GLASWAND UND „HAUT UND KNOCHEN“ KONSTRUKTION Die Dramaturgie in den Fassaden des Dessauer Bauhauses entsteht aus der Verwendung unterschiedlich großer Fensterflüchen -Glaswände, Fensterbänder, Einzelfenster. Über den Grad der Einsehbarkeit aus dem Außenraum wird in der Fassade die unterschiedliche Wertigkeit der „Funktionen“ angezeigt. Die auffälligste Neuerung des Dessauer Bauhauses ist die gläserne Außenwand des Werkstattbaus. Die großen Glasflächen zielen jedoch nicht auf eine Aufhebung der Grenzen zwischen Innen und Außen. Sie schaffen keine Übergänge. Diese immer wieder als eine beherrschende Raumidee der Moderne herausgestellte Tendenz liefert nicht die tragende Idee des Bauhausgebäudes. Vielmehr ist es das Spiel mit der Neugier der Betrachter durch unterschiedliche Grade von Offenheit, die Einblicke in das Innenleben des Gebäudes ermöglichen. Zwischen den verschiedenen Gliedern des Komplexes gibt es keine direkte Verbindung; auch gibt es keine direkte Verbindung aus den Innenräumen in den Außenraum. Ein zusammenhängender Rundgang durch das Innere der verschiedenen Gebäudeteile ist nicht möglich. Die Volumen sind auf ihre Wahrnehmung vom Außenraum her entworfen. Jeder Flügel des Komplexes ordnet sich dem Außenraum durch einen eigenen Eingang zu. Die Eingänge verankern die Volumen im Außenraum, schaffen öffentliche oder - wie bei der Dachterrasse des Atelierhauses – intime Außenräume. Zugänglich für einen Außenstehenden ist eigentlich nur die „Brücke“ sowie der Gebäudeteil der gewerblichen Berufsschule mit ihrer traditionellen Aufteilung in Klassenräume und Flure. Das Ausmaß der Glasflächen in den Außenwänden hat Rückwirkung auf das Wandgefüge und Tragesystem im Inneren. Nur wo die Außenwand von einer unmittelbaren Tragefunktion entbunden ist und der Lastabtrag über ein Betonskelett im Inneren erfolgt, kann sie in eine transparente Außenhaut umgewandelt werden. Beim Werkstattflügel sind die Glasflächen nicht zwischen Decke und Fußboden der Geschosse eingespannt, sondern in einem Sprossengitter zu einer zusammenhängenden Außenwand verbunden. Sie ist an der auskragenden Dachfläche befestigt, so dass sie vor den Stockwerken hängt und nur zur Aussteifung daran verankert ist - daher der Name „Vorhangfassade“. Dass dabei „Lärmbrücken“ zwischen den einzelnen Geschossen entstehen, hat Gropius hingenommen; in den dreißiger Jahren dienten solche Mängel den Kritikern des Bauhauses als Argument und leicht plausibel zu machender Hinweis auf den vermeintlichen Pfusch und das Versagen der Moderne. Die Last der Geschoßdecken, die nehmen Betonpfeiler auf. Sie zurückgesetzt. So ragen nur noch um nicht hinter der Glasfläche kaschiert. nicht mehr über die Außenwand abgetragen werden kann, sind um mehr als einen Meter hinter die Glaswand die schmalen Stirnflächen der Decken nach außen und sind sichtbar zu werden - durch einen schwarzen Anstrich Das Spiel der Dramaturgie unterschiedlich großer Öffnungen und Einblicke wird im Vorhof vor der „Brücke“ zwischen den beiden Aufgängen am anschaulichsten. Die beiden Aufgänge setzen den Kontrast. Nur im Bauhausflügel rechts ist das Treppenhaus über eine sprossenlose Glasfläche nach hinten offen, so dass im Gegenlicht die vertikalen Bewegungen der Personen in scherenschnitthaften Umrissen sich abzeichnen. Über die ganze Länge der »Brücke« verlaufen übereinander die beiden Fensterbänder, ununterbrochen, so dass die horizontalen Bewegungen in den Fluren dahinter ganz unverstellt sichtbar sind. Die tragende Stützenreihe verläuft hinter dem Flur im Inneren des Schlauchs, so dass bei den Zeichensälen der Architekten über dem Büro des Direktors auf Trennwände zum Flur verzichtet werden konnte - Ateliers frei einsehbar, in frei arrangierbaren Zonen. In der Inszenierung von Bewegungs- und Aktionsräumen hat Gropius dem Bauhausgebäude 1 den theatralischen Ausdruck eines Bühnengerüsts aus Brücken, Treppen und Plattformen für simultane Auftritte gegeben. Theaterbauten sind eines der durchgängigen Themen in der Architektur von Gropius. Für ihn übernimmt der Theaterbau eine ähnliche Rolle als Medium des sozialen Lebens wie für Le Corbusier der Entwurf von Sportstätten. Aber auch seine Praxis als Direktor des Bauhauses, sein Habitus und die Art und Weise, wie er in der Entwicklung des Bauhauses die kooperativen Prozesse zu immer neuen Konstellationen führt, ist von