind genagelt / Die Fenster im Untergeschoss
bilden räumliche Elemente.
Unten: Verformungsgerechtes Aufmass der südöstlichen Gebäudeecke, Originalmassstab 1/20,
hier ohne Massstab.
104
105
Nachhaltigkeit als Ziel: Das Hotzenhaus
Rahmenbedingungen
Absicht
Die grundlegende Absicht des Gebäudes kann unter dem Stichwort ‹Nachhaltigkeit›
zusammengefasst werden. Es wurde eine Alternative zum erbauungszeitlichen Konsens des
Bauens angestrebt, indem es bewusst in eine handwerklich-konstruktive Tradition gestellt wurde.
Es sollte ein ökologisches Bauwerk entstehen, das in Bezug auf den Ressourcenverbrauch
(durch wiederverwendete oder handwerklich aufgewertete ‹gefundene› Baustoffe) und den
Energieverbrauch (für die damalige Zeit fortschrittliche Dämmung, der ausdrückliche Verzicht
auf homogenisierte Materialien), besonders aber durch Langlebigkeit nachhaltig ist. Hierzu
gehörte auch das Einbetten des Gebäudes in den räumlichen und kulturellen Kontext.203
Handwerk ist dafür ein wichtiges Mittel, nicht aber das Ziel des Entwurfes.
Die Langlebigkeit wird nicht nur durch den Gebrauch traditioneller, empirisch erprobter
Techniken und Details zu erreichen versucht, sondern auch auf konzeptioneller Ebene.
Indem Materialien verwendet wurden, die mit der Zeit eine Patina bilden, wurde das Altern
204
im Entwurf antizipiert. Dies gilt für die Oberflächen der Holzkonstruktion, die bronzenen
Türbeschläge, die hölzernen und steinernen Bodenbeläge oder die Dachdeckung. Die gewollt
unspezifischen Grundrisse sollten Nutzungsänderungen ohne tiefe Eingriffe in die Struktur
erlauben.205
Begründet durch die angestrebte Langlebigkeit sollte der Ausdruck nicht explizit auf die
Entstehungszeit hinweisen.206 Es wurde ein Ausdruck gesucht, der direkt aus der Fertigung
entstand und auf diese Weise auch hier die Nähe zu vernakulären Bauformen suchte, ohne diese
203
Angestrebt wurde eine ‹Durchdringung› (Graubner) von Gross und Klein. Die Verknüpfung ist über
den Massstab des Hauses hinausgedacht. Graubner führt wiederholt Geschichten als Herleitung bestimmter
Formen an: Die Dachneigung entspricht dem am Ort höchsten Sonneneinfallswinkel (Graubner 1984, S. 27), die
Treppenstaketen erinnern an ein von Kückelhaus bewohntes Haus, die Oktogone in den Türen sind inspiriert vom
Grundriss einer Kirche. Das bedeutet ein bewusstes Herstellen von Verknüpfungen zwischen dem Entwurf des
Hauses und übergeordneten Themen, bzw. ein bewusstes Aufladen des Hauses mit Bedeutung. Die Referenzen
sollen das Haus bewusst in einen Kontext stellen (Graubner 2014a).
204
Im Sinne von ‹Merkmale des Alters zeigen›.
205
Graubner 1984, S. 31: Das Haus soll «(...) vielseitig nutzbar sein, ein Haus, das man in allen
Richtungen benutzen kann. Das bedeutet, dass die Struktur des Hauses hinsichtlich der Räume möglichst wenig
vorbestimmt sein darf.»
206
106
Graubner 2015: Das Bauwerk sollte «zeitlos» wirken.
zu imitieren.
Trotz dieser formalen Nähe zu historischen Referenzen sind die einzelnen Entscheidungen
nicht in erster Linie formal begründet. Am Bauwerk ist an manchen Stellen ein pragmatisches
Eingehen auf die individuellen Gegebenheiten feststellbar, um ein sonst vielleicht allzu starres
Konzept gezielt zu brechen: Graubner ging es «nicht um Wirkungen als Solche, sondern um
beiläufige Wirkungen.»207
Durch die Spuren und die Variationen in Grund- und Aufrissen wirkt das Haus ‹gewachsen›.
Hierzu trägt auch die vertikale Verknüpfung der verschiedenen Bauweisen in den Fassaden bei,
welche bei der historischen Hotzenhaus-Typologie erst durch Ergänzungen ursprünglich als reine
Holzkonstruktionen erstellter Gebäude entstand.
Beschränkung
An mehreren Stellen erwähnt Graubner, dass bestimmte Entscheidungen – für wiederverwendete
Materialien oder bestimmte Techniken – auch aus ökonomischen Gründen gefällt wurden.208
Die eigentliche, Entwurf und Ausführung bestimmende Beschränkung ist jedoch der bewusste
Verzicht auf energieaufwendig hergestellte Materialien. Die Beschränkung ist hier also teilweise
aktiv gesucht, um die Absicht des Hauses zu erreichen.
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Die meisten vorliegenden Arbeiten erforderten erfahrene und ausgebildete Handwerker. Es
wurden Arbeiten ausgeführt, welche nicht nur nicht repetitiv sind, sondern eine Bewertung des
Materials und in Fällen wie dem Fussbodenbelag eine schöpferische Leistung erfordern.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Die vorherrschende riskante Fertigung bedeutet direkte menschliche Interaktion in den meisten
Bearbeitungsschritten, sicher aber bei Abbund, Aufrichte, Holzausbau und bei den genannten
Beispielen der Ausbaugewerke. Der Handabbund bedeutet situatives Reagieren, welches hier
jedoch nur sehr wenige Spuren an der Holzkonstruktion hinterliess. Diese Spuren sind subtiler,
207
Graubner 1984, S. 33.
208
Graubner 1985. Seine Aussage «Nichts ist gestalterisch gelöst, alles folgt aus der Konstruktion»
(S.26) ist jedoch leicht irreführend. Die meisten Entwurfsentscheidungen können auf die Konstruktion oder
eine andere Notwendigkeit zurückgeführt werden. Dennoch hätte es auch innerhalb dieser Gesetzmässigkeiten
unendlich viele Möglichkeiten der Variation gegeben. Insofern verschmelzen hier gestalterische und
konstruktive Entscheidungen: Es wurde innerhalb eines Systems entworfen, welches aber Freiheiten für einzelne
Entscheidungen besonders für die Ausführenden bietet. Ein Kriterium für die gestalterischen Entscheidungen
kann das Unterstreichen des gewünschten Ausdrucks sein.
107
aber über das Gebäude verteilt. Die im Putz ausgesparten hölzernen Stürze sind eine solche Spur,
wie auch die ungleich breiten Brüstungsbretter der Balkone.
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Beim Hotzenhaus gibt es viel weniger direkte Fertigungsspuren als im Hochstudhaus in Birrwil,
da hier viel mehr in direkter Arbeitsweise gearbeitet wurde. Die Aufbereitung der Hölzer, deren
Spuren sich über das gesamte Bauwerk verteilen kann, wurde beim Hotzenhaus determiniert im
Säge- und Hobelwerk bearbeitet.
Die vorhandenen Spuren sind nicht aktiv herbeigeführt worden. Ihr Ursprung liegt in der
Festlegung bestimmter hervorbringender Techniken. Die Spuren sind angemessen, weil
sie innerhalb der gewählten Techniken keinen Mehraufwand bedeuteten und andererseits
den beabsichtigten Ausdruck unterstützen. Imitationen von Spuren, um ein reines Bild
handwerklicher Fertigung zu erreichen, mussten unbedingt vermieden werden.
Bei den meisten Arbeitsschritten lag die Beurteilung der Angemessenheit der Ergebnisse direkt
bei den jeweiligen Ausführenden. Durch die Strategie, Vorgehensweisen vorzugeben, wird
dies noch verstärkt an Stellen, wo nicht nur die technische, sondern besonders die ästhetische
Angemessenheit bei der Ausführung eingeschätzt werden muss.
Vorliegende Fertigungsweisen
Die Materialaufbereitung beruht zwar auch auf handwerklichem Wissen und der Einschätzung
der Angemessenheit, der Prozess selbst ist aber mechanisiert. Wenigstens mit dem Beginn des
Abbundes jedoch herrscht die handwerkliche Fertigungsweise vor.
Im Ausbau führte die Verwendung vorhandener Materialien teils zu einer Art Bricolage, die
sehr
bewusst eingesetzt wurde. Das beste Beispiel für Arbeit mit eigentlich fremden Materialien
Fertigungsweisen
ist der Bodenbelag aus alten Dachziegeln. Dieser wurde genutzt, um den Ausdruck im Inneren
108
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
Arbeitsschritt
Materialaufbereitung
Abbund
Aufrichte
Ausbau
Ausbau
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Hotzenhaus
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
auszubalancieren.
1
•
•
•
•
(•)
2
x
•
•
•
•
3
•
•
•
•
•
Fertigungsweise
determinierte Fertigung
Handwerk
Handwerk
Handwerk
Handwerk / 'Bricolage'
10.05.16
Prozess
Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung
Die hölzerne Primärstruktur wurde per Hand mit Elektrowerkzeugen abgebunden.209 Die wahren
Längen, Winkel oder Schiftungen wurden von Hand auf dem Reissboden aufgerissen. Es gab
keine digitale Berechnung des Abbundes.
Die Bearbeitung der Hölzer für Primärstruktur und Ausbau ist weitgehend reguliert, es gibt also
kaum Abweichungen von einer Idealform. Dies ist bedingt durch die angewandten Werkzeuge:
Im Gegensatz zum Zimmern mit dem Beil als Hauptwerkzeug kommt die inkrementelle
Fertigung nur vereinzelt vor. Die Handkreissäge arbeitet direkt an der angestrebten Schnittfläche,
die dann viel eher eine geometrisch definierte Geometrie ergibt.
Die freie Umsetzung kommt hier bemerkenswerterweise in erster Linie bei den mineralischen
Gewerken vor, namentlich bei den Verputzarbeiten und den keramischen Bodenbelägen. Sie
wurden teils bewusst durch ‹fachfremde› Ausführende bearbeitet, indem ein Maurer anstatt eines
spezialisierten Fliesenlegers herangezogen wurde.210 Hier wurde gezielt freie Ausführung mit
gewissen Toleranzen im Ergebnis gesucht, während technisch eine völlig regulierte Arbeitsweise
möglich gewesen wäre.
Umgang mit Toleranzen
Die Primärstruktur ist weitgehend toleranzfrei gefertigt. Die Masshaltigkeit und die Genauigkeit
sind sehr hoch. Wie bei historischen Fachwerkbauten ist die Konstruktion aber auf das Arbeiten
des Holzes während der Lebensdauer ausgelegt. Diese Bewegungen des Holzes sind in den drei
Dimensionen jeweils sehr unterschiedlich. Entsprechend muss darauf geachtet werden, dass
nirgends Hölzer fest miteinander verbunden werden, deren Faserverlauf senkrecht zueinander
verläuft211, da dies zu Spannungen führen würde. Hier wird mit Ausdehnungsräumen gearbeitet:
209
Beim Workshop am 20.03.15 in Luzern erklärte W. Graubner, dass für ihn bei der Definition von
Handwerk nicht relevant ist, ob ein Werkzeug mit Muskelkraft oder elektrisch angetrieben wird, solange
das Ergebnis von den Fertigkeiten des Bearbeitenden abhängt. Diese Auffassung entspricht Pyes Begriff der
‹workmanship of risk›. Pye 1968, S. 25: «The source of power is completely irrelevant to the risk. The power tool
may need far more care, judgement and dexterity in its use than the hand-driven one.»
210
Graubner 1984 S. 33.
211
Bei vorneuzeitlichen Möbeln ist oft zu beobachten, dass diese Regel nicht eingehalten wurde. Hier
wurden manchmal Hölzer mit längslaufender auf solche mit querlaufender Faser genagelt – die darüber hinaus
sehr breit sind – ohne dass bis heute Schäden entstanden sind. Eine Erklärung hierfür könnte einerseits eine
effektive, lange Lufttrocknung oder andere Vorbehandlungen wie Wässern sein, andererseits die geringen
klimatischen Schwankungen in den damals teilweise ungeheizten Bauten. Mit der Ausdifferenzierung von
Holzverbindungen und Techniken bis zum Barock scheint sich dies zu wandeln – es kann allerdings auch ein
geändertes Bedürfnis nach dem Aufkommen effektiverer Heizsysteme (Öfen) sein. Diese Frage kann hier nicht
abschliessend behandelt werden.
109
Die Nut im Rahmen einer Tür, in der sich die Füllung frei bewegen kann, ist ebenso ein Beispiel
dafür, wie die Nuten zur Aufnahme der Bohlenfüllungen. Da hier vorrangig getrocknetes Holz
verwendet wurde, ist das Arbeiten des Holzes geringer als bei aus frischem Holz hergestellten
Fachwerkkonstruktionen.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Es gibt insgesamt wenige direkte Spuren des Herstellungsprozesses. Die Konstruktionshölzer
sind sehr masshaltig und haben ebene Oberflächen.
Dafür aber gibt es Hinweise, dass durch bestimmte Entwurfsentscheidungen wie die
Materialwahl und die Vorgabe von Techniken die Dichte an Spuren und darüber hinaus die Dichte
an visuellen Details (wie Risse, Verwitterung, Alterung) an manchen Stellen erhöht werden
sollte. Ein Beispiel ist die Entscheidung, die Putzoberfläche ohne Anschlagschienen auszuführen.
Auch die Fasen der Konstruktionshölzer wurden mit dem Handhobel hergestellt. Hier werden
geometrische Unschärfen bewusst herbeigeführt.
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Die Berührungspunkte zwischen Planung und Ausführung waren bei diesem Gebäude besonders
zahlreich. Sowohl Kückelhaus als auch Graubner als Planer hatten handwerkliche Ausbildung
und Erfahrung und waren selbst in die Ausführung involviert. Darüber hinaus wurde sehr nahe
am physischen Bau beziehungsweise Material geplant, indem die Fassadenaufrisse direkt 1:1
auf dem Reissboden festgelegt oder das Verlegemuster der Platten während der Bearbeitung
entworfen wurde.
Die Zimmererarbeiten wurden von einer kleinen Kerntruppe aus Mitarbeitern der eigenen
Zimmerei in enger Zusammenarbeit ausgeführt. Das gilt auch für eigentlich fachfremde Arbeiten
wie die gemauerten Arkaden, die Schreinerarbeiten sowie das Wandheizsystem.
Das Vorgehen war durch die Entscheidung, traditionelle und regionale Zimmerertechniken zu
verwenden, weitgehend festgelegt. Die Verwendung von recyceltem Material bedeutet eine
umso grössere Verantwortung bei den einzelnen Bearbeitenden: Jedes Stück Holz wie auch jeder
alte Biberschwanzziegel, von den Fenstern ganz abgesehen, musste auf seine Verwendung hin
geprüft, bewertet und gegebenenfalls angepasst oder repariert werden.
Zum Erreichen bestimmter Ergebnisse wurden in der Konzeption Rahmenbedingungen für
die Ausführung festgelegt. Innerhalb dieses Rahmens bestanden dann Freiheiten wie die
Anfangspunkte der Bodenbelagsmuster oder das Konstruktionsprinzip der Fachwerkwände,
welche Entscheidungen während der Ausführung begünstigte oder sogar erforderte. Dieses
Vorgehen ist bis zu einem gewissen Grad ergebnisoffen. Das Ergebnis eines Arbeitsschrittes
110
ist nur mittelbar beschreibbar und nicht genau determiniert. Dadurch wurden entsprechende
Unschärfen in der endgültigen Geometrie der Bauteile nicht nur in Kauf genommen, sondern
gezielt gesucht.
Beim Bodenbelag der Halle ging das noch einen Schritt weiter, indem den Ausführenden mit dem
endgültigen Muster auch eine entwerfende Aufgabe überlassen wurde. Dieses prozessbasierte,
iterative Vorgehen ist bei vielen Arbeitsschritten im Bauwerk anzutreffen.
Das Verteilen der Verantwortung auf die an der Ausführung Beteiligten und damit die integrale
handwerkliche Fertigung, ist hier immanenter Bestandteil des Entwurfskonzeptes. Das hat
weitreichende Konsequenzen auf den Prozess und den Ausdruck des Bauwerks. Dass die
Ergebnisse auf diese Weise nicht vollständig im Entwurf vorweggenommen werden können
erfordert ein entsprechendes Konzept, welches geometrische Unschärfen nicht nur verträgt,
sondern ausnutzt. Es handelte sich klar um einen handwerklichen Prozess.
Ausdruck der Fertigung
Die Fertigung wird an vielen Stellen des Bauwerks gezeigt. Sie wird jedoch nicht inszeniert;
vielmehr ist für viele ihrer Spuren ein Wissen des Betrachters notwendig, um sie im Detail lesen
zu können.
Beschreibung
Die Fertigung zeigt sich am Gebäude als ein Ausdruck der Selbstverständlichkeit, der Organik
und des Handwerklichen. Die Kraftabtragung ist jederzeit selbstverständlich nachvollziehbar.
Der Ausdruck der Konstruktion liegt zwischen einer strengen Regelmässigkeit und erkennbaren
Freiheiten davon. Einerseits ist das Konstruktionsprinzip des Fachwerks sehr streng, die
Hierarchie der Bauteile ist klar, ihre Sichtbarkeit gliedert die Fassaden sehr stark. Andererseits
sind an der Konstruktion viele Unregelmässigkeiten erkennbar. Die Abstände der Wandständer
der Schaufassade zum Beispiel sind unregelmässig, die Lage der Fenster ist nicht symmetrisch.
Die Konstruktionslogik bildet einen Bezugsrahmen, innerhalb dessen beim Entwurf
offensichtliche Freiheiten genommen wurden.
Der Baukörper wird durch den Kontrast zwischen der kompakten Gesamtform und der
Kleinteiligkeit und Inhomogenität von Konstruktion und Oberflächen geprägt. Dies sowie die
verschiedenen Materialien, die Öffnungsgrössen, die Dreidimensionalität der Fassaden vom
Balkon bis zu den vorstehenden Konstruktionshölzern verleihen dem Bauwerk eine grosse
Komplexität.
111
Das Gebäude hat eine Dichte an visuellen Details – man könnte auch von einer Körnung
sprechen – die weitgehend kongruent über die Massstäbe ist. Diese reichen von Materialtexturen
wie Holzmaserungen über die aus der Anordnung von Materialien gebildeten Muster oder
bewusst platzierte Konstruktionsdetails bis hin zur Kombination verschiedener Bauweisen im
Grossen. Bei praktisch allen originalen Materialien ist deren Massivität Teil des Ausdrucks und
zeigt sich auch an den Oberflächen durch Fugen oder Risse. Die individuellen Bauteile wie
Füllungsbretter, Bodendielen und Balken sind klar als einzelne Komponenten zu unterscheiden.212
Durch die Regeln der Konstruktion ordnen sie sich organisch in das Gesamtbild des Hauses ein.
Im Gegensatz zum Hochstudhaus gibt es hier viel weniger geometrische Unschärfen, da es auch
viel weniger freie Umsetzung gab. Stattdessen zeigt sich die handwerkliche Denkweise an vielen
sorgfältig ausgeführten Details.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Die Absicht war, ein nachhaltiges, langlebiges Haus zu bauen, das entsprechend einen zeitlosen
Ausdruck haben sollte. Der handwerkliche Ausdruck bedeutet, dass das Haus nicht auf den
ersten Blick auf seine tatsächliche Erbauungszeit zu verorten ist. Dadurch wird die gesuchte
Zeitlosigkeit unterstützt.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Beim Hotzenhaus ist die Übereinstimmung von Fertigung und Ausdruck zentral und wird
konsequent verfolgt. Eine nonchalante Ausnahme wie bei den Brettertüren im Hochstudhaus
kommt hier nicht vor: Alles ist so entstanden, wie es gezeigt wird.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Im Unterschied zum Hochstudhaus ist der Ausdruck hier nicht selbstverständlich entstanden,
sondern reflektiert herbeigeführt worden. Er wurde im Entwurf gesteuert und beruht auf einer
Summe von Massnahmen wie bewusst eingesetzten handwerklichen Details, freier Fertigung an
bestimmten Stellen und den geometrischen Unregelmässigkeiten der Konstruktion.
212
Im Kontrast zu dem später ergänzten Parkettboden in der Zimmerei zeigt sich der additive Ausdruck
sehr gut. Der neue Boden wirkt extrem flächig und abstrakt, da die einzelnen Lamellen ohne Fugen verschliffen
und im Gesamten mit einer sehr glatten Beschichtung versiegelt wurden.
112
Im Uhrzeigersinn: Das nachträglich
eingebaute, homogene Parkett im
Untergeschoss / Die zentrale Halle / Das
Verlegemuster der Fussböden in der Halle aus
wiederverwendeten Dachziegeln.
113
114
4. Totenstube: Analyse
Geschichte
Der Architekt Gion A. Caminada entwarf in enger Abstimmung mit der Bevölkerung von
Vrin den Neubau eines Hauses, der das traditionelle Ritual der Aufbahrung der Verstorbenen
ermöglichte.
Baukörper
Die Totenstube ist mit ihrer kompakten Form in den steilen Hang eingebaut, welcher den
Friedhof im Ortskern von Vrin talseitig umgibt. Die mineralischen Stütz- und Sockelwände aus
Sichtbeton führen die vorhandenen Hangstützmauern aus Bruchstein weiter. Die Eingänge im
unteren Geschoss liegen in einer hofartigen Nische. Die spezielle Form des Blockbaus betont
die Gebäudeecken: Die Aussenwände bestehen aus doppelten Strickwänden, zwischen denen
die Dämmung angebracht ist. In den Gebäudeecken ragt aussen nicht nur der Vorstoss einer
Wandschale heraus, sondern die gesamte doppelte Strickwand – und hieraus ihrerseits wieder die
Vorstösse der einzelnen Schalen. 213
Im unteren Geschoss, das von der Gasse aus betreten werden kann, liegt der Aufbahrungsraum.
Oben liegt ein Raum für die soziale Komponente des Abschiedsrituals. Hier ist ein Eingang
vom Friedhof aus, während der Weg des Verstorbenen vom Untergeschoss durch die Gassen
des Dorfes zu Kirche und Friedhof führt – in Anlehnung an die früher übliche Prozession vom
Wohnhaus zur Kirche. Die Geschosse sind durch einen grosszügigen Treppenraum verbunden.
Die Beziehung der drei Haupträume zueinander – der Aufbahrungsraum unten, der Treppenraum
mit Eingangsräumen auf zwei Geschossen und der Gemeinschaftsraum beziehungsweise die
Stube im Obergeschoss – wird durch die Abstufung der Bedeutung dieser Räume im Kontext des
Aufbahrungsrituals bestimmt.
213
Hierzu Martin Tschanz in Cabalzar et. al. 2003, S. 31: «Überhaupt ist die Plastizität des Baus
ausserordentlich. Die für den Strickbau charakteristische Eckausbildung mit ihren Vorstössen, die an sich schon
ein kräftiges Element ist, wird hier gleichsam verdoppelt und übersteigert. (...) Die traditionelle Symmetrie der
Ecke ist aufgebrochen, doch die damit eingeführte Richtung wird durch die windmühlenflügelartige Anordnung
in eine Kreisbewegung geführt. Somit wird am Ende keine Ausrichtung, sondern der Baukörper als solcher
betont. Dieser Eindruck wird durch das in sich ruhende, gewalmte Dach unterstützt.»
115
Konstruktion
Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Beispielen hat die Totenstube kein stabförmiges
Tragwerk. Die Konstruktionslogik des Strickbaus beruht auf den Stapeln liegender Hölzer,
die an den Gebäudeecken durch Holzverbindungen in der Lage gesichert werden. Alle
Wandstösse sind so Teil der Konstruktion. Die Wände sind von Anfang an festgelegt und nie als
einfache Scheiben, sondern nur in winkliger Kombination stabil. Die Setzmasse, die vertikale
Volumenabnahme der Wände mit dem Austrocknen der Hölzer, werden zum bestimmenden
Konstruktionsfaktor für die Öffnungen.
Die doppelten Aussenwände sind im Prinzip aufs schmalste zusammengedrängte, mit Dämmung
gefüllte Strickbauten. Die Innenwand im Obergeschoss ist eine Bohlenständerwand als
Verlängerung der Vorstösse eines Fensters und eines gegenüberliegenden Wandversprunges.
Die Wand steht auf der Decke über dem Untergeschoss, welche wiederum von einem doppelt
liegenden massiven Überzug im Dachraum abgehängt ist.
Auf den Aussenwänden über dem Obergeschoss liegt eine Balkendecke, welche über die
Wände hinausragt und so den gesimsartigen Dachüberstand bildet. An ihren Stirnseiten sind
Bohlen befestigt, welche die Rinne verdecken; sie wirken von aussen wie ein Attikagesims. Die
Decke zwischen den beiden Geschossen besteht aus den gleichen, direkt aneinander verlegten
Balken wie die Wände.
Die Bauweise bedeutet eine starke Verknüpfung innerhalb der Konstruktion und dadurch starke
Zwänge. Bauteile konnten nicht unabhängig voneinander gedacht werden.
In den Ecken sind die einzelnen Balken nicht wie im klassischen Strickbau durch
Blattverbindungen gefügt, vielmehr stösst immer ein Balken mit einem Schwalbenschwanz in
den anderen. Dieser ragt jeweils über die Ecke hinaus. Diese Vorstösse sind notwendig, um für
die Schwalbenschwanzverbindung eine genügende Vorholzlänge bereitzustellen.214
Material
Die Konstruktion besteht aus Vriner Fichtenholz, welches von der Sägerei als sägerohe
Kanthölzer geliefert und in der Zimmerei gehobelt und gefräst wurde. Es hatte beim Abbund
nach einer Lufttrocknung von zwei Jahren noch eine Feuchte um 18 Prozent, weshalb
Maschinentrocknung nicht unbedingt notwendig war. Nur der jeweils unterste Balken der Wände,
der direkt auf dem Sockel aufliegt und damit Spritzwasser und aufsteigender Feuchte eher
ausgesetzt ist als die höher liegenden, besteht aus dem resistenteren Lärchenholz.215
214
Beim traditionellen Blockbau mit Verkämmungen gibt es zwei Vorstösse, beim Strickbau mit
Verzinkung hingegen keinen.
215
116
Bei Bauten aus Lärche wurden auch verleimte Hölzer benutzt. Da Lärchenholz stärker arbeitet als
Die Sichtbeton-Sockelwände sind wegen der innen bis zur Bodenplatte reichenden
inneren Schalen der Strickwände nur von aussen sichtbar. Sie sind eher grob geschalt und
nachbearbeitet.216 Im Aufbahrungsraum liegt ein Hirnholzparkett aus Eiche. Die Türdrücker,
Fenstergriffe und die Garderobe sind aus Eisen geschmiedet, welches schwärzlich angelassen
wurde. Die Dachdeckung erfolgte mit Steinplatten aus Glimmerschiefer wie die benachbarte
Kirche und einige weitere Bauten im Dorf.
Oberflächen
Die Konstruktionshölzer im Strickbau werden normalerweise nicht nach dem Einbau geputzt.217
Se behalten die gehobelte Oberfläche, die vor dem Abbund zugleich mit dem Fräsen von Nut und
Kamm entsteht. Aussen sind die Holzwände der Totenstube mit weisser Kaseinfarbe lasiert. Der
Grund hierfür ist die gesuchte formale Annäherung an die weisse Kirche.218
Die Holzoberflächen innen sind mit Handschleifmaschinen geschliffen und mit Schellack
behandelt. Dieser Lack feuert die Holzmaserung an und gibt einen starken, fast speckigen Glanz,
den man sonst nur von (antiken) Möbeln kennt. Im Möbelbau gilt Schellack als sehr hochwertig,
seine Anwendung ist sehr aufwendig. In Verbindung mit den massiven Hölzern ist jedoch eine
‹perfekte›, genau determinierte Oberfläche nicht zu erreichen.
Schmuck
Es gibt keine expliziten Ornamente am Gebäude. Bei den vertikalen Lisenen neben den Fenstern
wurden durch die Zwänge der Konstruktion entstehende Eigenheiten ornamental eingesetzt.
Sie entstehen aus der nötigen Vorholzlänge der Schwalbenschwanzverbindungen. Durch ein
zusätzliches kleines Vordach über den Fenstern bilden sie einen L-förmigen Rahmen und
unterstützen die Räumlichkeit der Fensternische. Die Fenster selbst sind bewusst dreidimensional
und mit ins Räumliche greifenden Elementen konzipiert.
Fichte, werden hier oft die Stämme im Kern getrennt und dann kernaussen wieder verleimt.
216
Die Oberfläche sieht aus wie mit einem feinen Stockhammer bearbeitet; Abstandhalter der
Bewehrungseisen sind an manchen Orten sichtbar.
217
Unter ‹Putzen› versteht man die Oberflächenbehandlung von Holzoberflächen vor dem Anbringen von
Farben oder Beschichtungen. Vgl. Gerner 1984: «putzen: 1. allg. alle Sauberarbeiten, Grate entfernen usw.»
218
Diese Diskrepanz zwischen tatsächlicher Materialisierung und Erscheinung betont den ambivalenten
Charakter des Baus; zwischen weltlich und geistlich, zwischen Alltag und Ausnahmesituation, zwischen
pragmatisch und existenziell.
117
Im Uhrzeigersinn: Treppenraum / Die
eigentliche Stube im Obergeschoss / Die
Totenstube vom Friedhof aus gesehen
/ Wo Hölzer mit senkrecht zueinander
verlaufender Faser zusammentreffen, müssen
Ausdehnungsräume vorgesehen werden.
118
Das Dorf weiterbauen: die Totenstube
Rahmenbedingungen
Absicht
Der Entwurf der Totenstube basiert auf dem Wunsch, nicht nur einen Aufbahrungsraum, sondern
einen neuen Ort für das traditionelle Ritual der Aufbahrung zu schaffen. Das bedeutet das
Überführen von Traditionen in die Zukunft, jedoch keinen Selbstzweck. Sie sind für Caminada
Teil des Dorfes als einer Gemeinschaft. Ihr Weiterführen gehört zum Bestreben, den Ort, das Dorf
zu stärken. Der Anspruch des ‹Weiterbauens› beschränkt sich nicht auf das Ortsbild, sondern
umfasst auch soziale Funktionen des Ortes.
Die genannte Absicht bedeutet für den Ausdruck, dass es möglich sein muss, diesen im Dorf zu
verorten. Entwurfsentscheidungen wurden im Detail aus dem physischen Kontext hergeleitet, um
Bezüge zur direkten Umgebung herzustellen. Die Strickbau-Konstruktion ist dabei die wichtigste
Referenz, gleichzeitig bietet sie auch ein starkes Regelwerk, um Entwurfsentscheidungen
zu begründen. Die Verwendung regionaler Materialien und deren Veredelung durch lokales
Handwerk entstammt ebenso aus dieser Absicht. Zum Stärken des Ortes gehört auch die
regionale Wertschöpfung. Bewusst wurde ein handwerklicher Ausdruck gesucht. Dies ist
bei der Dachdeckung der Fall, bei den handgeschmiedeten Beschlägen und natürlich bei der
Strickbaukonstruktion.
Schliesslich ist auch das Erzeugen von Konnotationen gewünscht. Die Schellack-Lackierung
innen ist eine Spur menschlicher Arbeit, die an sich nicht notwendig gewesen wäre. In diese
Oberfläche wurde also mehr Zeit und Sorgfalt investiert als nötig, was ihr bewusst eine
besondere Bedeutung verleiht. Der Entwurf instrumentalisiert die Fertigung zum Generieren von
Bedeutung.
Wichtig ist, dass eine ‹entfremdete› Sichtweise auf das Dorf und die Bergwelt
unbedingt vermieden werden sollte, vielmehr wurde eine Selbstverständlichkeit der
Entwurfsentscheidungen angestrebt. Für die Langlebigkeit aller angewandten Techniken und
Materialien sind die umliegenden Bauten Referenz. Sie wird praktisch nur durch konstruktiven
Holzschutz gewährleistet.
Beschränkung
Auch bei der Totenstube gibt es eine Beschränkung, die nicht von aussen, sondern aus dem
119
Entwurfskonzept kommt. Der Entwurf beschränkt die Mittel auf die regionalen und durch
örtliche Referenzen legitimierten Materialien und nähert sich damit einer Vorgehensweise an, die
auch für traditionelle Typologien bestimmend ist.
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Zimmerer Claudio Alig bezeichnet den Abbund eines Strickbaus als ‹kompliziert›. Neben
der konkreten Herstellung der Verbindungen gibt es auch bei der Anordnung und Auswahl
der Hölzer Entscheidungsfreiraum für die Ausführenden. Das Schwierige am Strickbau ist
das vorausschauende Umgehen mit dem Setzmass der Hölzer. Um die Holzbewegungen zu
antizipieren, ist praktische Erfahrung notwendig. Aber auch die Montage braucht Erfahrung.219
Hier gibt es zwar scheinbar kaum Entscheidungsfreiraum, da die Geometrie der Hölzer deren
Lage festlegt. Tatsächlich aber gibt es durchaus die Möglichkeit, Balken beim Einbau zu
verkanten oder in leicht versetzter Lage einzubauen; nach dem Einbau ist der Balken kaum
mehr lösbar, da es sehr wenig Spiel in den Verbindungen gibt. Die Dübellöcher sind darüber
hinaus leicht versetzt gebohrt, so dass die Dübel die Balken in den Stoss hineinpressen, was
ein nachträgliches Korrigieren weiter erschwert. Beim Einbau muss das Verhalten des Balkens
vorhergesehen werden, wozu es direkter physischer Erfahrung bedarf. Regelmässig muss die
Lage der Hölzer kontrolliert werden. Beim Aufrichten braucht es teils schwere Werkzeuge
wie Spanngurte, Hebel und schwere Schonhammer, die aber sehr dosiert eingesetzt werden
müssen. Das Aufrichten eines Stricks kann laut Claudio Alig nicht von unausgebildeten Leuten
durchgeführt werden.
Beim Strickbau ist das Können und Wissen auf der dritten Stufe – also das Überblicken nicht
nur des vorliegenden Arbeitsschrittes, sondern auch dessen Einbetten in den Gesamtkontext des
Bauprozesses – entscheidend, da die Konsequenzen vieler Massnahmen erst nach der Aufrichte
und mit dem Setzen des Holzes, im Extremfall erst nach Jahren, dann aber sehr eindrücklich zu
Tage treten.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Trotz des hohen Anteils an regulierter Umsetzung kommt im Prozess immer wieder riskante
Fertigung vor. Dies gilt vom Handabbund über die Aufrichte, die Herstellung der Einbauten,
die Oberflächenbehandlung, die Herstellung der Beschläge bis hin zur Dachdeckung. Diese
menschliche Interaktion ist für die meisten erkennbaren Bearbeitungsspuren verantwortlich.
219
Claudio Alig (Alig 2015) spricht von ‹Gefühl›. Nach seiner Einschätzung können zwei ausgebildete
Zimmerer und zwei ‹nicht ungeschickte› Handlanger ein Bauwerk wie die Totenstube aufrichten.
120
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Manche Spuren sind Hinweise darauf, dass die Bearbeitenden die Angemessenheit der
Ergebnisse selbst beurteilten. Bei jedem Flickzapfen wurde das passende Holzstück hinsichtlich
Farbe, Art und Breite der Maserung ausgewählt, beim Einbau wurde auf eine übereinstimmende
Faserrichtung geachtet. All dies bedeutet keinen grossen zeitlichen Mehraufwand, setzt aber die
Beurteilung der Ergebnisse und ein Bewusstsein für die jeweilige Wirkung voraus.
Vorliegende Fertigungsweisen
In allen Schritten der Fertigung nach der Materialaufbereitung liegen handwerkliche
Arbeitsschritte vor. Besonders der Dachstuhl war ein sehr komplexer Handabbund, da die
beiden Firstpfetten nicht rechtwinklig aufeinandertreffen und nicht waagerecht liegen. Alle
Konstruktionshölzer kamen zur Aufrichte einzeln nummeriert zur Baustelle.
Einen Sonderfall stellt die Oberflächenbehandlung im Inneren dar. Nicht nur ist das Schleifen
der Strickwände unüblich. Schellack wird in der Regel zum Herstellen von makellosen,
hochglänzenden Möbeloberflächen verwendet, was eine entsprechend penible Vorbereitung des
Untergrundes bedeutet. Hier wurde grob geschliffen und auch grob aufgebracht. Man kann davon
ausgehen, dass nicht Unkenntnis der Grund hierfür war: Der Architekt ist selbst ausgebildeter
Schreiner, seine Sensibilität für die Wirkung von Oberflächen ist an anderer Stelle im Haus und
an anderen Projekten offenkundig. Hier wurde also bewusst ein Material (Schellack) entgegen
den Regeln der Kunst und in einem ungewohnten Kontext verwendet, um einen bestimmten
Ausdruck zu erreichen. Man kann hier von einer angemessenen Bearbeitung der Oberflächen
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
Arbeitsschritt
Materialaufbereitung
Abbund
Aufrichte
Ausbau
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Totenstube
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
sprechen.
Eine besondere Behandlung des Bauwerks im Inneren ist durch die Absicht legitimiert; 10.05.16
Fertigungsweisen
eine Behandlung des Innenraums in Möbelqualität wäre hingegen zu viel gewesen.
1
•
•
•
•
2
x
•
•
•
3
•
•
•
•
Fertigungsweise
determinierte Fertigung
determinierte Fertigung / Handwerk
Handwerk / qualifizierte Fertigung
Handwerk
121
Prozess
Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung
Auf dem Gemeindegebiet gefällte Fichten wurden in der Zimmerei mit einer
Vierseithobelmaschine gehobelt. Auch Nut und Kamm wurden hier angebracht. Diese
Arbeitsschritte sind regulierte Umsetzung.
Der Abbund fand in der Zimmereihalle als Handabbund mit Elektro-Handmaschinen statt. Die
Abbundpläne – konkrete Pläne der einzelnen Bauteile – wurden in der Zimmerei angefertigt.220
Auch hier handelt es sich weitgehend um regulierte Umsetzung, da die Holzverbindungen mit
grosser Passgenauigkeit angefertigt sind.
Auch die Aufrichte ist reguliert, da minimale Abweichungen beim Zusammensetzen der Balken
zu klaffenden Fugen führen. Die Geometrie des Hauses und die konstruktiven Details konnten
genau determiniert werden. Die Bearbeitung der einzelnen Hölzer, die Oberflächenbehandlung,
viele minimale Details (das illustrative Beispiel sind die besagten Flickzapfen) sind in ihrer
genauen Erscheinung nicht vorher bestimmbar, so dass deren genaue Ausführung bei den
Ausführenden lag. Aber auch hier kann von determinierter Fertigung gesprochen werden.
