Aufkündigungsankündigung - islamic

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Interdisziplinäres Zentrum für
Islamische Religionslehre
Inhalt
Harry Harun Behr
Aufkündigungsankündigung ...... Seite 1
Harry Harun Behr
Der Wechsel der Gebetsrichtung
(Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums
im Islam............................................ Seite 2
Zur Diskussion um die muslimische
Lehrbefugnisordnung............... Seite 13
Zu den Autorinnen und Autoren ·
Impressum..................................... Seite 28
Harry Harun Behr
Aufkündigungsankündigung
Sehr geehrte,
der Bescheid mit dem Zeichen
wulff.10.10.03 wurde mit unserem
letzten Schreiben an Sie außer Kraft
gesetzt. Er beruhte auf einem Irrtum des damaligen Leiters der Abteilung BPrA (Befassung mit den
Problemen von Ausländern). Der
vorfindliche Satz „Der Islam gehört
zu Deutschland.“ muss lauten: „Der
Islam gehört nicht zu Deutschland.“
Der mit Ihrer Antwort auf unser
jüngstes Schreiben eingegangene
Widerspruch ist gemäß Art. 15 §
27.3 (2) BDesintegrG in der Fassung vom 19.4.2012 sowie Erlass
hinsichtlich Festigung ursprünglicher Religionszugehörigkeiten
(FuRz) der Bundesbeauftragten für
Mutanten und bildungsferne Fürsorgeempfänger (BaMbF), ebenfalls
vom 19.4.2012, gegenstandslos.
Heft 11 • Mai 2012 • 6. Jg.
Ihr Hinweis, „der Kauderismus
gehört ebenso wenig zu Deutschland wie der Salafismus“, entbehrt
jeder Grundlage. Ihr Vorschlag, man
solle „Zottelbärte und Gespenster
nicht ausweisen, sondern einweisen“,
ist wegen möglicher Präzedenzen
hinsichtlich des Bestandsschutzes
anderer vom Ausland gesteuerter Religionsgemeinschaften mit grundgesetzkonformem Absolutheitsanspruch
nicht durchführbar. Ihre Anregung,
„Übersetzungen des Grundgesetzes
in heutiges Deutsch“ gratis in
Fußgängerzonen zu verteilen, fällt
nicht in unsere Zuständigkeit.
Wir fordern Sie deshalb nochmals zur vollumfänglichen Rückerstattung des von uns an Sie
überwiesenen Vertrauens auf.
Mit vorzüglicher Missachtung
Bundesanstalt für religiöse Belange
des Innern und Fachbereich
Extremismus (BarBIE)
Seite 2
Harry Harun Behr
Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla)
und die Konstruktion des psychologischen Raums im Islam
Der vorliegende Beitrag fußt auf
dem Hauptvortrag des Verfassers im
Rahmen der gemeinsamen Tagung
des Zentralinstituts Anthropologie
der Religion(en) an der FriedrichAlexander-Universität ErlangenNürnberg und der Gesellschaft für
Kulturpsychologie im September
2011 zum Themenbereich Anthropologie und Kulturpsychologie
der Religion(en). Hermeneutiken – Praktiken – Lebensfelder
Vorbemerkung
Die islamische Theologie in
Deutschland befindet sich in einer
Phase des Aufbruchs. An der Philosophischen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität wird ein Department Islamisch-Religiöse Studien
aufgebaut, an anderen ausgewählten
Standorten entsteht Ähnliches.
Gefördert durch die Stiftung Mercator, stellt sich ein Graduiertenkolleg
Islamische Theologie den neuen
Herausforderungen der religionsbezogenen Grundlagenforschung.
Das kann die etablierten Theologien dazu verleiten, ihre Grundbegriffe und Konzeptionen auf
den islamischen Neuankömmling
zu übertragen – das Problem liegt
bereits in den kulturgeschichtlichen
Konnotationen des Wortes Theologie. Auch unter Musliminnen
und Muslimen ist der Bogen weit
gespannt – für die einen endet die
existenzphilosophische Neugier dort,
wo sie für andere erst beginnt.
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
Ein Begriff wie Anthropologie – in der
deutschen Wissenschaftsgeschichte
nicht unbelastet und erkenntnistheoretisch ziemlich heterogen – macht
die Sache nicht leichter. Wie lautet
das Schlüsselwort in der Referenzsprache islamischer Theologie, nämlich im Arabischen? Mit dem heute
geläufigen cilm oder culūm al-insān
(‫ ) ان‬ist schließlich eine postmoderne Wortschöpfung bedient,
die sich der klassischen Nomenklatur religiöser Philosophie im Islam
zunächst entzieht, denn der liegt eine
ganz eigene Systematik zu Grunde.
Das heißt aber nicht, dass es im Koran keine für die Anthropologie nutzbaren Informationsbestände gäbe: Die
Frage nach Wesen und Bestimmung
des Menschen ist schließlich der rote
Faden jeder auf den Koran bezogenen Hermeneutik. Auch die zweite
Hauptquelle des Islams, der kodifizierte und kanonisierte Bericht über
Muhammad (hadīth; ) liefert
eine Menge Stoff, wenn beispielsweise ein solcher Bericht in der sehr
frühen Sammlung von Hammam ibn
Munabbih mit den Worten beginnt:
khalaqal-lāhu ādama calā sūratih
(�‫„ – ) آدم ر‬Gott erschuf
den Menschen nach seiner Gestalt“.
Hier ließe sich fragen: Diente die
Gestalt Gottes als Vorlage oder wurde
dem Menschen eine eigene Gestalt
gegeben? Hat Gott ein Bild von sich
selbst? Ist es erlaubt zu fragen, inwieweit Aussagen des Korans über die
Antriebsnatur des Menschen (4:28,
20:115) in einem solchen Selbstbild
gründen? Und wenn solches ebenso
in Abrede zu stellen wäre wie jede
Unmöglichkeitsaussage über Gott,
zu welchem Ergebnis käme dann
die theologische Anthropologie des
Islams, würde sie nach der menschlichen Rekonstruktion Gottes befragt?
Und was überwiegt in solchem
Selbstentwurf des Menschen – die
religiöse Identität durch Wiedererkennbarkeit oder durch Unterscheidbarkeit? Welche Dialektik von
Gottesbild und Menschbild führt
der Islam also im Schilde? Nun lässt
das Arabische der frühen Schriftquellen des Islams manch alternative
Lesart zu, die sich wohltuend von
Seite 3
Gelegentlich setzt die
Narration des Korans
ihre prophetischen
Protagonisten
der Dunkelheit aus,
damit die inneren Bilder
um so heller aufleuchten.
tradierten Lehraussagen abhebt.
Muslimische Religionsgelehrsamkeit
tritt nicht selten traditionalistisch,
exklusivistisch und patriarchalistisch
auf den Plan und spricht für eine
gewisse Neigung zur Totalisierung
der Weltsicht, zur Simplifizierung
von Problemzusammenhängen, zur
Tabuisierung spiritueller Neugier
und zur politischen Instrumentalisierung des theologischen Arguments.
Die auf den religiösen Bestand bezogene Anthropologie will deshalb
nicht nur als eine akademische Disziplin erscheinen, sondern womöglich
doch eher als eine Kunst. Am Ende
steht die Frage, was das anthropologische Denken für seine Verwendung im sozialen Feld abwirft.
Deshalb werden für diesen Beitrag
Bezugspunkte zu Hilfe genommen,
wie sie sich gleichermaßen aus
dem Islam als sozialem Feld und
als religiöse Gegenwartskultur heraus anbieten. Damit tritt zudem
eine funktionale Auffassung des
Islams mindestens gleichberechtigt neben das substantielle Verständnis: Zur religiös motivierten
Weltsicht tritt die Rückfrage der
Welt an die Religion hinzu – und
damit nichts anderes als die Anfrage des Menschen an sich selbst.
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
Horizonte
Einführend sei deshalb mit Domäne
ein Begriff ins Feld geführt, der hilft,
die Blickrichtung des Menschen als
exzentrisch positionalem Subjekt
stärker nach innen zu führen – dies
neben seinem Blick in die Welt als
im Luckmannschen Sinne objektiv
vorfindlicher Wirklichkeit. Unter Domäne ist das innere Abbild
der Welt im Subjekt zu verstehen.
Dort gründen die Merkmale des
psychologischen Raums als subjektiver Rekonstruktion von Welt, und
sie ist der Ort der dazu notwendigen Verhältnisbestimmungen.
Die Sache mit der Domäne knüpft
ein wenig an bewährten pädagogischen Konzeptionen an, etwa die
Operation als mentaler Handlung
im Sinne Hans Aeblis, die etwas in
Vergessenheit geraten sind. Derlei
bleibt aber für die Pädagogik als
geisteswissenschaftlicher Disziplin
eine wichtige Begrifflichkeit, weil
damit die Voraussetzung gegeben
ist, Lernen als aktiven Prozess der
Selbstorganisation des Subjekts in
das konzeptionelle Nachdenken zu
integrieren. Das betrifft auch das
religiöse Lernen, für das es aber
noch keine belastbare theoretische
Fundierung gibt. Hier wäre also die
behutsame Annäherung angesagt.
Diese inneren Räume lassen sich
leichter mit geschlossenen anstatt
mit offenen Augen betreten. Gelegentlich setzt die Narration des
Korans ihre prophetischen Protagonisten der Dunkelheit aus, damit
die inneren Bilder um so heller
aufleuchten – meist im Kontext einer
fundamentalen Wandlung: Abraham
unter dem weiten Nachthimmel,
Josef ganz unten in der Zisterne,
Jonas tief drinnen im Bauch des
Fischs oder Muhammad in der
Felsennische oben auf dem Berg
ein wenig außerhalb Mekkas – alles
Szenarien mit einer eigentümlichen
Spannung zwischen Geborgenheit
und existenzieller Bedrohung, zwischen Festigung und Erschütterung
des Urvertrauens in das Numinose.
Es sind diese inneren Sphären, wo
sich die eigentliche Begegnung der
Person mit der Welt vollzieht, dort
finden die Bewertungen statt, die
Inklusionen und Ausgrenzungen,
dort gründen die Motive des Handelns, und dort konvergieren das
Empfinden von Zeit, die Erfahrung
von Körperlichkeit und Ort, das
Wissen um Normen. In der Domäne treffen Himmel und Erde
aufeinander und werden zu Raum.
