Die psychosomatische Tagesklinik – ein neues Behandlungskonzept? Prof. Dr. Jörn von Wietersheim Abt. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Entwicklungslinien der psychiatrischen Tagesklinik 1933 Dzhagarov eröffnet das erste Krankenhaus ohne Bett in Moskau 1946 Cameron eröffnet in Montreal eine Tagesklinik 1946 J. Bierer eröffnet in London eine Tagesklinik mit: Einzel- und Gruppenbehandlung 1949 Tagesklinik der Memminger Foundation in USA 1952 Tagesklinik des Massachusetts Mental Health Center 1961 Tagesklinik der Heckscher Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie München 1962 Tagesklinik der Frankfurter Universitätsklinik als Teil eines sozialpsychiatrischen Systems 1965 Tagesklinik des Rheinischen Landeskrankenhauses Bonn 1966 Tagesklinik des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Winnenden 1967 Tagesklinik der Rheinischen Landesklinik Düsseldorf und der Universität Heidelberg 1968 Tageskliniken in Hannover, Stuttgart und Tübingen 1969 Tagesklinik der Nervenklinik Spandau und in Rheydt-Mönchengladbach 1970-80 Gründung doppelt so vieler Tageskliniken wie von 1962 bis 1969 1977 Tagesklinik der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster 1980-83 so viele Neueröffnungen wie im Jahrzehnt zuvor 1986 bestehen geschätzte 120 bis 150 Tageskliniken mit 2400 bis 3000 Pl.; die Wochenpläne werden therapeutisch 1995 Beinahe jedes psychiatrische Krankenhaus verfügt über eine Tagesklinik 1998 Differenzierung in Sucht-, gerontopsychiatrische und allgemeinpsychiatrische Tageskliniken Entwicklung der Behandlungskapazitäten in psychosomatischen Einrichtungen in Deutschland Rehabilitationskliniken, Krankenhäuser und Tageskliniken 16 In Tausend 14 12 10 8 6 4 2 0 1948 1952 1956 Tagesklinik 1964 1968 1972 1976 Krankenhäuser 1980 1984 1988 1992 2002 Reha-Kliniken Psychosomatische Tageskliniken in Deutschland _ _ _ _ __ _ _ __ __ _ _ _ _ _ __ ___ _ _ _ _ _ Hamburg Rosengarten Quakenbrück Magdeburg Halle (2) Dessau Berlin Düsseldorf Essen (Köln) Ratingen Bielefeld Bergisch-Gladbach Frankfurt Dresden (2) Leipzig Chemnitz (Erlangen) (Nürnberg) (München) Ulm Esslingen Stuttgart (2) Freiburg (Basel) Zeitkontingente in unterschiedlichen Settings 120 8 100 80 60 Kontakt mit Familie und Privatem 72 111 104 40 20 0 40 1 Ambulante Bhdl. Teilstat. Bhdl. Stat. Bhdl. Kontakt mit Therapeut od. Setting Besonderheiten der psychosomatischen Tagesklinik ν ν ν ν ν ν Starke Interaktion zwischen Real- und Therapiewelt Tägliche Auseinandersetzung mit Trennung Evtl. geringerer Einfluss der therapeutischen Gemeinschaft Geringere Regressionsmöglichkeiten Kostenvorteile Weniger Stigmatisierung, dadurch evtl. bessere Akzeptanz Essanfälle vor, während und nach stationärer Behandlung bei Bulimia nervosa % 100 90 <2 2 und mehr Essanfälle 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Quart. vor 1. Hälfte 2. Hälfte Therapie stat. Therapie 1 2 3 4 Quartale nach Therapie 5 6 Unterschiede von Tagesklinik und stationärer Behandlung Station Tagesklinik ν ν ν ν ν Training und Überprüfung in Realität Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen Täglicher Wechsel Therapie - Realität (Ablösung) Bessere Einbeziehung von Partner und Familie Weniger Stigmatisierung ν ν ν ν ν ν Entfernung aus Umfeld Mehr