Die Dachdeckung ist hingegen eine extreme Form der freien Fertigung; ihre Geometrie ist
bis in einen bestimmten Massstab planbar, die tatsächliche Form hingegen wegen der enorm
heterogenen Steinplatten nicht.
Umgang mit Toleranzen
Der Umgang mit Setzmassen ist ein wichtiger Planungsfaktor beim Strickbau. Die Bewegungen
des Holzes sind quer zur Faser am grössten. Da sich diese Bewegungen beim Strickbau über die
ganze Wand hinweg addieren, sind die Setzungen extrem.221
An Stellen, wo Längs- auf Querholz trifft oder wo starre Bauteile wie Fenster eingebaut sind,
müssen entsprechende Toleranzräume vorgesehen werden. Das genaue Setzmass ist nicht auf den
Millimeter genau vorauszusehen. So weisen die Wandständer minimale Fugen auf.
Das Holz muss sich in der ganzen Konstruktion gleichmässig setzen können, damit keine
Zwängungen entstehen. Dass die Sockelwände aus Beton abgetreppt sind und die Strickwände
220
Heute werden hierzu meist in spezialisierten Holzbau-CAD-Programmen dreidimensionale Modelle
konstruiert, die für jeden Balken automatisch einen eigenen Abbundplan auswerfen können; so auch bei der
Zimmerei Alig. Dies wurde bei der Totenstube jedoch noch nicht angewandt.
221
Vgl. Büchner 2011, S. 4: «Nach der Länge in der Faserrichtung ist das Schwinden sehr gering, aber
quer zur Faser ist es bedeutend und ungleichmässig. Auch altes, lange gelagertes Holz arbeitet noch. Daraus
folgert, dass auf das ‹Arbeiten› grösstmöglicher Bedacht zu nehmen ist. Ohnedem wäre das Tischlergewerbe in
vollem Umfange zu erlernen, nicht so schwer.»
122
nicht auf einer Höhe gründen, ist also konstruktiv sehr problematisch. Aus diesem Grunde
wurden die inneren Schalen der doppelten Aussenwände alle bis auf das Niveau des
Untergeschossbodens geführt. Die äusseren Schalen sind an diese angehängt; sie ruhen also
nur optisch auf den abgetreppten Sockeln. So konnte beim Bau zwischen äusserer Wandschale
und Sockel ein Spalt gelassen werden, welcher ein nachträgliches Setzen des Holzes erlaubte.
Auf Fotografien aus der Zeit kurz nach dem Bau sind diese Setzungsfugen zwischen den
Strickwänden und einer auf dem Betonsockel liegenden Schwelle noch zu sehen. Heute sind sie
geschlossen.
Dieses Detail ist kaum sichtbar. Wäre es nicht beachtet worden, hätte es im Bereich der Stufen
enorme Setzungsspannungen und sehr wahrscheinlich Schäden gegeben. Hier war besondere
Sorgfalt der Detaillierung und ein grosses Verständnis der Bewegungen des Holzes nötig, um
eben keine Spuren zu hinterlassen. Diese Komplexität liegt hier vor allem in der Vorbereitung, im
Voraussehen von Problemen.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Es gibt wenige Spuren des Herstellungsprozesses am Gebäude. Die Montage hat keine Spuren
im weichen Nadelholz hinterlassen, was ein Zeichen für die notwendige besondere Sorgfalt ist.
Obwohl vereinzelte Spuren durchaus erkennbar sind, bestimmen sie den Ausdruck nicht mit.
Im Entwurf wurden jedoch einige Techniken festgelegt, die bewusst Spuren hinterlassen, wie
die Oberflächenbehandlung222, die handgeschmiedeten Türgriffe und die Dacheindeckung. Die
Oberflächenbehandlung ist verantwortlich für im Nahbereich sichtbare Spuren im Innenraum. Sie
wurde vom Architekten persönlich mit Handschleifmaschinen und Schellack hergestellt.
An einzelnen Stellen gibt es konstruktive Details, an denen Spuren der Herstellung blieben; hier
sind Bleistiftanrisse, Werkzeugspuren und teilweise kleine Ungenauigkeiten zu finden.
Die Auffassung des Architekten Gion Caminada ist 223, dass je nach Konzept Spuren oder
geometrische Unschärfen eine Bereicherung für ein Haus sein können, anstatt als Fehler zu
wirken. Die Spuren wurden also als Faktor der Konzeptionierung einbezogen und antizipiert,
somit zumindest geduldet. Der Entwurf nutzt die Eigenschaften des Materials Holz, um
Diversität im Nahbereich herbeizuführen. Die Spuren sind ein weiterer Schritt hierzu.
222
Die Spuren der Oberflächenbehandlung hätten bei grösserem Zeit- und Arbeitsaufwand (Hochschleifen
mit niedrigerer Körnung) stark minimiert werden können.
223
Caminada sagt hierzu, ein «starkes Haus», das beispielsweise auf einer durch die Konstruktion
vorgegebenen starken Gesetzmässigkeit beruht, vertrage auch Unperfektion an Geometrie oder Oberfläche, ohne
dass der Ausdruck als fehlerhaft wahrgenommen werde (Caminada 2015a).
123
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Die Verantwortung für das Gelingen des Bauwerks war zwischen Planenden und Ausführenden
verteilt. Die Ausführungsplanung beruhte stark auf handwerklicher Erfahrung.
Die Verantwortung für das Ergebnis eines Arbeitsschrittes erstreckte sich auch über die jeweils
nachfolgenden Schritte. Dies gilt für die Auswahl und Aufbereitung des Holzes, den Abund,
die Aufrichte, die Oberflächenbehandlung sowie den Ausbau. An vielen Stellen liegt also eine
integrale handwerkliche Fertigung vor. Der Bau der Totenstube war ein handwerklicher Prozess.
Obwohl die Totenstube ein zeitgenössisches Gebäude ist, beruht ihre Konstruktion auf den
überlieferten Typologien des Strickbaus. Viele Entscheidungen im Detail können während der
Ausführung mit dieser kollektiven Erfahrung referenziert werden, anstatt mit einem genauen
Plan. Dazu kommen interne Konventionen eines Betriebes, die noch viel mit traditionellen
Qualitätsansprüchen zu tun haben.
Ausdruck der Fertigung
Beschreibung
Bei der Totenstube manifestiert sich die Fertigung in einem organischen und selbstverständlichen
Ausdruck. Hinzu kommt geometrische Präzision. Der Ausdruck der Fertigung verortet das
Bauwerk im Dorf.
Obwohl die Strickhölzer nicht gefast sind, sind sie doch durch die leicht klaffenden Fugen und
durch die Rissbildung klar als einzelne Komponenten erkennbar. Die Wände wirken nicht wie
homogene Flächen. Ihre erkennbare Addition aus Einzelteilen lässt das Zusammensetzen des
Stricks im Ausdruck fassbar werden.
Die Verstrickung der Wände in den Ecken und den Fenstern verleihen der Struktur Plastizität.
Innen wurde diese konstruktive Notwendigkeit genutzt, um die entstehenden Ecken, Vorstösse
oder sogar Hohlräume zur Gliederung oder für Einbaumöbel zu nutzen. Gerade die starken
Zwänge des Strickbaus tragen zum organischen Ausdruck bei und verbinden die ablesbaren,
einzelnen Komponenten zu einem Ganzen. Die Verschränkung aller Teile ineinander ist sehr
direkt erfahrbar, bis hin zu den Treppenstufen oder der Brüstung an deren oberen Ende. Die
Regeln der Konstruktion bestimmen die Selbstverständlichkeit des Ausdrucks. Ihre Wirkweise ist
überall klar nachvollziehbar. Bestimmend hierfür ist das Ruhende der liegenden Hölzer. Nirgends
werden sichtbar Momente oder Biegespannungen vom Holz aufgenommen; alles liegt.
Die Massivität der Holzwand ist lesbar, ohne an jene einer Mauer heranzureichen. Die
124
Ausgestaltung der Ecken und der Fensternischen zeigen die tatsächliche Schwere der Wände
nach Aussen. Die Stärke der Strickhölzer liegt klar über der einer reinen Verbretterung; dies ist
optisch durch Risse, Fugen und sichtbare Stirnholzflächen, aber auch akustisch wahrnehmbar.
Die Fertigungsweise mit zeitgenössischen Werkzeugen und in meist regulierter Umsetzung
bedeutet eine starke geometrische Präzision, die durch das Material gemildert wird. Die
Struktur des Holzes – Maserung, Rissbild, Fugen, ergänzt durch die Bearbeitungsspuren und die
Oberflächenbehandlung – ist zwar in der Art immer gleich, in der einzelnen Ausformung jedoch
stets individuell und kontrastiert so die starke Regelmässigkeit der Hölzer und der Details. Risse,
Faserstruktur und besonders die Fugen geben dem Holz eine hohe Plastizität, die aussen durch
Verwitterung und den leicht körnigen Anstrich noch erhöht ist. Diese nimmt im Nahbereich zu;
Betrachtende sind ‹nahe am Gebäude›. Dennoch sind die Fertigungsspuren für den Ausdruck
weniger wichtig als die Referenz auf die Konstruktion und die sorgfältige Ausführung.
Formate und Anordnung der Fenster rücken das Haus in die formale Nähe der Wohnhäuser des
Dorfes, die weisse Farbe betont jedoch die Zugehörigkeit zur benachbarten weissen Kirche. Dies
und die Schellack-Lackierung erzeugen eine Andeutung von sakraler Erhabenheit.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Obwohl das Bauwerk klar in der heutigen Zeit verortet werden kann, vor allem durch die
Präzision der Bearbeitung und die relative ‹Spurlosigkeit› der Fertigung, ist es durch die
Konstruktionstypologie des Strickbaus, das Material und Entwurfsentscheidungen wie Kubatur
und Fenstermasse im Dorf verankert. Handwerk wird hier benutzt, um Material zu veredeln und
das Dorf weiterzubauen. Es ist mit einer grossen Selbstverständlichkeit eingesetzt.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Das ist meist der Fall. Eine Ausnahme bildet die erwähnte Massnahme, wie im Bereich der
abgestuften Hangstützmauern aus Beton mit den Setzmassen umgegangen wurde. Der äussere
Strick liegt nicht wirklich; tatsächlich hing diese Wand, bevor sie sich mit der Setzung langsam
auf die Mauern senkte. Der vor allem durch die Strickbaukonstruktion erzeugte handwerkliche
Ausdruck beruht auf tatsächlicher handwerklicher Fertigung und wird durch kleine Hinweise in
Form von minimalen Spuren unterstützt.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Er beruht auf der Grundentscheidung, die traditionelle Strickbau-Typologie mit zeitgenössischen
Mitteln handwerklich zu adaptieren. Innerhalb deren Regeln entsteht der handwerkliche
Ausdruck. Durch kleine Details wie die handgeschmiedeten Türdrücker oder den Schellack
wurde er sorgfältig austariert.
125
Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Die Totenstube fügt sich zwischen weltlicher und sakraler Zone
in das Dorf ein / Handgeschmiedete Garderobe / Spuren des Handabbundes / Die Totenstube vom
Friedhof aus gesehen / Fenster als räumliches Element / Bearbeitungsspuren der Oberflächen im
Nahbereich.
Unten: Holzstruktur, Farbe, Verwitterung und Konstruktion bedeuten eine hohe Diversität.
126
127
128
5. Ferienheim Büttenhardt: Analyse
Geschichte
Das Gebäude wurde 2008 bis 2010 als Ersatz für das alte Ferienheim einseitig an einen einzeln
stehenden Bauernhof auf einer Waldlichtung angebaut. Es dient als Wohnheim für Jugendliche
und beherbergt eine kleine Gastronomie im Erdgeschoss.
Baukörper
Der dreistöckige Holzbau mit flachem Walmdach steht auf einem massiven Kellergeschoss. Die
Fassaden sind durch die Konstruktionshölzer klar geschossweise gegliedert. Im Erdgeschoss
springt die Gebäudehülle hinter der Fassade zurück und macht für eine umlaufende Loggia Platz,
welche aussen mit einem Holzgitter in Fassadenebene abgeschlossen ist. In der Ansicht hebt sich
dieses Sockelgeschoss so von den beiden Obergeschossen ab. Die Fenstertüren haben in allen
Geschossen dieselben Dimensionen und wirken als vertikale Elemente in der sonst horizontal
gegliederten Fassade.
Im Grundriss ist das Bauwerk durch zwei innere Achsen parallel zu den Schmalseiten annähernd
gedrittelt. In der Mitte der Obergeschosse liegt eine zweigeschossige Halle, welche auch die
Treppe aufnimmt. Die beiden flankierenden Bereiche sind jeweils ein weiteres Mal unterteilt, so
dass von der Halle ohne weitere Erschliessungsflächen in jedem Geschoss vier Räume abgehen.
Das Kaltdach ist nicht ausgebaut.
Konstruktion
Bestimmend für die Konstruktion ist die Verwendung vor Ort gewonnenen Laubholzes.
Massive Laubholzquerschnitte sind schwierig zu trocknen und neigen dabei zum Verwerfen und
Reissen. Diesem Problem wurde dadurch begegnet, dass der Kern der Balken von beiden Seiten
ausgebohrt wurde. Bei einer Länge des Bohrers von 2,60 Metern erlaubt das eine maximale
Bauteillänge von 5,20 Metern. Durch die Bohrung konnte die Trocknung stark beschleunigt und
die Trocknungsspannungen im Holz verringert werden.224
Das Bauwerk gründet auf der betonierten Decke des massiven Kellergeschosses und besteht aus
224
Nach Aussage des Zimmerers Michael Koller wurde nach einem Jahr Lufttrocknung bei Querschnitten
von 20 x 20 cm bereits eine Holzfeuchte von nur noch ca. 23 % gemessen. Für die Lufttrocknung von Eiche
gilt die Faustregel, dass das Holz pro Jahr 1 cm in die Tiefe trocknet, das heisst die Balken müssten nach dieser
Faustregel 10 Jahre trocknen (da sie von beiden Seiten trocknen, halbiert sich die Zeit). Bei den Balken, bei
denen der Kern durch das Ausbohren entfernt wurde, gab es sehr wenig Risse, bei solchen wo der Kern durch die
Bohrmaschine nicht genau getroffen werden konnte, war die Rissbildung grösser, jedoch nicht vergleichbar mit
einem ungebohrten Stamm.
129
stockwerkweise gezimmerten Wänden und darauf liegenden Deckenplatten225, welche wiederum
die nächsten Wände aufnehmen. Die Ebene der Deckenelemente wird aussen durch ein eichenes
Futterholz verdeckt.
Die Elemente definieren die Konstruktion kaum. Einerseits ist das Erdgeschoss nicht in
Elementen gefertigt, ausserdem sind die Decken eher vorgefertigte Bauteilbündel, die während
des Transportes mit provisorischen Massnahmen stabilisiert wurden und am Bauwerk nicht mehr
als einzelne Elemente wirken. Die Wandelemente schliesslich ‹teilen› sich tragende Bauteile. Es
gibt keine Dopplungen der vertikalen Konstruktionshölzer an den Stössen.226 Die Elemente sind
also nur teilweise in sich stabile Platten beziehungsweise Scheiben.227
Die Lastabtragung der Wände geschieht über die meist sichtbaren Wandständer, lediglich in
den Innenwänden gibt es zusätzliche, unter der Beplankung verborgene tragende Hölzer. 228 Die
Aussteifung der Fassaden übernimmt die massive, diagonale Ausfachung von zehn Zentimetern
Stärke, bei den Innenwänden die Beplankung.
Vereinzelt existiert eine dreidimensionale Verzahnung von Bauteilen über die Elemente hinweg,
wie in den durchgehenden Schwellen im Erdgeschoss und den Horizontalen in Deckenebene. Die
Decken, die ausgesteifte Wandrahmen der Geschosse und die Innenwände sind klar voneinander
getrennt.
Zwischen den sichtbaren Deckenbalken liegen eingenutete Fehlböden, die mit den Deckenbalken
verschraubt sind.
225
Dies ist heute nicht mehr ohne Alternativen. Durch weiterentwickelte Verbindungsmittel und durch
entsprechend leistungsfähige Schrauber mit hohem Drehmoment ist es möglich, Deckenauflagerbalken von innen
an die durchgehenden Aussenwandelemente zu schrauben. Das ist im Prinzip eine Rückkehr zum Geschossbau,
bei dem die tragenden Vertikalen über die Geschosse hindurchgehen. Gründe sind Effizienzsteigerung,
Vereinfachung der Planung, Vermeiden von Setzmassen und die Möglichkeit, die immer stärkeren
Dämmschichten und die Winddichtungsschichten an den Aussenwänden ohne Unterbrechungen durchlaufen
lassen zu können, vgl. z. B. Würth 2015.
226
Das Fügeprinzip ist also eher CCO anstatt OOO.
227
Das Gebäude ist damit technisch ein Rahmenbau: «Die tragenden Elemente bestehen aus geschossweise
abgebundenen Kantholzrahmen, die durch eine flächige Verschalung oder eine Diagonalschalung ausgesteift
werden.» (Deplazes 2008, S. 98). Beim Tafelbau tragen hingegen nicht mehr die Stäbe, sondern die ganze in sich
ausgesteifte Platte. Der klassische Riegelbau hingegen ist ein Skelettbau, bei dem die Tragstruktur aus Stäben in
sich bereits standfest und ausgesteift ist.
228
Da diese Wände nur im 1. und 2. OG vorkommen, sind sie als Träger mit Ober- und Untergurt
ausgebildet. Die Gurtung wird von Rähmen und Schwellen übernommen, die Beplankung mit geklammerten
Dreischichtplatten gewährleistet die Scheibenwirkung.
130
Im nicht sichtbaren Bereich sind metallische Holzverbindungsmittel, vor allem Schrauben,
flächendeckend verwendet worden. Bei der Primärkonstruktion dienen sie in erster Linie zur
Lagesicherung. Die Elemente sind verdeckt geschraubt, die Konstruktionshölzer sind nicht durch
Holzverbindungen verbunden.
Die diagonalen Schalungen sind ebenfalls verdeckt mit den Konstruktionshölzern verschraubt.229
Die Ausfachungen sind als Aussteifungen statisch wirksam. Im Unterschied zur klassischen
Bohlenständerkonstruktion können sich die Hölzer also nicht frei in den Nuten bewegen. Durch
technische Trocknung vor Einbau ist das Arbeiten jedoch minimiert.
Die Haupt-Deckenbalken im Erdgeschoss, welche die Untergurte der tragenden InnenwandScheiben darstellen, bestehen aus mehreren, in einer Achse liegenden Balken, die längs stumpf
gestossen sind.230 Im ausgebohrten Kern verläuft je eine Zugstange, welche die Verbindung
zusammenhält und die Zugbelastung des Balkens übernimmt.
Der konstruktive Holzschutz bestimmt die Geometrie der Hölzer. So ist auf den Horizontalen
in Deckenebene oben ein Kamm stehengelassen worden, über den die Elemente mit Nuten
aufgesetzt werden und der das Eindringen von Wasser in die Wand verhindert. Horizontale
Flächen auf Konstruktionshölzern sind nach aussen abgeschrägt.
Bei den Fenstern mussten wegen zu erwartender Durchbiegungen Toleranzräume vorgesehen
werden.
Material
Die Buchen- und Eichenstämme wurden in Baustellennähe gefällt und dort mit einer mobilen
Blockbandsäge zu Kanthölzern geschnitten. Anschliessend wurde der Kern ausgebohrt.
Zusätzlich zur Lufttrocknung wurde über drei Monate mechanisch getrocknet.231
Aus Eiche wurden die Primärkonstruktion im bewitterten Bereich, die Fensterelemente sowie
die Gitterstruktur im Erdgeschoss erstellt. Aus dem wenig witterungsbeständigen Buchenholz
bestehen alle innen sichtbaren Holzteile mit Ausnahme der Einbauten im Erdgeschoss.232 Das
229
Verwendete metallische Verbindungsmittel sind: Holzschrauben zur Befestigung der Sparren an Pfetten
und Gratsparren, Holzschrauben (Ausfachungen), Vollgewindeschrauben (z. B. bei Gurten der Innenwände),
Klammern an Beplankungen innen (statisch berechnet), Zugstäbe zur Längsverbindung der Gurte der tragenden
Innenwände, Ringdübel an stumpfen Längsstössen.
230
Durch Ringdübel werden die Balken gegen Verschieben zueinander fixiert. Über einen Zugstab im
ausgebohrtem Kern wird eine Vorspannung erreicht, so dass diese Verbindung auch Biegenmomente aufnehmen
kann. Diese Verbindung erlaubt dennoch minimales Verdrehen.
231
Insgesamt also 5/4 Jahre Trocknungszeit.
232
Nach Aussage von Benjamin Widmer bestanden bei den Architekten anfangs Bedenken, ob die
Mischung verschiedener Holzarten am Gebäude zu heterogen wirken würde. Diese Bedenken wurden zerstreut,
zumal im Inneren die meisten Wandflächen aus weiss gestrichenen Gipsfaserplatten bestehen. (Widmer 2015).
131
sind die Primärkonstruktion im Innenraum, die Fehlböden der Deckenuntersicht, die Böden und
die Treppe.
Die Ausfachungen der Fassaden und die Fenster in den Obergeschossen bestehen aus Kiefer,
während für alle nicht sichtbaren und nicht dem Wetter ausgesetzten Konstruktionshölzer das
preiswertere Fichtenholz verwendet wurde.233
Oberflächen
Die aussen sichtbaren Oberflächen der Konstruktionshölzer sind sägeroh belassen, während die
Ausfachungen gehobelt sind. Im Inneren wurden sichtbare Oberflächen von Konstruktionshölzern
mit Handhobeln geputzt. Es gibt keine Oberflächenbehandlung durch Beschichtungen oder
Imprägnierungen.
Schmuck
Es gibt keine Ornamente im eigentlichen Sinn. Füllelemente wie die gekreuzten, diagonalen
Holzgitter vor der Veranda im Erdgeschoss oder die Brüstungsgeländer vor den Fenstertüren
in den Obergeschossen wirken dennoch ornamental, ihre Form ist sicher nicht nur technisch
bedingt. Die Eichenrahmen der Loggien im Erdgeschoss sind minimal gefalzt, um «grob und
fein voneinander abzusetzen»234. Die Wirkung der Ausfachungen wird von ebenfalls diagonal
beplankten Fenster-Schiebeläden aufgenommen. Diese Formen sind nicht unmittelbar während
der Bearbeitung entstanden, sondern wurden im Entwurf festgelegt.
233
Insgesamt verwendet wurden an Eiche 26,5 m3, an Buche 44 m3, an Fichte 56,5 m3 und an Föhre 10,5
m3 verwendet (vgl. Bernath, Widmer. o. J).
234
132
Widmer 2015.
Im Uhrzeigersinn: Die zentrale Halle in
den Obergeschossen / Die Innenwände sind
zwischen den Konstruktionshölzern glatt weiss
gespachtelt / Die Gitterstruktur der Loggia
/ Die Beiz im Erdgeschoss / Der stumpfe
Stoss des Unterzuges ist nur durch den im
ausgebohrten Kern verlaufenden Zugstab
möglich.
133
Das konkrete Material: Ferienheim
Büttenhardt
Rahmenbedingungen
Absicht
Absicht des Entwurfes ist das Verwenden der auf dem Grundstück selbst gewonnenen
Laubhölzer.235 Hinzu kommt der Aspekt der Nachhaltigkeit und des Reduzierens von
Energieverbrauch während der Herstellung.
Das Material steht im Zentrum des beabsichtigten Ausdrucks. Der Solitär auf der Waldlichtung
sollte als «Erhaben» 236 inszeniert werden, um das Baumaterial umzudeuten: Das Laubholz als
das Rohmaterial des Hauses wird sonst meistens für Brennholz verwendet und ist so eigentlich
ein ‹Abfallprodukt› der Forstwirtschaft. Um dieses Bild in Frage zu stellen, wurden als Referenz
für die Form des Bauwerks explizit italienische Palazzi der Renaissance herangezogen.
Zudem wurde gezielt ein Ausdruck des «Unperfekten» und «Rohen» 237 gesucht, welcher das
verwendete Material thematisieren sollte. Dies beeinflusste Entwurfsentscheidungen wie die
unregelmässigen Fasen, die sägerohen Oberflächen und das Zulassen von Rissen.
Die Konstruktion referenziert historische Bohlenständerbauten. Für die Architekten sind
konstruktive Themen Mittel zum Legitimieren von Entwurfsentscheidungen. Die Nuancierung
der Oberflächen eine bewusste Geste zum Erreichen des gewünschten Ausdrucks.238
Beschränkung
Beim Ferienheim Büttenhardt gibt es eine im Konzept festgelegte Beschränkung auf bestimmte
Materialien und deren Bearbeitung. Zum einen wurde das zu verwendende Material so weit
es ging auf das vorhandene Holz beschränkt. Zudem sollte möglichst wenig Energie beim
Bearbeiten der Hölzer aufgewendet werden. Auf ästhetischer Ebene wurde die Zahl der
verfeinernden Zwischenschritte vom rohen Holz zum fertigen Bauwerk reduziert.
235
Heiri Bührer aus Bibern, der Entwickler der Langholzbohrmaschine, überzeugte den Bauherrn, mit
Holz aus dem eigenen Wald zu arbeiten.
236
Widmer 2015.
237Ebd.
238
134
«Feine Gesten», ebd.
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Der Zimmermeister Michael Koller stand an der Schnittstelle zwischen Planung und Ausführung.
Er bearbeitete die Ausführungspläne der Architekten weiter zu Abbundplänen. Architekt
Roland Bernath ist als Zimmerer ausgebildet und verfügt so über Erfahrung mit den zu
erwartenden Problemen. Vor allem der konstruktive Holzschutz war sehr anspruchsvoll in der
Ausführungsplanung.239
Qualifizierte Ausführende mit Erfahrung waren beim Bau essentiell. Der Abbund mit
Handwerkzeugen, Handmaschinen und vereinzelten stationären Maschinen sowie das
Anreissen von Hand erfordert Können und Wissen. Zwar sind alle Arbeiten nach detaillierten
Plänen durchzuführen, dennoch ist diese Arbeit ohne ein Verständnis der Einbindung des
jeweiligen Bauteils oder Elementes in die Gesamtkonstruktion praktisch nicht denkbar. Zum
Beispiel müssen Fertigungstoleranzen an den Passungen eingeschätzt und bei Bedarf manuell
nachgearbeitet werden.
Das individuelle Abschätzen und Beurteilen der Materialqualität vor Ort war zentral und begann
mit dem Auslegen der gefällten Stämme auf der Lichtung in der Nähe des Bauplatzes. Über den
ganzen Prozess hinweg (Fällen, Zuweisung der späteren Verwendung, Grobzuschnitt, Ausbohren
des Kerns, endgültiger Zuschnitt nach dem Trocknen, Abbund und Einbau) war eine Beurteilung
des Materials notwendig.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Viele der hier angewandten Arbeitsschritte erfordern riskante Fertigung, unabhängig ob
Handmaschinen oder Handwerkzeuge zum Einsatz kommen. Obwohl die Maschinen eine
regulierte Umsetzung ermöglichen, hängt auch bei dieser Form der Bearbeitung das Ergebnis
weitgehend vom Können und der Sorgfalt der Bearbeitenden ab. Die wichtigsten Spuren
situativen Reagierens entstanden beim Fasen der Balken mit dem Beil. Sie hatten offensichtlich
an den Kanten leichte Reste von Splintholz. Diese wurden vor dem Abbund entfernt, so dass
die Hölzer nicht immer vollkantig sind. Die Kanten vieler Balken sind daher nicht scharf,
sondern organisch dem Faserverlauf folgend geschwungen.240 Entschieden wurde das von den
Architekten, die genaue Ausführung lag bei den Zimmerern.
239
Koller 2015
240
Man könnte auch sagen, dass das Akzeptieren dieser leichten Reste eine effizientere Materialausnutzung
erlaubte: Ein Querschnitt von 20 auf 20 cm ist leichter aus einem Rundholz zu gewinnen, wenn es gewisse
Toleranzen bei den Kanten gibt und nicht der Anspruch auf Vollkantigkeit besteht.
135
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Es gibt keine Spuren ungenauen Arbeitens und wenig freie Umsetzung. Der Abbund musste sehr
genau erfolgen, da die Passgenauigkeit der gefertigten Verbindungen teilweise nicht sofort am
Gegenstück geprüft werden konnte.
Die vorhandenen Spuren beruhen darauf, dass bestimmte Vorgehensweisen im Entwurf festgelegt
wurden. Sehr präsent sind neben den gefasten Splintkanten die sägerohen Oberflächen. In diesem
Falle bedeuteten die Spuren sogar einen Mehraufwand, da die sägerohen Hölzer besonders
vorsichtig hantiert werden mussten. Allfällige Schäden können hieran nicht durch Schleifen
oder Flicken behoben werden, wie bei gehobelten Balken. Dennoch sind die Spuren nicht aktiv
herbeigeführt worden, sondern Ausdruck eines ohnehin notwendigen Arbeitsschrittes.
Vorliegende Fertigungsweisen
In vielen Phasen des Bauprozesses herrscht handwerkliche Fertigung vor. Die Einschätzung der
Angemessenheit der jeweiligen Teilergebnisse und der Qualität der Verbindungen lag klar beim
Können und der Sorgfalt der einzelnen Ausführenden. Die Bearbeitung des Rohmaterials in
Balkenquerschnitte geschah in determinierter Fertigung, jedoch wurden die einzelnen Stämme
vorher individuell beurteilt und für den jeweiligen Einsatz am Bauwerk ausgewählt. Auch bei der
Aufrichte liegt handwerkliche Fertigung vor.
136
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
Arbeitsschritt
Materialaufbereitung
Abbund
Aufrichte
Ausbau
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Ferienheim
Büttenhardt
10.05.16
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
Fertigungsweisen
1
•
•
•
•
2
x
•
•
•
3
•
•
•
•
Fertigungsweise
determinierte Fertigung
Handwerk
Handwerk
Handwerk
Prozess
Techniken und Werkzeuge /Freie und regulierte Umsetzung
Das Gebäude wurde mit zeitgenössischen, nicht-digitalen Zimmerertechniken abgebunden und
errichtet. Der Abbund geschah nach genauen Plänen für jedes einzelne Bauteil mit elektrischen
Handmaschinen, teilweise auch mit stationären Maschinen.241 Feinarbeiten an den Verbindungen
erfolgten mit Handwerkzeugen wie Stossaxt und Stemmeisen. Die Bauteile wurden in der
Abbundhalle zu Elementen zusammengebaut und diese teilweise für den Transport provisorisch
verstärkt.242 Ausschlaggebend für die Elementierung war eine möglichst kurze Aufrichtzeit, da
besonders das Buchenholz sehr feuchteempfindlich ist.
Die verwendeten Maschinen bedingten meist eine direkte statt einer inkrementellen Bearbeitung
der Hölzer und eine regulierte Umsetzung. Vereinzelt und an exponierten Stellen wurde jedoch
bewusst freie Fertigung eingesetzt. Obwohl sie nur vereinzelt vorkommt, ist ihre Wirkung auf
den Ausdruck im Vergleich zum tatsächlichen Anteil am Gesamtaufwand gross.
Umgang mit Toleranzen
Da hier mit getrocknetem Material gearbeitet wurde, mussten die Massnahmen zur
Kompensation des Arbeitens der Hölzer weniger wirkungsvoll sein als beim traditionellen
Fachwerkbau. Dennoch ist das Arbeiten massiver Laubhölzer sehr viel ausgeprägter als bei
homogenisiertem Bauholz und keineswegs zu vernachlässigen. Dies war ein Grund für den
traditionellen Abbund mit Handwerkzeugen, da so besser individuell auf Materialeigenschaften
eingegangen werden konnte.
Bei den Füllungen der Aussenwände wurden leicht klaffende Fugen toleriert, anstatt alle
Füllungsbretter frei in Nuten mit Ausdehnungsraum anzuordnen. Die Beplankung der
Innenwände besteht hingegen aus dimensionsstabilen Dreischichtplatten oder Gipsfaserplatten,
welche die Bewegungen des Holzes eher absperren. Solche Kombinationen aus massivem Holz
und dimensionsstabilen Plattenwerkstoffen sind nur mit getrockneten Balken möglich.
In Deckenebene addieren sich die Setzmasse von Rähm, Deckenbalken und Schwelle zu
insgesamt 60 Zentimetern Höhe. Da diese Ebene mit starker Setzung jedoch ununterbrochen
241
Die verwendete Abbundmaschine ähnelt einer Kreissäge mit Schiebeschlitten, bei der das Werkstück
auf dem Schlitten an verschiedenen, einzeln einstellbaren Sägeblättern entlanggeschoben wird. Auf diese
Weise können Verbindungen wie Zapfen oder bestimmte Querschnittsprofile in Serie hergestellt werden. Der
Abbund geschah nicht im Betrieb des beauftragten Zimmerers Michael Koller in Gonten AI, sondern in einer
angemieteten Halle in der Nähe der Baustelle. Die ‹klassische› Arbeitsweise erlaubte es, mit einem beschränkten
Stationärmaschinenpark und transportierbaren Handmaschinen und -werkzeugen zu arbeiten.
242
Dies vor allem bei den Deckenelementen.
137
durch das gesamte Bauwerk durchgeht und sich somit auch im Ganzen setzen kann, ist hier die
Gefahr des Aufbaus von Spannungen gering. Die dreidimensionale Verzahnung der Hölzer in
der Fassade dient vor allem dazu, das Eindringen von Wasser zu verhindern. Dennoch können
auf diese Weise auch minimale Bewegungen der Hölzer aufgenommen werden. Lediglich
bei den starren Fensterelementen mussten wegen zu erwartender Durchbiegungen besondere
Toleranzräume vorgesehen werden.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Am Gebäude sind die wichtigsten Spuren des Herstellungsprozesses im Entwurf vorgegeben.
Zum einen sind das die Sägespuren an den Konstruktionshölzern im Aussenbereich sowie
die unregelmässig gefasten Kanten der Balken. Im traditionellen Zimmern werden die
Splintseiten eher nicht an der Bundseite angebracht, hier aber wurden sie bewusst auch im
Sichtbereich eingesetzt. Bemerkenswert ist noch das Fehlen von Spuren der Montage an
den Konstruktionshölzern. Diese wären gerade am sägeroh gelassenen Holz sehr sichtbar
geblieben.243 Trotz des rohen Ausdrucks wurden also mechanische Beschädigungen und Fehler
auch hier nicht toleriert. Die unregelmässigen Baumkanten aber wurden nicht als Problem
gesehen, sondern als Qualität gesucht.
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Die Verantwortung für den zu erreichenden Ausdruck wurde zwischen den Architekten und den
Ausführenden geteilt, da wichtige Elemente des Ausdrucks erst in der Ausführung entstanden.244
Die vielen Einzelentscheidungen, die in dieser letzten Planungsphase oder sogar auf der Baustelle
angefallen sind, mussten im Sinne der Absicht und des architektonischen Konzeptes sein.
Untypisch für einen heutigen Holzbau ist, dass die Materialgewinnung und -aufarbeitung nicht
aus der Produktionskette ausgegliedert war. Nach dem Auslegen der Stämme wurde bereits
deren spätere Verwendung festgelegt. Diese Holzliste bildete den Ausgangspunkt der Planung,
nicht umgekehrt. Es gab eine Rückkopplung; nach der Planung wurde das Material ausgewählt,
zugleich wurde die Planung wiederum an das vorhandene Material angepasst. Jedes einzelne
Konstruktionsholz wurde vom Zimmerermeister beim Abbund individuell beurteilt und
beispielsweise festgelegt, welche Seite sichtbar eingebaut wurde und welche nicht.
Er fertigte für jedes einzelne Bauteil einen Plan an. Wenn es Anpassungen während der
243
244
Zimmerer Michael Koller spricht von einer «adligen Behandlung». Koller 2015.
Dies kann nur funktionieren, wenn der Meister der Ausführenden entsprechend sensibel für
architektonische Themen ist. Laut Benjamin Widmer (Widmer 2015) hatten die angefragten regionalen
Zimmereien wegen der Unwägbarkeiten und fehlender Erfahrung mit dem massiven Holz zuerst kein Interesse.
Nach der Präsentation des Mock-Up stieg das Interesse der zuerst abgeneigten Firmen jedoch wieder.
138
Ausführung gab, wurde diese meistens im Plan eingetragen und selten direkt am Material
entschieden. Obwohl hier auf das vorliegende Bauholz reagiert wurde, war die Strategie des
Anpassens zu einem grossen Teil auf die Planung (durch den Zimmerermeister) abgestellt und
nur zu einem Teil direkt bei den Ausführenden. Die Verantwortung für das Einhalten der Pläne
lag jedoch bei den Ausführenden selbst.
Bei Arbeiten, die auf Plänen für ein Bauteil beruhen, genügt fragmentierte handwerkliche
Fertigung, da ein Referenzieren auf das gesamte Bauwerk auf die Planungsarbeit verlagert ist.
Zimmermeister Michael Koller war in der Rolle des Planenden, welcher Verantwortung und
Wissen zentralisiert und in einem Computermodell festhält. Es selbst war aber teilweise auch
in die Ausführung eingebunden und hat das notwendige Erfahrungswissen im Umgang mit dem
Material erworben. Hier sind also die Verantwortung und ein Teil des Wissens in die Planung
übertragen und im Sinne eines fragmentierten Prozesses in Plänen abstrahiert worden. Sie ist
jedoch in der Person des Meisters zentralisiert, der wiederum sehr nahe an der Ausführung war
und teilweise selbst dort mitgewirkt hat. Hier liegt ein Übergang zwischen fragmentiertem und
handwerklichem Prozess vor.
Ausdruck der Fertigung
Beschreibung
Auch hier zeigt sich die Fertigung am Bauwerk durch den Ausdruck der Selbstverständlichkeit
und des Organischen. Darüber hinaus wird ein Bild des Handwerklichen und des Rohen gesucht.
Die Selbstverständlichkeit beruht auf der Regelmässigkeit der Konstruktion und der Ablesbarkeit
und Plausibilität von Tragen und Lasten. An der Fassade sind die sichtbaren Stösse der Hölzer so
angeordnet, dass optisch immer das eine auf dem anderen liegt.245
Insgesamt ist der Ausdruck der Konstruktion additiv, ihre Komponenten sind von Tragen,
Lasten und Füllung hierarchisiert. Die diagonal stehenden Ausfachungen zeigen ihre Rolle als
Aussteifungselemente. Stets bleiben die Einzelteile auch im Gefüge als solche lesbar. Auch hier
gibt es eine organische Übereinstimmung von kleinem und grossem Massstab.