Der Koran sieht in solcher Domäne
den eigentlichen Hort der wirklichen Person im Wechselspiel mit
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ihrer inszenierten Persönlichkeit. Er
kleidet das in Begriffe wie „Herz“,
„Wesen“ oder „Brust“. Die Sache
mit der Gebetsrichtung nach Mekka,
auf arabisch qibla (), wird vom
Koran demgemäß auch zunächst
als ein Prozess der inneren Ausrichtung ins Spiel gebracht. Dazu eine
Schlüsselstelle – hier in eigener,
freier, sinnorientierter Übertragung:
Der Formulierung mit „sich richten nach“ liegt in diesem Koranvers
die arabische Wendung waddschahtu wadschhiya (‫ )وت و‬zu
Grunde – auch für den Nichtarabisten ist die Doppelung des
Wortstamms als transitives Verb
und als Akkusativobjekt herauszuhören, was sich im Deutschen nicht
so klangvoll wiedergeben lässt.
„Egal von wo aus, wende dein Gesicht (wadschhaka) in Richtung zur heiligen Moschee. So ist
die Bestimmung dessen der dich hält. Gott achtet
auf das, was du tust. Egal woher du kommst,
wende dein Gesicht in Richtung zur heiligen
Moschee. Egal wo ihr seid, wendet eure Gesichter (wudschūhakum) dorthin …“ (2:149).
Was es mit der islamischen Gebetsrichtung auf sich hat, soll
nun mit vier Horizonten angezeichnet werden:
Der koran-arabische Begriff wadschh
(‫)و‬, hier mit „Gesicht“ wiedergegeben, bezeichnet nicht das Gewebe,
das den vorderen Teil des menschlichen Schädels bekleidet, sondern
den Menschen in der Ganzheit seiner
Person – so wie wenn von jemandem
gesagt wird, er habe sein Gesicht
verloren. Diese Vokabel steht für die
religiöse Ausrichtung der ganzen Person auf Gott. Das wird an einer anderen Stelle des Korans deutlich, wo
Abraham zu Wort kommt. Er streitet
mit seinem Volk und stellt klar:
„Ich richte mich nach dem, der die Himmel und die Erde erschaffen hat, aus eigenem Antrieb und freien Stücken. Und ich
sehe neben Gott keinen anderen“ (6:79).
1. Erstens die Gebetsrichtung als
Teil des Ritus, weil sie im Zusammenhang mit dem muslimischen
Habitus praktizierter Religion
steht und als solche in den Bereich der sichtbaren Religion fällt.
2. Zweitens die Geschichte ihrer
Entstehung, weil mit der Kultur
der kollektiven Erinnerung eine
Form von Konstruktion angesprochen ist, welche die Muslime
als Gemeinschaft konstituiert.
3. Drittens die Gebetsrichtung als
spirituelle Konstante der Domäne im Kontext von Migration
als horizontaler Bewegung durch
den physikalischen Raum.
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
4. Und viertens die Gebetsrichtung als sprachliches Sinnbild
der inneren Ausrichtung auf
Gott und der damit im Koran
angelegten Verhältnisbestimmung von Subjekt und System.
„Ich richte mich nach dem,
der die Himmel und die Erde
erschaffen hat,
aus eigenem Antrieb
und freien Stücken.
Und ich sehe neben Gott
keinen anderen.“
(6:79)
Die Anamnese dieser vier Abschnitte
zu Kult, Geschichte, Wanderung und
Geist ist für die Erschließung der gegebenen Thematik hilfreich. Ergänzend dazu lässt sich die Bindung an
den Aspekt der Qibla mit Hilfe von
drei Abstraktionen darstellen, die den
anthropologischen Diskurs erleichtern. Das sind die drei Perspektiven
• der „Vertiefung“ in 2:138,
arabisch sibgha (),
• der „Verortung“ in 91:7, arabisch
tasāwin (ٍ ‫وى‬, auch ٍ ‫ )و‬und
• der „Verfassung“ in 4:1, arabisch nafsiyya ().
Horizont 1: Ritus und Habitus
„Was bringt mir das Gebet? Bin
ich noch Mensch, wenn ich nicht
bete?“, fragt ein Schüler. Das Gebet
hat einen hohen Wiedererkennungswert für den Islam: Reihen von
Menschen bewegen sich synchron
auf und nieder, angeordnet nach
Seite 5
Mekka – ka’annahum bunyānun
marsūs ( ‫) ن‬, wie
es die Sure 61 ausdrückt, „wie eine
gefügte Mauer.“ Dabei handelt es
sich um eine von fünf Grundpflichten, mit denen viele Muslime ihre
erkennbare Zugehörigkeit zum Islam
verbinden. Hier ist aber nicht von
der freien Zwiesprache mit Gott die
Rede – die gibt es auch. Nein, hier
geht es um die Anbetung Gottes,
die in ihrer Form festgelegt ist.
„Die Form des Gebets
gibt inneren und äußeren Halt,
so ähnlich wie eine Haut.“
Das Buch für die 7. und 8. Klasse aus der Schulbuchreihe Saphir1
erläutert dazu: „Die Form des
Gebets gibt inneren und äußeren
Halt, so ähnlich wie eine Haut.“
Dort wird dieses Bild von der Haut
als Kontaktfläche zum Raum weiter ausgebaut: das Wasser, das bei
der rituellen Waschung vor dem
Gebet Hände, Gesicht und Füße
benetzt, die Kleidung, die bequem
und sauber sein soll, die Stelle, wo
die Stirn den Boden berührt, der
Raum, der durch das Gebet gestaltet wird, Mitmenschen, die sich in
diesem Raum befinden, die äußere
Richtung und die innere Haltung,
die dabei eingenommen werden.
Nicht selten bemühen Muslime hier
bestimmte sittliche und nachgerade
1 Saphir 7/8 – Religionsbuch für junge
Musliminnen und Muslime. Schulbuchreihe
herausgegeben von Lamya Kaddor, Rabeya
Müller und Harry Harun Behr. München 2011.
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
salutogenetische Argumente: Das
Gebet trainiere die Disziplinierung
des Geistes, die Rhythmisierung
des Alltags, die Konzentration auf
das Wesentliche bis hin zur körperlichen Fitness – und nicht zuletzt
die Sache mit der inneren Ausrichtung, dem sittlichen Sextanten.
Anderes scheint hier aber nahe
liegender zu sein: In der stringenten
Verbindung zweier Elemente, nämlich der mentalen Vergegenwärtigung
und der körperlich-räumlichen Präsenz, vollzieht sich eine bestimmte
Art der Kommunikation zwischen
der Domäne des Subjekts und ihrer
physikalischen Rahmung. Die soziale
Rahmung sei aus Gründen der Fokussierung beiseite gelassen. Dieser
Kommunikation wird die Funktion der Sortierung und Klärung
hinsichtlich des eigenen religiösen
Standpunktes in beiden Räumen,
also innen und außen, zugesprochen.
Um das zu verstehen, muss das Gebet genauer in den Blick genommen
werden. In den fünf verpflichtenden
Anbetungen, so wie sie sich über
bestimmte Phasen des Tages und
der Nacht verteilen, kommt es nicht
darauf an, Gott gegenüber die eigene Glaubensposition zu bekräftigen,
ihm die eigenen Befindlichkeiten
mitzuteilen oder sich sonst wie als
denkendes und sprechendes We-
sen zu inszenieren, das sich selbst
in die Begegnung mit Gott stellt.
Es geht nicht um Begegnung, sondern in der Anbetung geschieht
anderes: Mit dem so genannten
takbīr tritt der Betende in die Rahmung dessen, der nicht mehr in
der üblichen Weise auf die Signale
seiner Umwelt reagiert, und auch
nicht auf die inneren Redeimpulse.
Diesen Zustand der Vergegenwärtigung des Selbst vor Gott bezeichnet
die islamische Tradition als ihrām,
als den Zustand der Person, die sich
vorsorglich die sonst üblichen Dinge
versagt, beispielsweise ans Telefon
zu gehen wenn es klingelt (Übersetzungen mit „Weihe“, wie sie sich z.B.
auch bei Hans Wehr finden, ringen
auf ihre Art mit der Dimension des
„religiös Besonderen“). In dieser Rahmung wird nur aus dem arabischen
Koran vorgetragen, einmal abgesehen
von einigen kurzen Sprüchen, welche
die Gebetsbewegungen einleiten, die
aber nicht zum Pflichtbestandteil des
Gebets gehören und deren rituelle
Verbindlichkeit deshalb in Frage gestellt werden darf. Der Betende liest
(anders als in jüdischen Traditionen
i. d. R. auswendig) aus dem Koran,
der dadurch zum gesprochenen Wort
Gottes wird. Wer in dieser Art betet,
öffnet sich und macht sich selbst zum
Resonanzkörper für Rede Gottes.
Bei den Gebeten abends und in der
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Nacht wird hörbar rezitiert, so dass
der umgebende physikalische Raum
dann auch zum Klangraum wird.
Mit dem abschließenden Friedensgruß werden die Qibla und
der ihrām, die „Richtung“ und die
„Rahmung“ als physische und psychische Konstituenten des betenden
Muslims nach wenigen Minuten
wieder verlassen, und daran schließt
sich die Gelegenheit an, sich Gott
gegenüber frei mitzuteilen. Darin
liegt der eigentliche Unterschied
zwischen den beiden zentralen Gebetsformen im Islam – der Anbetung
(salā) und dem Bittgebet (ducā‘).
Horizont 2:
Geschichte und Erinnerung
„Was ist damals eigentlich wirklich
passiert?“, ist eine von Schülern immer wieder gestellte Frage, hinter der
sich die grundsätzliche Vertrauensfrage nach der Verlässlichkeit religiöser
Informationsbestände verbirgt. Es
geht ihnen, was die Gebetsrichtung
angeht, um die Geschichte ihrer Entstehung und nicht um ihre religiöse
Begründung, weil die Schüler, wie
sie das formulieren, „echte“ Antworten und keine „Imam-Antworten“
haben wollen. Die Echtheit resultiert für sie aus dem Gütekriterium
der religiösen Unbestechlichkeit
wissenschaftlicher Argumente.
Die soeben beschriebene Form des
Gebets ist ja nicht vom Himmel
gefallen. Mit dem Berufungserlebnis Muhammads in der Nacht auf
den 27. Ramadan 610 AD wird in
der Regel der Beginn der Mitteilung
Gottes an seinen Gesandten angesetzt, und zwar genau genommen
durch eine rückwirkende Festlegung
in späterer Zeit. Aus dieser in der
Tradition so bezeichneten „Nacht
der Bestimmung“ entsteht im Laufe
der anschließenden beiden Dekaden
der so bezeichnete „Koran“, arabisch
sowohl „Rede“ (qur’ān; ‫ )آن‬seinem
funktionalen Verständnis nach, als
auch „der Koran“ (al-qur’ān; ‫اآن‬
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
vgl. 12:1-3) seinem substanziellen
Verständnis nach, gespickt mit Geschichten, Gebeten, Regeln, Gleichnissen und sonstigen Traktaten.
In das Segment der Regeln fällt auch
die Festlegung der Gebetsrichtung.