therapeutische Gemeinschaft Mehr Kontrollmöglichkeiten Mehr Ansprachemöglichkeiten Mehr Regression Transferprobleme Empirische Ergebnisse tagesklinischer Behandlung Autoren Vergleich Patienten Piper et al., 1993 TK vs. Warte gruppe Affektive und TK-Behandlung Persönlich überlegen keitsstörungen Dick et al., 1991 TK vs. ambulante Psychoth. Ängste und Depressionen Gerlinghoff Stat. vs. TK Essstörungen et al., 1997 (Erfahrungsbericht) Ergebnis TK-Behandlung überlegen TK ebenso gut wie stationär Marshall et Cochrane -Report al., 2001 Stat. vs. TK Akutpsychiatr. TK ebenso gut wie Patienten stationär Marshall et Cochrane -Report al., 2001 TK vs. ambulant Akutpsychiatr. TK ebenso gut wie Patienten ambulant (?) Zeeck et al., 2004 TK vs. Stat. Neurotische (Erfahrungsbericht ) Störungen Pat. ähnlich beeinträchtigt, TK ebenso gut wie stat. Indikationskriterien für teilstationäre Psychotherapie 1 Für eine teilstationäre psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung sprechen ν die gleichen Gründe wie für eine vollstationäre Psychotherapie (Schwere der Störung, ambulante Therapie nicht ausreichend). Ergänzend können spezielle Indikationskriterien eine Rolle spielen: Familie/Umgebung ν Wenn der Kontakt zur gewohnten Umgebung erhalten werden soll. ν Wenn Pflege und Versorgung von Familienangehörigen (Ehemann, Kinder, Großeltern) oder Tieren (Hunde, Katzen) anfallen. ν Wenn es darum geht, Angehörige intensiver (als bei stationärer Behandlung möglich) in die Therapie einzubinden (Paar- und Familiengespräche). Arbeit/Soziales Umfeld ν Wenn Kontakte zum Arbeitgeber, Arbeitsamt, sozialen Einrichtungen nur im tagesklinischen Rahmen möglich sind (Ortsferne der stat. Behandlung) ν Wenn die Kombination aus Therapie („ganztags“) und Alltag eine produktive Übungssituation für einen Wiedereinstieg ins Berufsleben darstellt. Indikationskriterien für teilstationäre Psychotherapie 2 Krankheitsspezifische Gründe ν Bei Störungen, bei denen ein Transfer ins Umfeld besonders schwierig ist (z.B. Essstörungen, Phobien) ν Wenn die Krankheit zu einem erheblichen sozialen Rückzug geführt hat ('Nicht mehr aus dem Haus gehen'), und es gilt, diesen vor Ort schrittweise wieder zu beheben. ν Bei Nähe-Distanz-Problemen, die eine stationäre Behandlung zu einer Überforderung werden lassen. ν Bei ausgeprägter Regressionsneigung, „Flucht in die Klinik“. Behandlungsmotivation/Integration des teilstationären Angebots in Behandlungskette ν Bei Angst von sozialer Stigmatisierung („Schwellenangst“). ν Als Übergang aus einer stationären Therapie. Gegen eine Therapie in der Tagesklinik sprechen Organisatorisches ν Anfahrtsweg länger als eine Stunde ν Keine Kostenübernahme ν Keine Motivation/Freiwilligkeit/Geringe Zuverlässigkeit Krankheitsspezifische Gründe: ν Notwendigkeit einer medizinisch/körperlichen Überwachung rund um die Uhr ν Akute Suchterkrankung ν Nicht kontrollierbares impulsives Verhalten innerhalb oder außerhalb der TK ν Akute Psychosen, Selbst- und Fremdgefährdung, Zwangsunterbringung ν Wenn die Anfahrt aus Krankheitsgründen nicht zu bewältigen ist Im sozialen Umfeld liegende Gründe: ν Kein die teilstationäre Behandlung mittragendes Umfeld, z.B. kein Wohnsitz ν Dringende Gründe, sich aus dem Lebensumfeld zu distanzieren, z.B. Gewalt in der Familie