Eine wichtige Komponente des Ausdrucks der Fertigung ist das Rohe. Die Massivität der Hölzer
wird demonstrativ gezeigt, was durch Fertigungsspuren unterstützt wird. Risse machen die Stärke
245
Der sichtbare Stoss der Balken in Deckenebene liegt genau über den Ständern, obwohl er in der Logik
der verwendeten Überblattung eher seitlich liegen müsste.
139
und räumliche Tiefe der Konstruktionshölzer direkt wahrnehmbar. Die Sägespuren erhöhen die
Plastizität, die durch Fasen, Fugen und Risse noch gesteigert wird. Die durch freie Umsetzung
entstandenen, unregelmässigen Splintkanten der Konstruktionshölzer wirken ebenfalls in diesem
Sinne.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Der rohe Ausdruck der Fertigung kontrastiert den Ausdruck des Erhabenen, der durch die
Referenz auf Palazzi entsteht. So unterstützt er die Absicht. Die Ausführung bedeutet die
Verarbeitung beziehungsweise Veredelung des vorhandenen Materials, das im Zentrum des
Entwurfes stand.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Am Gebäude wird ein Ausdruck der Fertigung erzeugt, der einem bestimmten Bild entspricht.
Die freie Fertigung wird bei den Splintkanten tatsächlich ausgenutzt, um den Ausdruck zu
verstärken. Im Gegensatz zu den vorherigen beiden Beispielen gibt es hier jedoch tatsächlich
Diskrepanzen zwischen der tatsächlichen Herstellung und dem Ausdruck. So werden keine
metallenen Verbindungsmittel gezeigt, obwohl diese für die Konstruktion sehr wichtig sind. Auch
die eingeschobenen Füllungen der Fassaden sind nicht wirklich frei beweglich, sondern durch
Schrauben fest mit den Elementrahmen verbunden. Der Ausdruck der Fertigung hingegen zeigt
die traditionelle Bohlenständerkonstruktion ohne jedes Metall.
Klar sichtbar wird das nur an den stumpfen Stössen der Deckenbalken im Erdgeschoss, bei denen
eine innenliegende Zugstange die Vorspannung übernimmt. Sie würden ohne Metallverbindung
nicht funktionieren; hier ist offenkundig, dass eine andere Art des Tragens vorliegen muss als
nach aussen hin gezeigt wird. Hier vermischt sich der tatsächliche Ausdruck der Fertigung mit
einem angestrebten bestimmten Bild von handwerklichen Bauten.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Er beruht auf dem gezielten Einsatz von Fertigungsspuren und den Eigenheiten der massiven
Hölzer. Darüber hinaus aber ist er abhängig vom Verstecken der metallenen Verbindungsmittel
und dem Einhalten eines bestimmten Bildes von Handwerk, das aus der Referenz auf traditionelle
Typologien stammt.
140
Im Uhrzeigersinn: Die mit dem Beil gefasten Splintkanten sind wichtig für den Ausdruck / Die
Struktur der Fassade referenziert den traditionellen Bohlenständerbau / Trotz der Trocknung
reissen die Laubholzbalken; die Risse machen die Massivität der Hölzer sichtbar.
141
142
6. Neue Monte-Rosa-Hütte: Analyse
Geschichte
Die neue Monte-Rosa-Hütte wurde 2008 bis 2010 auf 2.889 Metern Meereshöhe als Ersatzbau
oberhalb der alten SAC-Hütte246 gebaut. Aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der ETH Zürich
wurde zum Bau der Hütte die Kooperation mit dem Bauherrn, dem SAC, gesucht. Das während
dem Bau und der Lebensdauer extremen Bedingungen ausgesetzte Gebäude sollte als Prototyp
dazu dienen, technische Lösungen zur Autarkie vor allem im Bezug auf den Energieverbrauch
zu erproben. Der Entwurf wurde von Studierenden des ETH Studio Monte Rosa unter Leitung
von Prof. Andrea Deplazes ausgearbeitet. Dabei wurden Entwürfe angefertigt, die gegenseitig in
Wettbewerb standen. Unter den letzten beiden wurde das Projekt mit dem Namen ‹Glänzling› zur
Weiterbearbeitung ausgewählt.
Baukörper
Die Assoziation der äusseren Form mit einem Kristall liegt nahe, allerdings eher aus einem
Moderieren verschiedener äusserer Ansprüche mit dem wichtigen Entwurfsfaktor heraus, das
Verhältnis zwischen Oberfläche und Volumen möglichst gering zu halten. Ein kompakter Körper
verliert wenig Wärme über die Hülle, ausserdem bietet die Form wenig Angriffsfläche für Wind
und Schneeverwehungen.
Das Gebäude verfügt über fünf Geschosse. Über dem Untergeschoss mit Funktions- und
Technikräumen liegt der Essraum, welcher von der Terrasse aus ebenerdig erschlossen wird. In
den drei oberen Geschossen sind die einzelnen Schlafkammern angeordnet.
Eine Kaskadentreppe, deren Raum sich entlang der Aussenwand spiralig nach oben zieht,
übernimmt die Vertikalerschliessung. Der Raum ist auch in den oberen Geschossen grossflächig
verglast; so ist er an der Fassade von aussen ablesbar und ermöglicht solaren Wärmegewinn.247
Im Zentrum des Gebäudes erlauben jeweils Verteiler die Erschliessung der an der Aussenhaut
angeordneten Schlafkammern. Auch die Leitungsführung ist hier in Schächten an den Stirnseiten
der Achsenwände angeordnet.
246
1895 wurde unterhalb des heutigen Standortes die erste Hütte (‹Bétempshütte›) erbaut, die in mehreren
Stufen ausgebaut und 1939 in ‹Monte-Rosa-Hütte› umbenannt wurde. Die letzte Erweiterung der alten Hütte
erfolgte 1984. Vgl. Eberle et. al. 2010, S. 124.
247
Deplazes nennt diesen Raum «räumliches und konzeptuelles Rückgrat des Projekts», in Eberle et. al.
2010, S. 101.
143
Konstruktion
Die Entscheidung für das Material Holz hatte pragmatische Gründe. Ein Holzelementbau erlaubte
eine Montage innerhalb der kurzen, möglichen Bauzeit im Sommer. Neben der Bauzeit waren
Transportgewicht und Preis wichtige Faktoren.
Alle Elemente wurden im Tal vorgefertigt, mit Lastwagen, Bahn und Helikopter zur Baustelle
gebracht und direkt versetzt. Der Helikopter ersetzte den Baustellenkran.248
Die eigentliche Holzkonstruktion ruht auf einem Stahltisch aus radial angeordneten und
umlaufenden Trägern, der wiederum als ‹Pfahlbau› auf Punktfundamenten aus Beton gründet.
Um ein Auftauen des Permafrostbodens unter der Hütte zu verhindern, was zu Destabilisierungen
des Untergrunds führen könnte, herrscht unter dem Stahltisch Aussenklima. Der Boden des
Untergeschosses darüber ist gedämmt. Die Struktur basiert auf fünf statischen Achsen, die
sich radial angeordnet im geometrischen Zentrum des Grundrisses treffen. Die zehn radialen
Achswände darauf wirken als aussteifende Scheiben. Im Untergeschoss sind die Wandelemente
beidseitig beplankte Platten. Im grossen Essraum im Erdgeschoss sind die Wände in Fachwerke
mit Stabquerschnitten aufgelöst. Hier gibt es keine Beplankung.249
Überall da, wo es vom Brandschutz her möglich war, sind die Rahmenhölzer der Elemente
innen sichtbar; die aussteifende Beplankung aus Dreischichtplatten liegt aussen. Zwischen den
Wandelementen liegen Hartholz- Schubdübel. Die Elementstösse sind aussen auf der Beplankung
winddicht abgeklebt. Darauf folgt eine Dämmschicht zwischen aufgelösten Dämmständern, eine
überfälzte Schalung, eine Luftschicht und schliesslich eine weitere Schalung mit Fassadenblechen
aus Rohaluminium als eigentliche Haut.
Die äussere Kantengeometrie stimmt nicht mit der inneren Geometrie der fünf
punktsymmetrischen Achsen überein, was zu teils sehr komplizierten Detailpunkten führt. Die
Fassadenelemente sind mit den Geschossplatten verbunden; es gibt aber keine Regelverbindung
zwischen Achsenwänden und Fassaden.
Die Wandelemente stehen nicht auf den Deckenplatten. Durch die extrem trockene Luft musste
mit einem sehr starken Schwinden des Holzes gerechnet werden, daher wurden liegende,
lastabtragende Hölzer weitgehend vermieden. Auf den Wandelementen gibt es Stahlteile, welche
die Deckenebene durchbrechen und auf denen die jeweils obenliegenden Wände stehen.
Innerhalb der einseitig beplankten Wandelemente wurden die Konstruktionshölzer mit CNC248
Eberle et al. 2010, S. 103: «Die neue Monte-Rosa-Hütte ist deshalb wie ein grosses räumliches Puzzle
aus 420 Holzelementen zusammengefügt, die mit dem Helikopter auf die Baustelle transportiert und dort
direkt versetzt und montiert wurden.» Insgesamt waren laut Projektleiter Holzbau Egon Bumann rund 3.000
Helikopterflüge zur Baustelle (inkl. Rückweg) notwendig.
249
Die Hölzer sind hier auf einen Abbrand von 60 Minuten überdimensioniert, die ‹Schnitzereien› sind
dabei berücksichtigt.
144
gefrästen Schwalbenschwanzverbindungen gefügt, die im Gebäude sichtbar sind.
Die unbeplankten Fachwerkelemente im Essraum sind mit in Schlitzen liegenden Stahlblechen
verbunden, die Kraftübertragung geschieht jeweils mit Gruppen von kleinen Stabdübeln. Die
Stabdübel sind an der Oberfläche sichtbar.250
Material
Die Konstruktionshölzer wurden aus heimischen Fichten-Lamellen im selben Betrieb verleimt,
der auch die Zimmererarbeiten ausführte. Das Holz wurde gehobelt, getrocknet, verleimt, erneut
gehobelt und per CNC-Anlage abgebunden.251 Wegen der extrem trockenen Luft musste die
Holzfeuchte nach Vorgabe der Statik unter 12 Prozent sein; im fertigen Gebäude wurde mit
Holzfeuchten zwischen 5 bis 10 Prozent gerechnet.
Oberflächen mit Brandschutzanforderungen sind mit Gipsfaserplatten bekleidet. Die
Fassadenbekleidung besteht aus Rohaluminium-Blechen auf einer Schalung. An der Südfassade
ist eine Photovoltaikfläche in die Fassade integriert. Stahl kommt vor allem beim Auflagertisch
vor. Aber auch innerhalb der Konstruktion spielen Stahlverbindungsmittel eine grosse Rolle.
Die Beplankungen der Elemente sind schraubpressverleimt, die Stahlteile zur Überbrückung der
Schwundmasse der Decken wurden bereits erwähnt, ebenso die Bleche der BSB-Verbindungen.
Die Fundamente im Kreuzungspunkt der Achsen bestehen aus Ortbeton, der fertig gemischt
eingeflogen wurde.
Oberflächen
Die sichtbaren Oberflächen der Konstruktionshölzer sind gehobelt. Die Holzoberflächen
innen sind weitgehend unbehandelt, lediglich die Fachwerkbalken im Essraum wurden durch
Studierende lasiert. Die Treppenhauswände sowie die Wände der Verteilerräume sind glatt
gespachtelt und, wie die Türen, mit Acrylfarbe gestrichen. In den Räumen liegen KugelgarnTeppichböden.
250
BSB-System der Firma Blumer BSB, Schwellbrunn AR.
251
Vgl. Eberle et al. 2010, S. 59: Die Verwendung regionalen Holzes führte zur Unterstützung durch das
BAFU.
145
Schmuck
Im Essraum sind die Konstruktionshölzer des Fachwerks mit per CNC-Fräse hergestellten
Mustern versehen.252 Die Eindringtiefe und damit auch die Breite der Muster, die mit einem
spitzen Fräskopf gefertigt sind, variiert. Das Muster wurde parametrisch entwickelt auf
Grundlage von ‹Kraftfeldern›. Die gefrästen Muster sind Holzmaserungen ähnlich, aber formal
so weit von diesen entfernt, dass ein Verfremdungseffekt eintritt.
252
ebd. S. 188: Gramazio und Kohler, die Muster und deren Herstellung an ihrem Lehrstuhl entwickelten,
sprechen von ‹digitalen Schnitzereien›.
146
Unten, im Uhrzeigersinn: Die Fassade aus Rohaluminium mit dem mäandrierenden Treppenhaus
/ Die Oberflächen des Treppenhauses sind relativ homogen / Die ‹digitalen Schnitzereien›.
Linke Seite: Der Speiseraum mit der Fachwerkstruktur.
147
Autark bauen: Neue Monte-Rosa-Hütte
Rahmenbedingungen
Absicht
Die Hütte sollte eine weitgehende Autarkie erreichen. In der Natur der (von der ETH zum
Teil selbst gestellten) Aufgabenstellung lag es, dass ein Vorzeigeprojekt mit einer gewissen
Aussenwirkung beabsichtigt war.253 In der äusseren Form wurde ein Ausdruck gesucht, welcher
in der Erhabenheit der umgebenden Bergwelt bestehen kann.254 Die abstrakte und massstablose
Form des ausgewählten Entwurfes (‹Glänzling›) ist insofern folgerichtig.
Eine allzu radikale Reduktion auf einen Ausdruck von Innovation war hingegen nicht
gewünscht, vielmehr sollte dieser durch Zugeständnisse an das gewohnte Bild einer SACHütte ausbalanciert werden. Im Inneren wurde sehr bewusst das Material Holz nicht nur wegen
seiner atmosphärischen, sondern auch wegen seiner konnotativen Eigenschaften gewählt: «Im
umgesetzten Holzbau kommt nun beides zusammen: das Technische bzw. das Logistische der
vorgefertigten Bauelemente, die einen Einfluss auf die innere Ausprägung der Räume hatten,
und – durch die Hintertüre – auch der zwar transformierte Traditionsbezug.»255 Dazu gehören
auch die ‹Schnitzereien› genannten gefrästen Ornamente oder die gefrästen und gezeigten
Schwalbenschwanz-verbindungen.256
Beschränkung
Die bei der neuen Monte-Rosa-Hütte bestimmende Beschränkung ist ebenfalls durch die Stellung
der Aufgabe erzeugt: die Knappheit der zum Unterhalt des Gebäudes verfügbaren Ressourcen,
festgelegt im Anspruch auf Autarkie. Hinzu kommen die Beschränkungen für das Baumaterial,
die sich aus dem Helikoptertransport ergaben.257
253
ebd. S. 13: «wegweisend, innovativ»; S. 14: «Von Planungsbeginn an war klar, dass eine Hütte gefragt
ist, die ein Zeichen setzt. Auch sollte die Hütte zu mindestens 90 % energieautark und Wasser in genügender
Menge vorhanden sein.»
254
ebd. S. 32: Adolph Stiller spricht von einer «Überhöhung der Dramatik der Landschaft durch
Weiterführung der ‹Bewegung› des Berges, in äusserer Form oder innerer Erschliessung; in der Art der Steige im
Hang windet sie sich im Inneren empor.»
255
Andrea Deplazes in ebd. S. 59.
256
Andrea Deplazes in ebd. S. 59 f.: «Die Fachwerke im Inneren des Essraums hätte man als
ingenieurbedingte Strukturen belassen können. Doch liessen wir gemeinsam mit dem Lehrstuhl Gramazio
& Kohler mit der neuesten Fertigungstechnik – einem computergesteuerten Roboter – übergrosse
jahresringähnliche Zeichen einfräsen, die wiederum sehr handwerklich wirken.»
257
148
Hierzu Deplazes in ebd. S. 115: «Das didaktische Konzept [des ETH-Studio Monte Rosa] basierte auf
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Das Erfahrungswissen ausgebildeter Zimmerer floss auch hier direkt in die Ausführungsplanung
und Arbeitsvorbereitung mit ein. Egon Bumann, Inhaber der ausführenden Zimmerei, betonte,
dass hier nur ausgebildete und erfahrene Handwerker eingesetzt wurden. Auch beim Abbund an
der CNC-Fräse kann das Einschätzen des Materials notwendig sein.
Die gefrästen Schwalbenschwanzverbindungen helfen zwar beim Richten während der
Elementfertigung, dennoch ist auch hier stetige Kontrolle und sorgfältiges Arbeiten notwendig.
Bei der Aufrichte mit dem Helikopter waren Genauigkeit und Schnelligkeit sehr wichtig. Die
schweren Elemente sind, einmal ungenau gesetzt, schwer zu richten. Dies geschieht mit schweren
Schonhämmern und muss passiert sein, bevor das nächste Element einfliegt. Die Arbeit ist
darüber hinaus gefährlich. Die Aufrichte ist weitaus mehr als ein blosses Zusammenstecken.
Trotz aller Genauigkeit der Elementfertigung gibt es doch genug Spiel, so dass sich mögliche
Montagetoleranzen sehr schnell addieren können. Im Elementbau muss die Montagetoleranz,
besonders die Winkelgenauigkeit, laufend kontrolliert werden. Auch die Fluchten der Elemente
wurden immer wieder geprüft, da Knicke in der Aussenhaut durch die Blechhaut sehr stark
sichtbar gewesen wären. Laut Egon Bumann sind bei der Aufrichte Personen wichtig, die
vorausdenken können. Dies ist nur möglich, wenn diese ein integrales Verständnis der kompletten
Konstruktion haben.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Direkte menschliche Interaktion deutet beim CNC-Abbund auf eine Unzulänglichkeit im Prozess
hin. Die Hölzer sollen in der gewünschten Geometrie direkt aus der CNC-Maschine kommen.
Bei der Elementfertigung kann direkte Interaktion vorkommen, wenn die gefrästen Hölzer in die
richtige Position gezwungen werden müssen.
Vor allem bei der Aufrichte ist direkte menschliche Interaktion notwendig. Dies gilt einmal
für das Versetzen der Elemente selbst mit dem Helikopter als Kranersatz und für den Einsatz
von Werkzeugen wie Schonhammer, Nageleisen oder Diagonalspriessen. In der filmischen
Dokumentation der Aufrichte ist sichtbar, dass die Passungen der Elemente an die Stahlteile zum
Teil vor Ort mit der Kettensäge angepasst (leicht geweitet) werden mussten.258 Der Grund hierfür
war die thermische Ausdehnung des Stahlgerüstes aufgrund der extremen Witterungsverhältnisse.
der Schaffung einer künstlichen Notlage, das Resultat zielte auf eine autarke Insellösung.»
258
Holcim 2015, ab Minute 8:33.
149
Dieses Beispiel zeigt, dass es sehr schwierig ist, alle Unwägbarkeiten in der Planung
auszuräumen und dass handwerkliche Arbeitsschritte zur Kompensation dieser Fälle sinnvoll
sind. Ausser beim Holzbau ist besonders die Fassadenbekleidung eine Arbeit, bei der direkte
menschliche Interaktion vorliegt.
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Das Einschätzen der Angemessenheit durch die Ausführenden kann in allen Bauphasen
vorkommen. Alle Elemente mussten bei der Fertigung stets nachkontrolliert werden. Die
Schwalbenschwänze helfen zwar beim Ausrichten der Bauteile, ersetzen aber die Kontrolle nicht.
Vor allem bei der Aufrichte aber ist die Einschätzung der Angemessenheit ein unumgänglicher
Bestandteil der Arbeit.
Das ist auch bei Arbeiten wie dem Abkleben der Fall: Wird hier nicht gewissenhaft gearbeitet, so
wird die Undichtigkeit erst beim Drucktest (dem sogenannten ‹Blower-Door-Test›) festgestellt
und muss mühsam gefunden werden.
Vorliegende Fertigungsweisen
Bei der Materialaufarbeitung und dem Abbund sind handwerkliche Arbeitsschritte auf
das Korrigieren von Unvorhergesehenem beschränkt, auch wenn das Erfahrungswissen in
Bezug auf das Material hier eine Rolle spielt. Bei der Elementfertigung mit Hilfe von CNCFräsen gilt das ähnlich, hier gibt es aber mehr Freiräume innerhalb des Prozesses – und mehr
Fehlermöglichkeiten. Die Aufrichte schliesslich ist reine handwerkliche Arbeit, die alle drei
Komponenten von deren Definition klar einschliesst.
150
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
Arbeitsschritt
Neue Monte-Rosa-Materialaufbereitung
Hütte
Abbund
Elementfertigung
Aufrichte
Ausbau
10.05.16
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
Fertigungsweisen
1
•
•
•
•
•
2
x
(•)
(•)
•
•
3
(•)
(•)
(•)
•
(•)
Fertigungsweise
determinierte Fertigung
determinierte Fertigung / Handwerk
determinierte Fertigung / Handwerk
Handwerk
Handwerk / qualifizierte Fertigung
Prozess
Techniken und Werkzeuge / Freie und regulierte Umsetzung
Beim ganzen Bauwerk war hoch regulierte Umsetzung notwendig, da es sich vorwiegend
um reinen Austauschbau handelt: Alle Teile mussten ohne Anpassungen und mit minimalen
Fertigungstoleranzen zusammenpassen. Die Rahmen der Holzbau-Elemente und sogar
die Einbaumöbel wurden per CNC-Fräse gefertigt und dann in der Abbundhalle in
Mörel VS zusammengesetzt. Auch die gefrästen Ornamente sind vorgängig geplant. Die
Fassadenbekleidung ist in traditioneller Spenglerarbeit in einzelnen Bahnen aufgebracht, mit
Doppelstehfalz verbunden und abgedichtet.
Umgang mit Toleranzen
Die hier angewandte Strategie war, Toleranzen weitgehend auszuschalten. Die Elemente sind
durch homogenisierte Plattenwerkstoffe abgesperrt, besonders die Furnierschichtplatten im
Untergeschoss weisen praktisch keine Holzbewegungen mehr auf. Die Schwindmasse der
Geschossdecken werden durch Stahlteile überbrückt.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Wenige Spuren lassen sich direkt auf den Herstellungsprozess zurückführen. Es sind an manchen
Orten leichte Leimreste zwischen Rahmen und Beplankung der Innenwandelemente sichtbar. Die
CNC-gefrästen Ornamente sind direkte Spuren des Werkzeuges; je tiefer der spitze Fräser ins
Holz eindringt, desto breiter ist die gefräste Nut. Allgemein wurden Spuren der Fertigung nicht
gesucht, sondern sollten vermieden werden.
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Obwohl handwerkliche Arbeitsschritte im gesamten Prozess vorhanden sind, hat er keinen
handwerklichen Charakter. Der Abbund ist ein klar fragmentierter Prozess. Das gesamte Gebäude
ist im Plan bis ins Kleinste vorbestimmt, alle Arbeiten referenzieren auf den Plan. Es gibt keine
geometrischen Unschärfen. Vor allem in den ersten Phasen, von der Materialaufbereitung bis
zur Elementfertigung, ist das Können und Wissen so weit es geht auf die Planung übertragen.
Diese profitiert aber auch hier von der handwerklichen Erfahrung der Planenden. Dennoch
nimmt der Anteil handwerklicher Arbeitsschritte mit fortschreitendem Prozess zu. Bei der
Aufrichte schliesslich ist die Verantwortung für das Gelingen des Bauwerks klar auch mit den
Ausführenden geteilt. Die Aufrichte ist ein iteratives Arbeiten. Bei ihr kann man von integraler
handwerklicher Fertigung sprechen.
151
Ausdruck der Fertigung
Beschreibung
Der Ausdruck ist organisch und bis zu einem gewissen Grade selbstverständlich. Er ist
zeitgenössisch und exakt, mit pragmatischen Komponenten. Entwurfsentscheidungen und die
Wahl bestimmter Techniken sollen einen Ausdruck der Fertigung erlauben, der eine formale Nähe
zum Handwerklichen hat.
Die Konstruktion wird im öffentlichen Bereich des Hauses überall gezeigt, durch die sichtbaren
Schwalbenschwanz-Verbindungen sogar inszeniert. Während die Elemente tatsächlich gestapelt
sind, beruht der Ausdruck der Konstruktionshölzer innerhalb der Elemente auf dem Stecken.
Diese Prinzipien sind auch im kleinen Massstab selbstverständlich nachvollziehbar.
Die allseitige Beplankung mit Gipsfaserplatten im Untergeschoss und dem Treppenhaus wirkt
massiv, schwer und homogen und kontrastiert stark den gegliederten Ausdruck der holzsichtigen
Wände. Dies wird durch die Glanzfarbe zusätzlich unterstrichen. Die eigentliche Holzstruktur ist
durch die Lamellierung geprägt und somit stark homogenisiert. Die Dimensionen der verleimten
Hölzer sind jedoch nahe an denen von gesägten Balken. Sie sind von ihrer Dimension her noch
als einzelne stabförmige Elemente lesbar, zumal sie oft freigestellt sind.
Der Ausdruck der sichtbaren Konstruktion ist von der durch zeitgenössische Techniken geprägten
geometrischen Präzision geprägt, die jedoch im Sinne der Angemessenheit auch nicht absolut ist.
Kleinste, aber erkennbare visuelle Details wie kleine Schaumleimreste zwischen Elementrahmen
und Beplankung lassen die Holzkonstruktion weniger abstrakt wirken als beispielsweise die
gestrichenen Ausbauten aus Gipskarton.
Die CNC-gefrästen Schwalbenschwänze und die sogenannten ‹digitalen Schnitzereien› auf den
Fachwerkbalken des Erdgeschosses gehören zum Ausdruck der Fertigung. Sie referenzieren
handwerkliche Prinzipien, verfremden diese jedoch. Schwalbenschwanz-Verbindungen gehören
im Möbelbau zum handwerklichen Ausdruck, sind bei traditionellen Holzkonstruktionen jedoch
an dieser Stelle nicht verbreitet. Obwohl diese Details nicht handwerklich sind, suchen sie eine
Nähe zu mit Handwerk konnotierten Formen.
Ein Inszenieren traditioneller handwerklicher Techniken hätte der Absicht der Innovation
entgegengewirkt, weshalb die Abstraktion durch die ‹neuen Techniken› naheliegt.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Der Ausdruck versucht, zitathaft und ohne Imitation auf traditionelle handwerkliche Formen zu
referenzieren, insofern stimmt beides überein.
152
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Das Stecken innerhalb der Elemente und das Stapeln der Elemente selbst zeigt sich am Bauwerk
so, wie es auch ausgeführt ist. Es gibt dennoch Vieles, das nicht gezeigt wird. Auch hier sind das
vor allem die Stahlteile. Es wurde klar ein bestimmter Ausdruck gesucht, nicht unbedingt der
Ausdruck der tatsächlichen Fertigung.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Die atmosphärische Referenz auf das Handwerkliche der alten SAC-Hütten geschieht über
formale Bezüge, die keine Imitationen sind.
Im Uhrzeigersinn: Fenster / Schlafraum
mit sichtbaren Konstruktionshölzern /
Im Bad dienen auch die Installationen
dazu, die Diversität und den Ausdruck des
Handwerklichen zu unterstützen.
153
154
7. Tamedia-Gebäude: Analyse
Geschichte
Das Bauwerk wurde vom japanischen Architekten Shigeru Ban im städtischen Kontext Zürichs
geplant. Seit der Fertigstellung 2013 dient es als repräsentatives Büro- und Redaktionsgebäude
eines Zeitungsverlags.
Baukörper 259
Der geschlossene, kompakte Baukörper ist Teil einer Blockrandbebauung. Seine flächig
verglasten Fassaden sind nur durch die Aluminiumprofile gegliedert, welche wiederum die
Geschosse abbilden.
Konstruktion
Die Tragkonstruktion bildet das vorherrschende Gestaltungselement des Bauwerks und den
Kern des architektonischen Konzeptes. Alle Bauteile der Primärkonstruktion sind gesteckt,
die Kraftübertragung erfolgt Holz in Holz. Der Massstab ist jedoch ein völlig anderer als bei
traditionellen Holzverbindungen.
Die Konstruktion besteht aus Bindern, die quer zur Längsachse des Bauwerks hintereinander
angeordnet sind. Sie bestehen aus jeweils vier vertikal durchlaufenden Stützen und unterhalb der
Deckenebenen beidseitig aufgekämmten horizontalen Zangen. Die Binder sind in Längsrichtung
durch Träger mit ovalem Querschnitt verbunden, über denen die Decken liegen. Am
Gebäudekopf ist die Binderstruktur wegen des unregelmässigen Grundstücks etwas abgewandelt.
Zwei Erschliessungskerne aus Beton und die Deckenplatten übernehmen die Aussteifung.
Die Primärkonstruktion ist konzeptuell von den Innenwänden und Fassaden entkoppelt. Praktisch
ist aber die Lage der Sekundärstruktur nicht völlig frei. Vor allem durch die Behandlung der
Konstruktion an Brandabschnitten und durch den über mehrere Geschosse offenen Bereich an der
Ostfassade können sie nicht mehr beliebig verschoben werden.
Die vertikalen Brettschichtholz-Säulen laufen vom Erdgeschoss bis zum Dach durch und
sind an den Knotenpunkten organisch verdickt. Hier sind beidseitig die horizontalen Zangen
aufgekämmt, auch diese in gleicher Weise an den Knoten verstärkt. An diesem Kreuzungspunkt
der horizontalen und vertikalen Bauteile treffen die ovalen Rähme in Längsrichtung und
259
Für die Untersuchung relevant ist das ab der Erdgeschossebene vollständig als Holzkonstruktion
ausgeführte Bauwerk (Werdstrasse 15), die ebenfalls als Holzbau ausgeführte Aufstockung des Nachbarhauses
(Stauffacherquai 8) soll nicht behandelt werden.
155
‹stecken› die Konstruktion zusammen. Im Knoten sind die Leimholzbauteile unsichtbar durch
Furnierschichtplatten verstärkt.
Die Verbindung der beiden Binderträger beziehungsweise Zangen mit den vertikalen Ständern
geschieht tatsächlich über einen massiven Dübel aus Buchensperrholz, der hindurchgesteckt und
von aussen nicht sichtbar ist; diese Verbindung hat laut Ausführungsplänen ‹absolut passgenau›
zu sein. An den beiden Enden des Dübels ist ein hakenartiger Zapfen ausgefräst. Dort werden
wiederum die Längsrähme zwischen den Bindern mit einem entsprechenden Zapfenloch zugfest
eingehängt. Da deren Querschnitt etwas grösser ist als der des Verbindungsstückes, werden
so die Zangen am Ort gehalten und gleichzeitig die Sperrholz-Verstärkung verdeckt. Das
‹Zusammenstecken› der Konstruktion geschieht also nicht so direkt wie es den Anschein hat,
sondern über den unsichtbaren, zusätzlichen Dübel; trotzdem wirkt die Kraftübertragung Holz in
Holz.
Auf der Ebene der einzelnen Bauteile kommen dennoch metallische Verbindungsmittel zum
Einsatz, so sind die Sperrholz-Verstärkungen in den Leimbindern schraubpressverleimt.
Auch innerhalb der Deckenkonstruktion und für untergeordnete statische Wirkungen
(nicht Kraftübertragung, sondern Lagesicherung und zum Beispiel das Sichern gegen
Torsionsmomente) sind Schrauben und Bolzen verwendet, die am Bauwerk nicht sichtbar sind.
Es gibt keine Ausfachungen, da die Fassade, die Decken und die Innenwände nicht in den
Achsenebenen der Primärkonstruktion angeordnet sind. Die Dimensionen der einzelnen Bauteile
reichen über das gesamte Gebäude. Die gesamte Konstruktion, also auch die Knoten, wirken auf
diesem Massstab: Im Querschnitt gibt es je einen Knoten pro Säule und Geschoss.
Material
Das Material Holz beschränkt sich auf die Primärkonstruktion. Sie besteht aus schichtverleimter
Fichte. Ein Jahr vor Baubeginn wurde ein Wald in der Steiermark reserviert, um die notwendige
grosse Menge an in Farbe und Wuchs möglichst homogenem Holz zu erhalten. Die Bäume
wurden nach dem Fällen kerngetrennt. Die Qualitätssicherung geschah über Bemusterung. Die
Leimholz-Bauteile innerhalb der Binder laufen alle in voller Länge durch und erreichen so
Einzellängen von bis zu 18 Metern, die Lamellen innerhalb der Bauteile sind längs keilgezinkt.
Die Bauteile wurden nach Bedarf durch die erwähnten Einsätze aus Buchensperrholz verstärkt.
Erst solcherart homogenisierte und hochfeste Holzwerkstoffe erlaubten das Ausbilden
der Knoten; so ist zum Beispiel der hakenförmige Fortsatz der Dübel, auf den die ovalen
Längsrähme aufgehängt sind, in Vollholz undenkbar, da wegen des linearen Faserverlaufes der
156
Haken beim Angriff von Zugkräften mit der Faser abreissen müsste. Die einzelnen Bauteile
sind nicht einfach aufbereitete Holzteile, sondern ihrerseits bereits Produkte eines komplexen
Herstellungsprozesses, die in sich schon aus mehreren Komponenten bestehen.
Die Holzbauteile sind aus Brandschutzgründen überdimensioniert, um bei einem
Querschnittsverlust durch Abbrand die Resttragfähigkeit zu gewährleisten. In Bereichen, in denen
Holzträger Brandabschnitte durchdringen, wurde auf einer Länge von einigen Zentimetern vor
und nach dem Brandabschnitt eine Nut in die Bauteile gefräst, Brandschutzplatten eingelegt und
mit Furnier überdeckt. Die Verdickungen an den Knoten sind aus dem vollen Material CNCgefräst. Dadurch läuft hier die Faser des Holzes aus; die Holzfaser folgt nicht den Kurven.
Oberflächen
Die Oberflächen der Konstruktionshölzer sind gehobelt. Durch die Verleimung aus Lamellen
sind sie auch optisch sehr homogen. Es gibt kaum Risse. Auf den Hölzern ist eine dünne
Lasur.260 Alle Oberflächen, die nicht zur Primärkonstruktion gehören, sind sehr homogen und
heben sich so von der Primärkonstruktion ab. Im Bereich von Glaswänden und -fassaden sind
graue Aluminiumelemente und -blenden eingesetzt. Die aussteifenden Kerne haben SichtbetonOberflächen, die Deckenuntersichten sind glatt weiss gespachtelte Gipsfaserplatten.
Schmuck
Es gibt keinerlei Ornamente an der Konstruktion oder am Bauwerk. Die ohne Brüche
geschwungenen Verdickungen der Konstruktionshölzer an den Knoten sind zwar für den
Ausdruck der Konstruktion bedeutend, haben aber auch den Zweck, Punktlasten und somit
Kerbwirkung zu vermeiden.
260
Antemann 2015.
157
Im Uhrzeigersinn: Der
Regelknoten / Reparatur an
einem Knoten / Durchdringung
eines Brandabschnittes / Der
Knoten an der letzen Säule
eines Binders.
158
Holz stecken: das Tamedia-Gebäude
Rahmenbedingungen
Absicht
Die Absicht bestand auf entwerferisch-konstruktiver Ebene darin, einen Holzbau im grösseren
Massstab zu schaffen261, der in der Primärstruktur ohne metallene Verbindungsmittel
auskommt.262 Das Prinzip des Steckens grosser, stabförmiger Holzbauteile sollte am Bauwerk
präsent und ablesbar bleiben. Ein gewisser Anspruch auf Innovation schwingt dabei mit. Das
Gebäude sollte klar in der heutigen Zeit verankert sein. Viele formale Entscheidungen bis hin zu
den abstrakten Oberflächen der Sekundärkonstruktion dienen dazu, diesen Ausdruck erkennbar zu
machen.
Beschränkung
Die eigentliche Beschränkung (mit entsprechender Auswirkung auf die Konstruktion) ist
durch die Absicht konstruiert worden: Die Beschränkung an metallischen Verbindungsmitteln
ist nicht durch ökonomische Zwänge von ausserhalb des Projektes bestimmt, sondern eine
Entwurfsentscheidung.
261
Vgl. Ban 2014: «From an architectural point of view one of the main features of the project is
indeed the proposition of a main structural system entirely designed in timber where its innovative character
from a technical and environmental standpoint, gives the building a unique appearance from the interior space
as well as from the surrounding city. In order to reinforce and express this idea the building skin is entirely
glazed and special attention was given to achieve low energy transmission levels that respond to the latest and
very strict Swiss regulations for energy consumption.» Der Projektleiter Holzbau Martin Antemann sieht das
Bauwerk nur in dem Sinne als einen Prototypen, als dass jedes Gebäude einer ist, ohne dass er einen gewissen
Innovationsanspruch in Abrede stellt (Antemann 2015). Die Art der Holzverbindungen war prinzipiell erprobt,
komplex wurde das Projekt vor allem durch den hohen Vorfertigungsgrad von 80 %, die zwei Fassaden
(innen und aussen), Treppen, Kühldecken, die Forderung nach durchgängiger Sichtqualität der Konstruktion
und vor allem die ausserordentliche Enge des Bauplatzes. Den Aspekt des Innovativen als eine Absicht des
Gebäudes in den Vordergrund zu setzen, wäre wahrscheinlich nicht richtig, zumal Innovation heute beinahe
selbstverständlicher Teil der Präsentation repräsentativer Bauwerke ist.
262
Auf den Computervisualisierungen des Entwurfs ist die Struktur hervorgehoben; auch auf Renderings,
die den Entwurf von aussen visualisieren, ist die Struktur im Inneren der Glasfassade gut sichtbar (was in der
Realität eher bei Nacht funktioniert). Verbindungen Holz in Holz waren vorgegeben; dies war wichtig für
Bauherrn und Architekten (Antemann 2015).
159
Fertigungsweisen
1. Können und Wissen
Ein genauer Blick auf den Herstellungsprozess zeigt, dass auch bei der Ausführung dieses
Bauwerks Können und Wissen der Ausführenden wichtig waren. Nach Aussage des Projektleiters
wurden die Arbeitsvorbereitung und die Abbundplanung im Holzbaubetrieb ausschliesslich
von Personen bearbeitet, die sowohl eine handwerkliche Zimmererausbildung als auch eine
Zusatzqualifikation – als Poliere, Zimmerermeister oder Holztechniker – und praktische
Erfahrung hatten. In diesem Falle also wirkt das durch handwerkliches Arbeiten gewonnene
implizite Wissen weiter, indem es das Ausarbeiten der Konstruktion bis zur praktischen
Baubarkeit ermöglicht. Für sein Entstehen aber war die direkte Interaktion mit dem Material in
früheren Projekten notwendig.263
Der Einbau der Verstärkungsplatten aus Sperrholz in den Knoten war schliesslich,
trotz der Vorarbeiten durch die CNC-Fräse, handwerkliche Arbeit. Die Herstellung der
Schraubpressverbindung schliesst das passgenaue Einarbeiten der Bauteile, die gleichmässige
Verteilung des Leims, das genaue Positionieren der Platte an der richtigen Stelle und das Setzen
der Schrauben ein.