Es gehörte ab einem bestimmten
Zeitpunkt zur religiösen Praxis
Muhammads und seiner durchschnittlich sehr jungen Gefolgschaft,
von Mekka aus in Richtung Norden zu beten, hin auf Jerusalem als
Zentrum des damaligen spirituellen
Geländes. Das war auch als Einladung an solche gedacht, die sich
bevorzugt jüdischen oder christlichen
Traditionen verpflichtet sahen.
Etwa zur Halbzeit der Entstehung
des Islams aber, zwischen Ende 623
AD und Anfang 624 AD, also ungefähr eineinhalb Jahre nach der Auswanderung (hidschra) Muhammads
nach Yathrib, dem späteren Medina,
kippt diese Gebetsrichtung. Vers
144 der zweiten Sure des Korans
hält fest, dass fortan in Richtung
der „Kacba“ („der Wohlgeformten,
Ebenmäßigen“) in Mekka gebetet
wird, dem quaderförmig gemauerten Hort arabisch-ismaelitischer
Identität, von Medina aus im Süden
liegend. Das war aber keine „neue“
Ausrichtung, wie gelegentlich in der
Literatur zu finden, sondern die eigentliche Vorform, die sich schon in
den Zeiten vor Muhammad aus dem
ismailitischen Erbanspruch heraus
manifestiert hatte: Es wurde an der
Kacba gebetet, von ihr weg und zu
ihr hin; nicht die Richtung im Sinne
eines Vektors war ausschlaggebend,
sondern ihre Funktion als Anfang
oder Ende einer gedachten Linie
und als Ankerplatz der spirituellen
Selbstverortung in der Kosmogonie.
Die Diskriminierung vor-islamischer
Kulte als die Zeit der sog. dschāhiliyya,
der „Unwissenheit“, ist das Ergebnis
späterer islamisch-kulturgeschichtlicher Ideologisierungen. Der Koran
selbst verbietet hier jede Verächtlichmachung. Das heute rund 13
Meter hohe und etwa 11 x 12 Meter
in der Grundfläche messende, innen
hohle Bauwerk ist seit seiner mutmaßlichen Wiedererrichtung durch
den Großvater Muhammads im 6.
Jahrhundert AD vielmehr Bezugspunkt einer spätantiken arabischen
Identitätskonstruktion, die sich
weitgehend auf Abraham beruft.2
Der Koran greift von Abraham auf,
was über ihn an den Nachtfeuern in
den Regionen des damaligen ara2 Zur Vertiefung: Behr, Harry Harun: Die Abraham-Konstruktion im Koran. In: Harry Harun
Behr, Daniel Krochmalnik und Bernd Schröder
(Hg.): Der andere Abraham. Theologische und
didaktische Reflektionen eines Klassikers. Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden,
Christen und Muslimen. Berlin 2011. 109-145.
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bischen Südwestens berichtet wurde.
Dort gab es Stammesangehörige mit
jüdischer und christlicher Mischidentität, aber auch solche, die sich unter
Verzicht auf einen dezidiert religiösen Berufungshorizont allein durch
ihr Wächteramt über die Kacba in
Mekka in der Pflicht sahen. Letztere
wähnten sich exklusiv in Abrahams
„Fußstapfen“ (2:170). Das macht
sie ihrer Gesinnungsethik nach für
die abrahamitische Ansprache zwar
empfänglich, gleichzeitig aber gegenüber der Kritik durch den Koran
empfindlich, der verantwortungsethisch argumentiert und das tradierte
Herrschafts- und Wertegefüge in
Frage stellt (exemplarisch 27:67f.).
In damaliger Zeit bedeutet das aber
auch eine Veränderung in der soziokulturellen und psychosozialen
Raumlage. Die Drehung wirkt sich
auf den Grundriss des psychologischen Raums aus, wie ihn der
Koran zeichnet, aber auch auf die
neue Selbstverortung der Muslime im Islam als eigener „Mitte“
(2:143) zwischen Judentum und
Christentum. Das findet dann auch
in einem veränderten Ritus seinen
Ausdruck: Die Anbetung Gottes in
bestimmten, nach dem Stand der
Sonne festgelegten Zeiträumen,
wird hinsichtlich ihrer spirituellen
Anlage (rūhī) und der Körperbewegungen (dschasadī) standardisiert.
Die Kacba als Rotationslager des
Islams wird zur doppelten Provokation. Jerusalem wird von Mekka
abgelöst, in einer veritablen Kehrtwendung der Betenden um rund
180 Grad. Mekka wird vereinnahmt,
gleichsam im Vorgriff auf die spätere
tatsächliche Rückeroberung der Stadt
durch Muhammad. Die Wende vollzieht sich dem Bericht nach in der
Masdschid Qilbatain, der „Moschee
mit den beiden Gebetsrichtungen“,
heute noch im Landkreis Medina
gelegen. Leider wurde die nördliche
Gebetsnische unlängst zugemauert und die Wand geschlichtet.
Warum der Wechsel der Qibla?
Muhammad war frustriert, mutmaßt
ein Zweig der Religionswissenschaft.
Die anderen waren es, meint ein
Zweig der islamischen Theologie.
Beide kommen zu dem gemeinsamen Schluss: Erst der Vollzug
dieser Wendung in der spirituellen
Raumlage lässt den fundamentalen
Umbruch der norma normans erkennen, mit der sich der Islam endgültig
von den religiösen Bauplänen seiner
Zeit verabschiedet: die universale
Neujustierung von Verantwortungsethik und Heilsanspruch.
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
2.1 Die Perspektive der „Vertiefung“
An dieser Stelle nun zu dem oben
angekündigten Begriff der sibgha.
Mit dieser Vokabel aus 2:138 wird
– dies eine der möglichen Interpretationen – der Abgrenzung
des Islams von Christentum und
Judentum Ausdruck verliehen:
„Das Kennzeichen Gottes. Hat jemand ein
schöneres als dieses? Für ihn sind wir da.“
Erst der Vollzug dieser
Wendung in der spirituellen
Raumlage lässt den
fundamentalen Umbruch der
Es wurde schon darauf hingewiesen,
dass der Wechsel der Gebetsrichtung
von Jerusalem nach Mekka weit
gehend im Lichte dieser Interpretation steht. Das arabische Substantiv
sibgha lässt sich mit „Kennzeichen“
oder „Prägung“ im Sinne einer
„Färbung“ oder „Gerbung“ durch
„Eintauchen“ wiedergeben, aber
auch mit „Zugehörigkeit“ im Sinne
von „Wiedererkennbarkeit“. Hinter dem Wort steckt tatsächlich die
Vorstellung von Dippen oder Tunken. Manche Kommentarwerke zum
Koran weisen darauf hin, dass damit
der arabisch-christliche und arabischjüdische Taufbegriff aufgegriffen
und neu gedeutet werde; das Wort
wird tatsächlich auch als „Taufe“
im Sinne des Baptisma übersetzt.
Anders als manche Kommentare das
vermuten, geht es im Koran damit
aber nicht gegen die Legitimität
norma normans erkennen,
mit der sich der Islam
endgültig von den religiösen
Bauplänen seiner Zeit
verabschiedet:
die universale Neujustierung
von Verantwortungsethik
und Heilsanspruch.
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von Judentum oder Christentum als
Religionen. Er stellt vielmehr die
damalige, kulturräumlich besondere
religiöse Selbstkonstruktion ihrer
Anhängerschaften in Frage, die sich
als jeweils von Gott privilegierte
Volksgruppen sahen und vor allem
im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts nach Christus im südarabischen
Raum gegeneinander erbitterte
Kriege geführt hatten – Auseinandersetzungen übrigens, die sich später
weiter durch die Geschichte ziehen.
Gerne wird vergessen, dass große
christliche Heerteile mit orientalischchristlicher Identität an der Seite des
legendären Salahuddin gemeinsam
mit den Muslimen gegen die Kreuzfahrer standen. Der inner-christliche
gnadenlose Umgang mit Anhängern
von zur Häresie erklärten Lehren
wie etwa auf dem Baltikum oder in
Ungarn hatte sich herumgesprochen.
per Definition eine (auch rechtlich
geschützte) Grenze darstellt: Diesseits das Wahre, jenseits das Andere.
Mit der Qibla ist also keine Strecke,
sondern eine Linie beschrieben – dies
in dreifacher Bedeutung des Wortes:
Wie westlich, wie orientalisch,
wie islamisch und wie christlich
sind Kuala Lumpur, Kairo
oder Köln?
Aus der Migration nach Berlin
a. die Unendlichkeit der geometrischen Linie,
b. einer Linie folgen im Sinne
eines Handlungsprinzips und
c. die Linie im Sinne der
Begrenzung eines Spielfeldes.
ist die horizontale und
vertikale Beweglichkeit
in Berlin geworden.
Der Vers 138 der Sure Zwei korrespondiert in dieser Hinsicht mit
Vers 208 derselben Sure, wo das
Sprachbild des Eintauchens wieder
aufgegriffen wird. Der Begriff sibgha
steht für die Religion in Gestalt der
vertieften Religiosität der Person,
nicht für ein Kennzeichen der Konfession. Das Bestreben, auch durch
das Einhalten eines Gebets mit
einer bestimmten Richtung in der
physikalischen Topografie verweist
auf so etwas wie eine „Marke“, die
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
Horizont 3:
Migration und Religion
„Wer bin ich eigentlich, und was soll
ich hier?“ Diese Schülerfrage bildet
den Titel der Publikation zu einer
der Hohenheimer Tagungen zum
Islamunterricht.3 Dahinter verbergen
sich drängende Herausforderungen
der persönlichen Orientierung von in
Deutschland heranwachsenden Musliminnen und Muslimen. Nur soviel
für die Thematik: Es geht dabei ja
3 Behr, Harry Harun: Muslimische Identitäten und Islamischer Religionsunterricht.
In: Harry Harun Behr, Christoph Bochinger, Mathias Rohe und Hansjörg Schmid:
„Was soll ich hier?“ Lebensweltorientierung
muslimischer Schülerinnen und Schüler als
Herausforderung für den Islamischen Religionsunterricht. Münster 2011. 57-101.
auch um die Frage, wie viel Orient
darf bei dieser Orientierung sein?
Die islamische Gebetsrichtung als
spirituelle Achse der Domäne steht
auch im Kontext von Migration
als horizontaler Bewegung durch
den physikalischen Raum. Damit
ist die fundamentale Auswirkung
von Migration auf Religion gemeint. Religion befindet sich in
der Regel aber eher in der Seitentasche des Migrationsköfferchens.
Im Zuge der Einführung von islamischem Religionsunterricht, der
Etablierung islamischer Theologie
an einigen Universitäten und der
Akkreditierung muslimischer religiöser Gemeinschaften als Institute sozialen Kapitals, bedeutet das
nichts weniger als die Reformulierung des Islams und seiner Lehre.