Regievorstellungen gekennzeichnet, vergleichbar dem Wirken der großen Intendanten und Regisseure der Weimarer Zeit und ihrer kulturellen Rolle - Regisseur sein, nicht Bauführer. Mit dem Wechsel von unterschiedlichen Öffnungen in den Volumen korrespondiert das innere Tragesystem der verschiedenen Gebäudeglieder. Da in Teilen des Gebäudes die Wände ihre tragende Funktion schon an eine Kombination von Stützen und Unterzügen abgegeben haben, verliert das Wandgefüge seine raumzonende Bedeutung für den Grundriss. Im Inneren der bis zu 17 Meter breiten Geschosse des Werkstattflügels lässt der Architekt einen von tragenden Wänden freien Innenraum entstehen, einen „Allraum“, der eine „Variationsmöglichkeit der Raumfolgen“ ermöglichen soll. Die Decken liegen auf langen Betonunterzügen auf, die ihre Last von Außenwand zu Außenwand tragen. Kombiniert mit Fensterbändern oder Fensterflächen wird das Tragesystem zu einem „Haut und Knochen“-System, wie es Mies van der Rohe 1923 genannt hat. Um große Räume mit möglichst großen Fensterflüchen kombinieren zu können, hatte sich im Fabrikbau ein System der Konstruktion in Stahlbeton entwickelt, das tragende Innenwände durch Unterzüge und die Außenwände durch Betonstützen ersetzte. Über das Tragesystem werden die deutlichsten Assoziationen des Bauhausgebäudes zu industriellen Produktionsstätten vermittelt, Damit aber die leichten Gerippe nicht labil werden, hat Gropius sie durch harte Kerne an den Ecken und Enden stabilisiert. Ein Wechsel von geschlossenen und offenen Volumen, Räumen mit Querwänden oder offenen „Räumen“ mit Pfeilern bildet ein Gefüge, dessen Teile sich wechselseitig stabilisieren. Wo - wie zum Beispiel beim Bühnenraum und der daran anschließenden Mensa - die beiden großen Innenräume ganz ohne Stützen auskommen, hat Gropius die Außenwände massiv (verputzte Betonpfeiler mit Ziegelwand) ausgeführt. Weil die einzelnen Gebäudeglieder von der Verschiedenartigkeit der Außenwände leben, die mit unterschiedlich durchlässigen Innenräumen kombiniert sind, kommt es zu einem komplizierten Geflecht von Unterzügen, das auf die unterschiedlichen Außenwandsysteme Glaswand oder Massivwand usw. - reagiert. Gropius hätte die Unterzüge auch verkleiden können. Aber er lässt sie wie im Fabrikbau sichtbar. Pfeiler und Unterzüge bilden ein Gerippesystem, das die Kuben durchzieht wie das Geflecht eines Gitterkorbs. Das Geflecht von Unterzügen wird dabei zum geometrischen Deckenrelief. Dies darf als ästhetische Besonderheit des Bauhauses gelten: Gropius hebt das Tragesystem der Unterzüge über eine reine Ingenieurkonstruktion hinaus, indem er es ornamental ausformt. Das Gebäude in Dessau hat keine durchgängige konstruktive Systematik, kein durchgängiges Entwurfsraster. Es bietet keine Lektion ablesbarer Prinzipien für eine Verallgemeinerung des Betonskelettbaus. Jedes der Gebäudeglieder des Bauhauskomplexes in Dessau hat eine besondere Ausprägung des Volumens mit einem eigens für diesen Zweck ausgearbeiteten Betongerüst. Erst Le Corbusier hat anlässlich seiner Bauten in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung 1927 zusammengefasst, welche neuen Möglichkeiten der Raumgestaltung auf der Grundlage des Betonskeletts sich zu eröffnen begannen; er nennt sie die „Fünf Punkte zur modernen Architektur“ und betrachtet sie als Grundlage der architektonischen Revolution der Moderne. In diesem Programm hat er die Idee des Hauses auf Stützen (Punkt 1) radikalisiert und gab dem Flachdach eine Begründung als Dachterrasse (Punkt 2). Allein in der konsequenten Verwendung von Fensterbändern (Punkt 4) und der Einlösung der Forderung nach nichttragenden „freien Fassaden“ (Punkt 5) entsprach das Bauhausgebäude den fünf Forderungen. Einen „freien Grundriss“ (Punkt 3), der in jedem Geschoß anders sein kann, da nicht mehr die Mauern, sondern Stützen fragen, hat das Bauhaus zwar nicht; aber die Idee des „Allraums“ geht der Forderung nach „freiem Grundriss“ voraus. Das Ziel einer Durchdringung, des Ineinanderfließens von Innen- und Außenraum, ist erst eine Leistung Mies von der Rohes, der 1929 den Barcelona-Pavillon als ein offenes Gefüge von 2 Wand und Deckenplatten entwarf. Zu dieser Zeit hatte Mies bereits als Nachfolger von Gropius und Hannes Meyer 1930 die Direktion des Bauhauses übernommen. Aus: Thilo Hilpert, Walter Gropius, Das Bauhaus in Dessau, Frankfurt/Main, 1999, S. 53 3