Auch die Montage benötigte erfahrenes Personal. Der Begriff des ‹Steckens› suggeriert, dass
diese sehr einfach sei, da die Geometrie der Bauteile deren Lage bestimme. Im Gegenteil jedoch
erfordert die Montage ein hohes Mass an Können und Wissen über das Material. Die Fähigkeit
zum Einschätzen des Verhaltens der tonnenschweren Bauteile ist dabei auf Erfahrung begründet.
Nach Einschätzung von Martin Antemann wäre der Bau des Tamedia-Gebäudes ohne erfahrene
Handwerker in der Ausführung und der Planung nicht möglich gewesen.
2. Direkte menschliche Interaktion mit dem Material / Indikator 2: situatives Reagieren
Direkte menschliche Interaktion im Sinne einer riskanten Fertigung ist an der Primärkonstruktion
vor allem bei sichtbaren Reparaturen ablesbar. An den Knotenpunkten bilden die Säulen eine
an Gelenkpfannen erinnernde Passung für die liegenden Bauteile. Hier laufen die Hölzer spitz
zu, darüber hinaus läuft die Holzfaser seitlich aus. Diese sehr empfindlichen Stellen wurden
offensichtlich stellenweise beschädigt und vor Ort handwerklich repariert. Risse und kleinere
Schäden innerhalb der Hölzer wurden mit eingefrästen Flicken behoben. So wurden Risse,
263
Projektleiter Martin Antemann führte einige Beispiele an, wie durch eigene handwerkliche Erfahrung
Probleme bei der Ausführung vorhergesehen werden konnten. Eine Anforderung der Statik war beispielsweise,
die Dübelverbindung zwischen Zangen und Ständern ‹absolut passgenau› auszuführen. Aus der praktischen
Erfahrung war den Planenden klar, dass es dann unmöglich ist, die Zange gleichzeitig auf vier Dübel aufzufädeln.
Als Lösung wurde jeweils auf der Seite der Verbindung, auf der im Lastfall keine Kraftübertragung erfolgte, 4
mm ‹Montageluft› gelassen. Durch die Wahl der Aufhängepunkte wurden die 4 mm oben und unten auf je 2 mm
verteilt, beim Ablassen des Krans spannte sich der Träger in die endgültige Stellung ein (ebd.).
160
Harzgallen oder Äste mit linsenförmigen Flickzapfen geschlossen, teils sind mehrere hiervon wie
Ketten hintereinander angeordnet.
Aber auch bei der Montage kann von situativem Reagieren gesprochen werden; das Risiko
manifestiert sich noch am fertigen Bauwerk in den Reparaturen der vereinzelt bei der Aufrichte
entstandenen Schäden.
Auch bei der sehr wichtigen Herstellung der Knoten kommt direkte menschliche Interaktion vor,
die allerdings keine Spuren hinterliess.
3. Angemessenheit – Indikator 1: Art der Spuren
Vor allem beim Einbau der Verstärkungsplatten in den Knoten muss die Passgenauigkeit
beziehungsweise die Angemessenheit des Arbeitsergebnisses vom Ausführenden bestimmt
werden, bei der Aufrichte die Lage der Bauteile. Bei der Materialaufbereitung wurden die
Ergebnisse der Maschinensortierung stets kontrolliert; auch hier geht es um eine Beurteilung der
Angemessenheit. Sie ist jedoch von der direkten Fertigung entkoppelt.
Vorliegende Fertigungsweisen
Die Aufbereitung der Rohstoffe und Herstellung der Halbzeuge und Bauteile durch Maschinen
sowie das CNC-Fräsen der Knotenpunkte und der ovalen Querschnitte stellt mechanisierte
Fertigung dar.
Die Aufrichte entspricht der Definition handwerklicher Fertigung. Sie hängt beträchtlich von
Können und Wissen der Ausführenden ab, die direkt mit dem Material interagieren. Beim
Ausrichten der Bauteile und beim Einbau und Zusammenbau von Elementen greifen die drei
Kriterien handwerklicher Fertigung. Schliesslich kommt diese auch bei den Reparaturen vor,
sowie bei den Anpassungen im Bereich der Knoten.
Handwerkliche Arbeitsschritte sind über die komplette Bandbreite des Projektablaufs verteilt,
stellen aber eher Insellösungen an besonders heiklen Stellen dar. Die Ausführungsplanung basiert
stark auf handwerklichem Wissen.
161
Menschliche Interaktion
('Risiko')
Angemessenheit von
Ausführenden beurteilt
TamediaGebäude
10.05.16
Können und Wissen der
Ausführenden nötig
Fertigungsweisen
Arbeitsschritt
Materialaufbereitung
Abbund
1
•
•
2
x
(•)
3
x
x
Fertigungsweise
determinierte Fertigung
determinierte Fertigung
Verstärkungen,
Anpassungen,
Reparaturen
•
•
•
Handwerk
Aufrichte
Ausbau
•
•
•
•
•
(•)
Handwerk
Handwerk / qualifizierte Fertigung
Prozess
Techniken und Werkzeuge / Freie und regulierte Umsetzung
Bei diesem Bauwerk kommt nach der Phase der Rohstoffgewinnung und -aufarbeitung der
Komplex der Herstellung homogenisierter Holzwerkstoffe hinzu. Dieser – die Fertigung der
Lamellen und des Leimholzes, sogar die Sortierung und Anordnung der Lamellen in den
Leimbindern – war weitgehend mechanisiert und automatisiert. Bei der Herstellung der einzelnen
Bauteile aus diesen homogenisierten Materialien war deren spätere Verwendung im Bauwerk
bereits bekannt; es wurden also ab der Fertigung der Leimhölzer individuelle Bauteile hergestellt.
Auf Grundlage der Architektenpläne wurde von der ausführenden Holzbaufirma ein
dreidimensionales digitales Modell des Gebäudes angefertigt, alle Grundmasse überarbeitet und
die Detailplanung angefertigt. Dabei gingen die planenden Zimmerer von der Montage als dem
schwierigsten Schritt aus.
Trotz der weitgehend automatisierten Herstellung der Leimbinder und dem Einsatz der CNCFräse kann nicht von einer Serienproduktion gesprochen werden. Die Decken beispielsweise sind
nicht als Serienelemente gefertigt, da hier insgesamt 3›500 verschiedene Brandschutzdurchbrüche
bestehen.
Beim Herstellen der Knoten kamen Rohlinge und Halbzeuge aus dem Leimholzwerk und die
Verstärkungen aus einem Sperrholzwerk zusammen. Bei der Leimholzherstellung wurden die
Bauteile als Rohlinge mit Übermass hergestellt und anschliessend beim Abbund spanabhebend
durch die CNC-Fräse auf die gewünschte Geometrie gebracht. Die Zangen sind in zwei
162
Teilen geleimt, dann wurden die Buchenholz-Verstärkungen eingepasst und die Hälften
zusammengefügt.
Bei der Konstruktion liegt durchweg regulierte Umsetzung vor, Abweichungen von der
Geometrie als geometrische Unschärfen gibt es praktisch nicht. Ein weiterer wichtiger Faktor
des Prozesses war in diesem Falle der Transport, welcher hier das limitierende Element der
Bauteildimensionen war.
Umgang mit Toleranzen
Es sind keine Stellen erkennbar, an denen Toleranzen oder das Arbeiten des Holzes durch
bauliche Massnahmen kompensiert wurden. Vielmehr wurden sie durch die Trocknung
und Homogenisierung des Materials minimiert. Trotzdem noch zu erwartende minimale
Bewegungen an Stellen, wo Holzbauteile auf starre Bauteilen treffen, wurden durch elastische
Fugenmaterialien antizipiert.264
Auch innerhalb der Knoten ist durch die Verwendung des hochgradig homogenisierten
Buchensperrholzes das Arbeiten des Holzes praktisch ausgeschaltet. Die mechanisierte Arbeit
bietet nicht nur sehr hohe Genauigkeiten, sondern fordert sie auch, namentlich im Bereich
der Anschlüsse von Holzbauteilen untereinander und mit anderen Materialien. So wird das
Zusammenbringen vorgefertigter Bauteile aus verschiedenen Gewerken erleichtert. Für
Projektleiter Holzbau Martin Antemann ist die CNC-Anlage daher besonders deshalb sinnvoll,
weil diese den Massstab der Genauigkeit setzt und davon ausgegangen werden kann, dass alle
hiermit bearbeiteten Bauteile auch kompatible Toleranzen aufweisen. Für Antemann ist die
CNC-Maschine ein Kommunikationsmittel; Sie dient der Kommunikation von Informationen
vom nicht-physischen 3-D-Modell ins physische Material. Die Kommunikation von Formen
ist ins Material Holz viel einfacher als zum Beispiel ins Material Stahl. Jedes weitere Material
wäre daher ein Risikofaktor im Prozess, was ein praktisches Argument für die Holz-in-HolzVerbindungen darstellt.
Strategie: Umgang mit Bearbeitungsspuren
Überraschend ist die Dichte der Herstellungsspuren, die an der Primärkonstruktion erkennbar
sind. Leichte Hobelspuren265 sind flächendeckend sichtbar. Sehr verbreitet sind kleine
264
Die Detailzeichnungen erwähnen z. B. ‹elastischen Brandschutzkitt›.
265
Die meisten Hobelmaschinen arbeiten mit einer rotierenden Welle, auf der mehrere Messer angebracht
sind. Indem das Holz auf einem plan abgerichteten Tisch an der schnelldrehenden Messerwelle vorbeigeführt
wird, fräst diese die oberste Schicht des Holzes ab und stellt eine mehr oder weniger glatte Oberfläche her. Je
schneller das Holz an der Welle vorbeigeführt wird und je weniger Messer die Welle selbst hat, desto eher bleibt
an der gehobelten Oberfläche eine Wellenstruktur mit minimalen Vertiefungen bestehen, die am Holz sichtbar
bleibt. Im Möbelbau werden daher maschinengehobelte Oberflächen meist nachbearbeitet. Auch hier handelt es
sich strenggenommen um inkrementelles Arbeiten, vergleichbar der Arbeit mit der Axt – wenn auch natürlich mit
völlig anderen und viel weniger ausgeprägten Spuren.
163
Reparaturen am Holz, die zum Teil schon beim Abbund im Werk266 ausgeführt wurden. Es
handelt sich hier um weniger sichtbare Spuren, welche besser sichtbare, ungewollte Spuren
ersetzen. Spuren der Herstellung sind hier nicht für den Entwurf instrumentalisiert worden.267
Verteilung der Verantwortung / Indikator 3: Iterativer Prozess
Das Tamedia-Gebäude bildet aufgrund seiner Grösse und der Komplexität seiner Anforderungen
einen Extremfall unter den hier untersuchten Projekten.
Trotz der umfassenden Planung als komplettes dreidimensionales Gebäudemodell und des
hohen Anteils an computerunterstützter Fertigung kann die Ausführung keineswegs auf das
reine Zusammenstecken mechanisiert gefertigter Elemente reduziert werden. Bei der Montage
mussten alle Beteiligten «sensibilisiert»268 werden, mit den schweren Bauteilen, die ja schon die
fertige Oberfläche hatten, entsprechend sorgsam umzugehen. Das bedeutet, dass bei der Aufrichte
integrale handwerkliche Fertigung notwendig war.
Der Bauprozess verlief nicht iterativ. Er bestand aus einzelnen Komponenten, die jeweils auf
die Planung, das Computermodell, referenziert und dort koordiniert wurden. Alle ausgeführten
Arbeiten wurden bis ins Kleinste mit einer übergeordneten Vorgabe abgeglichen. Die Rolle
der CNC-Fräse als ‹Kommunikationsmittel› (Antemann) 269bedeutet nichts anderes, als die
Gewissheit der Übereinstimmung von Plan und Physis, und gewährleistet die Austauschbarkeit
der einzelnen Bauteile.
Die Verantwortung der Ausführenden über den jeweiligen Arbeitsschritt hinaus ist externalisiert
und wird von der Planung übernommen. Die Ausführenden haben an bestimmten (auch an
besonders wichtigen) Stellen die Verantwortung für das Übereinstimmen des jeweiligen
Bauteils mit dem Plan, sie können jedoch keine Verantwortung für dessen Funktionieren im
Gesamtzusammenhang übernehmen. Wo im Abbund handwerklich gearbeitet wurde, handelt es
sich also durchweg um fragmentierte handwerkliche Fertigung.
Auch wenn handwerkliche Arbeitsschritte und handwerkliches Wissen an verschiedenen Stellen
im Prozess vorkommen und eine sehr wichtige Rolle spielen, kann man insgesamt von einem
fragmentierten Prozess sprechen.
266
Dies wegen der nötigen Nachbearbeitung und der daraus folgenden Gefahr von Farbunterschieden.
267
Shigeru Ban ist Japaner. In der japanischen Holzbautradition, auch der handwerklichen, ist regulierte
Fertigung weitaus vorherrschend, während freie Fertigung dort sehr bewusst und punktuell eingesetzt wird.
268
Antemann 2015.
269
Ebd.
164
Ausdruck der Fertigung
Beschreibung
Hier bleibt die Fertigung vor allem im Prinzip des Steckens ablesbar, das vor allem im grossen
Massstab wirkt. Das Stecken ist selbstverständlich nachvollziehbar. Im Kleinen herrscht ein
Ausdruck der geometrischen Präzision und Homogenität vor.
Die geschwungenen Verdickungen der Knotenpunkte sind hierbei (auch) formale Elemente,
welche mit dem Material Holz beziehungsweise den organischen Formen des natürlichen
Wachstums von Bäumen konnotiert werden können. Sie betonen aber vor allem die
Steckverbindungen.
Während die Binderbauteile rechteckige Querschnitte haben, sind die Horizontalen zwischen
den Bindern oval. Wären die Zwischenhölzer rechteckig, gäbe es einen formal schwierigen
Übergang von rechteckig zu oval im Bereich des Knotens. Das ovale Dübelloch wiederum
verhindert Lastspitzen und Kerbwirkung. Also sind die Knoten für die Gestaltung der gesamten
Konstruktion bestimmend. Auf diesem Massstab wirkt die Konstruktion selbstverständlich: Das
Prinzip des Steckens und somit auch die Wirkungsweise der Konstruktion sind klar ablesbar.
Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Ausdruck des Steckens im Massstab des Gebäudes
und dem Ausdruck in der Nahwahrnehmung. Die Vorholzlängen bei den Trägern sind sehr kurz
und die Fasern des Nadelholzes laufen seitlich aus dem abgerundeten Querschnitt heraus. Dies
entspräche nicht der Logik einer Vollholzkonstruktion, da bei dieser geringen Vorholzlänge
der Knoten ohne die unsichtbaren Verstärkungen kaum tragfähig wäre. Der Ausdruck des
Steckens steht teilweise im Widerspruch zur Logik des Holzes und ist nur in einem optimierten
Holzwerkstoff sinnvoll. Die Spitzen der Gelenkpfannen mit ihren auslaufenden Fasern sind sehr
fragil.
Das Thema des Steckens, das für die Konstruktion im Gebäudemassstab wichtig ist, fehlt in der
Nahwahrnehmung. Auf Materialebene gesehen sind die Träger selbst eigene Konstruktionen aus
zusammengesetzten, meist geklebten Komponenten. Das Material wirkt durch die Verleimung
flächig und homogen. Zwar sind Maserung und Äste sichtbar, jedoch wird durch die kleinteilige
Verleimung das Holz auch optisch homogenisiert. Die Plastizität der Bauteile beschränkt sich,
von den minimalen Rissen abgesehen, auf den Massstab der Konstruktion.270
270
Die Balken sind nur minimal gefast (laut Plan 5 mm), was bei den grossen Einzeldimensionen beinahe
scharfkantig wirkt. Das Holz wirkt dadurch härter.
165
Die kleinste erkennbare Entität des Holzes ist nicht das Bauteil an sich, sondern die geleimte
Lamelle. Auch die Risse sind vergleichsweise klein und meist innerhalb der Lamellen.271 Die
Flächigkeit der Lamellenstruktur lässt keinen Rückschluss über Schwere und Massivität der
Konstruktion zu. Die Holzstruktur wirkt beinahe tapetenartig.
In der Nahwahrnehmung wirkt ein Ausdruck zeitgenössischer, mechanisierter Fertigungsweisen,
der von Homogenität und geometrischer Perfektion geprägt ist.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der Absicht überein?
Das Stecken als Entwurfsthema ist auf Massstab des gesamten Bauwerks im Ausdruck ablesbar.
Auch der Ausdruck von Präzision und Homogenität vom Nahen entspricht der Absicht: Das
Gebäude sollte durchaus in der heutigen Zeit verortet werden können.
An den Reparaturen zeigt sich eine Diskrepanz. Sie sind sehr fachmännisch ausgeführt, aber
Ausdruck handwerklicher Arbeitsschritte, womit sie der Absicht entgegenstehen.
Stimmt der Ausdruck der Fertigung mit der tatsächlichen Ausführung überein?
Auch hier wirkt der Unterschied zwischen kleinem und grossem Massstab. Die Konstruktion
beruht auf dem Stecken von Bauteilen, die Bauteile selbst sind aber geklebt. Der Ausdruck im
Grossen und im Kleinen stimmt jeweils mit der Fertigungsweise überein; lediglich zwischen
beiden gibt es Diskrepanzen.
Worauf beruht der Ausdruck der Fertigung?
Das Stecken wird durch Entscheidungen des Entwurfes sichtbar. Nicht nur die Konstruktion
selbst, auch Entscheidungen wie Schattenfugen um die Steckverbindungen und nicht plane
Überblattungen zeigen das.
271
166
Das ist auch einer der Gründe für diese Bauweise.
Im Uhrzeigersinn: Die Materialien der
Ausbauten kontrastieren das Holz / Die
Gebäudeecke erfordert Sonderlösungen /
Kleinere Reparaturen im Nahbereich und sehr
homogene Oberflächen der Holzkonstruktion /
Der Luftraum ist wichtig, um die Konstruktion
als Ganzes erfassen zu können.
167
Holzstruktur Leimholzbinder Tamedia-Gebäude
168
IVSpuren
1. Synthese: Handwerkliches Bauen
Können und Wissen im Handwerk
Persönliches Wissen
Erfahrung ist eine Kombination aus implizitem und explizitem Wissen. Sie kann durch
körperliches Erleben verinnerlicht werden. Erfahrungswissen bedeutet ein Denken in Referenzen
und schliesst lange Zeiträume ein. Bei einigen zeitgenössischen Bauten wurde Wissen aus der
Ausführung in die Planung überführt. Es entsteht jedoch aus der handwerklichen Tätigkeit und
bleibt an die Personen gebunden.
Ein zentrales Merkmal des Handwerks ist, dass es sowohl physische als auch geistige Aspekte
berührt. Machen ist eine physische Tätigkeit, während die Reflexion des Machens zur geistigen
Sphäre gehört. Grundlage handwerklicher Fertigung ist also eine Kombination aus impliziten
und expliziten Wissensformen, die einander bedingen und ergänzen und die während der
handwerklichen Tätigkeit selbst entstehen und vertieft werden. Handwerk ist fester Bestandteil
der materiellen Welt (vgl. ‹handeln›)272, aber nicht auf sie beschränkt.
Auch wenn explizites Wissen verbalisierbar ist, bedeutet die Verankerung in der eigenen
Erfahrung eine andere Präsenz. Es wird durch das physische Erleben tiefer ins Bewusstsein
eingebettet. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass ein Werkstück beim Einbau zerbricht
oder wem einmal ein Balken auf den Fuss gefallen ist, der wird diese Erfahrung ganz anders in
die Beurteilung einer Situation einfliessen lassen, als jemand, der von solchen Gefahren gehört
oder gelesen hat. Der Zimmerer und Bauingenieur Martin Antemann betonte die Rolle der
272
Vgl. Adamson 2007, S. 4: «Craft is organized around material experience.»
169
Erfahrungen als «Momente, die man kraft eigenen Erleidens verinnerlicht hat»273. Sie können
wiederum reflektiert werden, um sie zu werten und richtig einzuordnen, also sie rational zu
verstehen.
Erfahrungswissen ist ein Denken in Referenzen und ergänzt das (rationale) Denken in
Argumentationsketten.274 Bewusst oder unbewusst werden vorhandene Situationen mit
vorher Erlebtem oder Beobachtetem verglichen und dadurch eingeschätzt. Dieses integrale
Wissen sowie das direkte Arbeiten mit dem Material und das Erleben der Entstehung des
Gesamtproduktes kann eine bestimmte Prägung oder geistige Haltung bedingen, die wiederum
die Herangehensweise an die Arbeit beeinflusst.
Ein Teil des expliziten Wissens im Handwerk kann durch empirische Beobachtung entstehen.
Dieses Erfahrungswissen schliesst potentiell lange Zeiträume ein. Begegnen einem Zimmerer
beim Reparieren oder beim Abriss immer wieder fäulnisgeschädigte Schwellen an alten Bauten,
kann diese Beobachtung in die eigene Arbeit einfliessen, indem solchen Details besondere
Aufmerksamkeit zuteilwird. So können die Konsequenzen einer bestimmten Vorgehensweise
auf den weiteren Bauprozess oder die Lebensdauer des Bauwerks vorhergesehen werden. In
kurzen Zeiträumen gedacht kann das bedeuten, dass man den Stechbeitel so ansetzen wird, dass
das Holz nicht reisst; ein Beispiel für lange Zeiträume sind die vielfältigen Methoden, Wasser
von der Konstruktion wegzuleiten, wie es beim untersuchten Hochstudhaus an vielen Stellen zu
beobachten ist.275
273
Anteman 2015.
274
Der Gedanke stammt von Zimmerer und Architekt Yves Dusseiller im Gespräch mit dem Verfasser.
275
Klaus Zwerger beschreibt in seiner umfassenden Darstellung «Das Holz und seine Verbindungen»
etliche empirisch entstandene Lösungen für konstruktive Probleme, welche in das kollektive Wissen regionaler
Handwerker eingegangen sind (Zwerger 2012).
Kein Lego: Montage von
Deckenelementen bei der
Aufrichte der neuen MonteRosa-Hütte
170
Beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte wurde in hohem Masse
Verantwortung von der Ausführung in die Planung verlagert. Offensichtlich kann aber mit der
Verlagerung der Verantwortung hin zur Planung nicht das komplette Wissen explizit gemacht
werden. Martin Antemann, Projektleiter Holzbau des Tamedia-Gebäudes, betonte, dass in
der Ausführungsplanung und Arbeitsvorbereitung ausschliesslich Zimmerer mit grosser
Praxiserfahrung und einer Zusatzausbildung arbeiteten. Deren Erfahrungswissen war wichtig
für den reibungslosen Bauablauf, besonders in Hinblick auf das frühzeitige Erkennen möglicher
Probleme. Die von Antemann beschriebenen Beispiele dafür, dass potentielle Probleme im
Bauprozess bereits in der Planung vorhergesehen werden konnten, beruhen vor allem auf einem
Gefühl für das Material Holz, für die Schwere der Bauteile und daraus resultierende Risiken bei
der Aufrichte.
Implizites handwerkliches Wissen wurde hier von der physischen Ausführung in die Planung
übertragen, blieb dabei aber an die Personen gebunden. Auch dieses Erfahrungswissen muss
durch direkte Interaktion mit dem Material aufgebaut und kumuliert worden sein, auch wenn
die Interaktion in früheren Projekten gewonnen wurde.276 Die im Handwerk verinnerlichte
Sichtweise verändert auch die Planung. Insofern profitieren auch hochtechnisierte Prozesse von
im Handwerk aufgebautem Wissen.
Überpersönliches Wissen
Das zum Bau notwendige Wissen muss über die einzelne Person hinaus der Bautruppe zur
Verfügung stehen. Traditionen sind ein Medium zum Speichern von Wissen. In ihnen kann
festgelegt sein, wie genau etwas zu tun ist. Dies überschreitet rein technische Kriterien.
Obwohl handwerkliches Wissen individuell ist, muss es beim Bauen zu einer kollektiven
Leistung zusammenwirken.277 Das kollektive Wissen der Bautruppe kombiniert die
unterschiedlichen persönlichen Fertigkeiten der Ausführenden, von angelernten Hilfskräften über
Lehrlinge bis zum Meister, und kann so Lücken in den Fertigkeiten einzelner überbrücken.278
276
Antemann weist in dem Zusammenhang auf die Vorteile kleiner Zimmereien hin. Da die Ausführenden
hier als Generalisten arbeiten, haben sie Kenntnisse über komplexe Zusammenhänge und gewinnen so eine
umfassende Erfahrung über den gesamten Prozess hinweg.»Die kleinen Zimmereien haben den Vorteil, dass die
Zimmerer noch Generalisten sind, welche die Dinge noch beherrschen und durchschauen.» Er betont ebenso die
wichtige Rolle des ‹Faktors Mensch› in Herstellungsprozessen. Dabei ist die jeweilige Person, aber auch deren
Hintergrund und gegenwärtige Situation wichtig (Antemann 2015).
277
Viele einzelne Arbeitsgänge beim Zimmern haben klar eine kollektive Komponente. Im traditionellen
Zimmern wurde z. B. das Balkenhauen in Gruppen ausgeführt. Diese Arbeit im Takt ist enorm anstrengend und
kann traditionell durch rhythmische Gesänge unterstützt werden. Aufrichten und Bewegen der Balken geschieht
oft in Gruppen. Auch heute ist das Einbauen schwerer Bauteile nur in enger Zusammenarbeit mehrerer Personen
einschliesslich der Kranführer möglich.
278
Karl Marx spricht im Zusammenhang mit der arbeitsteiligen Organisation der Manufaktur vom
‹Gesammtarbeiter› (sic); damit ist die Gesamtheit der Arbeitskräfte in der Manufaktur gemeint. Dadurch dass
die einzelnen Arbeiter hochspezialisiert arbeiten, ist der ‹Gesammtarbeiter› im Ganzen sehr produktiv, da er
171
Traditionen können als Wissensspeicher wirken. Im Sinne von adaptierbaren Regeln, wie etwas
zu machen ist, erleichtern sie die Zusammenarbeit, da Fehlerquellen und der Zeitaufwand für
die Kommunikation reduziert werden. Rituale, wie sie am Schrein von Ise in Japan untersucht
wurden, stellen einen Extremfall dar. Dieser wird seit 1300 Jahren in Zyklen von wenigen
Jahrzehnten immer wieder neu aufgebaut. Die Vorgehensweise ist derart ritualisiert, dass sich
sehr altertümliche Bauweisen erhalten haben. Damit sich die ursprüngliche Konstruktion
möglichst wenig verändert, wird der jeweils neue Schrein immer als eine direkte Kopie des
noch existierenden Vorgängerbaus aufgestellt, bevor dieser anschliessend abgetragen wird.
Hier wurde eine hoch formalisierte, ritualisierte Regelung gefunden, um das unvermeidliche
Weiterentwickeln von Formen und Techniken gezielt einzuschränken. Im Ritual wird implizites
Wissen gespeichert. Dieses Beispiel zeigt nicht nur, dass die Art und Weise, wie etwas zu tun
ist, durch Nachahmung und Tradition weitergegeben werden kann. Es zeigt auch, dass diese
Tradition veränderbar ist: Selbst das stark formalisierte Ritual in Ise ist durchaus wandelbar und
passt sich, wenn auch langsam und reflektiert, an veränderte Rahmenbedingungen an.279
Tradition ist ein Kanon an Konventionen, auf welche Weise handwerkliche Tätigkeiten
durchgeführt werden. Die Tradition geht jedoch über technische Belange hinaus und ist auch
Träger des Ethos. Sie kann qualitätssichernd sein, indem sie die Beschaffenheit des Produktes
der Arbeit festlegt. Diese Art der Weitergabe des Erfahrungswissens spielt auch heute noch
eine wichtige Rolle, allerdings in subtilerer Form als in fast ritualisierten Tätigkeiten wie dem
gemeinsamen Balkenhauen.
Einzelne Ausführende müssen im Extremfall eine bestimmte Handlung nicht in ihrem Sinn, nicht
einmal in ihrer Konsequenz verstehen, solange die in der Tradition vorgegebenen Schritte richtig
ausgeführt werden. Diese Rituale sind eine Abstraktion, da in ihnen nur die Form vorgegeben
ist, nicht unbedingt deren Sinn und Zweck. Durch stetiges Hinterfragen der Form und durch die
Beobachtung der Ergebnisse kann sich die Form an veränderte Rahmenbedingungen anpassen.
Ein Verständnis der Zusammenhänge ist nötig, um überholte Schritte zu überwinden. Tradition
kann daher weder Selbstzweck noch starre Vorgabe sein.
nicht wie eine reale Person Bereiche hat, die er weniger gut beherrscht. Marx 1983, S. 284: «Die spezifische
Maschinerie der Manufakturperiode bleibt der aus vielen Theilarbeitern kombinirte Gesammtarbeiter selbst.
(...) Nach der Trennung, Verselbstständigung und Isolirung der verschiednen Operationen werden die Arbeiter
ihren vorwiegenden Eigenschaften gemäss getheilt, klassificirt und gruppirt.(...) Der Gesammtarbeiter besitzt
jetzt alle produktiven Eigenschaften in gleich hohem Grad der Virtuosität und verausgabt sie zugleich auf`s
ökonomischste, indem er alle seine Organe, individualisirt in besondern Arbeitern oder Arbeitergruppen,
ausschliesslich zu ihren spezifischen Funktionen verwendet.»
279
Cassandra Adams beschreibt, dass der in religiöse Rituale eingebettete Prozess des zyklischen
Wiederaufbaus die Techniken und Vorgehensweisen sowie ‹attitudes› der ursprünglichen Erbauer bewahrt hat.
Sie bemerkt aber auch, dass die Bräuche und Rituale sich dennoch im Lauf der Zeit Schritt für Schritt und mit
der Gesellschaft gewandelt haben. Auch bei diesem Extrembeispiel wird nicht strikt der Vorgabe gefolgt, es
gibt durchaus Interpretationen der ursprünglichen Konzeptidee aus dem jeweiligen Hintergrund der Zeit heraus
(Adams 1998).
172
Südost-Ecke Hotzenhaus
173
Mögliche Faktoren für die Ausbildung einer tradierten Art und Weise, wie ein handwerklicher
Arbeitsschritt auszuführen ist, sind technisches Wissen (die Verwendung bestimmter Hölzer an
bestimmten Orten), Langlebigkeit (empirische Beobachtungen über lange Zeiträume), Sicherheit
(der Aberglaube, nie unter einer Leiter hindurchzugehen), aber auch soziale Gründe. Im Feiern
der eigenen Arbeit, in der Verzierung des Kaiserpfostens, wird dieses Bauteil bewusst mit
Bedeutung aufgeladen. Hier überschreitet die Tradition klar die technisch-funktionale Ebene.
In der Berufslehre wird nicht nur das implizite Wissen stets durch Nachahmen weitergegeben,
sondern auch die entsprechenden Qualitätsstandards. Die Weitergabe der Tradition geschieht
über das persönliche Lernen von Generation zu Generation. Wird diese Kette des Lernens
unterbrochen, ist das Wissen kaum rekonstruierbar. Polanyi argumentierte, dass in der
Wissenschaft Tradition auch die Grundlage der Qualitätsbeurteilung und -sicherung bedeute,
da wissenschaftliche Standards nicht kodifiziert, sondern im Fluss seien und immer neu
ausgehandelt werden müssten; sie gehören zur ‹tacit knowledge›: «They are, in the main, tacitly
implied in the traditional pursuit of scientific inquiry.»280 Auf das Handwerk übertragen bedeutet
dieses Argument, dass auch das Ethos in diesem Sinne traditionell vorgegeben, aber wandelbar ist
und die Rahmenbedingungen absteckt, wie eine Arbeit auszuführen ist.
Traditionelle Typologien
In der Tradition können auch bestimmte Formen bis hin zu ganzen Bauten festgelegt sein.
Auch solche Typologien sind Wissensspeicher, um das eigentlich persönliche, implizite
Erfahrungswissen zu speichern und weiterzugeben. Sie sind adaptierbar und können lange,
empirische Beobachtungszeiträume berücksichtigen. Ihre Anwendung aber setzt implizites und
explizites Wissen seitens der Ausführenden voraus.
Eine einzelne Holzverbindung, die Konstruktion eines Hauses, aber auch das ganze Gebäude
selbst von der Raumaufteilung bis zu den Konstruktionsdetails können als empirisch entwickelte
Typologien in der Tradition gespeichert werden. Sie wirken als Wissensspeicher, mit deren
Hilfe manche Komponenten des impliziten Erfahrungswissens weitergeben werden können. Der
Architekturhistoriker Günther Binding spricht vom Bauen nach einer «vorbildhaften Gestalt» 281.
Darüber hinaus sind sie Referenzen, auf die sich Ausführende, Planende und Bauherren beziehen
können. Da sie im Gegensatz zu einem Plan konkret und nicht abstrahiert vorliegen, geht ihre
deskriptive Wirkung viel weiter. Zudem können sie mit Traditionen verbunden sein, die festlegen,
wie genau bestimmte Schritte auszuführen sind.
280
Polanyi 1966, S. 64.
281
Binding 1993, S. 180.
174
Das untersuchte Hochstudhaus in Birrwil ist ein Beispiel einer Architekturtypologie und zugleich
einer Konstruktionstypologie. Der Entwurf des Hauses lag bei Baubeginn bis ins Detail vor,
jedoch nicht in Form von Plänen, sondern durch bereits gebaute Vorbilder.282 Die Ausführung von
Details wie Knoten und Holzverbindungen ist in Dimension und Geometrie ebenfalls sinngemäss
festgelegt. Sie bilden den Baukasten, aus dem sich die Typologie zusammensetzt.
Die Typologien entwickeln sich evolutionär. Dabei kann auf in langen Beobachtungszeiträumen
gewonnene empirische Erfahrungen reagiert werden, indem sich mit der Zeit minimale
Anpassungen an geänderte Rahmenbedingungen oder Verbesserungen kumulieren.283 Hinzu
kommen zufällige Mutationen wie Fehler, Versehen oder Experimente, nicht zuletzt auch
die Vorlieben der jeweiligen Meister. Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen,
Beobachtungen oder Einflüsse von Aussen, zum Beispiel durch reisende Handwerker, gehören
zur Anwendung der Typologien. Sie können daher kaum statisch sein, auch wenn Veränderungen
sehr langsam geschehen. Zeit kann dabei Fehler und Irrtümer ans Licht bringen.284
Die Wirkungsweise von Konstruktionen wird dabei nicht nur praktisch ausprobiert, sondern wie
in einem Langzeitversuch beobachtet. Bei Reparaturen oder Wiederverwendungen von Altholz285
lernt jeder Zimmerer zwangsläufig das Verhalten von Konstruktionen über lange Zeiträume
hinweg kennen. Die Konsequenzen hieraus fliessen in die weitere Praxis ein. So kann ein
Verständnis für die Faktoren entstehen, welche die Lebensdauer von Gebäuden mitbestimmen.
282
Das von Brunner als beispielhaftes Hochstudhaus beschriebene Chablihaus in Gettnau weist eine sehr
starke Übereinstimmung der Konstruktion bis in die Details hinein mit dem Hochstudhaus in Birrwil auf (Brunner
1977).
283
Oertel spricht im Zusammenhang mit dem Bauablauf in der Gotik vom Reagieren auf «in empirischer
Auseinandersetzung mit dem Material und den im Lauf der Bauführung auftauchenden Einzelproblemen (...)» (in
Binding 1993, S. 192).
284
Katastrophen wie der Einsturz des Chores der Kathedrale von Beauvais 1284 oder der Tacoma
Bridge 1940 markieren Extremfälle im empirischen Entwickeln von Konstruktionen, hier in Stein bzw.
Stahlbeton. Im Holzbau gibt es, von Bränden abgesehen, kaum solche ‹significant disasters›. Das kann daran
liegen, dass sich Holzkonstruktionen anders verhalten als Stein oder Stahl. Eine historische Holzkonstruktion
würde wahrscheinlich nicht sofort total versagen, sondern dieses Versagen vorher durch starke Verformungen
ankündigen. Das lässt Zeit für Reparaturen und Nachbesserungen. Der Blick auf solche Nachbesserungen kann
also beim Holzbau enthüllen, wie sich Konstruktionen entwickelt haben. Auch das Entfernen von Bauteilen
kann ein Hinweis auf eine nachträgliche Verbesserung der Konstruktion sein, indem als überflüssig Erkanntes
herausgenommen (und potentiell das Rohmaterial für Neues) wird.
285
Dies kam im vormodernen Zimmererhandwerk sehr oft vor: Die hier vorherrschende Knappheit war
meistens diejenige des (verarbeiteten) Baumaterials. Vgl. beispielsweise Reith 1998, S. 16: „Dem Mittelalter
war also durchaus jener Zyklus zwischen neuwertigem Rohmaterial, handwerklichem Erstprodukt und
handwerklichem Sekundärprodukt geläufig, welches wir heute als ‹recycling› zu bezeichnen pflegen.» Reith
zitiert hier Walter Janssen, Handwerksbetriebe und Werkstätten in der Stadt um 1200, in Heiko Steuer (hg.),
zur Lebensweise der Stadt um 1200, Köln 1986. Das häufige Wiederverwenden von Bauteilen und Materialien,
namentlich Bauholz, muss auch bei Datierungen durch Dendrochronologie in der Bauforschung berücksichtigt
werden, vgl. Grossmann 2010, S. 51.
175
Die Festlegungen der Typologien müssen so flexibel sein, dass sie an den jeweiligen Einzelfall
angepasst werden können. Die Konzeption eines Hauses wird an Faktoren wie die gewünschte
Raumgrösse, die verfügbaren Holzlängen, die Topografie oder besondere Anforderungen
angepasst. So liegt im leicht abfallenden Baugelände des Hochstudhauses der bergseitige
Schwellenkranz des Stalles etwas höher als der talseitige, so dass Holz und vor allem Erdarbeiten
zum Anpassen des Baugrundes gespart wurden.