Solche Reformulierung geschieht
unter dem Eindruck der Zuweisung
von Räumen mit unterschiedlichen
Türschildern: Islam, Orient, Arabien,
Türkei, Osten, Westen, Europa, die
da unten, die da drüben, Moderne, Mittelalter, Steinzeit … Derlei
Etikettierungen unterliegen strategischen Paradigmen und haben in
der Regel wenig mit der Selbstwahrnehmung der so Bezeichneten zu
tun. Wie westlich, wie orientalisch,
wie islamisch und wie christlich sind
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Kuala Lumpur, Kairo oder Köln?
Aus der Migration nach Berlin ist
die horizontale und vertikale Beweglichkeit in Berlin geworden.
In diesem Terrain ist grundsätzlich
auch die Orientierung nach hinten
und nach vorne, auf das Gestern
oder das Morgen hin möglich – in
qualitativer Hinsicht. Für die Brüche
zwischen kultureller Transmission
und religiöser Progression bietet der
Islam Heilung an – nach Rodney
Stark neben dem erfolgreichen Wirtschaftsmodell und der attraktiven
Subkultur eines von drei Motiven
für die Dynamik von Religionsentstehung und -veränderung.4
Heilung gut, aber wie? Vielleicht so:
In diesem multifokalen Spannungsfeld stellt die islamische Gebetsrichtung Gegenwart her, indem sie
Zeit und Raum durch Konvergenz
zum Stillstand bringt. Der betende
Mensch entzieht sich der Welt als ein
durch Kausalität und Chronologie
strukturiertes Gewebe. Das gründet
aus islamischer Sicht in der Annahme, dass der Mensch in der Lage sei,
aus sich und aus der Welt herauszutreten und beides zum Gegenstand
seiner Betrachtung zu machen.
4 Stark, Rodney and William Sims Bainbridge: The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation. Berkley, Los Angeles and London 1985.
festhält und sich über andere stellt und das Gute
verdunkelt, dem fällt zu, womit er verliert…“
Sprache in ihrer Gestalt als von Gott
befreite Rede ist eine der Voraussetzungen dafür, aber eben auch die
Sprache des Gebets durch rezitierte
Texte und durch den Gestus und Habitus des Betenden, der sich so durch
Gott in die Bindung nehmen lässt.
Mit dem Menschen, der sich
3.1.Die Perspektive der „Verortung“
An dieser Stelle soll mit dem Begriff
tasāwin der Aspekt des Wanderns
aufgegriffen werden. Diese Vokabel stellt eine Ableitung des im
Koran zu Grunde liegenden Verbalstamms von sawiya (‫ )ى‬dar,
etwa in Textstellen wie 91:7-10. Die
wird landläufig so wiedergegeben:
in religiöser Hinsicht selbst
verorten kann, ist aus Sicht
der Religionspädagogik ein
zentrales Charakteristikum
religiöser Identität angespro-
„Und bei der Seele und dem was sie zurecht formt, und ihr ihre Lasterhaftigkeit
und ihre Frömmigkeit eingibt! Dem wird
wohlergehen, der sie läutert, und der wird
enttäuscht sein, der sie mit Missetaten überdeckt…“ (Übertragung nach Khoury 2004).
chen. Damit ist das Argument
Die Interpretation ist nicht einfach. Wie im Koran so oft, finden
sich aber in unmittelbarer Nähe
zur Textstelle hilfreiche Hinweise wie etwa die nachfolgende
Sure 92:4-10. Frei übertragen:
lung des Geworfenseins in die
„Ihr nehmt verschiedene Wege. Wer dabei gibt
und Gott erwartet und das Gute ans Licht
bringt, dem fällt zu, womit er gewinnt. Und wer
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
der aktiven Aneignung von
Welt gegenüber der Vorstel-
Welt gestärkt, und nur so lässt
sich pädagogisch arbeiten.
Muhammad erläuterte dazu auf
Nachfrage: „Ihr geht eure Wege und
tut was ihr tut.“ Gemeint ist: Mit
dem Menschen, der sich in religiöser Hinsicht selbst verorten kann,
ist aus Sicht der Religionspädagogik ein zentrales Charakteristikum
religiöser Identität angesprochen.
Damit ist das Argument der aktiven
Aneignung von Welt gegenüber der
Vorstellung des Geworfenseins in
die Welt gestärkt, und nur so lässt
sich pädagogisch arbeiten. In freier Übertragung bringen also die
Verse 91:7-10 zum Ausdruck:
„Und beim Menschen und dem, der er ist
und der er sein will, und bei seiner Achtsamkeit und seiner Achtlosigkeit: Wer
sich zum Besseren verändert, hat Erfolg,
aber wer sich aufgibt, hat verloren…“
Die Gebetsrichtung ist unverzichtbares Merkmal der Verortung im
Raum, und das wird im Koran zum
Konzept. Muslim ist allgemeiner
muslimischer Auffassung nach zunächst, wer sich als Muslim verhält,
und das beginnt mit dem wenn auch
kurzen, so doch höchst verbindlichen
Pflichtenheft. Der Koran macht aber
klar, dass zur Religion ihre Wege und
Methoden gehören. Dazu spreizt er
den Begriff der Qibla und entwirft
eine spirituelle Wegekarte des psychologischen Raums (1:6, 2:148-
Seite 10
152, 2:177, 5:48, 6:161-165, 92:4):
• „das Leben religiös gestalten“ (dīn, ‫)د‬,
• „wissen wo man herkommt“ (milla, ),
• „wissen wo man hin
will“ (sirāt, ‫)ط‬,
• „sich aufmachen“, „die eigene
Gangart finden“ (sacī, ),
• „Kurs halten“ (qibla, ),
• „sich an ein Verfahren halten“ (schirca, ),
• „einer Bestimmung folgen“ (minhādsch, ‫)ج‬,
• „umkehren“ (tauba, )
• …oder übertragen in das Register von Schülerinnen und
Schülern: „Wissen was geht.“
Horizont 4: Buchstabe und Geist
„Wie frei bin ich gegenüber Gott
wirklich?“, wollen Schüler manchmal wissen. Sie fragen nach der
Verhältnisbestimmung zwischen
dem, was der Koran sagt, und dem,
was er aussagt, also zwischen Inhalt und Gehalt. Der Koran, und
das frappiert seine unvorbereiteten
Leserinnen und Leser, beginnt
nicht mit einer Genesis, sondern
er entwirft am Anfang die Welt als
Raum, in dem sich jeder Mensch
für eine gewisse Frist aufhält.
Als Merkmale dieses Raums treten
hinzu: Gott thront oben „auf seinem Sitz“ (2:155), ist aber weniger
in der Höhe als vielmehr in der
Tiefe zu finden, denn er ist „drinnen neben der Halsschlagader“
(50:16) und „ganz nah, wenn man
ihn ruft“ (2:186); und der Koran
mahnt: „Wende Dein Gesicht nicht
nach oben, wenn du Gott suchst!“
(2:144). Und: „Die Religion erfüllt
sich nicht, indem du dich nach
Osten oder Westen drehst!“ (2:177).
Der Osten und der Westen „gehören
zu Gott“ (2:115). Die Fahrt Adams
von drüben nach hüben hat aber
eine deutliche Richtung von oben
nach unten (2:36). Das Jenseits liegt
„gleich hinter der Linie“ (78:17)
und die Hölle „um die Ecke auf der
Lauer“ (78:21), und der Satan tritt
an den Menschen heran – „von vorne
und von hinten, von rechts und
von links, von überall her“ (7:17).
Zu den psychologisch abstrahierbaren Kriterien dieses Raumentwurfs
zählen Helligkeit und Dunkelheit,
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
Sichtbares und Nicht-Sichtbares,
Wägbares und Unwägbares, Eingang und Ausgang, Vergangenheit
und Zukunft, oben und unten, das
Ich und das Du sowie das Innere
und das Äußere. Dieser Raum ist
erschaffen. Sein Erschaffer ist diesen
Kriterien selbst nicht unterworfen;
Gott ereignet sich in der Gegenwart. Derart wäre vielleicht die Rede
von der „Allgegenwart Gottes“ als
eine zeitphilosophische Alternative
zum seelsorgenden Beistandsgott zu
begreifen, der sich in der Hauptsache
um das bessere Morgen kümmert.
Mit diesen einleitenden Versen und
mit vielen anderen auch entwickelt
der Koran maßgebliche Kategorien
seines Menschenbildes. Er zeichnet
ein Wesen, das zu einer Form von
Gegenwart fähig ist, die sich aus
wesentlichen über-individuellen
Bezugshorizonten der Domänen
im Sinne anthropologischer Konstanten ergibt: Erinnerung und
Erwartung, Wesen und Gestalt,
Zuweisung und Selbstverortung
sowie Lossagung und Anbindung.
Eine formale Gebetshaltung und
Gebetsrichtung einzunehmen verweist vom sprachlichen Sinnbild
des inneren Bezugspunktes Gott auf
die im Koran angelegte Verhältnisbestimmung des Menschen als Teil
und als Ganzes. Das Wechselspiel
von Einhalten und Innehalten in
Gestalt des Gebets und seiner EinNordung (von Erlangen aus gesehen
nach 130 Grad Süd-Südost) wird
in dem bereits erwähnten Unterrichtswerk Saphir 7/8 im Anschluss
an die Sache mit der Form auch
thematisiert. Was genau geschieht
mit dem Eintauchen in die Qibla?
Es geschieht das Folgende: Die
wesentlichen Abweichungen vom
Alltag finden in den Bereichen der
inneren Einstellung, der Sprache,
des Körpers, des Ortes und der Zeit
statt. Bestimmte Gewissheiten und
Selbstverständlichkeiten treten in
den Hintergrund: was der Mensch
wünscht, denkt, erhofft, fühlt und
woran er sich erinnert, was der
Mensch meint sagen zu müssen, alle
anderen an den Körper gebundenen
Rhythmen und Zwecke, die Welt
als endlicher Ort, die Gedanken
des Menschen daran, wo er gerne wäre und was er gerne täte, die
zeitliche Endlichkeit des Lebens,
der Arzttermin, die Hausaufgaben.
In der islamischen Anbetung schweigt
der Mensch und es spricht Gott, und
in den Vordergrund tritt die Verbindung des Diesseits mit dem Jenseits.
Das Gebet schafft eine eigene Szene.
Hier wird Gott über das Zitat aus
der Schrift zur Sprache gebracht. Das
Seite 11
Der Mensch kennt das Paradies,
und seine wesenhafte,
auf die Gegenwart des
ästhetischen Erlebens hin
angelegte Affinität zum
Guten, Wahren und Schönen
gründet in der Erinnerung
an seinen ursprünglichen
wurde weiter oben mit dem Hinweis
auf die menschliche Resonanz Gottes
und auf die Gestaltung des Klangraums dargestellt. Aus dem Blickwinkel von Deutungssystemen, in
denen dieses Konzept nicht existiert,
ist es womöglich mit dem Stigma der
Entmündigung des Menschen behaftet. Im Islam aber ist dies der erste
Ankerplatz jeder auf Gott bezogenen
Selbstverortung des Menschen.