oder anhaltende Konflikte Stundenplan Psychosomatische Tagesklinik Montag 8.00 – 9.00 8.30 – 9.00 Frühstück 9.00 - 10.00 Gruppe trifft Chef 10.00 - 11.00 9.30 – 10.30 Gruppentherapie Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag 8.30 – 9.30 Frühstück 8.30 – 9.30 Frühstück 8.30 – 9.30 Frühstück 8.30 – 9.30 Frühstück 9.30 – 10.30 Musiktherapie 9.30 – 10.30 Gruppentherapie 9.30 – 10.30 Musiktherapie 9.30 – 10.30 Gruppentherapie 11.15 – 12.00 Selbstsicherheit straining Einzeltermine 11.15 – 12.00 Entspannung 12.00 – 13.00 Mittagessen 12.00 – 13.00 Mittagessen 12.00 – 13.00 Mittagessen Essstörungsgruppe 13.30 – 14.00 13.35 – 14.45 Maltherapie Einzeltermine 11.00 - 12.00 12.00 - 13.00 13.00 - 14.00 14.00 - 15.00 15.00 - 16.00 Einzeltermine 12.00 – 13.00 Mittagessen 12.00 – 13.00 Mittagessen 13.00 – 13.45 Entspannung 14.00 – 15.30 Kreativitätsgruppe 14.00 – 15.15 Gruppenaktivität in Eigenverantwortung 14.00 – 15.30 Maltherapie Patientenplenum 14.00 – 15.00 Visite / Einzeltermine Team Oberärztin: Dr. E. Kammerer (50 %) Arzt im Praktikum: H. Kessler Krankenschwester: A. Rapp-Dworschak Soziotherapeutin: R. Wilke (50 %) Kunstherapeuten: L. Szkura (50 %) A. Danner-Weinberger Sozialarbeiter: F. Golling (50 %) Dipl.-Psychologin: B. Bunz (25 %) Musiktherapeutin: N. Scheytt (25 %) Sekretariat: G. Unsöld (25 %) Räume Aufenthaltsraum Küche und Speiseraum Stationszimmer Ruheraum Weitere Therapieräume für Musiktherapie Kunsttherapie Einzeltherapie Entspannung Aufenthaltsdauer in der Psychosomatischen Tagesklinik 25 20 15 N 10 5 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 130 140 180 Tage N = 49 Dauer Aufenthalt Tage anwesend Dauer Aufenthalt: Tage von Aufnahme zur Entlassung. Tage anwesend: Tage, an denen der Pat. behandelt wurde (ohne Wochenende, Feiertage, Fehltage wg. Krankheit etc.) Hauptdiagnosen (Aufnahmen 2003) in der Psychosomatischen Tagesklinik (N = 55) Sonstige 4 % Abhängigkeitssyndrom 4 % Persönlichkeitsstörung 13 % Depressive Episoden und Dysthymia 30 % Bulimia nervosa 16 % Anorexia nervosa 9 % Angststörung 9 % Somatoforme Störung 5 % Qualitätssicherung und Forschung in der Ulmer Tagesklinik ν ν ν ν Qualitätssicherung mit Akquasi Psychopathologie (SCL 90-R), Beziehungsgestaltung (IIP), Psychische und körperliche Beschwerden (BSS), ergänzt durch Zielfragebögen Datenerhebung zu Beginn und Ende der tagesklinischen Behandlung sowie zur Katamnese nach 6 Monaten Weitere Projekte: Forschung in der Kunsttherapie, Qualitative Forschung über die speziellen Effekte der Tagesklinik, Beurteilung der einzelnen Komponenten der Therapie Das Stuttgart- Heidelberger Modell - Beispiel „guter Verlauf“ Gesamtüberblick und Erfolgsbewertung auf Grundlage des QS-Inventars BSS THE Aufnahme 6 Entlassung -- 4 Mittelwert/ Cutoffpoint 5 8 Streuung 0 PAE LQ GBB Patient: 1144580948112 SCL 1 SCL 2 SCL 3 SCL 4 SCL 5 SCL 6 SCL 7 SCL 8 SCL 9 GSI IIP 1 IIP 2 IIP 3 IIP 4 IIP 5 IIP 6 IIP 7 IIP 8 27 28,0 0,6 0,7 0,7 0,7 0,4 1,7 0,0 1,2 0,4 0,7 11,0 10,0 14,0 17,0 18,0 16,0 16,0 12,0 4 19 20,0 0,2 0,2 0,7 0,4 0,3 0,8 0,3 0,7 0,0 0,4 16,0 13,0 9,0 15,0 18,0 16,0 17,0 11,0 7 28 15,7 0,4 0,5 0,4 0,4 0,3 0,3 0,1 0,4 0,2 0,3 8,8 9,6 9,6 10,1 11,5 11,6 12,3 9,8 0 13,3 0,3 0,4 0,4 0,4 0,3 0,3 0,2 0,4 0,2 0,3 5,2 5,4 5,4 5,8 6,0 5,3 4,9 4,9 Diagnose (ICD-10): F 50.0 (Entlassung) Variablen der Spalten Erfolgsbewertung: guter Verlauf BSS: Beeinträchtigungsschwere-Score THE: Ergebniseinschätzung Therapeut PAE: Ergebniseinschätzung Patient LQ: Lebensqualität GBB: Gießener Beschwerdebogen SCL-90-R Skala 1: Somatisierung SCL-90-R Skala 2: Zwanghaftigkeit SCL-90-R Skala 3: Unsicherheit im Sozialkontakt SCL-90-R Skala 4: Depressivität SCL-90-R Skala 5: Ängstlichkeit SCL-90-R Skala 6: Aggressivität und Feindseligkeit SCL-90-R Skala 7: phobische Angst SCL-90-R Skala 8: paranoised Denken SCL-90-R Skala 9: Psychotizismus SCL-90-R Skala GSI: allgemeiner Symptomindex IIP Skala 1: zu autokratisch / dominant IIP Skala 2: zu streitsüchtig / konkurrierend IIP Skala 3: zu abweisend / kalt IIP Skala 4: zu introvertiert / sozial vermeidend IIP Skala 5: zu selbstunsicher / unterwürfig IIP Skala 6: zu ausnutzbar / nachgiebig IIP Skala 7: zu fürsorglich / freundlich IIP Skala 8: zu expressiv / aufdringlich BSS THE PAE LQ GBB SCL1 SCL2 SCL3 SCL4 SCL5 SCL6 SCL7 SCL8 SCL9 GSI IIP1 IIP2 IIP3 IIP4 IIP5 IIP6 IIP7 IIP8 • • -- - • • • • •• • • 0 •• • • • • • •• • • • + ++ Das Stuttgart- Heidelberger Modell - Beispiel „guter Verlauf“ Behandlungsinformation Aufnahme - Entlassung Patient: 114070992112 Behandlungsdauer: 81 Tage Geschlecht: männlich Einzeltherapie: f.A. Alter: 20 weitere Therapien: f.A. Therapeutische Arbeitsbeziehung Aufnahme Patient Therapeut Entlassung 1,9 2,4 2,0 2,6 -3 ....................................... +3 niedrig hoch Patientenzufriedenheit (Median = 27) Patienteneinschätzung SOMS (bei Bedarf) Aufnahme Entlassung Beschwerdeanzahl: -- -- Beschwerdeindex: -- -- 26,0 8 ..................................................... 32 unzufrieden zufrieden Verbesserung des Befindens: Komme besser mit Konflikten klar. Verschlechterung des Befindens: Die Erkenntnis, dass ich mehr Probleme habe als ich dachte Klinische Diskussionspunkte ν ν ν ν ν ν ν Übertragung stationäres auf tagesklinisches Programm sinnvoll? Tagesklinik intensiv, anstrengend Umgang mit nicht kommenden Patienten Parallele Besuche bei anderen Ärzten/Therapeuten Räume und Zeiten zwischen den einzelnen Therapien Schwierigkeiten mit Suchtpatienten Besonderheiten bei Therapieverträgen Zweite Gruppe in der Ulmer Psychosomatischen Tagesklinik ν Verhaltenstherapeutisches Konzept Versuch, Therapiedosis individueller zu gestalten Besonders geeignet für Patienten mit Angststörungen, Zwängen, Essstörungen, Depressionen Start: Voraussichtlich Mai 2004 ν Ambulantes Vorgespräch erforderlich für beide Gruppen ν ν ν Die psychosomatische Tagesklinik – ein neues Behandlungskonzept? ν ν ν ν ν Verwendung von Elementen, die sich in der stationären Behandlung bewährt haben. Insgesamt werden die Erfolge von psychosomatischen Tageskliniken ähnlich denen der stationären Behandlung sein. Besonders positive Effekte sind bei bestimmten Patientengruppen zu erwarten (Transfer, Probleme im Umfeld, Patienten, die nicht stationär kommen würden). Durch Nähe zum Umfeld der Patienten und Flexibilität in den therapeutischen Verfahren sind andere Behandlungsformen möglich (Training zu Hause, Einbeziehung von Angehörigen, Besuche der Patienten untereinander, Nachsorgegruppe, Dosisanpassung an persönliche Bedürfnisse). Diese Chancen gilt es zu nutzen!