Dagegen wurde das steiler abfallende Gelände unter dem talseitigen Wohnhaus zur Anlage
von Erdkellern ausgenutzt. Auch auf Detailebene muss jede Holzverbindung an die jeweilige
Situation angepasst werden. Unterschiedliche Holzstärken, der Ort des Einbaus samt der dort
herrschenden Belastung oder Unregelmässigkeiten im Material führen dazu, dass bei aller
Ähnlichkeit kein Exemplar einer Typologie eine exakte Kopie eines anderen sein kann.
Kulturelle, funktionale und soziale Einflüsse prägen die Typologien über technische
Anforderungen hinaus mit. Ursprünglich als technische Notwendigkeit entstandene Formen
können im Lauf der Zeit in ästhetische Konventionen übergehen. So kann handwerkliches Wissen
in regionalen Wissenskulturen verankert sein. Man denke an die speziellen Fachwerk-Zierformen
der ‹Mannfigur› im alemannischen Fachwerk oder an Profile, deren zierende Funktion einhergeht
mit der ganz pragmatischen Aufgabe, Wasser abzuleiten.286
Direkte menschliche Interaktion mit Werkzeug und Material
Spezifisches Werkzeug
Handwerkliches Arbeiten ist unabhängig davon, ob mit Elektro- oder Handwerkzeugen
gearbeitet wird. Dies hat aber Einfluss auf die Spuren, da direkte Arbeitsweisen inkrementelle
ersetzen können.
Mit einem Elektrowerkzeug wie der Handkreissäge ist handwerkliches Arbeiten genauso möglich
wie mit einer Axt. Für die Menge der Spuren, die am Gebäude entstehen, macht dies jedoch
einen Unterschied. Dieser kommt aus der Unterscheidung zwischen direkten oder inkrementellen
Techniken.
286
Clausnitzer 2000, zitiert von Zwerger, S. 26: «Profilierungen, die vielfach nur als Dekoration oder
Stilmerkmal gesehen werden, sind, wenigstens entwicklungsgeschichtlich, aus keinem anderen Grund angebracht
worden als zum Zweck der Wasserableitung.» Ich würde diese Aussage insofern einschränken, als dass der
genaue Grund für bestimmte Lösungen sich nicht auf rein technische, rein ornamentale oder andere Einflüsse
reduziert werden kann. Eine solche Trennung ist eine moderne Idee.
176
Die Bearbeitung der Verbindungen und vieler Details beim Hochstudhaus in Birrwil wurde durch
die inkrementelle Arbeitsweise mit der Axt durchgeführt. Beim Hotzenhaus wurde hingegen mit
Handmaschinen wie Handkreissägen und Kervenfräsen in direkter Arbeitsweise abgebunden.
Diese hinterliess viel weniger Spuren als die inkrementelle mit der Axt, dabei sind beides
handwerkliche Arbeitsschritte. Dies ist ein Grund dafür, dass die Verbreitung von Maschinen die
Menge der Bearbeitungsspuren reduziert.
Dies ist jedoch nur eine tendenzielle Entwicklung. Beispielsweise können auch völlig
determinierte Arbeitsschritte inkrementell arbeiten und entsprechende Spuren hinterlassen,
wie das bei der CNC-Fräse der Fall sein kann: Je schneller diese arbeitet, desto gröber sind die
Spuren; auch hier muss das gewünschte Ergebnis mit der aufzuwendenden Zeit ausbalanciert
werden. Die Auswahl der Werkzeuge und der damit verbundenen Techniken ist also relevanter
für das Auftreten von Bearbeitungsspuren als handwerkliche oder nicht-handwerkliche Fertigung.
Verteilung der Verantwortung
Die direkte Interaktion mit dem Material bedeutet eine Übernahme von Verantwortung durch die
Ausführenden. Sie kommt bei allen untersuchten Beispielen vor. Die Breite der Verantwortung der
Ausführenden über den Prozess hinweg ist dabei sehr unterschiedlich.
Die direkte menschliche Interaktion mit dem Material bedeutet, dass die Ausführenden für
das Gelingen des Arbeitsschrittes direkt verantwortlich sind. Sie tragen das Risiko für dessen
Scheitern. Die fragmentierte handwerkliche Fertigung, bei der sich die Verantwortung nur über
den jeweiligen Arbeitsschritt erstreckt, kam beim Bau aller Fallbeispiele vor. In der Architektur
kann man auch dann davon sprechen, wenn sich die Verantwortung auf ein Bauteil erstreckt,
dessen Fertigung aus mehreren Arbeitsschritten besteht, aber nicht das gesamte Bauwerk umfasst.
Nur das Bauwerk als Ganzes ist der Bezugspunkt für die Beschreibung von Handwerk in der
Architektur.
Bei der fragmentierten handwerklichen Fertigung ist die Vorgabe für den einzelnen Schritt
die Referenzgrösse für das Ergebnis der Arbeit. In diesem Falle sind genaue Anweisungen
notwendig, welche die Einordnung des Arbeitsschrittes in die Gesamtheit des Gebäudes
übernehmen. Dies kam vor allem bei den Bauten vor, bei denen der Abbund direkt auf Pläne für
einzelne Bauteile referenzierte.
Integrale handwerkliche Fertigung bezieht die Verantwortung auf das gesamte Bauwerk über die
Konstruktion hinaus, wie es beim Bau des Hochstudhauses in Birrwil und dem Hotzenhaus der
Fall war. Dort ist nicht nur die Konstruktion sehr zentral für den architektonischen Entwurf, die
177
Verantwortung der Zimmerer ging noch darüber hinaus. Das Funktionieren des konstruktiven
Holzschutzes in Birrwil schliesst auch das Dach und die Gründung ein. Die Grenzen zwischen
Konstruktion und Ausbau verschwimmen vor allem an den Stellen, wo die Tragstruktur im
Inneren sichtbar und entsprechend behandelt ist. Darüber hinaus haben die Zimmerer auch
Arbeiten ausserhalb der Kernkompetenzen ihres Faches ausgeführt, wie das auch beim
Hotzenhaus der Fall war.
Die integrale handwerkliche Fertigung hat nicht nur Auswirkungen auf das Werk, sondern auch
auf die Ausführenden.287 Eine hohe eigene Verantwortung fordert die geistige Beteiligung am
Bauprozess und kann die Identifikation mit Arbeit und Resultat erhöhen. Dem entmündigten
Handwerker ist das Resultat egal. Das Zugeständnis der Eigenverantwortung kann als
Qualitätssicherungsstrategie im Prozess genutzt werden. Die Verteilung der Verantwortung ist
daher Grundvoraussetzung für das Herausbilden des entsprechenden Ethos.
Angemessenheit
Beschränkung. Indikator 1: Die Art der Spuren
Bei allen Fallbeispielen sind die Ressourcen beschränkt. Angemessenheit ist die Balance aus dem
Einsatz von Ressourcen und dem gewünschten Ergebnis, das durch die Absicht des Bauwerks
bestimmt wird.
Die Beschränkung bestimmter Ressourcen wie Arbeitszeit, Material oder Energie wird nicht
unbedingt durch äussere Zwänge bestimmt. Sie kann auch durch Entwurfsentscheidungen
konzeptuell festgelegt werden, die entsprechende Auswirkungen auf die Konstruktion haben.
So wird im Entwurf ein Regelwerk geschaffen, welches die Rahmenbedingungen für die
Konstruktion bildet.
Die Angemessenheit bedeutet, dass die richtige Proportion zwischen dem Einsatz der Ressourcen
und dem gewünschten Ergebnis gefunden werden muss. Das gewünschte Ergebnis wird durch die
Absicht des Bauwerks bestimmt. Die Beurteilung der Angemessenheit ist daher immer relativ.
Beschränkung kann also nicht für sich bewertet werden, sondern immer in der Balance mit der
gesuchten Qualität, welche in der Absicht festgelegt wird. Herrscht reiner Preisdruck vor, der
287
Zimmerer und Restaurator Thomas Gindhard beschrieb dies mit dem Satz «Niemand hat heute mehr
schlaflose Nächte». Er meinte, dass die Spannung, ob ein abgebundener Dachstuhl auch zusammenpasst, vor
dem Siegeszug des computergestützten Abbundes immer zu schlaflosen Nächten geführt habe; dafür aber war die
Herausforderung und das Erfolgserlebnis beim Gelingen sehr motivierend. Die Verlagerung der Verantwortung
geht einher mit einem Verlust an Selbstbestimmung und kann zu einem Gefühl der Degradierung führen. Für
Gindhard war dies der Grund, sich auf Restaurierungsarbeiten zu konzentrieren.
178
ein solches Abwägen zwischen Qualität und Ressourceneinsatz unmöglich macht, kann auch die
Angemessenheit nicht mehr abgewogen werden.
Das Abwägen von Aufwand und Ergebnis lässt sich aus dem Umgang mit den Fertigungsspuren
erschliessen. Bei der Beobachtung dieses Indikators lassen sich die untersuchten Fallbeispiele in
drei Gruppen einteilen. Diese Unterteilung betrifft die – bewusst oder unbewusst – angewandte
Strategie im Umgang mit den Spuren.
Akzeptierte Spuren: Hochstudhaus in Birrwil
Beim untersuchten Hochstudhaus wurden die bei der Fertigung ohnehin entstehenden Spuren
akzeptiert. Die angewandten Techniken in inkrementeller Arbeitsweise brachten zugleich sehr
viele Spuren hervor.
Auf der einen Seite des Spektrums steht das barocke Hochstudhaus, bei dem über das gesamte
Haus verteilt, innen wie aussen, ein dichtes Netz an Spuren des Herstellungsprozesses besteht.
Diese Spuren sind vor allem durch die inkrementelle Arbeitsweise mit der Axt entstanden. Durch
ein Mehr an Aufwand hätten theoretisch alle Bearbeitungsspuren beseitigt werden können.
Gemessen an der Absicht – ein nach den geltenden Regeln der Kunst errichtetes Haus innerhalb
eines bekannten Typus – wäre ein solcher Mehraufwand jedoch unangemessen gewesen.
An einem Punkt, an dem die Arbeitsergebnisse ‹gut genug› sind, also eine als angemessen
empfundene Qualität der Ausführung erreicht ist, wird der Prozess abgebrochen. Bestehende
Beispiele dieser Typologie liefern die anschauliche Referenz für die angemessene Qualität. Die
stillschweigende Strategie zum Umgang mit den Spuren ist, diese als natürliches Produkt der
Fertigung zu akzeptieren.
Im Bezug auf die Spuren macht es beim Hochstudhaus keinen Unterschied, wie exponiert
oder bedeutungsvoll ein Bauteil ist; sie kommen im Bereich des mit Malerei und Inschrift
geschmückten Tenntores ebenso vor wie unsichtbar weit oben im Dachraum. Hier wird der
Aufwand an Material und an einzusetzender Arbeit und Anstrengung gegen das gewünschte
Ergebnis abgewogen. Die Prägung der Ausführenden im Umgang mit dem Material, die
durch die eigene Anstrengung verinnerlicht wurde, führt zum sparsamen Umgang damit. Was
als angemessen gilt, ist im Ethos und damit im kulturellen Kontext festgelegt: Die gebauten
Beispiele der Typologie bilden den allgemein verfügbaren Referenzrahmen.288
Auch die hier an vielen Stellen verwendeten Schmuckformen können als angemessen gewertet
288
Dillettanten im besten Sinne, also Personen, die ein Handwerk als Selbstzweck betreiben, haben
daher oft das Problem, dass sie beim autodidaktischen Lernen des impliziten Wissens das Ethos nicht vermittelt
bekommen können. Daher fehlen ihnen oftmals die Bewertungsmassstäbe der eigenen Arbeit: sie kann sehr gut,
aber viel zu langsam ausgeführt sein, oder auch speditiv, aber zu wenig qualitätsvoll.
179
werden, da ihre Herstellung im Verhältnis zum gesamten Bau sehr wenig Zeit gebraucht hat.
Darüber hinaus sind die meisten Zierformen Variationen von Massnahmen, die auch einen
funktionalen oder technischen Hintergrund haben. Die Zierfasen dienen dem Schutz der Kanten,
die ‹Öhrli› genannten konkaven Schnitzereien an Brettenden schützen die Kanten ebenfalls. Im
Hirnholz verhindert diese Art des Details das Absplittern während der Herstellung.
Letztendlich ist die Strategie, Spuren der Herstellung zu akzeptieren, durch Fragen der Effizienz
bedingt. So kann Mehraufwand zum Entfernen oder Vermeiden der Spuren umgangen werden.
Spuren verwischen: Tamedia-Gebäude
Beim Tamedia-Gebäude wiedersprechen Fertigungsspuren dem beabsichtigten Ausdruck. Die
angewandten Techniken erzeugten wenig Spuren. Entstanden dennoch welche, widersprachen sie
dem Ausdruck der Fertigung und wurden aktiv minimiert.
Das Gegenstück zur Strategie des pragmatischen Akzeptierens von Spuren stellt das TamediaGebäude dar. Herstellungsspuren oder freie Umsetzung unterstützen den beabsichtigten Ausdruck
der Konstruktion, das Stecken, nicht. Die angewandten Fertigungsweisen bedeuten regulierte
Umsetzung und wenig Spuren. Die homogenisierten Holzwerkstoffe wirken auch im Ausdruck
gleichförmig. Entstehen dennoch vereinzelte Spuren, so fallen sie hier umso deutlicher ins Auge.
Folgerichtig sind es meistens erkennbare, punktuelle Reparaturen. Die Flickzapfen oder die vor
Ort ausgebesserten Ausbrüche sind zwar sichtbar, ersetzen jedoch auffälligere, ungewollte Spuren
der Herstellung. Sie sind insofern angemessen, als sie so wenig wie möglich erkennbar sein
sollen.289 Ihr Vorhandensein selbst ist jedoch nicht gewollt oder toleriert, sondern markiert Brüche
im Ausdruck der determinierten Fertigung. Die Spuren sind im Entwurf nicht einkalkuliert;
treten sie dennoch auf, ist ihre Wirkung schwer zu kontrollieren. Auch das Entfernen von Spuren
kann mit einigem Aufwand betrieben werden, der, je nach Absicht des Gebäudes, durchaus
angemessen sein kann.
Gewünschte Spuren: Büttenhardt, Totenstube, Monte-Rosa-Hütte und Hotzenhaus
Bei den anderen Beispielen werden Spuren als Mittel zum Erreichen eines bestimmten
architektonischen Ausdrucks verstanden. Durch die technischen Rahmenbedingungen wäre
hier spurloses Arbeiten ohne Mehraufwand möglich gewesen. Die gewünschten Spuren konnten
jedoch nicht um ihrer selbst willen erzeugt werden, da dies eine Imitation erzeugt hätte.
289
Natürlich gibt es Beispiele aus der Holzbearbeitung, namentlich aus Möbel- oder Bootsrestauration, wo
Reparaturen und Flickstellen sehr viel weniger sichtbar ausgeführt werden, jedoch mit entsprechend viel höherem
Aufwand. Dies zeigt jedoch nicht, dass die Reparaturen beim Tamedia-Gebäude unangemessen (weil sichtbar)
sind, sondern dass die Angemessenheit bei Möbel und Boot anders gewertet werden muss. Das Übertragen des
im Möbelbau üblichen Zeitaufwandes pro bearbeiteter Fläche auf das Herstellen von Architektur kann nur in sehr
wenigen Fällen angemessen sein.
180
Aufgedoppelter, genagelter Türrahmen am Hochstudhaus
181
Alle anderen Beispiele haben gemeinsam, dass sie – in verschiedener Form und Ausprägung –
die Nähe zu einem von geometrischen Unschärfen geprägten Ausdruck wie im handwerklich
erbauten Hochstudhaus von Birrwil suchen.
Beim Hotzenhaus soll die tatsächlich vorherrschende handwerkliche Fertigungsweise
im Ausdruck erkennbar sein. Bei der Totenstube dient er als Anknüpfungspunkt für das
‹Weiterbauen› des Dorfes, in Büttenhardt thematisiert er die eingesetzten Materialien, bei der
neuen Monte-Rosa-Hütte ist er formale (und atmosphärische) Referenz der ‹alten› Berghütten des
Schweizerischen Alpen-Clubs SAC. Fertigungsspuren werden in diesem Sinne für den Ausdruck
genutzt.
Im Unterschied zum vormodernen Hochstudhaus sind jedoch die gängigen Techniken
durch die grössere Verbreitung direkter Arbeitsweisen, aber auch durch grössere Anteile
determinierter Fertigung so verändert, dass das Entstehen von Spuren nicht mehr ohne Weiteres
selbstverständlich ist.
Heute geschieht vor allem die Materialaufbereitung weitgehend in determinierter Fertigung.
Durch die zur Verfügung stehende Energie ist das maschinelle Hobeln der Balken möglich
geworden. Gleichzeitig werden so die Anforderungen fragmentierter Prozesse nach geometrischer
Präzision erfüllt. So verringern sich die Spuren der Materialaufbereitung auf ein Minimum.
Würden die Spuren anschliessend durch eigene Arbeitsschritte bewusst herbeigeführt, so wären
sie keine Herstellungsspuren, sondern reine Ornamente, deren Herstellung Mehraufwand und
Selbstzweck wäre. Im Abwägen zwischen Aufwand und Wirkung wären sie völlig anders zu
bewerten als tatsächliche Spuren der Herstellung. Absichtlich angebrachte Spuren werden zu
Dekoration, zur Imitation290 eines Ausdrucks der Fertigung. Eine solche Imitation bedeutet,
dass der Ausdruck der Fertigung nicht mit der tatsächlichen Fertigung übereinstimmt. Dies hat
Auswirkungen auf dessen Wahrnehmung, welche später genauer betrachtet werden soll.
290
Duden: «Imitation: a. (bildungssprachlich) das Nachahmen; Nachahmung b. [minderwertige]
Nachahmung eines wertvolleren Materials oder Gegenstandes». Obwohl eigentlich nicht zwangsläufig negativ, so
schwingt doch oft die Konnotation des ‹minderwertigen›, nicht originären, ‹un-echten› bei dem Begriff mit.
182
2. Synthese: Handwerkliche Prozesse
Anhand der Fallbeispiele können drei grundlegende Strategien unterschieden werden, die
handwerkliche Fertigung in den Bauprozess einzubinden.
In einem handwerklichen Prozess ist die handwerkliche Fertigung konstituierender und
selbstverständlicher Bestandteil des Baus wie beim Hochstudhaus und dem Hotzenhaus. Sie
bestimmt den Prozess.
In einem fragmentierten Prozess wie bei der neuen Monte-Rosa-Hütte und dem TamediaGebäude wird handwerkliche Fertigung weitgehend reduziert. De facto aber wird sie dort
angewandt, wo auf Unvorhergesehenes reagiert werden soll. Sie dient als punktuelles
Steuerwerkzeug.
Im Mittelfeld – bei der Totenstube und in Büttenhardt – wird dort mit determinierter Fertigung
gearbeitet, wo es effizient ist. Handwerkliche Fertigung wird als ein Teil unter anderen in den
Prozess eingebettet. Vor allem durch die Nähe von Ausführenden und Planung ist handwerkliche
Fertigung dennoch bewusst eingesetzter Teil des Prozesses.
Indikator 2: Spuren situativen Reagierens – das Arbeiten mit individuellen Materialien und Situationen
Das Eingehen auf das Material ist selbstverständlich für handwerkliche Fertigung. Dies bedeutet
situatives Reagieren. Es erlaubt Recycling und Reparieren. Spuren situativen Reagierens gibt
es bei allen Fallbeispielen in unterschiedlicher Menge. Beim Hochstudhaus ist das situative
Reagieren wichtiger Bestandteil des Prozesses. Am Hotzenhaus, dem Ferienheim Büttenhardt
und der Totenstube wird es genutzt, wo es im Kontext Sinn macht, aber unterschiedlich in
die Prozesse eingebettet. Im Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte kann durch
situatives Reagieren Unvorhergesehenes im Prozess kompensiert werden.
Ein Wesenszug der handwerklichen Fertigungsweise ist, dass auf das individuelle Material
reagiert wird. Dieses situative Reagieren kann Spuren am Gebäude hinterlassen, die einen
Indikator für handwerkliche Fertigung darstellen. Da die Beurteilung des Vorgefundenen zu
jedem Schritt gehört, bedeutet das Reagieren keinen Mehraufwand. Dadurch erlaubt das situative
Reagieren das Verwenden von individuellen Bauteilen oder inhomogenen Materialien291 und die
291
Vgl. Graubner 1986, S. 18: «Ein entscheidender Vorteil des Schreinerbetriebes gegenüber der
Möbelindustrie liegt in seiner Möglichkeit, Massivholz zu verarbeiten. Hierzu sind grosses handwerkliches
Geschick und Erfahrung im Umgang mit dem Material erforderlich, um auf die Besonderheiten jedes Stammes
und jedes Brettes einzugehen.»
183
Zweitverwendung von Bauteilen und Materialien, das Recycling.292
Auch jede Reparatur bedeutet in diesem Sinne das Reagieren auf eine vorgefundene, individuelle
Situation. In dem Falle ist das ein unerwünschter Zustand, welcher durch die Reparatur verändert
werden soll. So kommen beim Tamedia-Gebäude genau da handwerkliche Arbeitsschritte vor,
wo Spuren ungeplanter Ereignisse während des Prozesses beseitigt werden mussten. Reparaturen
sind ihrem Wesen nach handwerklich.
Tatsächlich sind Spuren situativen Reagierens während der Ausführung in allen Projekten
vorhanden, wenn auch mit stark unterschiedlicher Bedeutung für die endgültige Erscheinung der
Bauten.
Beim barocken Hochstudhaus in Birrwil ist das situative Reagieren konstituierender Bestandteil
der Vorgehensweise beziehungsweise des Prozesses. Die Holzverbindungen, die Auswahl
der konkreten Hölzer und deren Beurteilung während der Bearbeitung bedeuten ein direktes
Eingehen auf die jeweilige Situation. Strategien wie das Arbeiten mit Bundfluchten ermöglichten,
mit inhomogenen Materialien die notwendige geometrische Genauigkeit zu erreichen und dabei
den Aufwand zu minimieren. Das situative Reagieren bestimmt das gesamte Vorgehen bis hin zur
Konstruktion. Am Gebäude hinterlässt es flächendeckende Spuren.
Beim Bau des Hotzenhauses, des Ferienheims Büttenhardt und der Totenstube war das situative
Reagieren nicht in der selben Form in den Prozess eingebettet wie bei dem vormodernen
Beispiel. Die Herstellung von Bauteilen wie Balken mit geometrischer Präzision war ohne
Mehraufwand möglich. Direkte anstatt inkrementeller Arbeitsweise war durch Maschinen sehr
viel verbreiteter.
Dennoch ist das situative Reagieren bei diesen drei Bauten in den Fertigungsprozess integriert.
Graubners Zimmerleute verbauten im Hotzenhaus wiederverwendete Materialien und sogar
ganze Bauteile wie Fenster. In Büttenhardt mussten während des Bauprozesses immer wieder
die Laubholzstämme mit ihren Rissen und allfälligen Verformungen eingeschätzt und bearbeitet
werden. Wichtiges Beispiel sind vor allem die von Hand individuell gefasten Splintkanten.
Bei der Totenstube zeugt vor allem das stetige Anpassen beim Abbund und bei der Montage
von situativem Reagieren. Die sorgsam gesetzten Flickzapfen sind hier ein kleines, aber
bezeichnendes Detail.
Auch beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte wurden die technischen Vorteile
des situativen Reagierens ausgenutzt. Hier wurde die handwerkliche Fertigung an manchen
292
Hierzu Antemann: «Im Handwerk war Zweitverwendung die Regel statt die Ausnahme, bei
mechanisierter Fertigung ist Zweitverwendung praktisch unmöglich» (Antemann 2015).
184
Stellen eingesetzt, weil sie die effektivste Fertigungsweise für die jeweiligen Schritte darstellte.
Das gilt zum Beispiel für den Einbau der Verstärkungen oder die Aufrichte, bei der vor Ort
minimale Anpassungen wegen der Thermischen Bewegungen des Stahlkranzes notwendig waren.
Die Organisation der Fertigung zielt im Grunde darauf ab, situatives Reagieren zu minimieren.
Wo das nicht vollständig gelingt, kommt handwerkliche Fertigung zum Einsatz.
Indikator 3: Iterativer Prozess
Situatives Reagieren kann schrittweise aufbauendes Arbeiten erlauben. Dieser iterative Prozess
ist im Prinzip steuerbar, im Gegensatz zum fragmentierten Prozess, der idealerweise determiniert
ist.
Das Reagieren auf eine vorgefundene Situation kann auch heissen, dass diese Situation erst
durch den vorhergehenden Arbeitsschritt entstanden ist. Die Reihenfolge der Verarbeitung ist
dabei vorgegeben, da jedes Zwischenergebnis den Ausgangspunkt für den nächsten Schritt bildet.
Dieses schrittweise Aufbauen kann als iterativer Prozess bezeichnet werden
Der iterative Prozess wird permanent gesteuert. Jede neue Situation wird evaluiert und bildet
den Ausgangspunkt für den nächsten Schritt. Dies geschieht in allen Massstäben: Bewegt sich
die Handkreissäge vom Anriss weg, wird bewusst und unbewusst minimal gegengesteuert.
Genauso wird der Abstand zwischen den Fachwerkständern des Hotzenhauses nicht absolut
festgelegt, sondern nach der Verfügbarkeit des Holzes und den Proportionen beim Auslegen
der Fassaden auf dem Reissboden. Diese ohnehin notwendigen stetigen Anpassungen und
Korrekturen wirken wie die permanenten, minimalen Lenkbewegungen, die ein Fahrzeug auf
der Fahrbahn halten. Jeder Arbeitsschritt ist ein stetiges Hinarbeiten auf ein gewünschtes Ziel,
welches aber nicht absolut festgelegt sein muss. Das Arbeiten mit individuellen Situationen
ist die Grundvoraussetzung für die Steuerbarkeit eines handwerklichen Prozesses. Sie kann
ein natürlicher und beinahe unbewusster Bestandteil des Prozesses sein; die Beurteilung der
Situationen und Materialien ist in die handwerkliche Bearbeitung eingebettet und nicht auf
rationale Reflexion beschränkt.
Ein anderes Prinzip herrscht dagegen bei den Bauten vor, die in einem fragmentierten Prozess
erstellt wurden. Hier sind auch die Ziele der einzelnen Arbeitsschritte absolut vorgegeben, damit
ein Zusammenfügen der unabhängig voneinander gefertigten Elemente möglich ist. In diesem
Sinne ist ein fragmentierter Prozess die Entsprechung der determinierten Fertigung auf Ebene
des gesamten Gebäudes: Alle Masse sind hier vorher geplant und festgelegt. Ein Steuern des
Prozesses oder Reaktionen auf Unwägbarkeiten sind sehr viel schwieriger.
185
In der Praxis kommen auch in fragmentierten Prozessen Abweichungen vom festgelegten Weg
vor. Handwerkliche Arbeitsschritte können ein effektives Mittel sein, steuernd in den Prozess
einzugreifen. Auch hier muss also individuell reagiert werden.
Im Uhrzeigersinn: Sowohl die materialeffiziente Verwendung des Holzes beim ursprünglichen
Bau (mit Baumkante!) als auch die Reparatur mit einem ‹falschen Zapfen› sind situatives
Reagieren / Zusammenzeichnen eines Blattes: situatives Reagieren und iterativer Prozess /
Diese Schwalbenschwanzverbindung an einem barocken Schmucksekretär (!) ist eher schlampig
ausgeführt, jedoch wurde der iterative Prozess hier zur Effizienzsteigerung angewandt.
186
Relatives vs. absolutes Masssystem
Der iterative Prozess erlaubt ein relatives Masssystem, während der determinierte Prozess
absolute Masse braucht. Dazwischen gibt es Kombinationen wie in Büttenhardt. Das relative
Masssystem erlaubt und erfordert den Umgang mit Toleranzen.
Der iterative Prozess ermöglicht ein relatives Masssystem. Dies ist am Hochstudhaus in
Birrwil erkennbar. Absolute Geometrien an Stellen, wo dies mit den vorhandenen Mitteln
unangemessenen Aufwand bedeuten würde, wurden nicht angestrebt. An neuralgischen Punkten
wie den Geschosshöhen waren zwar absolute Masse einzuhalten, ebenso bestimmt die Länge
eines Wandständers die Länge aller anderen, wenn der Rähm waagerecht liegen soll. Viele
andere Masse wurden jedoch während des Prozesses relativ zueinander festgelegt, wenn dadurch
Material oder Aufwand gespart werden konnte.
Ein relatives Masssystem erlaubt und erfordert das Arbeiten mit Toleranzen. Es muss
unterschieden werden zwischen bei der Fertigung entstehenden Masstoleranzen und solchen, die
während der Lebensdauer des Gebäudes entstehen können. Zu letzteren gehören die als Arbeiten
bezeichneten Bewegungen des Holzes aufgrund der Änderung der Feuchtigkeit.
Fertigungstoleranzen sind auch in relativen Masssystemen nicht überall tolerierbar:
Holzverbindungen beispielsweise müssen passgenau sein. Die absolute Notwendigkeit zur
Genauigkeit ist im iterativen Prozess jedoch auf die notwendigen Punkte beschränkt. Innerhalb
der iterativen Vorgehensweise ist der Umgang mit den im Prozess entstehenden geometrischen
Unschärfen problemlos möglich. Die Vorwegnahme von Toleranzen, die während der
Lebensdauer entstehen, ist hingegen eine strategische Frage. Wolfram Graubner betonte, dass im
Handwerk Techniken und Vorgehensweisen zum Umgang mit Toleranzen entwickelt wurden.293
Die determinierte Fertigung dagegen bietet nicht nur eine sehr hohe Genauigkeit, sondern fordert
sie auch.294 Hier sind durchweg absolute Masse vorgegeben. In fragmentierten Prozessen, wo
die Verantwortung von der Ausführung weg verlagert wird, sind sie sinnvoll oder unumgänglich.
Insofern ist die CNC-Fräse in erster Linie ein Werkzeug, um das Einhalten der absoluten Masse
als Kommunikationsmittel von «Informationen vom nicht-physischen 3-D-Modell ins physische
Material»295 zu gewährleisten.
293
Graubner, W. (2014, April 11). Wolfram Graubner im Gespräch mit U. Herres.
294
Martin Antemann hob in diesem Zusammenhang hervor, dass es für den (determinierten) Prozess am
besten ist, wenn keine Techniken mit verschiedenen Toleranzen gemischt werden. Insofern machen für ihn auch
die Holz-in-Holz-Verbindungen des Tamedia-Gebäudes Sinn. Da alle Bauteile durch die CNC-Fräse gehen, gelten
für alle dieselben Toleranzen. Bereits bei Stahl-Formteilen wäre das nicht mehr der Fall.
295
Antemann 2015.
187
Beim Tamedia-Gebäude sind absolute Masse überall entscheidend; die Steckverbindungen
sind nach Plan ‹absolut passgenau› auszuführen, in der Praxis konnte durch Ausnutzen
verschiedener Lastfälle bei Einbau und im Endzustand ein zum Einbauen notwendiges Spiel
von vier Millimetern erreicht werden.296 Die hier angewandten Fertigungstechniken und die
Berechnungsmethoden benötigen durchweg absolute Masse. Der Austauschbau erlaubte
eine Fertigung der Bauteile unabhängig voneinander. Die Information über die Geometrie
wurde direkt von deren numerischer Definition im Computer per CNC-Fräse auf das Material
übertragen, während bei der Bauweise des Spittelfritzenhauses die endgültigen Geometrien von
den Ausführenden bestimmt wurden.
Techniken zum Ausgleich des Arbeitens – wie Ausdehnungsräume oder ‹schwimmende›
Befestigungen – sind in allen anderen Fertigungsweisen möglich. Beim Tamedia-Gebäude sind
das vor allem Arbeitsfugen, die durch dauerelastische Dichtungsmittel Bewegungen innerhalb
der Konstruktion kompensieren können. Dies betrifft in erster Linie die unterschiedlichen
Bewegungen der Bauteile und ist minimal.297 Die Wichtigkeit absoluter Masse im Austauschbau
unterstützt die Fixierung auf homogenisierte und nicht mehr arbeitende Materialien bei
fragmentierten Prozessen.
Material-Effizienz
An den Fallbeispielen lässt sich eine induktive von einer deduktiven Materialeffizienz
unterscheiden. Letztere erfordert eine Homogenisierung des Materials. Beide Arten kommen bei
den Fallbeispielen in Kombination vor, allerdings mit stark unterschiedlicher Gewichtung.
Beim Tamedia-Gebäude wurden die erforderlichen Querschnitte der Konstruktionshölzer
statisch berechnet und mit den entsprechenden Sicherheiten versehen.298 Zuerst wurden also
die notwendigen Materialeigenschaften bestimmt. Danach konnte das Material selbst daran
angepasst beziehungsweise sogar hergestellt werden. Das Ausnutzen des berechneten, optimalen
Bauteilquerschnittes bedeutet eine deduktive Materialeffizienz, die vom Ergebnis ausgedacht
ist.
Die Berechenbarkeit erfordert dabei eine Homogenisierung des Materials. Es wird in
Mittelwerten gerechnet oder die Eigenschaften der Hölzer an einen Durchschnittswert
296
Ebd.
297
Ein Beispiel sind mit dauerelastischem Brandschutzkitt ausgefüllte Fugen.
298
Ein wichtiger bestimmender Faktor ist der Brandschutz: Die Bauteile sind so überdimensioniert, dass
ein Querschnittsverlust durch Abbrand über einen genau definierten Zeitraum nicht zum Kollaps der Tragstruktur
führt.
188
angeglichen. Durch Halbzeuge wie Holzwerkstoffplatten werden die Eigenschaften des Holzes
«klassifizierbar, normierbar und berechenbar (...)»299. So können Bauteile mit Eigenschaften
und Dimensionen entstehen, die sich von denen des nicht homogenisierten Holzes stark
unterscheiden.
Innerhalb einer Holzart können je nach Wuchs, Trocknung, Faserverlauf oder Einschnitt grosse
Unterschiede zwischen individuellen Stämmen bestehen. Homogenisierung bedeutet zuerst
ein Aufteilen des Holzes in kleinere Einheiten wie Furniere oder Lamellen. Werden diese
Einheiten neu zusammengeleimt, gleichen sich ihre abweichenden Qualitäten aus. Dabei wird
der Verbrauch von Ressourcen (an Energie und Material) in die Rohstoffaufbereitung und die
Homogenisierungsprozesse ausgelagert.
Auch beim Hochstudhaus in Birrwil ist diese deduktive Materialeffizienz erkennbar. Hier
wurde vor allem mit der Materialauswahl gearbeitet. Die Rofen des ursprünglichen Strohdaches
bestanden aus sehr dünnen, minimal bearbeiteten Rundhölzern ohne Mittelpfetten (diese wurden
erst mit der Ziegeldeckung ergänzt).300 Die erforderlichen Mindestquerschnitte wurden nach
empirischen Erfahrungswerten festgelegt und nicht berechnet – und offenbar aus Sparsamkeit
eher dünn dimensioniert.
Bei diesem Gebäude kommt jedoch noch ein anderes Prinzip vor. Hier wurde das vorhandene
Material nach Eignung eingesetzt und möglichst vollständig verbraucht. Die individuelle
Reaktion auf konkrete Materialien erlaubt, auch nach oben oder unten abweichende Qualitäten
auszunutzen und je nach Eignung angemessen einzusetzen.
Diese induktive Materialeffizienz geht vom Vorhandenen selbst aus. Die Eigenschaften des
Materials werden eingeschätzt und danach die Konstruktion endgültig konzipiert. Einleuchtendes
Beispiel ist das Nutzen von krumm gewachsenem Holz für ebensolche Bauteile.301 Da der
Faserverlauf der Geometrie folgt, sind solche Bauteile sehr viel stabiler als aus gerade
gewachsenen Stämmen geschnittene Kurven.302 Auch Äste können so vermieden oder sogar
299
Schindler 2008, S. 224.
300
Fasolin und Rauch beschrieben für die sehr ähnliche Dachkonstruktion der Hotzenhäuser des südlichen
Schwarzwaldes, dass deren Rofen so dünn bemessen waren, dass sie sich unter Schneelast stark durchbogen und
daher am unteren Auflager, in der Art eines Gleitlagers, nicht befestigt waren (Fasolin, Rauch 2010).
301
Krummgewachsene Stämme aus Hanglage wurden nach Aussage von Zimmerer Yves Dusseiller
beispielsweise für Wangen von gewendelten Treppen verwendet.
302
Bei den hohen Anforderungen des Bootsbaus kann die genaue Differenzierung individueller
Hölzer essenziell sein. Wegen der besonders starken und teils dynamischen Belastungen sind im Bootsbau
Konstruktionsprinzipien oft sehr viel anschaulicher ablesbar als beim Bauen, auch wenn die selben Prinzipien
gelten.
189
im Sinne der Konstruktion ausgenutzt werden. Auch konnten hier minderwertige oder dünnere
Hölzer an weniger sichtbaren oder weniger belasteten Orten eingesetzt und das vorhandene
Material möglichst vollständig verwertet werden.
Die induktive Materialeffizienz ist dem iterativen, handwerklichen Prozess naturgemäss
näher. Werden im handwerklichen Prozess die vorhandenen Qualitäten gezielt ausgenutzt,
so müssen sie im fragmentierten Prozess aktiv und unter Einsatz von Ressourcen hergestellt
werden. Der durch iterative Prozesse mögliche induktive Umgang mit dem Material erlaubt das
ressourcenschonende Wiederverwenden von Materialien und Bauteilen, wie es im traditionellen
Zimmern die Regel war.
Effizienz im Prozess
Auch in Bezug auf die Arbeit selbst können handwerkliche Prozesse effizient sein.
Neben der Materialeffizienz kann ein handwerklicher Prozess auch im Bezug auf die Arbeit
selbst eine effiziente Alternative darstellen. Dies gilt besonders für Reparaturen oder Recycling.
In einem fragmentierten Prozess müsste die entsprechende Situation zuerst aufgenommen,
evaluiert und in die Planung abstrahiert werden. Dann müssten die entsprechenden (normierten)
Rahmenbedingungen geschaffen werden, um den Prozess wieder zu konkretisierten. Da das
Material bei handwerklicher Arbeit ohnehin während der Bearbeitung evaluiert wird und in
Echtzeit darauf reagiert wird, können diese Schritte bei handwerklicher Fertigung entfallen. 303 Es
ist daher naheliegend, dass die Reparaturen auch in einem fragmentierten Prozess wie dem Bau
des Tamedia-Gebäudes als handwerkliche Arbeitsschritte ausgeführt wurden.