Indem die Gebetsrichtung diese
Art von Fluchtpunkt setzt, ermöglicht sie eine nachgerade provokative Form der Befreiung, und zwar
um so stärker, je ausgeprägter ihre
formale, also unfreie Rahmung.
Diese Übung trägt dazu bei, mit
Verlassen der Qibla zu einer vernünftigen Sortierung und Gewichtung des Existenziellen zu finden.
Zustand im Garten.
4.1.Die Perspektive der „Verfassung“
Dazu eine abschließende Perspektive.
Zu den für die Frage nach religiöser
Identität relevanten Personmerkmalen gehört die notwendige Verknüpfung äußerer und innerer, sichtbarer
und nicht sichtbarer Elemente von
Religion und Religiosität, und zwar
entlang der gedachten Linie zwischen Mensch und Gott, die ihren
Ausdruck in der Qibla findet. Diese
Harry Harun Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des
psychologischen Raums im Islam
Verknüpfung stellt sich nicht durch
die religiöse Lehre selbst ein, sondern sie „kostet Mühe“ und wird
vom Koran als eine Leistung des
Subjekts gewürdigt: „Tun, was man
sagt, und nicht von Dingen reden, die man nicht tut“ (61:1-3).
Die Vorstellung des Menschen
als Subjekt beruht auf der koranarabischen Vokabel nafs (). Als
Lexem verweist nafs womöglich auf
das griechische Bezugswort nephos
für „Atem“ bzw. auf dessen Ableger
im Hebräischen und im übertragenen Sinne auf „das Beatmete“ im
Sinne des „Beseelten“. Im Koran
finden sich aber auch nafatha für
„pusten“, „husten“, „spucken“ wie in
113:4, und nafakha für „blasen“,
„pumpen“, „hauchen“ wie in 32:9.
in Ergänzung zur Dimension seines Amtes. Als khalīfa () soll
er „im Sinne Gottes handeln“ (vgl.
2:30 ff., 7:10-30 und 17:61-70).
In diesem Sinne ist der Mensch
nafs al-khalfiyya ( ),
das heißt er lebt in der Erwartung
der Begegnung mit Gott und der
damit verbundenen Rechenschaftspflicht (vgl. 2:208 oder 51:56).
Einigen islamischen Lehrtraditionen
zufolge ist alles, was von Gott erschaffen wurde, beseelt. Der Koran
führt in diesem Zusammenhang
bestimmte Naturphänomene als Belege an, zum Beispiel Himmel, Erde,
Sonne, Mond, Wasser, Berge
oder Tiere (vgl. dazu 41:9-12
oder auch 13:15 und 22:18).
Die Heimat des Menschen liegt
demzufolge also nicht in der Welt,
sondern in einem Raum davor (in
diesem Sinne die Auslegungstradition von Koranvers 7:172). Der
Mensch kennt das Paradies, und seine wesenhafte, auf die Gegenwart des
ästhetischen Erlebens hin angelegte
Affinität zum Guten, Wahren und
Schönen gründet in der Erinnerung
an seinen ursprünglichen Zustand im
Garten. Diesen Wesenszug bezeichnet
die islamische Philosophie als an-nafs
al-unsiyya ( ) – ein Begriff,
der die Konnotation des Vergessens
eröffnet: Der Mensch ist „einer mit
einem Wesen“ und folglich mit einer
Identität aus erinnerter Herkunft zu
verstehen. Diese zu vergessen bedeutet für ihn, sich selbst zu vergessen.
Damit entwirft der Koran das Bild
des ganzen Menschen in der Dimension seiner Verfassung als Person. Gemeint sind die qualitativen
Zustände seines Wesens, und zwar
Der Zwischenraum zwischen der Erinnerung an seine Herkunft und der
Erwartung seiner Ankunft bildet sich
in Form des menschlichen Raumgefühls ab, eines Domänen-Raums, der
Seite 12
einen Eingang und einen Ausgang
hat. Die Qibla durchmisst alle diese
Räume in einer Flucht, was sich in
der koran-arabischen Formel des „geraden“ im Sinne des „rechten“ Wegs
(sirāt al-mustaqīm; ‫ )ت‬in
Sure Eins niederschlägt. Der Mensch
ist also gleichsam „auf der Durchreise entlang der Qibla.“ Diese Natur
des Menschen erfordert von ihm eine
innere Moderation oder Mediation
und macht ihn fähig zur Religion
und womöglich sogar bedürftig nach
ihr. Das spirituelle Schadensrisiko,
das sich mit dem Verlassen der Qibla
einstellt, ist groß; die Räume links
und rechts sind dunkel und weit.
In Ergänzung zur Annahme, die
Seele verlasse beim Sterben den
Körper und betrete ohne ihn das
Jenseits, setzt der Koran diese Thematik zuerst mit dem Hinweis auf
die Wiederherstellung des Körpers
in Gang. Das klingt in Zeiten, in
denen das Jenseits mit der Entgrenzung aus dem Körperlichen identifiziert wird, ungewöhnlich. Auch eine
damit verbundene Skepsis oder gar
Abneigung gegen die Körperlichkeit
ist dem Islam eigentlich fremd. Ob
aber der körperliche Körper im Sinne
der materialen Substanz gemeint ist
oder so etwas wie die Erinnerung
der Seele an ihren einstigen Körper,
bleibt ebenso offen wie die Frage,
ob es im Paradies eine Qibla gibt.
Literatur
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Stark, Rodney und William Sims Bainbridge: The
gion. Frankfurt am Main 1982
Seite 13
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
Vorbemerkung
Anfrage vom 10.2.2012
Der in den folgenden Beiträgen
dargestellte Schriftverkehr hat sich
in den zurückliegenden Wochen um
die Frage einer muslimischen Lehrbefugnisordnung entwickelt, etwa
vergleichbar der missio canonica bzw.
der vocatio. Dazu liegt ein Entwurf
seitens einer niedersächsischen
Initiativgruppe vor, über den in der
letzten Zeit auch öffentlich diskutiert
wurde. Wir haben uns entschlossen,
das, was uns vorliegt zu veröffentlichen. Einerseits möchten wir damit
das erklärte Anliegen der Initiatoren
im Norden der Republik nach größtmöglicher Transparenz unterstützen.
Andererseits möchten wir unseren
Bedenken Ausdruck verleihen. In
den bisher veröffentlichten Diskursen finden wir zentrale Kritikpunkte nicht ausreichend repräsentiert; die Berichterstattung wie etwa
in der „Zeit“ vom 12. April 2012
geht unserem Empfinden nach an
entscheidenden Punkten vorbei. Wir
drucken deshalb in dieser Reihenfolge ab: die Anfrage von H. Behr, A.
Rochdi und F. Ulfat an den Beirat
mit Bezugnahme des zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Ordnungsentwurfs, die Antwort des Beirats
und eine abschließende Erwiderung.
Professur für Islamische Religionslehre, Philosophische Fakultät, Department Fachdidaktiken,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Regensburger Straße 160, 90478 Nürnberg
An den Gemeinsamen Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen
der Schura Niedersachsen, Geschäftsstelle,
Herrn Firouz Vladi, Dieckbornstraße 11, 30449
Hannover und via [email protected]
Gemeinsame Anfrage von Harry Harun
Behr, Amin Rochdi und Fahimah Ulfat
zum Dokument „Ijaza“ - Lehrerlaubnis für
Lehrkräfte des Unterrichtsfachs Islamische
Religion an öffentlichen und freien Schulen in Niedersachsen, publiziert auf www.
beirat-iru-n.de; Zugriff am 20. Januar 2012
Sehr geehrter Herr Vladi, sehr
geehrte Damen und Herren,
wir haben das o.g. Dokument studiert und in unterschiedlichen Rahmungen einer Diskussion zugeführt
– in Gesprächen mit Studierenden in
einer Lehrveranstaltung, mit muslimischen Lehrkräften im Dienst in
einer Fortbildung, mit muslimischen
und nicht-muslimischen Kolleginnen
und Kollegen, mit christlichen
Fachvertretern, mit akademischen
Nachwuchskräften im Kontext isla-
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
mischer Theologie in Deutschland
sowie mit einigen Funktionsträgern
in muslimischen Gemeinden.
Sie stellen auf Ihrer Homepage den
o.g. Entwurf einer Ordnung für die
Erteilung einer Lehrbefugnis zur
Diskussion, und wir möchten uns
zunächst bei Ihnen bedanken, dass
Sie das tun. Wir halten es für einen
guten Weg, solche einschneidenden
Prozesse mit dem impliziten Charakter des Präjudiz in solcher Form
in das Gespräch zu stellen. Insofern
hoffen wir, dass Sie unsere Rückfragen und Anmerkungen als Beitrag
zu dieser Diskussion verstehen. Uns
ist daran gelegen, Sie in diesem
Prozess zu unterstützen. Wir möchten Sie einladen, von Ihrer Seite aus
wiederum auf dieses Schreiben zu
antworten, indem Sie sich zu unseren Kommentaren positionieren.
Vorbemerkung zum Aufbau
dieses Schreibens
Nachfolgend finden Sie zunächst die
Darstellung des Befundes (Ziffern
2-15), wie er sich für uns durch das
sortierende Lesen des Dokuments
ergibt. Das Verfahren, dessen wir uns
dabei bedienen, analysiert die inhaltlichen Setzungen nach einzelnen
Satzgedanken (sog. Propositionen),
die sich nicht immer auf Anhieb
bei der Erstlektüre erschließen,
beispielsweise bedingt durch komplexe Nebensatzkonstruktionen. In
dieser Hinsicht ist Ihr Dokument
an einigen Stellen eine echte Herausforderung. In diesem Prozess
kommt es dazu, dass Aussagen des
Textes gebündelt werden (z.B. bei
11) oder aber auch aufgefächert (z.B.
bei 12.d); sie werden dann unter
kategorialen Überschriften zu Aussagetypen gebündelt. Der mit dieser
Umgruppierung verbundene Bruch
in der ursprünglichen Dramaturgie des Textes bewirkt eine Klärung
hinsichtlich der Frage, ob wir als
Interpreten den Text so verstanden
haben, wie Sie es intendieren. Erst
daran schließen sich die Kommentare
an (Ziffern 16-21), die Sie natürlich
mehr interessieren als die Reformulierung dessen, was Sie selber verfasst
haben. Dennoch unsere Bitte, gerade diese Reformulierung nicht zu
überspringen und uns auf Missverständnisse hinzuweisen. Die damit
verbundene numerische Umgliederung des Quelltextes dient auch der
Orientierung bei der Zuordnung
der Kommentare bzw. Ihrer Replik.