303
Zimmermeister T. Gindhard berichtet davon, dass oft das Herstellen von Kerven mit Handkreissäge (für
den stumpfen Winkel) und Axt (zum Wegschlagen des spitzen Winkels) schneller war, als ‹die Kervenfräse aus
dem Auto zu holen und einzustellen› (Gindhard 2014).
Diese eichene Knagge, die
eine Mittelpfette halten soll, ist
in die Bundstrebe eingezapft.
Damit sie bei Rissen nicht
vollständig spaltet, wurde
bewusst ein Astknoten
ausgewählt; dies ist der Fall
bei allen acht Knaggen an
diesem Dachstuhl.
190
Determinierte Fertigung verlagert Arbeitszeit und Wissen von der Ausführung weg in die
Vorbereitung und braucht meistens mehr und komplexere Werkzeuge. Darüber hinaus bedeutet
diese Verlagerung auch eine Verschiebung von Personal von der Ausführung in die Planung.304
Handwerkliche Prozesse können insofern effizient sein, als dass das Beurteilen des Materials
und die daraus resultierenden Entscheidungen direkt in die Ausführung integriert sind, ohne dass
Mehraufwand für Aufnahme, Planung und Qualitätskontrolle erforderlich ist.
Hinzu kommt, dass der Investitionsaufwand für Maschinen und den Aufbau von Systemen
sehr viel geringer bleiben kann.305 Das Hochstudhaus konnte mit einer geringen Bandbreite
relativ einfacher Werkzeuge und entsprechend hohem Stundenaufwand hergestellt werden.
Der Stundenaufwand bei einem der anderen Fallbeispiele war sicher sehr viel geringer, jedoch
sind die notwendigen Investitionen und der nötige Energie- und Ressourcenverbrauch für die
eingesetzten Maschinen und die Aufbereitung des Materials in einen Vergleich der Effizienz
einzubeziehen.
Die Verwendung traditioneller Typologien stellt ebenfalls eine Massnahme zur
Effizienzsteigerung dar. Der Planungsaufwand für das Hochstudhaus konnte sehr gering
gehalten werden und beschränkte sich auf die Organisation und die Anpassung der Typologie
auf den konkreten Einzelfall, was praktisch während des Bauprozesses geschehen konnte. Die
Planungsleistung war in der Typologie bereits weitgehend vorhanden.
Die Effizienz handwerklicher Arbeitsschritte selbst hängt daher direkt mit dem expliziten und
impliziten Wissen der Ausführenden zusammen. Je weniger Werkzeuge und Techniken zur
Anwendung kommen, desto mehr Erfahrung haben die Ausführenden damit. Dies steigert die
Effizienz und führt zu einer Reduktion statt Diversifikation der Mittel. Im Zweifel kann eine
vertraute Technik einer vielleicht besser geeigneten vorgezogen werden, da mit dem Wechsel
der Techniken auch das effizienzsteigernde Können verloren ginge.306 Die geringe Anzahl
304
Davon berichtete Egon Bumann, Geschäftsleiter der Holzbau AG in Mörel, welche den Holzbau der
neuen Monte-Rosa-Hütte ausgeführt hatte. Wo im Handabbund früher fünf Personen tätig waren, arbeitet heute
eine Person an der CNC-Abbundanlage. Dafür sind in seinem Betrieb heute von 50 Personen 12 mit der Planung
im Büro beschäftigt (Bumann 2016).
305
Martin Antemann nannte ein Beispiel, bei dem wegen der hohen Investitionskosten der Maschinen das
individuelle manuelle Ablängen nach Holzliste auf einer manuell bedienten Kappsäge kostengünstiger war als das
sehr effiziente Zuschneiden per CNC-Anlage (Antemann 2015).
306
Das bedeutet nicht unbedingt Konservatismus. Im Gespräch mit dem Verfasser berichtete ein Chirurg,
dass in Kliniken oft die Einführung völlig neuer Techniken verzögert erfolgt, da deren Vorteile manchmal dadurch
zunichte gemacht werden, dass das Team in den alten Techniken eingespielt ist und diese daher effizienter/
besser funktionieren als die technisch eigentlich überlegenen, neuen Techniken. Hierzu auch Reith 1998, S.
34: «Häufig wurde im übrigen auch die Produktivität solcher [effizienzsteigernder] Innovationen überschätzt,
und (wie z. B. bei der Bandmühle oder dem Schnellschützen) aus der geringen Diffusionsgeschwindigkeit auf
Technikfeindschaft geschlossen.» Eine Veränderung der Technik bedeutet auch potentiell eine Verringerung der
191
Werkzeuge wird durch möglichst grosse Anwendungstiefe ausgeglichen.
Die benötigten Fertigkeiten für die einzelnen Werkzeuge einer ‹Gattung› (Äxte, Sägen, Hobel,
Stemmzeug) sind jeweils sehr ähnlich oder gleich. Das bedeutet ein möglichst breites Ausnutzen
der einmal gelernten Techniken und damit effizientes Arbeiten, indem ein konsequentes Vertiefen
der Techniken möglich ist.
Induktiver vs. deduktiver Prozess
Handwerkliche, iterative Prozesse sind induktiv. Fragmentierte Prozesse sind deduktiv.
Der im Handwerk mögliche iterative Prozess ist induktiv. Da die einzelnen Schritte aufeinander
aufbauen, ist der Ausgangspunkt des Prozesses von grosser Wichtigkeit. Das Hochstudhaus
zeigt dies schon in der Ausformulierung der Konstruktion: Mit den grossen erforderlichen
Holzlängen für die Hochstude und die Geschossbauweise sowie der erforderlichen Elastizität der
auf Gleitlagern liegenden Sparren wurde die Konstruktion direkt aus dem regional verfügbaren
Nadelholz entwickelt. In Eichenholz wäre sie praktisch undenkbar, da dieses viel schwieriger in
langen, geraden Stücken verfügbar und auch spröder ist.
Nicht nur die Entwicklung der Typologie geschieht ausgehend von den Gegebenheiten. Material,
Fertigungsweisen und das zur Verfügung stehende Wissen bestimmen deren Entwicklung. Auch
die Anpassungen der Typologie an den Einzelfall werden durch die verfügbaren Ressourcen
mitbestimmt. Das Material bildet die Basis für die Konzeption des Gesamtgefüges. Das Konkrete
bildet die Ausgangslage für das Ganze.
Umgekehrt sind die fragmentierten Prozesse des Tamedia-Gebäudes und der neuen MonteRosa-Hütte im Grunde deduktiv. Am Anfang steht das gewünschte Ergebnis in Form einer
Geometrie des Gebäudes oder einer bestimmten Konstruktion. Anschliessend werden in Hinblick
auf dieses Ziel die entsprechenden Materialien homogenisiert und zu Halbzeugen verarbeitet
sowie gegebenenfalls Fertigungsweisen und Techniken ausgewählt. Das Ergebnis bildet die
Ausgangslage für das Detail.
Dabei kann in beiden Fällen das jeweils andere Ende des Spektrums nicht völlig ausgeblendet
werden. Beim Hochstudhaus ist das Ziel durch die gewünschte Typologie mit Freiräumen
in der absoluten Gestalt vorgegeben. Umgekehrt mussten beim Tamedia-Gebäude auch
die Möglichkeiten heutiger Holzwerkstoffe mitgedacht werden. Der Unterschied zwischen
Deduktion und Induktion der beiden Prozessarten ist nicht absolut, sondern beschreibt einen
grundsätzlichen Unterschied der Geisteshaltung.
Effizienz durch den Verlust an erprobtem Können.
192
Pragmatik
Teil der handwerklichen Haltung ist eine Pragmatik, die eine Arbeit auf dem Wege des geringsten
Widerstandes ausführt. Die Einschätzung der Angemessenheit bedeutet manchmal, Lösungen
für Probleme pragmatisch zu lösen, auch wenn diese in der Denkweise eines architektonischen
Konzeptes nicht völlig konsequent wären.
Ein Beispiel ist ein stumpfer Stoss in den Unterzügen im Erdgeschoss des Ferienheims
Büttenhardt. Da hier innerhalb der ausgebohrten Träger ein stählerner Zugstab verläuft, ist
diese Lösung technisch und im Sinne der tatsächlich angewandten Technik konsequent. Sie
wiederspricht jedoch dem gewünschten architektonischen Ausdruck des Tragens und Lastens und
der Referenz auf klassisches Zimmererhandwerk.
Bei der Totenstube ist eine ähnliche Abweichung zwischen tatsächlicher Fertigung und
gesuchtem Ausdruck die Decke über dem Untergeschoss, die unsichtbar an einem Überzug im
Dachraum aufgehängt ist. Graubner schliesslich integrierte bewusst minimale Inkonsequenzen in
die Gestaltung des Hotzenhauses, um «Prinzipienreiterei»307 zu umgehen.
Solche aus Pragmatik gewachsenen kleinen Inkonsequenzen entstammen direkt der
handwerklichen Prägung, auch wenn sie im einzelnen Falle der als handwerklich angesehenen
Ausdruck widersprechen. Tatsächlich waren alle Architekten der betreffenden Bauten im
Handwerk ausgebildet.308
Strategien: Prozessvorgabe mit Unschärfe
Handwerkliche, iterative Prozesse können relative Zielvorgaben machen. Im Unterschied zur
absoluten Zielvorgabe fragmentierter Prozesse erzeugen diese Unschärfen im Ergebnis, die
durchaus gewünscht sein können.
Manche Objekteigenschaften entziehen sich einer genauen geometrischen Definition. Das
Computermodell des Ferienheims Büttenhardt zeigt keine Bearbeitungsspuren. Der Plan als
Abstraktion blendet die Ebene der Spuren wie die der Texturen weitgehend aus. Es wäre möglich,
nach demselben Plan oder Modell unterschiedliche Gebäude zu erstellen, ob in geometrischer
Perfektion oder in sehr freier Umsetzung. Wenn der Entwurf auch auf diesen Bereich des
Bauwerks Einfluss nehmen will, sind entsprechende Strategien notwendig.
307
Graubner 1986, S. 26.
308
Roland Bernath (Ferienheim Büttenhardt) ist ebenso wie Wolfram Graubner (Hotzenhaus) ausgebildeter
Zimmerer, Gion Caminada (Totenstube) hat eine Bauschreinerlehre.
193
Beim fragmentierten Prozess erfolgt eine absolute Zielvorgabe. Vorgegeben wird ein geometrisch
und gestalterisch genau definiertes Ziel für jeden Arbeitsschritt und für das gesamte Gebäude.
Der Erfolg des Prozesses hängt davon ab, ob es komplett im Plan oder Computermodell
vorweggenommen wird, um die Ausführung danach auf das Modell zu referenzieren.
Abweichungen zwischen Soll und Ist sind nicht zulässig. Beim Tamedia-Gebäude und der neuen
Monte-Rosa-Hütte ist diese Art des Prozesses weit fortgeschritten.
Eine andere Möglichkeit ist die relative Zielvorgabe. Hier wird das Ziel im Prinzip vorgegeben,
allerdings ist es nicht bis ins Kleinste hinein determiniert. Der Fokus liegt auf der Bestimmung
des Weges, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Das genaue ‹Wie› wird wiederum den Ausführenden
überlassen, es wird also Verantwortung übertragen.
Graubner bestimmte für die Ausführung des Hotzenhauses an vielen Stellen handwerkliche
Arbeitsschritte, deren Ergebnisse in der Planung nicht völlig vorweggenommen wurden:
Niemand konnte vorher das während des Verlegens entstandene Muster der Bodenplatten,
niemand die genaue Geometrie der minimalen Unregelmässigkeiten des Putzes festlegen.
Da diese Schritte in einen handwerklichen Prozess eingebunden waren, konnten sich darauf
aufbauende Schritte ohne Mehraufwand an diese Unschärfen anpassen.
Beim Ferienheim Büttenhardt gab es keinen rein handwerklichen Prozess. Die Elemente mussten
wie beim Tamedia-Gebäude genauestens die im Computermodell festgelegten Masse einhalten.
Geometrische Unschärfen waren nicht uneingeschränkt möglich, wurden aber an bestimmten
Stellen gezielt eingesetzt. Das Bearbeiten der Splintkanten mit der Axt war gut möglich, während
bei den Elementstössen absolute Masse nötig waren. Relative Masse mussten bewusst gesucht
und sehr gezielt in den Prozess eingebettet werden. Hier wurden handwerkliche Arbeitsschritte
bewusst dort integriert, wo es auch technisch sinnvoll war und sie nicht mit absoluten
Geometrieansprüchen kollidierten.
Dieses Vorgehen bedeutet Freiräume für die Ausführenden und auch, dass die Kontrolle über
das geometrische Endergebnis von den Architekten ein Stück weit abgegeben oder geteilt
wird, um wiederum einen bestimmten Ausdruck zu erreichen. Ein solcher Prozess ist teilweise
ergebnisoffen. Die Geometrie kann nicht mit absoluter Perfektion eingefordert werden, und
gerade diese minimen Abweichungen beeinflussen die Erscheinung des Bauwerks. Die aus dem
iterativen Prozess entstehende Relativität ist am physischen Ergebnis ablesbar.
Auf diese Weise konnten einige Fallbeispiele einen handwerklichen Ausdruck hervorrufen, der
nahe an den geometrischen Unschärfen vorindustrieller Häuser ist. Der abstraktere Ausdruck,
194
der am Gebäude durch determinierte Fertigungsschritte entstehen kann, wurde durch den
strategischen Einsatz der handwerklichen Fertigungsweise und des handwerklichen Prozesses
kompensiert.
Totenstube: Detail über der oberen Türe, Sockeldetail
195
3. Synthese: Eigenheiten handwerklicher
Bauwerke
Handwerkliche Fertigung führt nicht zwangsläufig zu bestimmten Spuren oder Eigenheiten eines
Gebäudes, aber sie ermöglicht oder erleichtert deren Entstehen.
Physische Eigenschaften
Diese Eigenschaften können durch die Fertigung entstehen und sind objektiv am Bauwerk
unterscheidbar.
Potentielle Eigenschaften der Konstruktion
Handwerkliche Fertigung kann langlebige und resiliente Gebäude hervorbringen. Dies kann im
handwerklichen Ethos enthalten sein. Technische Gründe sind die induktive Materialeffizienz, die
nicht-optimierte redundante und statisch unbestimmte Konstruktion sowie die Reparierbarkeit,
die aus der Entwicklung der traditionellen Typologien herrühren.
Auf einer grundlegenden Ebene kann eine handwerkliche Prägung die Langlebigkeit der
zu fertigenden Objekte als Kriterium zur Bewertung der Arbeit etablieren. Die persönliche
Erfahrung anstrengender Arbeit verändert zwangsläufig die Wertschätzung der hergestellten
Objekte. Je länger deren Lebensdauer, desto eher lohnt sich die anstrengende Arbeit. In einem
solchen Fall wird das Streben nach langlebigen Erzeugnissen der Arbeit zu einem Teil des
Ethos. Für Pye ist diese Auffassung selbstverständlich: «There is a question of morale involved.
A world with everything ephemeral would not be worth working for. There are overwhelming
social and aesthetic arguments for durability in certain things even if, as we are told, there are no
economic ones.»309 Auch für Graubner war die Langlebigkeit des Hotzenhauses klares Ziel. Im
Zusammenhang mit den langen Beobachtungszeiträumen traditioneller Typologien wurde bereits
darauf eingegangen, dass die Lebensdauer von Konstruktionen in deren Beurteilung einfliessen
kann. Dies ist nur möglich, wenn ein Ethos existiert, wofür die Übernahme von Verantwortung
durch die Ausführenden unabdingbar ist.
Unabhängig davon, woher die Motivation kommt, ermöglicht handwerkliche Fertigung
auch durch praktische Rahmenbedingungen langlebige Bauten. Manche Faktoren,
welche die Langlebigkeit eines Bauwerkes bestimmen, entstehen nicht direkt durch
handwerkliche Fertigung, sondern durch die handwerkliche, empirische Entwicklung von
Konstruktionstypologien.
309
196
Pye 1968, S. 83.
Handwerkliche Arbeitsschritte erlauben die oben beschriebene induktive Materialeffizienz,
also das individuelle Ausnutzen der Qualitäten des vorliegenden Materials. Auf der Ebene der
Konstruktion sind die Hölzer im handwerklichen Zimmern oft überdimensioniert im Bezug auf
die tatsächlich vorkommende Belastung. Das liegt einerseits daran, dass die Dimensionierung auf
empirischen Erfahrungen statt auf genauen Berechnungen beruht. Andererseits bestimmt nicht die
Tragfähigkeit, sondern der Knoten die Holzdimensionen. Hier wird der Querschnitt geschwächt,
weswegen die Hölzer ausserhalb der Knoten oft eigentlich zu stark sind. Diese Ansicht kann
insofern eingeschränkt werden, als zugbelastete Hölzer zwar oft tatsächlich überdimensioniert
sind, da sie wie eine Kette nur so stark sind wie der schwächste Querschnitt. Hingegen treten
solche Bauteile bei handwerklichen Zimmererkonstruktionen nur sehr untergeordnet auf.310 Bei
auf Druck und Biegung belasteten Balken hingegen sind die Biegemomente dort am grössten – in
Feldmitte – wo auch das meiste Material vorhanden ist.
Die sehr langen Hochstude des Birrwiler Hauses sind an den Kreuzungspunkten mit den
Dachbalken stark geschwächt. Zugleich sind sie gerade hier aber gegen Ausknicken ausgesteift.
Im Städtebau wird vermehrt der Begriff der Resilienz verwendet, der ursprünglich aus der
Psychologie stammt. Er bezeichnet die Fähigkeit von Systemen, bei Störungen von Aussen
die «Systemfunktionen aufrechtzuerhalten»311. Auf die Konstruktion übertragen beschreibt
der Begriff eine hohe Fehlertoleranz. Qualitativ optimiertes Material und überdimensionierte
Konstruktionen bedeuten Sicherheiten im Falle von Schwächungen durch äussere Einflüsse.
Die Überdimensionierung macht die Konstruktion resilient gegen Schäden. Hinzu kommt,
dass viele handwerkliche, empirisch entwickelte Konstruktionen nicht nur überdimensioniert,
sondern statisch unbestimmt sind: Die Aufgaben einzelner Bauteile sind nicht eindeutig in Zug-,
Druck- oder Momentenbelastung einzuordnen. Ein und dasselbe Bauteil kann je nach Setzungen,
Holzbewegungen und Lastfall nach unterschiedlichen Prinzipien funktionieren.312
Knotenpunkte sind manchmal nicht völlig biegesteif, ohne direkte Gelenke darzustellen.
Dadurch kann bei einem Schaden der Fall eintreten, dass benachbarte Bauteile die Aufgaben des
beschädigten aufnehmen, wodurch sich das komplette Tragsystem ändern kann.313 Spannungen
310
Vgl. Mönck, Erler 2004, S. 25.
311
Vgl. Kegler 2014, S. 19.: Kegler benutzt die von Gerstengarbe, Welzer 2013 aufgestellte Definition.
312
David Yeomans hat am Beispiel eines englischen Fachwerkhauses dargelegt, welche verschiedenen
Lastfälle bereits durch minimale Deformationen im Holz einer Fachwerkkonstruktion möglich sind. (Yeomans
2003.)
313
Beim Abbruch oder bei der Begutachtung von teilweise zerstörten gezimmerten Konstruktionen
überrascht oft die hohe Reststabilität selbst beim Fehlen wichtiger Konstruktionselemente. Ich habe z. B. einen
liegenden Pfettendachstuhl besichtigt, bei dem trotz durchgesägtem Spannriegel zwischen den Stuhlsäulen
weder Schäden noch Deformationen aufgetreten sind. Die Aufgabe des Spannriegels wurde offensichtlich vom
schwächeren, darüber liegenden Kehlbalken übernommen.
197
können innerhalb der Konstruktion abgefedert werden. Auch diese Redundanzen können zur
Langlebigkeit der Konstruktion beitragen.
Das Hochstudhaus von Birrwil steht seit mehreren Jahrzehnten leer und weist einige Schäden
auf, darunter Feuchteschäden, aktiven Befall durch tierische Holzschädlinge und Schwächungen
durch Umbauten. Dennoch ist die Konstruktion in ihrer Integrität einsatzfähig geblieben.
Das Streben nach einem effizienten Einsatz von Ressourcen im Handwerk und die langen
Beobachtungszeiträume bei der empirischen Entwicklung von Konstruktionen können bedeuten,
dass Reparierbarkeit als Faktor in die Entwicklung der Konstruktionen einfliesst. Dass
Reparaturen die Regel waren, belegen «spätestens im 17. und 18. Jahrhundert»314 entwickelte
Reparatursysteme und -verbindungen, wie sie Gerner beschreibt. Auch die für manche Bauten
belegte Mobilität ermöglicht die Demontage, dadurch auch den Austausch von Bauteilen.315
Beim Hochstudhaus gibt es eine starke Hierarchisierung der Bauteile nach deren Gefährdung. An
exponierten Stellen wurden leicht ersetzbare ‹Opferbauteile› eingesetzt, welche die eigentliche
Konstruktion schützen.316 Ziel ist die Langlebigkeit des Gesamtsystems.
314
Gerner 2003, S. 51.
315
Die durchweg einige Zentimeter mit der Spitze herausragenden Holznägel erlaubten dem Verfasser bei
der Reparatur eines Dachstuhles auch nach 250 Jahren das problemlose Ausbauen der beschädigten Bauteile. Die
Nägel konnten von hinten herausgeschlagen und dann von vorne gezogen werden. Zimmerer und Restaurator
Thomas Gindhard teilte die Ansicht, dass die Spitzen der Holznägel auch aus diesem Grunde nicht gekürzt
wurden (Gindhard 2014).
316
Das grösste ‹Opferbauteil› war das ursprüngliche Strohdach, das eine geringe Lebensdauer hatte, aber
leicht auszutauschen war.
Links: Die Anstrengung des eigenen Erlebens verändert die Einstellung gegenüber dem
gefertigten Objekt. Rechts: Das ‹Schiefe Haus› in Ulm zeigt die Resilienz empirischer
Konstruktionstypologien.
198
Formale Möglichkeiten handwerklicher Gebäude
Handwerkliche Fertigung kann eine ‹geometrische Unschärfe› am Bauwerk erzeugen, welche
die Relativität der Prozesse spiegelt. Aus Spuren des iterativen Prozesses kann ein organischer
(statt additiver) Ausdruck entstehen. Dieser hat eine ‹ästhetische Fehlertoleranz›. Viele formale
Merkmale sind in der Entstehung mehrdeutig und sowohl technisch wie ästhetisch begründet.
Das Ideal kann mit dem altgriechischen Schönheitsbegriff καλός beschrieben werden.
Durch handwerkliche Fertigung kann eine geometrische Unschärfe entstehen. Sie bezeichnet
die objektiv feststellbare Abweichung von einem abstrakten Idealzustand, wie einer geraden
Linie oder einer perfekt planen Fläche. Sie ist die physische Folge der freien Umsetzung einer
Vorgabe, die Pye mit ‹free workmanship› bezeichnete.
Handwerkliche Prozesse können mit dieser freien Umsetzung einer Vorgabe umgehen. Im
Hochstudhaus von Birrwil wurden Unterschiede in den Abständen der Wandständer oder deren
Dicke innerhalb des schrittweisen, handwerklichen Vorgehens ohne Mehraufwand ausgeglichen.
Auf dem Massstab des gesamten Bauwerks spiegelt diese Unschärfe die Relativität des
Prozesses. Sie entsteht aus den Abweichungen von einer absoluten Geometrie, welche der
iterative handwerkliche Prozess erlaubt. Die Übereinstimmung mit absoluten Vorgaben sind
auf das Notwendige beschränkt, zum Beispiel die Bundseite, die Knoten oder bestimmte
festgelegte Masse. Die Unschärfen können ein dichtes Netz darstellen und die komplette
Konstruktion überziehen wie beim untersuchten Hochstudhaus. Sie können aber auch punktuell
und sehr gezielt eingesetzt sein wie bei den unregelmässigen Splintkanten der Deckenbalken
in Büttenhardt. Jede kleine Reaktion auf die vorgefundene Situation und jede Anpassung an
spezifisches Material kann eine ablesbare geometrische Unschärfe am Bauwerk erzeugen.
Insgesamt kann so eine grosse Komplexität entstehen, während die Bauteile gleichzeitig als Teil
eines Ganzen erkennbar bleiben.
Die erkennbare Einordnung einzelner Bauteile in die Struktur der gesamten Konstruktion kann
als organisches Bild ablesbar sein.317
Das Gegenstück dazu ist ein additives Bild. Determinierte Arbeitsschritte ermöglichen den
Austauschbau, also das Herstellen von Bauteilen unabhängig voneinander und deren späteres
Zusammenpassen. Das Treppengeländer in Büttenhardt ist ein Beispiel hierfür. An den Stössen
sind die Hölzer gefast, um die Kanten vor Schäden zu schützen. Wären sie ohne Fase gestossen,
würde sich jede kleine Ungenauigkeit der Passung am fertigen Objekt zeigen. Die Fase ist also
auch eine Massnahme, potentielle Schwächen der determinierten Fertigung auszugleichen.
317
Duden: „organisch: (…) 4. (bildungssprachlich) [mit etwas anderem] eine Einheit bildend; sich
harmonisch in ein größeres Ganzes einfügend“.
199
Bei handwerklicher Fertigung würde man damit umgehen, indem beide Bauteile nach dem
Zusammenbau noch einmal geputzt würden, um so eventuelle Absätze zu entfernen.
Solche Fasen finden sich in Büttenhardt wie beim Hotzenhaus auch an den Ausfachungsbohlen
der Fassaden. Meist werden sie im Hobelwerk im selben Arbeitsgang wie die Profilierung
angebracht. Diese Details entstammen der Logik fragmentierter Prozesse, in der jedes
Zwischenergebnis als abgeschlossen betrachtet wird. Sie erzeugen ein additives Bild; die
einzelnen Bauteile sind auch am fertigen Bauwerk als solche sichtbar. Beim Hochstudhaus
hingegen sind die Ausfachungsbohlen nicht gefast; die Stösse verschwinden beinahe, die Bohlen
wirken als eine Fläche.
Im Uhrzeigersinn:Die Bauteile der Treppe in Büttenhardt sind einzeln gefertigt und gefast. /
Bei diesem Detail im Stall (!) des Hochstudhauses ist die Fase unten mit einer kleinen Kante an
der Säule überdeckt. / Die ungleichen Brüstungsstaketen im Hotzenhaus kommen aus effizienter
Materialausnutzung und bewirken geometrische Unschärfe.
200
Die beschriebenen Unschärfen können den Effekt haben, dass auch auf einer formalen Ebene eine
gewisse Fehlertoleranz entsteht. Je gleichförmiger und geometrisch bestimmter ein Gebäude
ist, desto auffälliger werden Schäden. In einem von Masshaltigkeit und geometrischer Perfektion
geprägten Kontext wie beim Tamedia-Gebäude fallen die Reparaturen, obwohl sie sehr sorgfältig
gemacht sind, viel eher auf als bei den anderen Bauten. Hier ist ausserdem klar erkennbar, dass
sie dem gewünschten Ausdruck widersprechen.
Beim Hochstudhaus in Birrwil kombinieren sich Materialtexturen, Bearbeitungsspuren und
Alterung. Durch die stillschweigende Strategie, flächendeckend Spuren zu lassen, können
sich einzelne Fehler oder Schäden unter deren Vielzahl verlieren. Auch bei der Totenstube,
in Büttenhardt und beim Hotzenhaus gibt es sehr kleine Schäden oder Stellen, die in einem
homogeneren Kontext als solche auffallen würden wie Risse, klaffende Fugen oder leichte
geometrische Abweichungen. Im Kontext der Gebäude fallen sie aber entweder nicht auf oder
werden nicht als Fehler wahrgenommen.
Ein Bauwerk, das einen Ausdruck der handwerklichen Fertigung trägt, ‹toleriert› auch deshalb
Reparaturen, weil diese integral zum Konzept gehören.
Bei vielen Details verschwimmt die Grenze zwischen Funktion und Ornament. Beispiele am
Hotzenhaus sind eine oktogonale Holzplatte am Kreuzungspunkt der Türfriese, die kleine
konkave Holzscheibe am Kreuzungspunkt der Fenstersprossen oder die gedrechselten Staketen
der hölzernen Brüstungen in der Halle 318. Solche Mehrdeutigkeiten sind beim Hochstudhaus
ebenfalls zu finden. Analog zur schon beschriebenen statischen Unbestimmtheit existiert auch
eine solche der Aufgaben der Bauteile und der Details. Die geschwungen profilierten Büge
stützen einerseits den enormen Dachüberstand, sind andererseits aber wichtige Gliederungs- und
Schmuckelemente der Fassaden. Konstruktionshölzer der Fassade werden um die Öffnungen
herum zu Tür- und Fenstergewänden, die durch entsprechende Behandlung wie durch Fasen
betont werden. Die Fasen selbst schützen einerseits die Kanten, sind aber durch die konkav
abgesetzten Enden auch Schmuck.
Die handwerkliche Denkweise behandelt formale und technische Fragen und solche der
Bedeutung prinzipiell gleichwertig. Im angestrebten Ideal sind ästhetische Fragen nicht
von Technisch-Pragmatischen zu trennen: Schönheit ist nicht getrennt von Funktion. Im
Altgriechischen vereint das Wort καλός ‹schön› die physische Schönheit, die funktionale Eignung
318
Im Laufe der Entwicklung einer Typologie können sich ursprünglich technisch bedingte Formen
verselbständigen und zu einer formalen Konvention werden. Ein Beispiel sind geschwungene Formen im
Bootsbau. Solche Formen verhindern das Auftreten von Punktlasten und Kerbwirkung vor allem bei dynamischer
Belastung. Sie werden aber auch an Stellen angewandt, an denen eine solche Formensprache keinen technischen
Sinn erfüllt; sie werden zu einem Element einer bestimmten Formensprache, die mit dem Ausdruck der
Herstellung verknüpft ist.
201
für einen Zweck, aber auch eine moralische Schönheit im Sinne von ‹edel, moralisch schön›
. Dies zeigt sich am Gebäude in einer Mehrdeutigkeit von Formen und Entscheidungen und
319
unterstützt den Eindruck des organischen Ganzen.
Diversität
Der Begriff ‹Diversität›, der auf David Pye zurückgeht, beschreibt eine objektive Eigenschaft
des Gebäudes, die aus der Fertigung entstehen kann. Dies war beim Hochstudhaus in Birrwil
der Fall. In Büttenhardt, dem Hotzenhaus und der Totenstube wurde sie bewusst gesucht. Am
Tamedia-Gebäude ist sie in geringerem Masse an der Holzkonstruktion vorhanden. Diversität
braucht Variation. Wichtig ist die Kongruenz der visuellen Details über alle Massstäbe.
Diversität beschreibt jene formale Eigenschaft eines Objektes, die durch die freie Umsetzung
eines Entwurfes beziehungsweise durch die riskante Fertigung entstehen kann. 320 Als eine
Summe visueller Details kann sie aber auch durch Alterung oder durch Materialeigenschaften
wie Holzmaserung entstehen. Von den untersuchten Bauten ist die Diversität beim vormodernen
Beispiel am grössten. Im Nahbereich sind die Unschärfen der Fertigung erkennbar, die sich
mit Eigenschaften des massiven Holzes, den Rissen und der Maserung mit Alterungsspuren
aus Schäden, Verwitterung und Verfärbungen überlagern. Es gibt praktisch keine homogenen
Flächen. Alle Bauteile sind als einzelne Komponenten ablesbar, jedoch ohne durch Fasen
oder Fugen voneinander getrennt zu sein. Im grossen Massstab ist es die Struktur, die zwar
regelmässig ist, aber kaum genau wiederkehrende Masse aufweist.
Das Hotzenhaus und das Ferienheim Büttenhardt nähern sich, was die Diversität angeht, an das
Hochstudhaus an. Graubner hat sie beim Hotzenhaus bewusst gesucht. Neben den genannten,
sorgsam platzierten Details tragen auch die handwerklichen Arbeitsschritte, die gezielt freie
Umsetzung ermöglichen, zur Diversität bei. Auch in Büttenhardt besteht am Äusseren eine
hohe Diversität, die durch das Verwenden von gespachtelten mineralischen Wandflächen und
grossflächigeren sehr reguliert gefertigten Fenstern im Innenraum etwas geringer ist. Bei der
Totenstube bedingt die Strickbaukonstruktion, dass vor allem die Holzstruktur und die Stösse
für Diversität sorgen. Doch auch hier wird die Menge an visuellen Details durch besondere
Massnahmen gesteuert wie die doppelten Vorstösse an den Ecken, die Umrahmungen der Fenster
und im Nahbereich die Schellackoberfläche im Inneren.
319
Riemer 1823, S. 1009: «καλός schön; lieblich, angenehm; (...) 2) moral. schön, od. gut, edel, brav,
tapfer; lobenswürdig; (...)».
320
Pye 1968, S. 35: «In free workmanship the flat surface is not quite flat but, when seen from close
by, shows a faint pattern of tool marks: and the straight edge is not quite straight, but, seen close, shows slight
divagations. The effect of such approximations is to constibute very much to the aesthetic quality in workmanship
which I shall call diversity.»
202
Knoten Tamedia-Gebäude
Schwellen am Hotzenhaus
203
Beim Tamedia-Gebäude ist die Diversität am geringsten. Der Ausdruck der determinierten
Fertigung umfasst wenig visuelle Details. Die Konstruktion ist beinahe nur auf dem Massstab des
gesamten Gebäudes ablesbar. Um sie auch auf Geschossebene erkennbar zu machen, muss sich
die Materialität der Konstruktion vom Ausbau unterscheiden. Die Materialien des Ausbaus sind
daher sehr homogen, um die hölzerne Primärkonstruktion zu kontrastieren. Die Hölzer selbst sind
durch die Verleimung bereits nicht nur technisch, sondern auch optisch homogenisiert. So bleibt
die Diversität des Tamedia-Gebäudes hinter dem der anderen zurück.
Die Diversität wird durch die erkennbaren Spuren der Herstellung vor allem bei freier
Umsetzung sowie durch die geometrischen Unschärfen erzeugt oder verstärkt. Pye betont, dass
Diversität in verschiedenen Massstäben wirken kann. Die Spuren der Fertigung sind vor allem im
Nahbereich sichtbar. Verschwindet dieser Bereich mit wachsender Entfernung vom Gebäude aus
der Sichtbarkeit, kann die Konstruktion die Diversität tragen. Im grossen Massstab sind es die
Kubatur, die Anordnung von Fenstern oder wie beim Hotzenhaus die Komposition aus massiven
und hölzernen Fassadenteilen.
Diversität ist eine objektive Eigenschaft der Gebäude; sie liesse sich sogar quantitativ in
visuellen Details pro Flächeneinheit abbilden. Ihre qualitative Bewertung entzieht sich jedoch der
Objektivität und hängt von der Absicht des Gebäudes und dem gesuchten Ausdruck ab.
Konnotative Eigenschaften
Konnotative Eigenschaften der Bauwerke sind solche, die nicht objektiv ablesbar und
beschreibbar sind, sondern auf dem Vorwissen des Betrachters um die Fertigung beruhen. Sie
sind subjektiv.
Es ist sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich, die subjektive psychologische Wirkung von
Spuren der Fertigung auf die Betrachter von Architektur zu fassen. Eine genaue Beschreibung
der möglichen konnotativen Verknüpfungen würde so verschiedene Gebiete betreffen wie die
Wahrnehmungspsychologie, die Gestalttheorie oder die Semiotik.
Diese subjektive Seite der Rezeption deshalb aber völlig auszuklammern, würde das zu
beschreibende Bild des Zusammenhanges von Fertigung und Architektur jedoch verfälschen.
Eine mögliche Lösung dieses Problems ist, die denkbaren Anknüpfungspunkte für bestimmte
Wirkungen zu beschreiben. Jene objektiv feststellbaren Merkmale, die ein subjektives InBeziehung-Treten mit dem Bauwerk ermöglichen. Die ‹Spuren im Kopf› bei den Fallbeispielen
können jedenfalls soweit untersucht werden, wie ihr Entstehen im Entwurf gewollt war und dies
am Gebäude nachvollziehbar ist.
204
Handwerklicher Ausdruck
Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigungsweise am Bauwerk
ablesbar ist. Hier knüpfen die Konnotationen an. Ist dieser Ausdruck nicht tatsächlich durch
handwerkliche Fertigung entstanden, so handelt es sich um eine Imitation. Dies kann die
Konnotationen völlig verändern.
Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigungsweise am Gebäude
ablesbar ist. Umgekehrt kann auch ein Ausdruck gesucht werden, der statt der Fertigung andere
Phänomene in den Vordergrund stellt, wie es beim Tamedia-Gebäude mit dem Ausdruck des
Steckens verfolgt wurde.
Die Lesbarkeit des Ausdrucks geschieht über Analogien mit bestimmten Bildern, welche
der Betrachter mit der Fertigung verbindet. Es gibt zwei unterschiedliche Prinzipien für das
Entstehen eines handwerklichen Ausdrucks. Einerseits können Spuren der tatsächlichen
Fertigung als Hinweise auf diese dienen. Andererseits kann auf bestimmte formale Eigenschaften
referenziert werden, die im jeweiligen Kontext mit Handwerk konnotiert werden. Personen mit
handwerklicher Erfahrung ‹lesen› die entsprechenden Hinweise am Gebäude leichter. Darüber
hinaus gelten in einem bestimmten Kulturkreis Konventionen, welche Spuren mit Handwerk
verbunden sind und welche nicht. Der handwerkliche Ausdruck ist daher subjektiv und abhängig
vom kulturellen Kontext.
Architekten wie Ausführende sind Teil dieses Kontextes und daher potentiell in der Lage, die
Rezeption bestimmter Massnahmen abzusehen und diese so gezielt einsetzen zu können.
Der handwerkliche Ausdruck bedeutet insofern, dass beim Betrachter gezielt die Konnotationen
mit der handwerklichen Herstellung hervorgerufen werden. Die Wirkung der Konnotation
beruht darauf, dass der handwerkliche Ausdruck auch tatsächlich auf eine solche Fertigung
verweist. Wird der Ausdruck als Imitation erkannt, verändern sich die verknüpften Konnotationen
grundlegend.
Selbstverständlicher Ausdruck: Das Hochstudhaus in Birrwil
Der Ausdruck des Hochstudhauses kann nur von der heutigen Warte aus eingeschätzt werden.
Bei ihm liegt ein Ausdruck der Unschärfe, der Organik und der Selbstverständlichkeit vor. Es
bildet eine Referenz für handwerklichen Ausdruck in seinem kulturellen Kontext.
Bei der Betrachtung des Hochstudhauses von Birrwil geht es nicht darum, den von den Erbauern
gewünschten Ausdruck zu rekonstruieren. Man könnte argumentieren, dass es zur Erbauungszeit
des Hauses einen handwerklichen Ausdruck nicht gegeben haben kann, da diese Fertigungsweise
noch so selbstverständlich war, dass sie nicht thematisiert werden konnte.
205
Aus heutiger Sicht kann man von einem handwerklichen Ausdruck sprechen. Im Grunde ist
ein vormodernes handwerkliches Gebäude wie das Hochstudhaus für die heutige Sicht das
Referenzobjekt, der Prüfstein, an dem unwillkürlich ein handwerklicher Ausdruck gemessen
wird.
Der traditionelle Typus ist aus der handwerklichen Herstellung entwickelt. Auch wenn die Motive
für die einzelnen Entscheidungen nicht nur auf Handwerk reduziert werden können, so ist es
mit seinem integralen Charakter am Gebäude allgegenwärtig. Spuren menschlicher Interaktion
sind verbreitet. Am Bauwerk erkennt man die geometrische Unschärfe der Materialien durch
die Bearbeitung. Risse und Verbindungen geben der Wand eine erkennbare Tiefe. Die feinere
Bearbeitung von Ausbauteilen wie Täfern oder Fenstern hebt diese von der Primärstruktur
ab. Statt starrer Rastermasse gibt es Abfolgen ähnlicher, aber nicht identischer Bauteile.
Zusammen ergibt sich ein sehr differenzierter, abgestufter und komplexer Ausdruck, der durch
die konstruktiven Gesetzmässigkeiten der Struktur organisch zusammengefasst wird und
selbstverständlich nachvollziehbar ist.
Es handelt sich um einen Ausdruck der Unschärfe, der direkte Folge des iterativen Prozesses
ist. Eine Fülle individueller Entscheidungen hat ihre Spuren am Gebäude hinterlassen, die alle
unverwechselbar sind. Die Arbeitsspuren sind nicht um ihrer selbst willen entstanden, sondern
gleichsam als Nebenprodukt der Einschätzung der Angemessenheit.
Gewünschter handwerklicher Ausdruck: Hotzenhaus, Büttenhardt und Totenstube
Bei diesen drei Bauten wurde ein handwerklicher Ausdruck gesucht, ohne zu imitieren. Dazu
kann die Strategie der beiläufigen Spuren eingesetzt werden.
Bei allen untersuchten neuzeitlichen Fallbeispielen ausser dem Tamedia-Gebäude ist im Entwurf
die Absicht enthalten, einen handwerklichen Ausdruck zu erzeugen.
Beim Bau des Hotzenhauses war die handwerkliche Fertigungsweise das wichtigste Mittel zum
Erreichen der Absicht, ein nachhaltiges Haus zu bauen. Es ist folgerichtig, dass sie am Bauwerk
zum Ausdruck kommt. Begründet durch die angestrebte Langlebigkeit sollte der Ausdruck
nicht explizit auf die Entstehungszeit hinweisen. Der Entwurf sucht eine formale Nähe zu
gewachsenen und traditionellen Bauformen, ohne die einzelnen Entscheidungen ausschliesslich
formal zu begründen.
Durch die Variationen im Grundriss und den Fassaden wirkt das Haus ‹gewachsen›. Die Formen
wurden aus den lokalen, traditionellen Zimmerertechniken heraus entwickelt.
206
Fassadendetail in Geschossdeckenebene, Ferienheim Büttenhardt
207
Handwerkliche Fertigung wurde auch dort eingesetzt, wo sie keine Spuren hinterliess. Die
handwerklichen Arbeitsschritte wurden nicht als solche inszeniert: Alle Spuren sind sehr subtil,
und bei Details wie den Fenstern wurde in Kauf genommen, dass deren handwerkliche Herkunft
erst auf den zweiten Blick augenfällig wird. Holzverbindungen werden kaum gezeigt, Spuren
nicht imitiert oder flächendeckend gesucht. Der handwerkliche Ausdruck entsteht über gezielt
eingesetzte freie Fertigung und Details, deren Ausführung Sorgfalt erfordern. Hier gibt es keine
Diskrepanz zwischen Ausdruck und tatsächlicher Fertigung. Der handwerkliche Ausdruck
entsteht hauptsächlich durch die Spuren handwerklicher Fertigung und durch das Verwenden der
als handwerkliche Typologie bekannten Konstruktion.
Der Ausdruck in Büttenhardt wird durch den Kontrast zwischen dem erhabenen Bild des
Baukörpers, das ausdrücklich sein Vorbild bei Palazzi der Renaissance hat, und den Analogien
mit traditionellen bäuerlichen Häusern bestimmt. Gleichzeitig sollte sich die handwerkliche
Fertigung im Ausdruck spiegeln. Er wird geprägt von der präsenten Konstruktion, den
Unregelmässigkeiten der massiven Hölzer und durch gezielt eingesetzte Fertigungsspuren wie
den unregelmässigen Splintkanten.
Bei diesem Beispiel wurde an manchen Stellen vorkommende freie Umsetzung genutzt, um einen
handwerklichen Ausdruck zu erreichen. Dieser beruht jedoch vor allem auf der Referenz auf die
traditionelle Bohlenständerkonstruktion. Es besteht aber trotz handwerklicher Fertigung in der
Ausführung eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Ausdruck und der tatsächlichen Fertigung;
die zahlreichen metallenen Verbindungsmittel werden nicht gezeigt.
Die Absicht der Totenstube in Vrin ist das zeitgenössische Weiterbauen des Dorfes im
physischen und im sozialen Sinne. Handwerk spielt bei diesem Konzept als regionale
Wertschöpfung und als Teil der Tradition eine Rolle. Entwurfsentscheidungen wurden im
Detail aus dem physischen Kontext hergeleitet und so bewusst Bezüge zur direkten Umgebung
hergestellt.
Die Strickbau-Konstruktion der Totenstube bietet ein starkes Regelwerk, welches
Entwurfsentscheidungen zu legitimieren hilft. Die Verwendung regionaler Materialien und
deren Veredelung durch lokales Handwerk beruhen auf der Absicht des Entwurfes. Bewusst
wurden auch hier einzelne Massnahmen gewählt, bei denen die handwerkliche Herstellung
Spuren hinterlässt. Dies ist bei der Dachdeckung der Fall, die zugleich auf die lokale Referenz
zurückgeht. Auch die Oberflächenbehandlung des Innenraums kann in diesem Zusammenhang
gelesen werden. Wichtig ist jedoch, dass eine ‹entfremdete› Sichtweise auf das Dorf unbedingt
vermieden werden sollte, vielmehr strebte auch Caminada eine Selbstverständlichkeit der
Entwurfsentscheidungen an.
208
Der handwerkliche Ausdruck ist sehr zeitgemäss, da er sich auf in heutige Techniken übertragene,
handwerklich entwickelte Konstruktionstypologien beschränkt. Dadurch wird das Gebäude in
der heutigen Zeit und gleichzeitig im Dorf verortet. Der handwerkliche Ausdruck entsteht durch
die mit Handwerk konnotierte Strickbaukonstruktion. Zusätzlich geben Spuren und kleinere
Massnahmen wie die geschmiedeten Türdrücker Hinweise auf die Fertigung.
Der handwerkliche Ausdruck kann also auch dadurch gesucht werden, indem
auf Konstruktionsweisen handwerklicher Typologien wie den Strickbau und die
Bohlenständerbauweise referenziert wird.
Den heutigen Bauten fehlt im Vergleich zum Hochstudhaus die selbstverständliche Unschärfe, die
sich über das gesamte Gebäude zieht, da absolute Masse und Geometrien durch den verbreiteten
Einsatz direkter Arbeitsweisen und determinierter Arbeitsschritte viel verbreiteter sind. Die
heutigen Rahmenbedingungen erlauben es, handwerklich und angemessen mit sehr viel weniger
Spuren zu fertigen. Das führt zu einem veränderten Ausdruck von Bauwerken, die handwerklich
entstehen. Sie sind homogener und abstrakter als die vormodernen Beispiele.
Wird dennoch ein handwerklicher Ausdruck angestrebt, so kann dieser nicht durch das aktive
Herstellen von Spuren erzeugt werden. Im Handwerk werden Spuren nicht forciert, sondern
(im Rahmen der Angemessenheit) möglichst klein gehalten. Aus Selbstzweck erzeugte Spuren
wären eine Imitation, da sie nicht auf handwerkliche Herstellung hinweisen. Sie wären mit dem
Abwägen der Angemessenheit nicht zu vereinbaren.
Eine mögliche Strategie, durch Spuren einen handwerklichen Ausdruck zu erzeugen, ohne zu
imitieren, sind beiläufige Spuren.321 Am besten lässt sich dies an der Putztechnik im Hotzenhaus
erklären. Die Vorgabe an die Verputzer war, so glatt wie möglich zu verputzen, jedoch ohne
Anschlagschienen, die aus einem handwerklichen Arbeitsschritt einen determinierten gemacht
hätten. Bleiben so leichte Unebenheiten auf dem Putz, sind es selbstverständliche Spuren der
Herstellung. Eine ganz andere Art von Spuren wäre entstanden, hätten die Verputzer bewusst
unebenen Putz hergestellt. Auf diese Weise ist die Angemessenheit der Spuren gewahrt
und die Imitation vermieden. Die Spuren sind Merkmale handwerklicher Arbeitsschritte,
nicht Ornamente. Die handgehobelten Fasen und die Ziegelböden am Hotzenhaus, auch die
gebeilten unregelmässigen Splintfasen in Büttenhardt sind bewusst eingesetzte handwerkliche
Arbeitsschritte, die Spuren hinterlassen und einen handwerklichen Ausdruck verstärken
321
Der Begriff lehnt sich an Wolfram Graubners Idee der ‹beiläufigen Wirkungen› an: «Bevor ich auf
die Textur des Bodens näher eingehe, lassen Sie mich etwas zur Frage der Wirkungen sagen: Es geht nicht um
Wirkungen als solche, sondern um beiläufige Wirkungen.» (Graubner 1984, S. 33).
209
können. Sie haben technische Begründungen, sind jedoch auch wichtig für den speziellen
Ausdruck der Gebäude. Sie reichern das Gebäude mit visuellen Details an. Sie erhöhen bewusst
die geometrischen Unschärfen und referenzieren so das in unserer Kultur geltende Bild des
Ausdrucks von handwerklicher Fertigung. Die Spuren entstehen nicht als Selbstzweck, sondern
sind Nebenprodukte von gezielt eingesetzten, aber technisch oder durch den Prozess legitimierten
handwerklichen Arbeitsschritten.
Die objektiven Merkmale, die durch handwerkliche Fertigung entstehen können, werden gezielt
eingesetzt, um sich einem Ausdruck der Unschärfe, Diversität und Organik anzunähern, der bei
vorindustriellen Bauten wie dem Hochstudhaus vorliegt und der als handwerklich gilt.
Zitat des Handwerks: die neue Monte-Rosa-Hütte
Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte wurde ein ‹Bild des Handwerks› mit teilweise nichthandwerklichen Mitteln erzeugt.
In der Natur der (von der ETH zum Teil selbst gestellten) Aufgabenstellung der neuen MonteRosa-Hütte lag es, dass ein Vorzeigeprojekt mit einer gewissen Aussenwirkung beabsichtigt war.
Der Anspruch auf Innovation spielte eine grosse Rolle.322 Dies musste den gesuchten Ausdruck
wenigstens implizit mitbestimmen.
Anscheinend sollte aber eine allzu radikale Reduktion auf einen Ausdruck von Innovation gezielt
durch Referenzen des gewohnten Bildes einer SAC-Hütte ausbalanciert werden. Im Inneren
wurde das Material Holz nicht nur wegen seiner atmosphärischen, sondern auch wegen seiner
konnotativen Eigenschaften gewählt. Der Ausdruck sollte die Materialität und die handwerkliche
Entstehung der alten SAC-Hütten referenzieren.323 Ein Inszenieren traditioneller handwerklicher
Techniken hätte jedoch der Absicht der Innovation widersprochen, weshalb die Abstraktion durch
die ‹digitale Schnitzereien› genannten Ornamente nahe liegt. 324 Hier wurde also beim Holzbau
nicht das tatsächlich vorhandene Handwerk zum Erzeugen eines bestimmten Ausdrucks genutzt,
obwohl auch hier sehr viel handwerkliche Fertigung und handwerkliches Wissen beteiligt war.
Vielmehr wurden Techniken und Fertigungsweisen ausgewählt, die formale Resultate erzeugen,
welche einem in unserem Kulturkreis gültigen Bild handwerklicher Fertigung nahekommen.
322
Vgl. Eberle et. al. 2010, S. 13: «wegweisend, innovativ» und S. 14: «Von Planungsbeginn an war klar,
dass eine Hütte gefragt ist, die ein Zeichen setzt.»
323
Ebd., S. 59: «Im umgesetzten Holzbau kommt nun beides zusammen: das Technische bzw. das
Logistische der vorgefertigten Bauelemente, die einen Einfluss auf die innere Ausprägung der Räume hatten, und
– durch die Hintertüre – auch der zwar transformierte Traditionsbezug.»
324
«Die Fachwerke im Inneren des Essraums hätte man als ingenieurbedingte Strukturen belassen können.
Doch liessen wir gemeinsam mit dem Lehrstuhl Gramazio & Kohler mit der neuesten Fertigungstechnik – einem
computergesteuerten Roboter – übergrosse jahresringähnliche Zeichen einfräsen, die wiederum sehr handwerklich
wirken.» Ebd. S. 59 f.
210
Schnitt durch die Türschwelle, Hochstudhaus
211
Gleichzeitig wird die tatsächliche Fertigung nicht versteckt. Hier kann man ebenso wenig von
einem handwerklichen Ausdruck wie von einer Imitation sprechen. Erzeugt wurden zitathafte
Bilder handwerklicher Fertigung.
Nicht-handwerklicher Ausdruck: Tamedia-Gebäude
Beim Tamedia-Gebäude existiert eine Diskrepanz zwischen manchen handwerklichen Spuren und
dem gesuchten Ausdruck.
Das Tamedia-Gebäude ist das einzige der untersuchten Fallbeispiele, das in keiner Weise einen
handwerklichen Ausdruck anstrebt. Das Prinzip des Steckens grosser stabförmiger Holzbauteile
sollte ablesbar bleiben und der Ausdruck das Gebäude als innovativ in der heutigen Zeit verorten.
Die Fertigungsweise des Bauwerks beruht auf überwiegend determinierten Arbeitsschritten
in einem fragmentierten Prozess. Sie forderte und erzeugte absolute Masse. Das Material der
Primärstruktur ist – technisch und formal – hochgradig homogenisiert und punktuell verstärkt.
Um die Konstruktion auch im Nahbereich erkennbar zu machen, wird sie durch die Materialien
des Ausbaus kontrastiert, die homogener sind als die Brettschichtträger. Insgesamt ist der
Ausdruck von vergleichsweise grosser Homogenität geprägt, was dem technischen Charakter der
determinierten Fertigung entspricht.
Doch auch beim Tamedia-Gebäude gibt es Spuren handwerklicher Arbeitsschritte, die vor allem
durch kleinere Reparaturen entstanden. Ein Fehler325 ist eine Abweichung von der beabsichtigten
Form des Bauwerks oder eines Details davon. Er ist zu unterscheiden von Toleranzen (hier ist
die Abweichung noch innerhalb eines tolerierten, also annehmbaren Bereiches, beim Fehler
ist sie ausserhalb) oder von Freiräumen (wenn die Intention mehrere Wege zulässt, ein Ziel zu
erreichen). Ein Fehler ist immer relativ, der Massstab ist die Absicht.
Am Tamedia entstanden nicht mehr Fehler als an den anderen Bauwerken, sie sind hier nur
auffälliger. An diesen kleinen Stellen stimmen der gesuchte Ausdruck und die tatsächlichen
Spuren der Fertigung nicht überein. Je homogener das Umfeld ist, umso eher fallen diese Spuren
ins Auge.
Das Kombinieren von handwerklichen Arbeitsschritten mit anderen Fertigungsweisen ist
prinzipiell gut möglich und war in allen untersuchten Bauten der Fall. Durch die ihm eigene
Flexibilität und Steuerbarkeit können im handwerklichen Prozess auch Komponenten mit
325
212
vgl. Duden: „Fehler: (…) 4. Stelle an einer hergestellten Ware, die nicht so ist, wie sie sein müsste».
absoluten Massen eingefügt werden. Werden wie beim Tamedia-Gebäude handwerkliche
Arbeitsschritte in einen fragmentierten Prozess eingebunden, ist auch das nicht prinzipiell ein
Problem. Jedoch kann sich der Umgang mit den Spuren verändern. Die formale Strategie, Spuren
pragmatisch zu akzeptieren und als Teil des Ausdrucks auszunutzen, ist im Tamedia-Gebäude
nicht möglich.
Wahrnehmungspsychologie
Objektive Eigenschaften von Bauwerken, die durch handwerkliche Fertigung entstehen, können
im Kontext der Wahrnehmungspsychologie relevant sein. Die Unverwechselbarkeit von Details
kann die Möglichkeit der Identifikation mit dem Gebäude beinhalten.
Die Wahrnehmungspsychologie ist nicht das Thema dieser Betrachtung. Dennoch ist es wichtig,
auf mögliche Anknüpfungspunkte mit diesem Gebiet hinzuweisen. Es gibt Argumente dafür, dass
die Fertigung hierauf Auswirkungen haben kann.
Manche durch die handwerkliche Fertigung entstehenden Eigenschaften können auch für
phänomenologische Betrachtungen eine Rolle spielen. Der finnische Architekt und Theoretiker
Juhani Pallasmaa spricht von einem Detailreichtum, der vor allem in der peripheren
Wahrnehmung von Räumen Einfluss auf den Betrachter ausübt und der Beschreibung der
Diversität entspricht. Als extremes Beispiel nennt er den Wald. Auf die Architektur übertragen
sind für ihn die Innenräume des Rokoko exemplarisch für den Versuch, das periphere Sehen im
Entwurf zu adressieren.326 Auch für David Pye ist Diversität durchaus eine positive Qualität eines
Objektes. Sie verleiht ihm Komplexität.327 Demnach wäre ein Reichtum an visuellen Details ein
Potential handwerklich gefertigter Architektur.
Dabei besteht ein Unterschied darin, ob visuelle Details völlig gleich, Abstufungen des selben
Prinzips oder unverwechselbar sind. Wenn der Betrachter bei der Annäherung an ein Gebäude
immer wieder neue Beobachtungen macht, ergibt das einen anderen Ausdruck des Bauwerks, als
wenn alle neu in den Blick kommenden Details Graduierungen von Bekanntem sind.
Während sich die Maserung und Struktur von Balken derselben Holzart stark gleichen können,
ist doch jede Struktur einmalig. Die einzelnen Balken sind unverwechselbar. Auch Spuren
der handwerklichen Fertigung, besonders bei freier Umsetzung, haben diese Eigenschaft.
326
Er spricht von ‹peripheral vision›. Pallasmaa 2014.
327
Pye 1968, S. 63: «In the art of workmanship, then, we seek to diversify the scale of those formal
elements which begin to be distinguishable at close range and also in season – to diversify the forms themselves
by allowing slight improvisations, divagations and irregularities so that we are continually presented with fresh
and unexpected incidents of form.»
213
Diese Unverwechselbarkeit der visuellen Details macht in der Summe auch das Bauwerk
unverwechselbar. Mit der Annäherung an das Gebäude ist es möglich, immer weitere neue
Beobachtungen zu machen, die man nicht vorhersehen kann. Auch das erhöht die Komplexität
der Wahrnehmung eines Gebäudes. Die Summe unverwechselbarer Details ermöglicht die
Identifikation mit dem Bauwerk: Sie ist eine Voraussetzung, mit ihm in Beziehung zu treten.
Konnotationen: Spuren im Kopf
Ein Gebäude kann aufgrund der Herstellung mit Konnotationen belegt sein, welche auf dem
subjektiven Wissen der Betrachtenden um die Fertigung beruhen. Physische Unverwechselbarkeit
kann dieses Vorwissen ersetzen. Die ‹Zeitlichkeit› beschreibt die im Gebäude gespeicherte
Arbeitszeit der Herstellenden. Es kann – auch bewusst – mit Bedeutung aufgeladen werden. Auf
diese Weise wird es zum Kommunikationsmittel zwischen Erbauer und Betrachter.
Das Wissen um die Herkunft eines Objektes kann dessen Bewertung ganz allgemein beeinflussen.
Sehr augenscheinlich ist dies bei religiösen Reliquien, deren Wert allein aus dem Wissen kommt,
dass ein als Objekt völlig austauschbarer Knochen von einem bestimmten Heiligen stammt.
Etwas profaner lässt sich dies an der Bewertung von Kunstwerken beobachten. Das Wissen
darum, dass ein Kunstwerk von einem berühmten Meister geschaffen wurde, kann dessen
materiellen Wert um ein Vielfaches steigern.
So kann auch die Bewertung der Entstehung oder der Herstellung in diejenige des Objektes
einfliessen. Auch ein Gebäude kann aufgrund der Herstellung mit Konnotationen belegt sein,
welche prinzipiell völlig subjektiv sind und nur auf dem Vorwissen des Betrachters um die
Fertigung beruhen.
Entweder weiss der Betrachter um die handwerkliche Fertigung: dann ist eine physische
Erkennbarkeit nicht notwendig. Oder er erkennt diese Fertigung an ihren Spuren, da er selbst
Kenntnis des Handwerks hat. In dem Falle können die Spuren sehr subtil sein, wie teilweise beim
Hotzenhaus. Oder aber der Ausdruck des Bauwerks nähert sich einem Bild an, welches in der
Kultur des Betrachters mit handwerklichen Bauten verknüpft ist.
Im Gegensatz zum Kunstwerk oder dem Konsumobjekt wird Architektur als
Gebrauchsgegenstand oft unvoreingenommen und ohne konkretes Vorwissen über dessen
Herstellung betrachtet: Die Betrachtenden müssen das Gebäude selbst lesen. Wenn sie also nichts
über die handwerkliche Herstellung des Bauwerks wissen, sind physische Anknüpfungspunkte
nötig, damit eine Konnotation des Handwerklichen entstehen kann. Eine Rolle spielt dabei die
Unverwechselbarkeit von visuellen Details.
214
Türdetail, Hochstudhaus
215
Die Fenster im Hotzenhaus sind mit der Hilfe zeitgenössischer Maschinen handwerklich
gefertigt. Trotz der sehr präzisen Bearbeitung gibt es an einzelnen Stellen kleine Spuren der
Herstellung, zudem fügen die konkaven Holzscheiben am Kreuzungspunkt der Sprossen
Diversität hinzu. Zusammen mit den Eigenheiten des Materials ist jedes Fenster ein
wiedererkennbares unverwechselbares Objekt.
Walter Benjamin reflektierte in seinem Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit» über Phänomene, die in diesem Zusammenhang auch relevant sind. Er
beschreibt das ‹Hier und Jetzt› eines Kunstwerkes als das «einmalige Dasein an dem Orte,
an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog
sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist.» 328 Dieses
unverwechselbare Objekt kann eine ‹Echtheit› im Sinne Benjamins aufweisen, indem es zum
Träger seiner eigenen Geschichte, von der Entstehung bis zur Lebensdauer, wird.329
Auch ein Bauwerk hat ein solches Hier und Jetzt. Die Unverwechselbarkeit des Bauwerks
bis in die Details hinein erleichtert es auch dem unvoreingenommenen Betrachter, das Objekt
im Zusammenhang mit seiner Geschichte zu bewerten: «Die Echtheit einer Sache ist der
Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer
geschichtlichen Zeugenschaft.»330
Die Unverwechselbarkeit allein ist neutral zu werten. Jedoch ist die Grundlage dafür, mit dem
konkreten Objekt in Bezug zu treten, dieses auch als solches erkennen zu können. Spuren sind
die Rezeptoren, an denen der Betrachter anknüpfen und sich mit dem Herstellenden identifizieren
328
Benjamin 2006, S. 11 f.
329
Ebd. S. 11 f: «(...) Dieses Hier und Jetzt macht den Begriff der Echtheit aus (...) der gesamte Bereich
der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit».
330
ebd. S. 13.
Fensterdetail am Hotzenhaus / Oberflächenbehandlung in der Totenstube
216
kann. Gerade die unverwechselbaren Spuren riskanter Fertigung oder freier Umsetzung sind jene
Punkte, mit denen sich die ‹Echtheit› im Sinne Benjamins verknüpfen lässt.
Eine mögliche gedankliche Verknüpfung ist die Zeitlichkeit. In die Bewertung eines Objektes
fliesst dann das Wissen der Betrachtenden um die darin gespeicherte Arbeitszeit (und damit
Lebenszeit) einer Person mit ein. Die Unverwechselbarkeit des Objektes macht einen solchen
Schluss erst möglich. Die direkte Interaktion mit dem Material beinhaltet das Ethos; auch dieses
kann, gleichsam als ‹im Objekt gespeicherte Hingabe›, dessen Bewertung beeinflussen.331
Solche konnotativen Verknüpfungen können im Entwurf bewusst gefördert werden, indem das
Gebäude durch die Herstellung mit Bedeutung aufgeladen wird.
Beim Hochstudhaus wurde dem Tenntor mit der geschnitzten Inschrift eine besondere Bedeutung
verliehen. Der nicht funktional bedingte Aufwand, der zudem sehr sorgfältig ausgeführt ist,
ist sichtbares und ablesbares Zeichen besonderer Wertschätzung dieses Gebäudeteils. Bei der
Totenstube ist es die Bearbeitung des Innenraumes mit Schellack, die eine Bedeutungsebene
hinzufügt. Die Lackierung des Innenraumes ist eine Spur menschlicher Arbeit, die an sich nicht
notwendig gewesen wäre und auch nicht üblich ist. Hier wurde mehr Zeit und Sorgfalt investiert
als nötig. Die Begründung liegt darin, den besonderen Charakter des Raumes zwischen einer
(Wohn-) Stube und einem sakralen Raum zu unterstreichen, dem Raum durch das Material, aber
auch die investierte Zeit, eine besondere Bedeutung zu verleihen. Die Absicht des Bauwerks
legitimiert diesen Mehraufwand.
Auch auf pragmatischer Ebene spricht Caminada davon, dass die handwerkliche Fertigung zum
‹Schaffen von Kultur› genutzt wird: die Bedeutung des Bauwerks wird bewusst beeinflusst.332
Bei der Errichtung des Hotzenhauses arbeitete Graubner bewusst mit Bedeutungen. Ob
es die schmückenden Fensterdetails sind, die gedrechselten Staketen der Galerie oder die
Deckenbemalungen: Am Gebäude gibt es viele Stellen, wo im Detail bewusst mit viel grösserer
Sorgfalt oder Aufwand gearbeitet wurde als nach absoluten Standards technisch notwendig
gewesen wäre. Besonders diese Punkte drücken eine Wertschätzung aus, die sich wie eine
Matrix über das ganze Bauwerk zieht. Gerade sie sind per Definition nicht imitierbar, da sie ihre
331
Der deutsche Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat sich mit dem modernen Verhältnis zu
Gegenständen befasst und beschreibt ausführlich die These, dass dieses lange nicht so rational sei wie gemeinhin
angenommen. Vgl. Böhme 2006 sowie Böhme 2009.
332
«Die doppelte Strickkonstruktion brauche zwar viel Holz, das Material sei jedoch günstig, und weil
es aus dem Ort komme und von einheimischen Handwerkern in intensiver Arbeit aufbereitet werde, sei die
Wertschöpfung gross. Die Strategie, das einheimische und somit kostengünstige Material durch einen hohen
Grad an Bearbeitung in einen höheren Zustand zu versetzen, bedeutet für die Bauleute eine planerische und
handwerkliche Herausforderung. So schafft man Kultur.» (Caminada in Cabalzar et. al. 2003, S. 28).
217
Bedeutung aus dem Wissen um die aufgewandte Sorgfalt beziehen. Gezielt wurde menschliche
Interaktion auch dort eingesetzt, wo sie kaum oder keine sichtbaren Spuren hinterliess. Auch dies
trägt dazu bei, das Bauwerk mit Bedeutung aufzuladen.333
Das funktioniert nur, wenn die entsprechenden Spuren auch auf menschlicher Arbeit beruhen –
eine entlarvte Imitation hat eine völlig andere Bedeutung. Konnotationen von Sorgfalt würden
durch solche von Täuschung ersetzt.
Wenn das Gebäude bestimmte Konnotationen beim Betrachter hervorrufen kann, die bis zu
einem gewissen Grade vom Architekten und Ausführenden steuerbar sind, bedeutet das, dass
ein Gebäude auch ein Kommunikationsmittel ist. Dies funktioniert nur dann, wenn die jeweilige
Sprache bekannt ist. Die kulturellen Rahmenbedingungen enthalten die Konventionen, welche
deren Grundwortschatz ausmachen.
Die beiläufigen Spuren funktionieren als Spuren handwerklicher Fertigung, weil sie durch den
angemessenen Umgang mit den Ressourcen entstanden sind und tatsächlich auf handwerklicher
Fertigung beruhen. Sie sind Manifestationen der Arbeit, die notwendig war, das Haus zu bauen.
Emergenz
Das Beispiel, an dem Polanyi erklärt, dass wir mehr wissen als wir mitteilen können,334 mit dem
er also ‹tacit knowledge› einführt, ist die menschliche Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen. Dieses
besteht aus einzelnen Merkmalen (‹particulars›). Das menschliche Gesicht aber transzendiert
die blosse Summe der Merkmale, aus denen es gebildet ist. Hier findet eine Emergenz statt:
Aus der Summe der einzelnen Elemente bildet sich eine grössere Entität, welche nicht durch die
Eigenschaften der einzelnen Elemente erklärbar oder auf diese zurückführbar sind.
Die Wahrnehmung eines Bauwerks besteht aus vielen Komponenten: Physisch wahrnehmbar
sind beispielsweise der Baukörper, die Konstruktion, die visuellen Details. Subjektiv kommt das
Wissen der Betrachtenden um die Fertigung und die Geschichte des Bauwerks, die Vorgeschichte
der Materialien und anderes hinzu. All das kann zu einem Emergenzphänomen führen: Die
Pyramiden werden nicht als Stapelung von Steinblöcken wahrgenommen. In ihre Bewertung
fliesst ihr Alter hinein, Benjamins ‹geschichtliche Zeugenschaft›, und auch die Herstellung: in
dem Eindruck, den das Wissen um den menschlichen Ursprung dieser riesigen Masse erzeugt.
333
Graubner betonte, dass die Sorgfalt gerade da wichtig ist, wo sie nicht sichtbar ist (Graubner 2014).
334
«(...)we know more than we can tell.» Polanyi (1966), S.4
218
Ohne die Teile kann es das Ganze nicht geben. Ohne die physischen Steinblöcke ist die Pyramide
nicht denkbar, und ohne die Komponenten ihrer Wahrnehmung ist die Bewertung nicht möglich.
Aber das Ganze ist umgekehrt nicht durch die Kenntnis der Teile erklärbar. Die Teile mögen
kodifizierbar, also explizit sein. Das Ganze hat jedoch eine implizite Komponente. Die Emergenz
als das ‹Mehr›, das hier entsteht, ist Teil des impliziten Wissens des Betrachters.
Obwohl die untersuchten Fallbeispiele weniger spektakulär sind als die Pyramiden, ist dieses
Phänomen übertragbar. Die Herstellung kann eine der Partikularitäten sein, die zum Entstehen
der Emergenz in der Architektur beitragen.
Selbstverständlichkeit
Das selbstverständliche und das bewusst eingesetzte Handwerk
Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Bauten, bei denen handwerkliche
Fertigung selbstverständlich zur Anwendung kam, und solchen, bei denen bewusst für diese
Fertigungsweise entschieden wurde. Dies führt zum Problem der Selbstverständlichkeit.
Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Bauten, bei denen handwerkliche Fertigung
als selbstverständliche Fertigungsweise angewandt wurde und solchen, bei denen man sich
bewusst für eine handwerkliche Fertigung entschied.
Die Rezeption von Bauwerken ist kulturabhängig. In einem Kontext, in dem geometrische
Präzision allgegenwärtig verfügbar ist, muss sich die Bewertung von geometrischen Unschärfen
zwangsläufig verändern. Erst das Verschwinden der Selbstverständlichkeit von Spuren
handwerklicher Fertigung bewirkt ein Bewusstsein dafür.335 Mit dem Überschreiten einer
kritischen Masse an Verfügbarkeit von quantitativer Perfektion werden sie erkennbar und
relevant.
Die Bewertung der Spuren hat sich verschoben. Im alternativlosen Handwerk des
Hochstudhauses sind die Spuren selbstverständlich. Dass sie beim Ausbau zwar toleriert, aber
nicht gesucht wurden, lässt den Schluss zu, dass sie entweder neutral oder sogar leicht negativ
bewertet wurden. Im bewusst eingesetzten Handwerk und im heutigen veränderten kulturellen
Umfeld kann das anders sein. Sie können im Sinne eines Ausdrucks gesucht werden – müssen
jedoch immer durch die Herstellung begründet sein, sonst wären sie eine Imitation. Die fast
unsichtbaren Flickzapfen in der Totenstube kommen noch aus einem Ethos des alternativlosen
335
Glen Adamson argumentiert, dass ‹craft› als Begriff überhaupt erst entstehen konnte, als dem Handwerk
mit der beginnenden Industrialisierung ein Gegenpol entstand. Adamson 2013.
219
Handwerks. Die Oberflächenbehandlung innen ergibt sich jedoch aus einem bewussten
architektonischen Konzept, das die Herstellung am Bauwerk zeigen will.
Dass handwerkliche Fertigung heute vermeidlich ist, führt dazu, dass heute handwerklich
gefertigten Objekten «eben jene Fraglosigkeit abgeht, die den Handwerkserzeugnissen früherer
Epochen eigen war»336. Die Strategie der beiläufigen Spuren kann als Reaktion auf dieses
Problem gelesen werden.
Symmetria
Das Abwägen der Angemessenheit bei der handwerklichen Fertigung bedeutet die Suche nach
einer bestimmten Proportion. Das gesuchte Ideal lässt sich durch Vitruvs Symmetriebegriff
beschreiben. Dieses Ideal bedeutet auch, dass handwerkliches Bauen nicht Originalität, sondern
Selbstverständlichkeit anstrebt.
Durch die stets notwendige Einordnung der Angemessenheit gehört der Umgang mit
Beschränkung zum Handwerk. Diese Beschränkung ist relativ: In der Konstruktion und der
Ausführung muss die richtige Proportion aus Aufwand und Ergebnis gefunden werden.
Der antike Begriff der Symmetria beschreibt jenes gesuchte ausgewogene Verhältnis der Teile
eines Bauwerks relativ zueinander und zum Ganzen. Bei Vitruv heisst es dazu:
«Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die
auf einem berechneten Teil (modulus) beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile für sich
gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem. Wie beim menschlichen Körper aus Ellenbogen,
Fuss, Hand, Finger und den übrigen Körperteilen die Eigenschaft der Eurytmie symmetrisch ist,
so ist es auch bei Ausführung von Bauwerken.»337
Dieser Symmetriebegriff beschreibt die relative Verhältnismässigkeit der Teile eines Ganzen
zueinander und zum Ganzen selbst. Während Vitruv eher die Bauteile als Teil des gesamten
Bauwerks meint, kann der Begriff auch weiter gefasst und auf den Bauprozess übertragen
werden: Fertigung, Ressourcen und Absicht müssen in einen stimmigen Einklang gebracht
werden, der immer relativ ausgehandelt werden muss, für den es keine absoluten Kriterien geben
kann und der in jedem Einzelfall neu zu bestimmen ist. Das Ziel ist ein Gebäude, welches die
336
Christoph Peters beschreibt in seiner Einführung in das japanische Handwerk das Dilemma der
«absichtslosen Absichtslosigkeit» (Peters 2010, S. 25). In dem Moment, wo die Natürlichkeit eines vernakulären
Gegenstandes, der ohne gestalterische Absicht entstanden ist, bewusst nachempfunden wird, geht genau diese
Natürlichkeit verloren. Die Selbstverständlichkeit verändert sich. Auch wenn – oder gerade weil – dies ein
Extrembeispiel darstellt, ist es doch gut zur Illustration des beschriebenen Phänomens geeignet.
337
220
Vitruv, Fensterbusch 1981, Buch 1 Kap. II.4.
Symmetrie der Herstellung im Ausdruck wiederspiegelt. Diese Symmetrie verbindet Spuren und
Konstruktion, Fertigung und Bauwerk.
Das Ideal der Symmetrie bedeutet, dass keiner der Faktoren zu sehr auf Kosten der anderen
gewichtet werden darf. Das gilt also auch für die Fertigung: Das Ideal der handwerklichen
Fertigung ist nicht Originalität, sondern Selbstverständlichkeit.
Dies passt zum Kriterium der Angemessenheit. Es bedeutet, dass nicht nur gegenüber der Absicht
des zu fertigenden Objektes, sondern auch gegenüber der jeweils herrschenden Beschränkung
an Ressourcen Verantwortung übernommen wird. In diesem Sinne hat Handwerk eine dienende
Funktion.
Eckdetail, Hotzenhaus
221
Totenstube
222
V Fazit
1. Handwerk in der Architektur
Definition
Handwerkliche Fertigung in der Architektur kann durch drei Kriterien definiert werden. Es
beruht auf einer Kombination aus explizitem und implizitem Wissen. Zum impliziten,
nicht kodifizierbaren Wissen gehören die durch praktische Tätigkeit gewonnenen physischen
Fertigkeiten. Sie sind direkt mit dem jeweiligen Werkzeug und dem Material verknüpft. Dazu
kommt die Fähigkeit zum intuitiven Einschätzen von Situationen.
Die zweite Komponente der handwerklichen Fertigung ist die direkte Interaktion mit dem
Material. Sie liegt dann vor, wenn das Risiko über das Gelingen eines Arbeitsschrittes während
der Ausführung bei den Bearbeitenden liegt. Diese Interaktion ermöglicht erst den Aufbau des
impliziten Wissens.
Schliesslich gibt es keine absoluten Kriterien als Massstab für die Ergebnisse der handwerklichen
Fertigung. Sie schliesst die Einschätzung der Angemessenheit ein, der Balance aus den
eingesetzten Ressourcen – an Energie oder Anstrengung, Zeit und Material – und dem Werk als
dem gewünschten Ergebnis.