Seite 14
Analyse
1. Analyse: Beschreibung des
Dokuments
Die Verfasser sehen die
Geltungskontexte der
„religionsverfassungsrechtlichen Anforderungen des
Religionsunterrichts in
Deutschland“ und ebensolcher
in „Niedersachsen“ als identisch und diese wiederum in
Deckung mit ihrem Anspruch,
in diesem Sinne den Rechtsanspruch einer Religionsgemeinschaft zu vertreten.
Das in Rede stehende Dokument
umfasst im Ausdruck seines pdfFormats fünf Din-A-4-Seiten (fehlende Seitenzählung). Es besteht aus
einem Briefkopf, der Titelei und dem
Text, der sich in eine „Präambel“
und in 11 weitere Bestimmungen
untergliedert. Diese wiederum sind
in der für rechtsverbindliche Texte
üblichen Form als Paragraphen (§)
gekennzeichnet. Der Titel des Dokuments lautet „IJAZA-ORDNUNG
(Lehrerlaubnis für Lehrkräfte des
Unterrichtsfachs Islamische Religion) an den öffentlichen und freien
Schulen in Niedersachsen des Beirats
für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen, gebildet von
der Schura Niedersachsen – Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V. und DITIB Landesverband
Niedersachsen-Bremen e.V.“. Der
Briefkopf weist aus: Signet und Logo
der o.g. Schura, Signet und Logo des
o.g. DITIB Landesverbandes und
Logo des o.g. Beirats. Am Schluss
des Textes befindet sich eine auf
den 19. Dezember 2011 datierte
Beschlussfeststellung mit folgenden
beiden Unterschriften: Avni Altiner,
Vorsitzender der Schura Niedersach-
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
sen e.V., und Yilmaz Kilic, Vorsitzender des DITIB Landesverbandes
Niedersachsen-Bremen e.V., sowie
der Hinweis auf einen dreiteiligen
Anlagenapparat, der teilweise in
die Kommentierung Eingang finden soll, nicht aber einer eigenen
Propositionsanalyse unterzogen
wird. Die hier zu Grunde gelegte
Version weist das Sachstandsdatum
vom 8.12.2011 aus. Im Folgenden
werden die Urheberinnen und Urheber des Textes der Einfachheit
halber als „Verfasser“ bezeichnet.
2. Analyse: Aussagen zur rechtlichen
Begründung
Die einführenden Bemerkungen
(„Präambel“) stellen allgemein fest:
Religionsunterricht an öffentlichen
Schulen ist ordentliches Lehrfach,
und: Religionsunterricht wird in
Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften
erteilt. Der Text erwähnt als Referenz
einschlägige Rechtstexte und ergänzt:
Zur Erteilung von Islamischem
Religionsunterricht bedürfen die
entsprechenden Lehrkräfte einer
besonderen Bevollmächtigung, und:
Die Bevollmächtigung wird von den
Religionsgemeinschaften erteilt. Die
Verfasser sehen die Geltungskontexte
der „religionsverfassungsrechtlichen
Anforderungen des Religionsunterrichts in Deutschland“ und
ebensolcher in „Niedersachsen“ als
identisch und diese wiederum in
Deckung mit ihrem Anspruch, in
diesem Sinne den Rechtsanspruch
einer Religionsgemeinschaft zu
vertreten. Über den hier in Rede
stehenden Text verleihen die Verfasser diesem Anspruch Ausdruck.
3. Analyse: Aussagen zur Geltung
Die Verfasser sehen sich im Vertretungssinne für die Religionsgemeinschaft als zur Rahmung solcher Bevollmächtigung und ihrer Erteilung
legitimiert. Der Text präzisiert diese
Legitimation auf folgende Eckdaten:
a. Schriftlich erteilte, alleinige und
ausschließliche Bevollmächtigung ohne Nebenregelung,
genannt „Ijaza“,
b. für das Land Niedersachsen,
c. dort für die „öffentlichen
oder freien“ Schulen,
d. dort für alle mit Lehre
beauftragten Lehrkräfte als
„islamische Lehrkräfte“,
e. diese mit Abschluss des „Studiums
Seite 15
Islamischer Theologie einschließlich Islamischer Religionspädagogik“ und des entsprechenden Referendariats
f. oder mit einem anderen
„gleichwertigen“ Abschluss
Der Text regelt weitere Einzelheiten
zum Inkrafttreten, für den Fall der
Unwirksamkeit von Einzelbestimmungen (salvatorische Klausel),
Kündigungsregeln (Beschlussdauer
gemäß Geschäftsordnung) sowie
die Evaluierungspflicht nach Ablauf
von fünf Jahren und die Mitgestaltungsrechte der Beiratsmitglieder.
4. Analyse: Aussagen zur Begriffsklärung
Die Verfasser erläutern den Begriff
„Ijaza“ wie folgt:
a. Arabisches Herkunftswort
teten Schriften und der Lehrer
f. Herkunftsverweis: Verwurzelung
in der Tradition der oralen Tradentenkette: Erteilung durch den
persönlichen Lehrer, der selbst
von seinem Lehrer eine Bevollmächtigung besitzt („Akkuratesse der mündlichen Weitergabe
autorisierter religiöser Texte“).
5. Analyse: Einschränkende Aussagen
Die Erteilung solcher Lehrbefugnis erfolgt vorbehaltlich der „universitären Lehrbefähigung für den
islamischen Religionsunterricht in
Niedersachsen“; die Gültigkeit der
Lehrbefugnis erstreckt sich nicht auf
die „Lehrweitergabe im klassischen
Kontext islamischer Ausbildung
außerhalb Niedersachsens“ oder
auf die „Lehrweitergabe innerhalb
sufisch-religiöser Gemeinschaften“
b. Umschriftalternative: „Ijazah“
c. Aussprache: „Idscháza“
d. Globalbedeutung: „die Erlaubnis und das Zertifikat, islamische Lehre weiterzugeben“
e. Präzisierung: Nennung der erhaltenen Ausbildung, der bearbei-
6. Analyse: Aussagen zum Islam als
Religion
Die Verfasser erklären die „göttliche
Offenbarung im Qur’an“ sowie „die
Lebensweise des Propheten Muhammed (s.a.s.)“ als die indikativen und
somit alleinig definitiven Grund-
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
lagen der islamischen Religion.
7. Analyse: Aussagen zum religionspädagogischen Profil des islamischen
Religionsunterrichts
Die Verfasser setzen den Islam als
doppelten Bezugspunkt für den Unterricht: als Thema und als religiöse
„Standortbestimmung“ der Lehrkräfte („Wahrnehmung und Lehre aus
dem Bekenntnis heraus“). Sie heben
zwei Aspekte der Zielgruppenorientierung („Kinder und Jugendliche“)
als pädagogische Bedingungsfaktoren
einer so genannten „Korrelationsebene“ hervor: „Lebenswelt“ und
„religiöse Rahmenbedingungen“
8. Analyse: Aussagen zum Anforderungsprofil der Lehrkräfte
Die nachstehenden Bestimmungen
leiten die Verfasser als Folge aus
den Aussagen zu 7 und 8 („daher“;
„allgemeine Lehren des Islam“) ab
und möchten sie in folgender Präzisierung durch die Bevollmächtigung
„belegt“ sehen: Die „Lehrbefähigung“ (Wechsel in der Wortwahl)
zum islamischen Religionsunterricht
hängt seitens der Lehrkräfte ab von
a. ihrem persönlichen „Bekenntnis
zum Islam“
b. ihrer „Selbstverpflichtung, den
Religionsunterricht in
Übereinstimmung mit den
Lehren des Islam zu erteilen“
c. ihrer „Kenntnis islamischen
Gemeindelebens in der vorhandenen Gesellschaft“
d. ihrer Anerkennung der eigenen
„Vorbildfunktion insbesondere im schulischen Kontext“
e. ihrer Anerkennung der eigenen
erweiterten Vorbildfunktion
hinsichtlich einer angemessenen Lebensführung außerhalb
des schulischen Kontextes
f. ihrer Anerkennung der eigenen
erweiterten Vorbildfunktion hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit
zu den „allgemeinen islamischen
Lehren“
g. ihrem Bewusstsein um die „Rolle
als Repräsentantin des Islam
im schulischen Kollegium“
h. ihrer Bereitschaft, den eigenen
„Glauben vorbildhaft und
glaubwürdig“ zu vertreten
i. ihrer „Verinnerlichung rechter
Seite 16
islamischer Lehre“
Lehrkräfte in jedem Schuljahr folgende Fortbildungstypen anzubieten und dazu Termine, Ort, Themen und Referenten festzulegen:
j. ihrer „Verinnerlichung guter Sitten“
k. ihrer „Einbindung in eine muslimische Gemeinschaft“
l. ihrer „beobachteten Orthopraxie“
m.ihrer „sittlichen islamischen Kleidung“ (Ausnahme Bedeckung
des Kopfhaares bei weiblichen
Lehrkräften)
9. Analyse: Aussagen der Verfasser
über sich selbst
c. berufsbegleitende Praktika
d. Fortbildungen in islamischen Einrichtungen des Gemeindelebens
e. Fortbildungen in islamischen Einrichtungen der
islamischen Lebenshilfe
f. Fortbildungen in islamischen
Einrichtungen der islamischen Bildungsarbeit
Die Verfasser erläutern ihre Intention
des Anspruchs auf Erteilung
10. Analyse: allgemeine Verfahrensfragen
der Lehrbefugnis wie folgt:
Der Text regelt Grundsätze der
a. der Wunsch, damit den künftigen Geltung der Lehrbefugnis bzw. ihrer
muslimischen Religionslehrkräften Erteilung und die daran geknüpften
„einen Vertrauensvorschuss“
Anforderungen an die Antragsteller,
zu geben
mit Unterscheidung zwischen staatlichen (obligatorisches Verfahren)
b. die Absicht, sie bei der „Wegfinund privaten (fakultatives Verfahren)
dung“ hin auf eine „konstruktiv
Schulen. Die Verfasser sehen sich zur
aufgebaute Lehrtätigkeit“
Regelung für die islamischen Relizu unterstützen
gionsgemeinschaften in Niedersachsen mandatiert. Dieser Abschnitt
Die Verfasser heben auf den
erwähnt auch die mögliche Aber„Grundsatz des lebenslangen
kennung. Weiterhin werden EinzelLernens“ ab und verpflichten sich heiten der Antragsprüfung geregelt:
dazu, für die bevollmächtigten
Zeitintervalle der Beiratssitzungen
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
und Publikations-, Protokollierungs- und Archivierungspflichten,
Informationspflicht (Landesschulbehörde), Einstimmigkeitsprinzip,
Unterzeichnungspflicht (Urkunde),
Entfristungsregelung, Verschwiegenheitspflicht und Vertrauensschutz,
Schriftlichkeitsprinzip sowie Tätigkeitsverpflichtung und Geschäftsfähigkeitsprinzip (Geschäftsordnung),
Eindeutigkeitsprinzip (Ausschluss
von Nebenbestimmungen) und
Kostenpflicht (publizierte Entgeldordnung des Beirats). Der Text
unterscheidet zudem prinzipiell zwischen einer unbefristeten Befugnis
nach dem 2. Staatsexamen und der
befristeten Befugnis zu Ausbildungszwecken vor dem 2. Staatsexamen,
die automatisch mit der bestandenen 2. Staatsprüfung erlischt.
11. Analyse: besondere Verfahrensfragen
Der Text regelt weitere Einzelheiten
des Antrags im Sinne der Voraussetzung für seine Bearbeitung. Erforderlich sind Angaben und/oder
Nachweise zu folgenden Punkten
a. Zur Person
i. Person
ii. Geburtsort
iii. Personenstand
iv. Kinder
b. Zur Motivation
i. eine Selbstverpflichtungserklärung, die auf die Motivation
zum Beruf in Bezug auf den
islamischen Religionsunterricht
eingeht
ii. eine schriftliche Äußerung,
die auf die Motivation zum Beruf
in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht eingeht
iii. weiterhin eine Erklärung der
Lehrkraft, dass sie den Unterricht im Fach islamische Religion
halten wird
1. nach dem islamischen
Bekenntnis
2. dem geltenden Kerncur riculum des Niedersäch-
sischen Kultusministeriums
3. in deutscher Sprache
c. Zur fachlichen und pädagogischen
Eignung
i. Studium des Lehramtes
ii. Studium der islamischen Religionspädagogik
iii. alle für die Befugniserteilung
relevanten Schulabschlüsse
iv. alle für die Befugniserteilung
relevanten sonstigen Hochschulabschlüsse
v. alle für die Befugniserteilung
relevanten sonstigen Bildungsabschlüsse
vi. der erfolgreiche Abschluss der
2. Staatsprüfung mit vorläufiger
Befugniserteilung zu Ausbildungs-
Seite 17
zwecken in Form des Nachweises
durch beglaubigte Zeugniskopien
vii. gegebenenfalls Anerkennungsnachweise durch eine deutsche
Universität
viii.ein Praktikum gemäß StudienLehrplan in einer Moschee in
Deutschland
ix. (kein Praktikum erforderlich
für berufsbegleitenden Masterstudiengang IRP)
d. Zur persönlichen Eignung
i. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des gewählten
Vorstandes einer Moschee in
Deutschland über das Bekenntnis
zum Islam als Nachweis der Einbindung in das religiöse Leben der
islamischen Gemeinschaft (ggf.
Konversionsurkunde)
ii. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des Imams einer
Moschee in Deutschland über
das Bekenntnis zum Islam als
Nachweis der Einbindung in das
religiöse Leben der islamischen
Gemeinschaft (ggf. Konversionsurkunde)
iii. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des gewählten
Vorstandes einer Moschee in
Deutschland über das Bekenntnis
zum Islam als Nachweis über eine
fortwährende Lebensweise nach
der rechten islamischen Lehre
(ggf. ergänzende Unterlagen)
iv. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des Imams
einer Moschee in Deutschland
über das Bekenntnis zum Islam als
Nachweis über eine fortwährende
Lebensweise nach der rechten islamischen Lehre (ggf. ergänzende
Unterlagen)
v. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des gewählten
Vorstandes einer Moschee in
Deutschland über das Bekenntnis
zum Islam als Nachweis über eine
fortwährende Lebensweise nach
den guten Sitten (ggf. ergänzende
Unterlagen)
vi. ein deutschsprachiges Empfehlungsschreiben des Imams
einer Moschee in Deutschland
über das Bekenntnis zum Islam als
Nachweis über eine fortwährende
Lebensweise nach den guten Sitten (ggf. ergänzende Unterlagen)
12. Analyse: Besondere Regelungen zur
fachlichen, pädagogischen oder persönlichen Eignung
a. Der Text sondert in einem bestimmten Punkt nach Geschlecht:
i. Männliche Bewerber müssen
durch ein deutschsprachiges Manuskript nachweisen, wann und
wo sie eine Predigt im Rahmen
des gemeinschaftlichen
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
Freitagsgebets gehalten haben.
ii. Weibliche Bewerberinnen
müssen „glaubhaft“ nachweisen,
welche Moschee sie „üblicherweise“ aufsuchen, um sich dort an
der Gemeindearbeit zu beteiligen.
b. Ferner wird die Forderung
erhoben, einen Lebenslauf vorzulegen, der „auch auf den
religiösen Werdegang eingeht“.
Ferner wird die
Forderung erhoben,
einen Lebenslauf vorzulegen,
13. Analyse: Regelungen zum
mündlichen Prüfungsverfahren
Der Text regelt weitere Einzelheiten
des Antragsprüfungsgesprächs
zwischen dem Beirat und dem
Antragsteller. Neben formalen
Bestimmungen (Fristen, Vertraulichkeit, Protokollierung) kommen
inhaltliche Aspekte zur Sprache, zu
denen sich der Beirat „einen regelmäßigen Katalog“ gibt. Der Text
verweist auf die „Anlage 3: Fragekatalog für das Gespräch nach § 4,
Abs. 1“ und klärt die Zielsetzung
des mündlichen Prüfungsverfahrens: Kennenlernen der Motivation
des Antragstellers, seiner religiösen
Einstellung und „Feststellung seiner
Religiosität“. Erwähnung finden:
der „auch auf den
religiösen Werdegang eingeht“.
Seite 18
a. Die Berufsmotivation
b. Die persönliche theologische
Verortung hinsichtlich der
„sechs Pfeiler des Islam“
c. Die persönliche pädagogische
Verortung
d. Die persönliche religiöse Praxis
hinsichtlich der „fünf Säulen
des Islam“
e. Die persönliche Position zum
Umfang der Geltung der Scharia
in Deutschland
f. Die persönliche Position zum
interreligiösen Dialog
g. Die persönliche Erfahrung
im interreligiösen Dialog
Die Anlage 1 verweist auf die Feststellung der Definition der „Grundlagen der Religion aus der Göttlichen
Offenbarung im Qur‘an und der
Lebensweise des Propheten Muhammed (s.a.s.)“ und unterscheidet nach
Themenbereichen (Leitmotive) und
„direkten Fragen“. Die Themenbereiche (Leitmotive) greifen zentral
gestellte Anforderungen auf: Persönliche positive Standortbestimmung
zum Islam als Bekenntnis und zum
Beruf als Religionslehrkraft, Glaubhaftmachung des verkündenden und
habituellen Aspekts der persönlichen
Religiosität, „Verinnerlichung der
rechten islamischen Lehre“, Ausweis
der zu den „allgemeinen Lehren des
Islams“ widerspruchsfreien Lebensführung, Klärung der fachlichen und
religiösen Ausbildungsbiografie und
der Einbindung in muslimisches
Gemeindeleben, Positionierung zu
Fragen des Dialogs, der Integration
und der Scharia in Deutschland,
Bericht über islamische Wallfahrten. Die „direkten Fragen“ lauten:
h. „Was macht dich als Muslim aus?“
i. „Tragen Sie die Fatiha und zwei
aus den letzten zehn Suren vor.“
j. „Nennen Sie anerkannte
Exegese- und Hadith-Werke.“
k. „Nennen Sie einige Hadithe
(1-3) in ihrer Bedeutung.“
l. „Erläutern Sie den Nutzen
des Gebetes.“
m.„Erklären Sie den Zusammenhang zwischen Din und Ahlaq.“
n.„Erklären Sie innerislamische
Unterschiede.“
o. „Trägt die Religion zu Harmonie
und Einklang der Gesellschaft
bei? Erläutern Sie!“
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
14. Analyse: Regelungen zu Ablehnung und Aberkennung der Befugnis
Der Text regelt formale Verfahrensweisen im Falle der Ablehnung eines
Antrags: schriftliche Mitteilung der
Ablehnungsgründe, Durchschrift
an die Landesschulbehörde, Möglichkeit der Stellungnahme des
Antragstellers und eines weiteren
Gesprächs. Ferner regelt der Text
Verfahrensweisen, unter Berufung
auf schulgesetzliche Rechtsbestimmungen, für die nachträgliche Aberkennung einer erteilten Befugnis:
a. im Falle des Nachweises (Augenschein Visitation) einer dauerhaften Abweichung von den im Text
insgesamt aufgeführten Antragsund Geltungsvoraussetzungen
b. im Falle des Nachweises (Augenschein Visitation) einer schwerwiegenden Abweichung von den
im Text insgesamt aufgeführten
Antrags- und Geltungsvoraussetzungen
c. im Falle des Nichtverbindlichkeitserklärung der Lehrkraft gegenüber
den im Text insgesamt aufgeführten Antrags- und
Geltungsvoraussetzungen
d. im Falle der Rückgabe der Befugnis seitens der Lehrkraft
„Was
macht dich
als Muslim
aus?“
Seite 19
Kommentar
15. Kommentar: Grundsätzliches
Wir finden es grundsätzlich gut, dass
die Befugnis zur Erteilung von am islamischen Bekenntnis ausgerichtetem
Schulunterricht in den Zusammenhang mit dem persönlichen positiven
Bekenntnis der Lehrkräfte gestellt
wird (die Selbstverständlichkeit,
dass das Kerncurriculum des Niedersächsischen Kultusministeriums
und die Unterrichtssprache Deutsch
gelten, soll hier nicht erörtert werden). In diesem Sinne fällt der Idee
des Textes, von den Lehrkräften eine
diesbezügliche Selbstauskunft zu
verlangen (9.a-b, 12.b.i-iii, 14.a-d),
besonderes Gewicht zu. Mit Blick
auf die besonderen Kennzeichen
eines religionsbezogenen Unterrichts,
der über die rein kundlichen Inhalte
hinaus habitualisierende, verkündende und existenzphilosophische
Aspekte berührt, bedarf es seitens der
Lehrkraft einer besonderen Reflexion der persönlichen Position.
Sehr gut finden wir auch, dass dem
Anliegen Ausdruck verliehen wird,
die Lehrkräfte durch berufsbegleitende Fortbildungen zu unterstützen.
Die Erfahrungen mit der geregelten
staatlichen Lehrerfortbildung im
Freistaat Bayern haben gezeigt, dass
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
Den Verfassern
des Entwurfs droht,
eben genau das
zu gefährden,
was sie schützen wollen,
nämlich die Authentizität
der Lehre
und die Integrität
ihrer Repräsentanten.