Abstufungen
Handwerk in der Architektur kann in verschiedenen Ausprägungen vorliegen. Sie unterscheiden
sich dadurch, was als das Werk des Schaffens angesehen wird, also auch durch die Breite der
prospektiven Verantwortung, welche die Ausführenden übernehmen. Erstreckt sich diese nur über
den konkret vorliegenden Arbeitsschritt, handelt es sich um fragmentiertes handwerkliches
Bauen.
223
Von integralem handwerklichem Bauen kann dagegen nur gesprochen werden, wenn die
Verantwortung der Ausführenden sich über den vorliegenden Arbeitsschritt hinweg auf das
gesamte Bauwerk erstreckt.
Bedeutung
Handwerkliche Fertigung ist nicht auf traditionelles Bauen, auf Handwerkzeuge oder historische
Beispiele beschränkt. Obwohl die Einordnung in die jeweiligen Bauprozesse verschieden war,
bildete sie bei allen untersuchten Bauten eine unverzichtbare Komponente der Fertigung.
Spezifisches Wissen
Beim spezifischen Wissen des Handwerks sind geistige und physische Aspekte nicht voneinander
zu trennen. Das implizite und explizite Wissen werden durch stete Wiederholung der Arbeit
in das Bewusstsein eingebettet. Das Lernen geschieht langsam und ist durch die physische
Erfahrung sehr präsent. Erfahrung bedeutet die Möglichkeit, bewusst oder unbewusst auf eine
stetig steigende Zahl von Referenzen zurückgreifen zu können, mit denen eine konkrete Situation
abgeglichen werden kann. Sie ergänzt das rationale Denken in Argumentationsketten. Die
Erfahrung ist teilweise körperlich, umfasst alle Sinne und bleibt so an die Personen gebunden.
Handwerkliche Fertigung hat insofern einen ausbildenden Charakter. Als Nebenprodukt der
Fertigung wird Wissen und Erfahrung aufgebaut. Der Bau aller Fallbeispiele hing von dieser Art
des Wissens ab. Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte und beim Tamedia-Gebäude wurde es in die
Planung verlagert, blieb aber an die Personen gebunden, die handwerkliche Erfahrung vorher in
anderen Projekten aufbauen konnten.
Handwerkliches Wissen kann überpersönlich in Traditionen gespeichert sein, in denen
festgelegt ist, wie eine Arbeit auszuführen ist. Eine besondere Form dieses gespeicherten
Wissens sind Typologien. Sie können eine Holzverbindung, aber auch eine Konstruktionsweise
oder ein ganzes Gebäude definieren. Sie bestimmen die Form und deren Fertigung sinngemäss
und enthalten implizit das Wissen um deren Funktionsweise. Sie werden dabei stets an die
Anforderungen des Einzelfalles angepasst.
Da der Beobachtungszeitraum der Entwicklung jener Typologien sehr lange ist, kann auch
das Langzeitverhalten und die Alterung der Bauwerke in das darin gespeicherte Wissen mit
einfliessen. Technische und kulturelle Beweggründe sind bei der Entstehung der Typologien
jedoch kaum voneinander zu trennen.
Menschliche Interaktion mit dem Material
Direkte Interaktion mit dem Material setzt das Übernehmen von Verantwortung durch die
224
Ausführenden voraus, da das Risiko, den Arbeitsschritt zu verderben, nicht nur von ihrem
Können und Wissen, sondern auch von ihrer Sorgfalt abhängig ist. Sobald Verantwortung
übernommen wird, muss eine Motivation bestehen, dieser nachzukommen.
Diese Interaktion ist unerlässlich zum Aufbau des impliziten Wissens und die Voraussetzung
für situatives Reagieren, das direkte Eingehen auf eine bestimmte Situation während des
Arbeitsschrittes.
Angemessenheit
Die Einordnung der Angemessenheit bedeutet ein relatives Abwägen von Aufwand und Wirkung
während der Ausführung. Sie ist nicht absolut, sondern muss stetig neu ausgehandelt und an die
jeweilige Situation angepasst werden.
Die Art und Weise, wie die Arbeit zu verrichten ist, aber auch die Qualitätsansprüche und damit
die Angemessenheit sind in stillschweigenden Normen und Gebräuchen festgelegt, die ein
handwerkliches Ethos bilden. Es wird beim Lernen eines Handwerks vermittelt. Das bedeutet,
dass ein Ethos in der Ausbildung von Vorbildern abgeschaut, gelernt und übernommen werden
muss. Das Ethos ist nicht fixiert, sondern wandelbar und im jeweiligen kulturellen Kontext
verwurzelt: Es ist Teil der Tradition. Solche Normen bilden die Rahmenbedingungen für die
Übernahme der Verantwortung.
Die Absicht des Bauwerks bestimmt das gewünschte Ergebnis der Arbeit, welches gegen den
Einsatz der Ressourcen abgewogen wird. Sie geht über rein funktionale Elemente hinaus und
schliesst auch ästhetische und übergeordnete Anforderungen ein. Handwerk ordnet sich dieser
Absicht unter. Es ist pragmatisch und zielgerichtet und hat eine dienende Funktion.
Handwerkliche Prägung
Die direkten Auswirkungen der eigenen Tätigkeit, der Widerstand des Materials und physische
Anstrengungen betten die physische Erfahrung in das implizite Wissen ein. Dieses Wissen ist im
Fluss, es verändert sich. Gleichzeitig mit den Fertigkeiten wird beim Lernen durch Abschauen
und Verinnerlichen von Tätigkeiten auch die Art und Weise übernommen, wie eine Arbeit
auszuführen ist.
Verinnerlichtes Wissen und Ethos bilden zusammen eine handwerkliche Prägung, welche die
Einstellung zur Arbeit und zu deren Ergebnis einschliesst. Sie ist bestimmt durch das Arbeiten
mit beschränkten Ressourcen. Diese Prägung erklärt manche Entscheidungen im Handwerk.
Ohne Verantwortung ist die Entwicklung eines Ethos und einer solchen Prägung nicht möglich.
Das Ethos bestimmt die Grenzen für die eigenen Entscheidungen der Ausführenden. Es ist
obsolet, wenn kein Entscheidungsspielraum besteht.
225
2. Der handwerkliche Bauprozess
Definitionen
Das Vorliegen handwerklicher Arbeisschritte bedeutet nicht zwangsläufig auch einen
handwerklichen Bauprozess.
Die Einbindung handwerklicher Fertigung in Bauprozesse
Beim Umgang mit Handwerk können beim Bau der untersuchten Fallbeispiele drei Strategien
unterschieden werden. Einerseits kann handwerkliche Fertigung ein bestimmender Teil des
Prozesses sein, wie beim Hochstudhaus von Birrwil und dem Hotzenhaus.
Dann können handwerkliche Arbeitsschritte gezielt dort in den Prozess eingebettet werden,
wo sie im Sinne der Absicht sinnvoll und effizient sind. Sie bilden wichtige und verbindende
Elemente des Prozesses, wie bei der Totenstube und dem Ferienheim Büttenhardt. Zudem waren
hier Planung und Ausführung personell eng verbunden.
Schliesslich können handwerkliche Arbeitsschritte zur punktuellen Steuerung des fragmentierten
Prozesses dienen, wie beim Tamedia-Gebäude und der neuen Monte-Rosa-Hütte.
Der handwerkliche Bauprozess
Beim handwerklichen Bauprozess ist die Verantwortung über das Erreichen der Absicht des
Bauwerks zwischen Planenden und Ausführenden geteilt. Diese Art des Prozesses setzt also
integrale handwerkliche Fertigung voraus.
Die direkte Interaktion mit dem Material während der Fertigung bedeutet, dass der Prozess
jederzeit anpassbar bleibt. Daher ist das situative Reagieren konstitutiver Bestandteil des
handwerklichen Bauprozesses. Besondere Situationen zu bewerten und darauf zu reagieren
ist keine Korrektur, sondern natürlicher Teil des iterativen Prozesses. Dieser bleibt daher zu
jeder Zeit steuerbar und flexibel. Der handwerkliche Bauprozess ist induktiv, indem er vom
vorhandenen ausgeht und auf ein bestimmtes Ziel zusteuert, welches jedoch mit einer gewissen
Offenheit definiert ist.
Der fragmentierte Bauprozess
Im fragmentierten Bauprozess wird handwerkliche Fertigung möglichst ausgeschlossen, indem
soweit wie möglich die Verantwortung und das Wissen in der Planung zentralisiert und die
eigentliche Ausführung auf determinierte Fertigungsweisen verlagert wird. In dieser Sichtweise
werden einzelne Arbeitsschritte als in sich abgeschlossen betrachtet.
Das Ideal des fragmentierten Prozesses ist, dass bereits vor Beginn der physischen Fertigung
226
das Ergebnis samt aller Teilergebnisse absolut feststeht, da ein Reagieren nicht vorgesehen
ist. Je determinierter der Prozess ist, desto weniger Freiheiten lässt er bei der Geometrie der
Zwischenstufen und der Endergebnisse zu. Er fordert und fördert absolute Masse.
Der fragmentierte Prozess ist deduktiv. Er geht vom Ergebnis aus und passt Material und
Vorgehensweise an dieses an.
In fragmentierten Prozessen ist es sehr wichtig, dass in der Planung alle Eventualitäten gelöst
werden, damit in der Ausführung keine Anpassungen mehr notwendig sind. In industriellen
Herstellungsprozessen kann dies durch letztlich empirisches Anpassen und Abstimmen der
Produktionsprozesse erreicht werden, indem nach einer Nullserienproduktion eventuelle
‹Kinderkrankheiten› eines Serienproduktes beseitigt werden. Solange Architektur die Fertigung
von individuellen Bauten bedeutet, ist es hier ist sehr schwierig, alle Unwägbarkeiten
auszuschliessen. Anpassungen im fragmentierten Prozess müssen dann stets eine Schlaufe von
der Aufnahme der Situation, über die Abstraktion der Planung und zurück zur angepassten
Ausführung nehmen, oder eben durch handwerkliche Arbeitsschritte geschehen.
Bedeutung handwerklicher Prozesse
Handwerkliche Prozesse ermöglichen spezielle Vorgehensweisen und Strategien.
Situatives Reagieren
Die Möglichkeit des Arbeitens mit vorhandenem Material schliesst auf selbstverständliche
Weise das Wiederverwenden von Materialien und Bauteilen ein. Auch Reparaturen sind per
definitionem handwerkliche Fertigung, sobald sie das blosse Austauschen vorgefertigter Teile
übersteigen: sie sind der Idealtyp für das Arbeiten mit vorgefundenen, konkreten Situationen.
Die Steuerbarkeit ist im Prozess direkt angelegt, da das Eingehen auf die Besonderheiten
des Einzelfalles durch die direkte Interaktion mit dem Material der Normalfall ist. Auf
Unvorhergesehenes kann reagiert werden, ohne dass der Prozess sich grundsätzlich ändern
müsste. Dadurch wird er resilient und flexibel.
Handwerkliche Arbeitsschritte können auch im fragmentierten Prozess gezielt steuernd eingesetzt
werden.
Iterativer Prozess
Die einzelnen, zeitlich und räumlich aufeinanderfolgenden Schritte des iterativen Prozesses
sind relativ zueinander. Absolute Masse sind nicht per se und überall relevant. Die Relativität
kann zur Effizienzsteigerung genutzt werden und einen bestimmten Ausdruck hervorrufen. Sie
erschwert jedoch den Austauschbau.
227
Effizienz
Die Effizienz von Bauprozessen muss im Gesamten betrachtet und über den Prozess selbst hinaus
beurteilt werden.
Beim handwerklichen Bauen wird mit den vorhandenen Restriktionen und Beschränkungen
gearbeitet – des Materials, der Fertigungsweise, der Kräfte, der Techniken. Durch die Beurteilung
der Angemessenheit ist Effizienz ein fester Bestandteil handwerklichen Denkens: eine
Verschwendung von Ressourcen wäre nicht angemessen. Durch die geteilte Verantwortung mit
den Ausführenden im handwerklichen Prozess können Probleme direkt am Objekt gelöst werden.
Dadurch kann die Qualitätskontrolle sehr effizient sein, allerdings ist sie abhängig vom Bestehen
eines entsprechenden Ethos.
Die Rahmenbedingungen handwerklicher Fertigung müssen nicht absolut sein. Diese Bauweise
kann effizient mit der Welt umgehen, wie sie ist. Die Steuerbarkeit des handwerklichen Prozesses
erlaubt es, auf Homogenisierungen des Materials zu verzichten. Dadurch ist es möglich, mit
vorhandenem Material zu arbeiten und dieses im Sinne einer induktiven Materialeffizienz zu
nutzen: Individuelle, inhomogene Ausgangsstoffe können Vorteile im Bezug auf Nachhaltigkeit
und technische Eigenschaften haben, die in fragmentierten Prozessen nicht nutzbar sind. Die
konkreten Vorteile des individuellen, vorliegenden Werkstoffes können gezielt ausgenutzt
werden. Dadurch kann die Materialaufbereitung oder die Herstellung von Halbzeugen entfallen,
die oftmals einen hohen, aus dem eigentlichen Bauprozess ausgelagerten Aufwand an Ressourcen
bedeuten. Die Flexibilität des Prozesses erlaubt umgekehrt das Anpassen des Bauwerks bzw.
des Planes an das Material. In einem handwerklichen Prozess kann dezentral mit begrenzten
(vorhandenen) Rohstoffen zielführend agiert werden.
Im handwerklichen Prozess kann zudem die Planungsleistung stark reduziert werden.
Viele detaillierte Entscheidungen werden direkt bei der Bearbeitung des Materials getroffen.
Die genaue Ausführung von Details, deren Auswahl, die Oberflächenbearbeitung oder das
Anpassen wird vor Ort entschieden, ohne den Zyklus von Abstraktion (Aufnahme), Planung,
Re-Konkretisierung und Qualitätskontrolle durchlaufen zu müssen. Dies gilt vor allem für
das Arbeiten im Bestand und mit nicht-homogenisiertem Material, da die Beurteilung des
Vorhandenen ohnehin Teil des Prozesses ist.
Ein weiterer Faktor ist die notwendige Infrastruktur. Handwerkliche Herstellung kommt
prinzipiell mit einer beschränkten Auswahl an unkomplizierten Werkzeugen aus und kann auch
so viele versteckte und aus dem eigentlichen Bauprozess ausgelagerte Kosten an Ressourcen
vermeiden.
228
Die Faktoren der Effizienz handwerklicher Arbeitsschritte kommen vor allem dort zur Wirkung,
wo die Rahmenbedingungen nicht die für fragmentierte Prozesse notwendige Planbarkeit und
Absolutheit erlauben, wie es bei Reparaturen, beim Bauen im Bestand, aber auch bei innovativen
Ansätzen der Fall ist, sowie überall, wo Austauschbau nicht angestrebt wird oder nicht möglich
ist.
3. Handwerk und Bauwerk
Es gibt keine zwangsläufigen Zusammenhänge zwischen der Fertigungsweise und bestimmten
Eigenschaften des gefertigten Bauwerkes. Manche Eigenschaften von Architektur entstehen
jedoch folgerichtig aus bestimmten Fertigungsweisen.
Objektive Eigenschaften von Bauwerken
Diese sind am Bauwerk direkt und unvoreingenommen erkenn- und benennbar.
Technische Eigenschaften
Die Langlebigkeit der Konstruktion kann ein Kriterium des handwerklichen Ethos darstellen,
wenn die Ausführenden beim Lernen mit dem langfristigen Verhalten von Konstruktionen
konfrontiert werden und dieses in die eigene Herangehensweise einbetten. Die direkt erfahrene
Anstrengung der Arbeit, welche in die handwerkliche Prägung eingebettet ist, verändert ebenfalls
die Einstellung zur Langlebigkeit der zu fertigenden Architektur.
Manche technischen Eigenschaften sind nicht direkt mit handwerklicher Fertigung, sondern
mit den empirisch entstandenen handwerklichen Typologien verknüpft. Deren beobachtetes,
langfristiges Verhalten fliesst als Faktor in ihre Konzeption ein. Auch hier ist das wichtigste
Potential die Langlebigkeit. Durch die empirische Entwicklung ohne rechnerische Nachweise
sind Konstruktionen oft überdimensioniert: das Material ist optimiert, nicht die Querschnitte,
was Fehlertoleranz und Resilienz erhöht. Durch die statische Überbestimmung der Bauteile
entstehen Redundanzen. Da die Konstruktionen oft statisch überbestimmt sind, kann im Falle
des Versagens eines Bauteils dessen statische Funktion auf andere Bauteile übertragen werden.
Schliesslich ist in vielen handwerklich entwickelten Konstruktionen die Austausch- bzw.
Reparierbarkeit im Konstruktionsprinzip angelegt.
Resilienz, Langlebigkeit der Bauten und Ausnutzen des Materials machen handwerkliche
Fertigung in der gesamtheitlichen Betrachtung zu einer potentiell ressourceneffizienten
Bauweise.
229
Formale Eigenschaften
Das situative Reagieren und namentlich der iterative handwerkliche Prozess kann eine
geometrische Unschärfe am Bauwerk erzeugen. Auf Materialebene sind dies die
Abweichungen von absoluten Idealzuständen wie geraden Linien oder planen Flächen, die
durch freie Umsetzung einer Vorgabe entstehen. Auf dem Massstab der Konstruktion sind
es Unregelmässigkeiten in den Massen, die auf individuellen Anpassungen an Material oder
Situation beruhen. In einem solchen Umfeld werden Abweichungen vom Absoluten nicht als
Fehler wahrgenommen, es besteht eine ästhetische Fehlertoleranz.
Aus der Induktivität aufeinander aufbauender iterativer Prozesse kann ein organisches Bild
des Bauwerks entstehen, indem die einzelnen Bauteile zwar noch als solche, aber auch als
Komponenten eines Ganzen erkennbar sind.
Aus möglichen Spuren freier Umsetzung, der geometrischen Unschärfe und den Eigenschaften
des individuellen Materials schliesslich entsteht Diversität. Dies beschreibt eine hohe Anzahl
visueller Details über alle Massstabsstufen hinweg. Bei handwerklicher Fertigung sind diese
Details unverwechselbar.
Der handwerkliche Ausdruck
Ein handwerklicher Ausdruck bedeutet, dass die handwerkliche Fertigung am Bauwerk ablesbar
ist. Er beruht auf dem Vorwissen der Betrachtenden oder auf im jeweiligen Kulturkreis gültigen,
unausgesprochenen Konventionen, welche das Bauwerk als handwerklich erkennbar machen.
Die beschriebenen formalen Eigenschaften, die durch die Fertigung am Bauwerk entstehen
können, bilden die Referenz für einen handwerklichen Ausdruck in unserem heutigen kulturellen
und zeitlichen Kontext. Da auch Architekten und Ausführende Teil des kulturellen Umfeldes
sind, können sie diesen Ausdruck bis zu einem gewissen Grade antizipieren. Der Ausdruck kann
je nach der Absicht des Gebäudes aktiv gesucht werden.
Die handwerkliche Fertigung kann beim Errichten von Architektur unvermeidbar oder bewusst
eingesetzt sein. Das unvermeidbare Handwerk ist nur bei Bauten möglich, bei denen es keine
sinnvolle Alternative zu handwerklicher Fertigung gibt, wie es der Fall bei dem vormodernen
Fallbeispiel ist.
Der handwerkliche Ausdruck kann selbstverständlich entstehen, gewünscht oder vermieden
werden. Nur unvermeidbares Handwerk erzeugt den selbstverständlich entstehenden
handwerklichen Ausdruck.
Ob der handwerkliche Ausdruck gewünscht oder vermieden wird, hängt mit der Absicht des
Bauwerks zusammen.Wird er gewünscht, gibt es verschiedene Möglichkeiten, ihn hervorzurufen
230
oder zu fördern. An den untersuchten Fallbeispielen lassen sich einige grundsätzliche Arten des
Umgangs mit einem handwerklichen Ausdruck unterscheiden.
Eine Strategie besteht im Adaptieren einer empirisch entstandenen, handwerklichen
Konstruktionstypologie. Das Ferienheim Büttenhardt und die Totenstube weisen
beide vereinzelte und gezielt eingesetzte Spuren handwerklicher Arbeitsschritte auf,
welche den Ausdruck unterstützen. Er wird jedoch vor allem durch das Adaptieren der
Konstruktionstypologien des Bohlen-Ständerbaus und des Strickbaus hervorgerufen. Gleichzeitig
bleibt dieser Ausdruck durch die gebrauchten Techniken zeitgenössisch.
Auch das Hotzenhaus nutzt die klassische Bohlenständerkonstruktion. Hier wurde zudem ein
handwerklicher Prozess angewendet, bei dem an geeigneten Stellen freie Umsetzung möglich
ist. Die Verantwortung wurde bis hin zu gestalterischen Entscheidungen mit den Ausführenden
geteilt. Auf diese Weise entstehen nicht forcierte, beiläufige Spuren, die jeweils Nebenprodukte
eines ohnehin notwendigen oder sinnvollen, jedenfalls angemessenen Vorganges sind. Sie
bereichern den handwerklichen Ausdruck vor allem im Detail. Gerade die Details brauchen ein
hohes Mass an Kenntnis, um erkannt zu werden; das Bauwerk ist viel elaborierter, als es zuerst
den Anschein hat.
Bei der neuen Monte-Rosa-Hütte schliesslich bestehen die Referenzen auf das
Handwerkliche der alten Alpenclub-Hütten in den sichtbaren Balken und Details wie
Schwalbenschwanzverbindungen oder den sogenannten ‹digitalen Schnitzereien›. Obwohl
auch bei diesem Bauwerk an anderer Stelle viele handwerkliche Arbeitsschritte vorlagen, sind
diese Referenzen durch determinierte Fertigung entstanden; sie sind abstrahierte Zitate des
Handwerklichen.
Beim Tamedia-Gebäude schliesslich wurde ein Ausdruck zeitgenössischer Fertigungsweisen
gesucht. Obwohl auch hier Handwerk für den Prozess wichtig war, blieb es im Einklang mit
der Absicht des Entwurfes weitgehend spurlos. Die wenigen, dennoch vorhandenen Spuren
handwerklicher Fertigung sind Reparaturen, die dem Ausdruck des Bauwerks eigentlich
widersprechen.
Wahrnehmungspsychologie
Die durch handwerkliche Prozesse möglichen formalen Eigenschaften von Bauwerken sind im
Zusammenhang mit der Wahrnehmungspsychologie relevant. Zu ihnen gehören die geometrische
Unschärfe und die Diversität, die eine hohe quantitative Komplexität in der Wahrnehmung des
Bauwerks bedeuten.
Auch deren Wahrnehmung ist eine Art des impliziten Wissens; Michael Polanyi beschreibt dieses
mit der nicht genau kodifizierbaren Fähigkeit, ein bestimmtes Gesicht zu erkennen.
231
Konnotationen
Das unverwechselbare Objekt
Ist das Bauwerk ein unverwechselbares Objekt mit einer eigenen Geschichte und einem Hier und
Jetzt im Sinne Walter Benjamins, kann es zum Träger von Konnotationen werden. Handwerkliche
Fertigung kann es mit bestimmten Assoziationen verbinden, die auf dem Wissen um die
handwerkliche Fertigung bei den Betrachtenden beruhen.
Wenn diese nichts von der Herstellung eines bestimmten Hauses wissen, bildet der handwerkliche
Ausdruck die Grundlage für das Entstehen der Konnotationen. Die Betrachtenden können dann
vom Gebäude auf dessen handwerkliche Erstellung schliessen, ohne konkrete Kenntnisse über
den Bauprozess zu haben.
Bedeutung
Das Wissen um die Fertigung fliesst in einem solchen Falle in die Bewertung des Bauwerks mit
ein. Eine mögliche gedankliche Verknüpfung ist die Zeitlichkeit. Die aufgewandte Lebenszeit
und die Sorgfalt der am Bau Beteiligten kann das Gebäude mit Bedeutung aufladen. Dies kann
auch sehr bewusst geschehen, indem in Entwurf und beim Bau mehr Aufwand an Ressourcen,
Zeit und Sorgfalt in bestimmte Teile des Bauwerks gesteckt wird als eigentlich notwendig, um
diese besonders hervorzuheben. Sorgfalt und Zeit sind so als Konnotation mit dem Bauwerk
verknüpft.
In solchen Fällen sind Bauwerke Kommunikationsmittel zwischen den Entwerfenden oder
Ausführenden und den Betrachtenden. Spuren des Machens können auch Spuren des Menschen
sein.
Imitation
Beruht ein handwerklicher Ausdruck nicht tatsächlich auf einer ebensolchen Fertigungsweise, so
handelt es sich um eine Imitation. Sobald diese erkannt wird, verändern sich die Konnotationen
grundlegend. Die Verknüpfung eines Bauwerks mit der zu seinem Bau notwendigen Sorgfalt
und Zeit funktioniert dann nicht mehr, an ihre Stelle können Assoziationen mit Täuschung oder
Künstlichkeit treten.
Emergenz
In diesem Sinne kann man beim Bauen von einem möglichen Emergenzphänomen sprechen: das
bedeutet, dass das Bauwerk als Ganzes mehr ist als die Summe seiner einzelnen Komponenten,
so wie das bestimmte Gesicht mehr ist als die Anordnung von einzelnen Organen. Dieses
‹Mehr› ist jedoch nicht klar benennbar: Das Ganze kann nicht durch die Beschreibung der
Partikularitäten erklärt werden. Die Emergenz ist nach Polanyi wiederum ein Teil des impliziten
Wissens auf Seiten des Betrachters.
232
Das Ideal der Symmetria
Das im Bauhandwerk angestrebte Ideal ist nicht absolut, sondern relativ. Die Angemessenheit
der eingesetzten Ressourcen im Verhältnis zur Absicht des Bauwerks muss gesucht und stets neu
festgelegt werden. Dieses Abwägen verschiedener Faktoren bringt mit sich, dass Entscheidungen
oft mehrdeutig sind: formale, technische und kulturelle Fragen können prinzipiell gleichwertig
behandelt werden, gleichzeitig sind Entscheidungen oft nicht nur durch eine davon bestimmt.
Diese Mehrdeutigkeit zusammen mit den aus dem iterativen Prozess entstehenden Unschärfen
und den dennoch über das gesamte Bauwerk wirksamen Gesetzmässigkeiten der Fertigung
erzeugt Bauten aus organisch zusammengehörigen Komponenten.
Ein Begriff zum Beschreiben dieses Ideals ist der antike Symmetriebegriff. Symmetria
beschreibt das ausgewogene Verhältnis zwischen den Teilen eines Ganzen zueinander und zum
Ganzen selbst. Dies überschreitet rein formale Aspekte und schliesst auch die Ressourcen, die
Absicht und den Kontext des Bauwerks ein. Handwerk in der Architektur strebt nicht Originalität,
sondern Selbstverständlichkeit an.
Dieser Anspruch entspricht dem Schönheitsbegriff des καλός, welcher über die ästhetische
Schönheit hinaus die funktionale Eignung und die Angemessenheit einschliesst.
233
4.Ausblick
Das Wesen handwerklicher Prozesse beruht auf dem Verteilen von Wissen und Verantwortung.
Sie sind dezentral gesteuert. Dieses System verstärkt sich selbst, indem es seine eigenen
Rahmenbedingungen aufbaut: mit der verteilten Verantwortung entstehen und verstärken sich das
Können und das Ethos. Es gibt in einem solchen Prozess keinen absoluten Zwang, alle Fehler
und Unwägbarkeiten auszuschalten, stattdessen ist das Reagieren darauf dessen natürlicher
Bestandteil
.
Umgekehrt führt ein Zentralisieren der Verantwortung im idealen fragmentierten Prozess dazu,
dass auch die Qualitätssicherung der Arbeit zentralisiert werden muss. Alle Eventualitäten der
Ausführung müssen vorher bedacht sein, ein Ethos au Seiten der Ausführenden entsteht nicht.
Auch dieser Prozess verstärkt sich selbst. Die Vereinfachung und Homogenisierung der Bauten
sind schlussendlich eine Folge der Rahmenbedingungen, die der fragmentierte Prozess schafft.
Doch auch in solchen Prozessen scheinen Menschen als Faktor sehr wichtig zu sein. Nicht nur
deren Wissen, Können und Erfahrung, sondern sogar deren persönliche Situation beeinflussen
den Bauprozess.338 Diese Faktoren liegen oft nicht auf der Hand, werden kaum adressiert
und sind eher vermeintlich «weiche» Faktoren eines Projektes, die dennoch einen grossen
Einfluss auf sein Gelingen haben. Natürlich könnte die Lösung darin gesucht werden, diesen
Unsicherheitsfaktor möglichst völlig auszuschliessen. Doch das Übertragen von Verantwortung
gehört zur menschlichen Kultur. Im Kontext seines Plädoyers für die Freiheit der Wissenschaften
schrieb Michael Polanyi kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges darüber, wie verbreitet das
Übertragen von Entscheidungsfreiheiten in der Gesellschaft ist: «The granting of such discretion
to individuals for the purposes of their profession is fairly common in all departments of life.
Holders of higher posts in Business, Politics, the Law, Medicine, the Army, the Church, are
all invested with powers which enable them to follow their own intuitive judgment within the
framework of certain rules.»339
Die untersuchten Beispiele haben zudem gezeigt, dass eine scharfe Trennung zwischen
fragmentierten und handwerklichen Bauprozessen – jedenfalls bei den untersuchten Bauwerken,
die allerdings mit einem hohen architektonischen Anspruch errichtet wurden – nicht existiert. Es
gibt Grauzonen: selbst bei den stark mechanisiert und in fragmentierten Prozessen errichteten
Gebäuden spielte das handwerkliche Wissen eine grosse Rolle. Anzuerkennen, dass auch
in zeitgenössischen und hochkomplexen Projekten der Faktor Mensch, das handwerkliche
338
Diesen Gedanken betonte Martin Antemann im Gespräch mit dem Verfasser (Antemann 2015).
339
Polanyi 1964
234
Können und Wissen und sogar das Ethos eine Bedeutung haben, kann auch fragmentierte
Prozesse insgesamt flexibler und resilienter machen oder allgemein helfen, deren Schwächen zu
kompensieren.
Am Anfang steht jedoch die Erkenntnis, dass der Dualismus aus Handwerk und Innovation nicht
haltbar ist. Sieht man Innovation als die Möglichkeit, auf sich verändernde Rahmenbedingungen
reagieren zu können, so ist sie kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Problemlösen. Es besteht
eine grosse Chance darin, diese vermeintliche Dualität zu hinterfragen und zu versuchen, das
Beste aus beiden Welten zu suchen, wie es heute schon stillschweigend (‹tacitly›) geschieht.
Diese Untersuchung zeigt einige Möglichkeiten einer solchen Vorgehensweise. Auf der Ebene der
Wahrnehmung mag es eine wichtige Aufgabe der Architektur in unserem Kulturkreis sein, Mittel
zum Umgang mit der fortschreitenden Abstraktion der gebauten Umwelt zu finden.
Die Qualität handwerklicher Arbeit an sich ist Thema für andere Untersuchungen. Die Verteilung
der Verantwortung impliziert in letzter Instanz Selbst- und Mitbestimmung.
Schliesslich lassen gerade absolute Kriterien wie der ökologische Einfluss auf die gebaute
Umwelt, der nachhaltige Umgang mit Ressourcen und allgemein der gesellschaftliche Nutzen
der Architektur den Blick auf handwerkliches Bauen als sehr lohnend erscheinen. Handwerk
ist komplex und rein rational nicht völlig fassbar. Gerade das implizite Wissen kann nicht in
Systemen abgebildet werden. Es ist aber nur eine mögliche Sichtweise, dies als Nachteil zu
sehen: Menschen sind ebenfalls komplex und rational nicht völlig fassbar. Handwerk reagiert auf
die Welt.
235
236
Anhang
237
Daten der untersuchten Fallbeispiele
Hochstudhaus in Birrwil («Spittelfritzenhaus»)
Adresse
Zopf 106, Birrwil AG
Bauherranonym
Architektur und Konzeption tradierte Typologie
Ausführende Holzarbeiten (lokale Zimmerleute, Eigenleistung der Bauherrschaft möglich)
Baujahr
1692 (Inschrift auf Sturzriegel Scheunentor)
Archivalien, Dokumente etc. Denkmalpflege Kanton Aargau, Kurzinventar Birrwil Inv. Nr. 909
Liebegger Gerichtsmanualen, recherchiert von Willi Hintermann (vgl. Inventar)
Brandkatastereintrag von 1876
Gespräche mit Claus Niederberger, ehemaliger kantonaler Denkmalpfleger Luzern, sowie Cecilie Gut und Jonas Kallenbach von der kantonalen Denkmalpflege Aargau.
Haus Graubner / Hotzenhaus
Adresse
D-Herrischried, Ortsteil Grossherrischwand
BauherrWolfram Graubner
Architektur und Konzeption Hugo Kückelhaus / Wolfram Graubner
Ausführende Holzarbeiten Wolfram Graubner, Zimmerei Hotzenholz Herrischried
Baujahr
Oktober 1982 bis 1985 (jeweils über Winter)
Archivalien, Dokumente etc. Graubner 1986
Gespräche mit Wolfram Graubner sowie den neuen Nutzern.
Neue Monte-Rosa-Hütte
BauherrSAC
Architektur und Konzeption ETH Studio Monte Rosa
Ausführende Holzarbeiten Holzbau Bumann, Mörel VS
Baujahr2008-2009
Archivalien, Dokumente etc. Eberle et. al. 2010
Holcim 2015
238
Gespräch mit Egon Bumann, Projektleiter Holzbau.
Totenstube
Name Stiva da Morts / Totenstube
AdresseVrin
BauherrGemeinde Vrin
Planung und Konzeption
Gion A. Caminada
Ausführende Holzarbeiten Holzbau Alig, Vrin GB
Baujahr2002
Archivalien, Dokumente etc. Cabalzar et. al. 2003
Schlorhaufer et. al. 2006
Mazuch 2008
Gespräche mit G.A. Caminada und Zimmerer Claudio Alig
Ferienheim Büttenhardt
Adresse
Ferienheim 47, Büttenhardt SH
BauherrBeat Mader
Architektur und Konzeption Bernath + Widmer Architekten, Zürich
Initiator kernfreies Laubholz Heiri Bührer, Bibern
Ausführende Holzarbeiten Zimmerei Brädäx, Michael Koller, Appenzell
(Bergauer Holzbau, Büttenhardt)
Baujahr2008-2010
Archivalien, Dokumente etc. Fotodokumentation der Aufrichte auf http://www.braedaex.ch/67/zimmerei-referenzen
Simon 2010
Website Bernath + Widmer bernathwidmer.ch
Bernath, Widmer o.J.
Gespräche mit Beat Mader (Bauherr), Benjamin Widmer (Architekt) und Michael Koller (Zimmerermeister).
Tamedia-Gebäude
Adresse
Werdstrasse 15, Zürich
BauherrTamedia AG
Architektur und Konzeption Shigeru Ban Architects
Ausführende Holzarbeiten Blumer-Lehmann AG, Gossau SG
BaujahrEröffnung 2013
Archivalien, Dokumente etc. http://www.tamedia.ch/de/unternehmen/tamedia/neubau-werd/
Gespräche mit Projektleiter Holzbau Martin Antemann und Christoph Zimmer, Leiter Unternehmenskommunikation der Tamedia AG
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243
Bildnachweis
Kohlezeichnungen, Aufmasse und Skizzen von U. Herres.
Die CAD-Skizzen wurden von Eduardo Gascon Alvarez überarbeitet.
Alle Fotografien von U. Herres, mit Ausnahme von:
Luc Merx
S. 11
Hanspeter Bürgi
S. 19
Lukas Galantay
S. 33, S. 237
Wikipedia S. 142, S.146, S. 147 oben, S. 153 oben ( Open Source, Fotograf HWKing)
Patrick Unruh: S. 147 unten, S. 153 unten
Holzbau AG, Mörel: S. 170
244
Danke
Ich möchte mich herzlich bei den Personen bedanken, die zum Entstehen dieser Arbeit
beigetragen haben.
Zuerst bei meinen Betreuenden Annette Spiro, Dieter Geissbühler und Tina Unruh, die die
Entwicklung des Themas stets motivierend, unterstützend, im positiven Sinne kritisch und mit
grosser Energie und Kompetenz begleitet haben.
Ohne die freundschaftliche Unterstützung von Luc Merx wäre die Entwicklung der Fragestellung
nicht möglich gewesen.
Mit Yves Dusseiller, Oliver Zumbühl und Guido Eifel habe ich lange und hilfreiche Diskussionen
über Handwerk führen können und von ihnen viele wertvolle Anregungen erhalten.
Auch mit meinen Kollegen der Abteilung Architektur der HSLU – T&A konnte ich die Arbeit
zu verschiedenen Phasen diskutieren. Dies sind vor allem Hanspeter Bürgi, Eduardo Gascon
Alvarez, Lukas Hodel, Christian Hönger, Marvin King, Peter Omachen, Christoph Schindler,
Christoph Wieser und Rainer Vonäsch. Besonders danke ich Stefan Kunz und meiner Schwester
Ina Trouet für das sorgsame Korrekturlesen.
Wertvolle Unterstützung und Input in verschiedenen Phasen der Arbeit kamen von Martin Düchs,
Andri Gerber, Conny Grünenfelder, Cecilie Gut, Stefan Hradil, Jonas Kallenbach, Adrian Knüsel,
Werner Oechslin, Sarah Pape, Ben Schürrer und Patrick Unruh.
Für wichtige Interviews und Diskussionen standen Claudio Alig, Martin Antemann, Egon
Bumann, Gion Caminada, Thomas Gindhard, Valentin Groebner, Julian Harrap, Michael Koller,
Claus Niederberger, Juhani Pallasmaa und Benjamin Widmer zur Verfügung. Besonders möchte
ich Wolfram Graubner danken, mit dem ich mehrere wertvolle Gespräche über das Wesen des
Handwerks führen durfte.
Die Besitzer der analysierten Gebäude ermöglichten unkompliziert den Zugang und standen für
Gespräche zur Verfügung, besonders Beat Mader (Büttenhardt), Christoph Zimmer (Tamedia)
und das Buddhistische Studienzentrum im Johanneshof (Hotzenhaus).
Die Unterstützung der Hochschule Luzern – Technik & Architektur, besonders durch Andrea
Weber und Johannes Käferstein, und die Finanzierung des Projektes durch den Schweizerischen
Nationalfonds SNF haben dieses Projekt erst möglich gemacht.
Ich danke meiner Familie für ihre stetige Ermutigung. Ganz besonders danke ich meiner Frau
Nicole Kirsch für alles, nicht zuletzt für ihre Fähigkeit als echte Handwerkerin, mich zuweilen
aus der Theorie wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen.
245
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