über Jahre auf Kontinuität hin angelegte Fortbildungsgruppen, die in
regelmäßigen Intervallen zur fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen
Vertiefung zusammenkommen, sehr
gute Fortschritte hinsichtlich ihrer
Professionalität und vor allem ihrer
persönlichen Berufszufriedenheit
erzielen. Gerade letzteres, sich im Beruf anerkannt und am rechten Platz
zu fühlen, gründet nicht zuletzt in
der theologischen und didaktischen
Rückversicherung und in der Stärkung durch die eigene Berufsgruppe.
Vor diesem Hintergrund sehen wir
den Umstand zu wenig berücksichtigt, dass es sich bei den muslimischen
Religionslehrkräften nicht um
Zwangsrekrutierte handelt, sondern
um subjektiv rechtsfähige Personen,
die sich vor dem Hintergrund der
vom Grundgesetz geschützten negativen Bekenntnisfreiheit bewusst
dafür entschieden haben, Islam zu
unterrichten. Das ist bereits die
erste und fundamentale positive
Selbstverortung im Sinne des im
vorliegenden Dokument Erörterten.
Zu dieser Frage kommen wir aber
weiter unten noch einmal zurück.
Wir möchten an dieser Stelle zuvor
aber eine Frage aufwerfen, womit
indes keinesfalls das Recht der Religionsgemeinschaft berührt wird,
im Rahmen der religionsbezogenen
verfassungsrechtlichen Regelungen
ihre Gestaltungsansprüche zu formulieren. Uns geht es vielmehr um
eine Frage, wie sie von Seiten der
Wissenssoziologie aufgeworfen und
in den Religionswissenschaften und
der Religionssoziologie diskutiert
wird. Wir fragen nach, ob die Übertragung von Strukturelementen
eines kirchenrechtlich und kulturgeschichtlich begründeten besonderen
religiösen Berufungs-Instruments in
der Form bestehender christlicher
Vokationsordnungen auf den Islam
zu Verzerrungen sowohl in der Sache
des Islams als auch mit Blick auf die
muslimischen Lehrkräfte führt. Das
hat auch mit dem im Dokument vertretenen Religionsverständnis zu tun,
auf das wir weiter unten eingehen.
Wenngleich der Weg, den Islam in
Deutschland auf diese Art kirchenähnlich zu stabilisieren, den Vorteil
der Institutionalisierung im Sinne
von Struktur und Funktion mit sich
bringt, birgt er doch auch bestimmte
Risiken, und zwar vor allem eins:
Den Verfassern des Entwurfs droht,
eben genau das zu gefährden, was
sie schützen wollen, nämlich die
Authentizität der Lehre und die
Integrität ihrer Repräsentanten.
Der Text spiegelt die Bestrebung der
Verfasser, als Stimme einer muslimischen Lobbygruppe, Akkreditierung mit öffentlichem und recht-
Seite 20
sähnlichem Charakter zu erfahren.
Der Islam in solchem Format als
gleichsam „veröffentlichtes Modell“
birgt auch für die Musliminnen und
Muslime jedes Potenzial institutionell spezialisierter Religion – dies
allerdings in seiner je guten und
weniger guten Bestimmung. Zu der
weniger guten Tendenz zählt das
Risiko, dass dadurch die Integrationsfunktion der neu entstehenden
religiösen Repräsentationen für das
alltägliche Handeln als Musliminnen
und Muslime geschwächt wird. Das
liegt daran, dass ein als „behördliche
Lehre“ inszenierter Islam (das gilt
im Übrigen auch für die so genannte
„Theologie“) in der Lage ist, durch
die funktionale Inanspruchnahme
(die Erlangung einer Berechtigung
oder Befugnis zum Beispiel) seinen
Dienst für die individuelle Religiosität zu versagen. Ihre hoch volatile
Plausibilität eilt jeder Formulierung
durch die spezialisierte Gruppe der
hauptberuflichen Muslime voraus.
Jeder Anspruch auf religiöse Deutungshoheit oder dessen Zuschreibung ist mit diesen Akten nämlich
potenziell auch negierbar; die Kluft
der Lehre zum subjektiven System
ist strukturbedingt und vermutlich
eher zu Ungunsten des religiösen
Repräsentationssystems angelegt. Es
gilt in den genannten Wissenschaften
als einer der zentralen Befunde, dass
dies den Grundmotor der Säkulari-
sierung als gesellschaftlichen Prozess
darstellt. Die Folge ist ein systemtheoretisches Problem: Je intensiver
ein muslimischer Beirat darum ringt,
sein Islamverständnis als System mit
eigener Referenz zu formatieren,
desto höher steigt das Risiko, gegenüber seinen Zielgruppen den Islam
seiner lebensbegleitenden und sinnstiftenden Funktion zu berauben.
Wir sind nicht so vermessen zu
behaupten, wir wüssten, wie man
das Dilemma löst, aber wir vertreten
die Ansicht, dass wir als Musliminnen und Muslime in Deutschland
die Chance nutzen sollten, in der
gegenwärtigen gesellschaftlichen
Konsolidierungsphase klügere Alternativen zu erproben. Ein Teil
der Alternative scheint uns aber
in der Frage zu liegen, ob im Benehmen mit den Lehrkräften das
Misstrauen oder das Zutrauen die
Ausgangsbasis darstellen wird.
16. Kommentar: Misstrauen vs.
Zutrauen
Allein die Fülle der Bestimmungen
des Dokuments insgesamt, aber
auch der investigative Charakter
einzelner Bestimmungen belegen aus
unserer Sicht: Die Verfasser haben
sich unserer Ansicht nach von Verlu-
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
stängstlichkeit leiten lassen. Der Text
atmet den Geist des grundsätzlichen
Misstrauensvotums vorbehaltlich
des Vertrauensereignisses. Es sollte
umgekehrt sein: das grundsätzliche
Vertrauensvotum vorbehaltlich des
Misstrauensereignisses. Eine Lehrkraft, die im Rahmen der öffentlichen Schule Islam unterrichtet,
sollte hoffen dürfen, im Beirat einen
Solidarpartner zu finden; stattdessen tritt ihr neben einer gegen den
Islam konditionierten Öffentlichkeit,
einer sensibilisierten Dienstaufsicht, einem kritisch eingestellten
Kollegium und in der Regel nicht
einfachen Unterrichtssituationen
nun noch ein weiterer Golem gegenüber. Wir stellen uns die Frage,
welchen Geist der Unterricht derer
atmen wird, die sich dem Geist des
hier in Rede stehenden Dokuments
unterstellen. Angesichts der Bestimmungen unter den Ziffern 9.e, i-m,
12.d.i-vi, 13.a-b und 14.d klingt die
Aussage unter 10.a unglaubwürdig.
mit diesem Dokument ja auch
nicht zur Diskussion. Keine Frage
ist, dass es außerordentlich schwierig ist, auf Dauer einen schlechten
Unterricht zu versehen oder als
Lehrkraft sonstigen Unfug zu treiben (gewiss, auch das kommt vor).
Der beruflichen Situation der Lehrkräfte insgesamt sollte auch ein
Verfahren Rechnung tragen, das eine
Lehrbefugnis implementiert – auch
wenn es bei der Religion um einen etwas sensibleren Bereich geht.
Warum es angesichts der Prüfungsbatterie noch zusätzlich einer besonderen Bestimmung wie 13.b bedarf,
erschließt sich uns nicht. Dass ein
Gespräch zwischen dem Beirat und
zukünftigen Lehrkräften stattfindet,
ist ja keine schlechte Idee; wir finden 14.a und 14.h gut. Aber muss
das so individualisiert sein? Ginge
das nicht auch im Kolloquium in
der Gruppe, um dem absehbaren
Unbehagen Einzelner vorzubeugen?
Immerhin steht hier nicht die fachDie einschlägigen Regelungen der
liche Eignung, sondern die ganze
Landeserziehungsgesetze, der Landes- Person auf der Hebebühne. Es gilt
schulgesetze und der Lehrerdienstzu bedenken, dass jede Prüfungsordnungen leisten ihren Beitrag
situation auch eine Lernsituation
dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer,
darstellt – was haben die Lehrkräfte
flankiert durch die kollegial-fachliche gelernt, wenn sie da heil durch sind?
und institutionell-rechtliche Rahmung in der Spur bleiben. Ob sie
Und wäre es nicht möglich, die
guten Unterricht halten, ist dabei
Sache mit der vorbildlichen Leeine andere Frage, aber die steht
bensführung (9.d-g) so auszulegen,
Seite 21
Was geht es einen Beirat an,
wo in dieser Vielfalt sich eine
Lehrkraft verortet,
so lange sie ihrer Pflicht zur
Lehre gemäß geltender
Curricula ohne jede
Majorisierung der Schüler
durch ein eventuelles
religiöses Minderheitenvotum nachkommt?
dass zum Einen das Glaubenszeugnis, die Schahada als Kennzeichen
reicht, andererseits aber auch die
Vergewisserung, dass Religion auf
dem Boden des Grundgesetzes und
auf der Grundlage der individuellen
Religiosität stattfindet, dass also
mithin jeder Versuch der Dogmatisierung im Zuge einer Abfrage wie
unter 14.b, d, e, i-o dargestellt zu
unterbleiben hätte, da die Verfasser
hier den freiheitlichen Standards
widersprechen, die sie für sich selbst
in Anspruch nehmen? Alles andere
ist dazu geeignet, die Persönlichkeitsrechte (und die sind keineswegs
abstrakter Natur) der Lehrkräfte zu
verletzen. Und: Hat nicht dereinst
Muhammad seinen glaubenseifrigen
Gefährten cUmar ibn al-Khattāb
untersagt, über die Mauern zu
spähen, ob die Gesinnung und die
Lebensstile in der Gemeinschaft
„rechtens“ sind? Ist den Verfassern
irgendein Fall bekannt, in dem
Muhammad sein Gegenüber derart
auf den Prüfstand gestellt hätte, wie
das in Bestimmung 14 beabsichtigt
ist, nämlich zur „Feststellung der
Religiosität“? Uns jedenfalls nicht.
17. Kommentar: das Islamverständnis
Wir haben angesichts der Bestimmungen unter 7, 9.e, i und l sowie
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
14.b, d und m Rückfragen zum
Islamverständnis der Verfasser. Es
scheint uns angesichts der sachlich
strittigen Bestimmung unter 9.l in
fortgeschrittener Weise technokratisch zu sein. Der Text erhebt einen
maturidischen Standard der sog.
5 Säulen des Islams und der sog.
6 Säulen des Glaubens sowie die
Komplementarität von Koran und
Prophetenwort in tradierter einseitiger Engführungen der ursprünglichen Weite islamischer Theologie
und Philosophie zur dienstlichen
Maxime. Das ist vor allem in Verbindung mit der Forderung nach
demgemäßer „Widerspruchsfreiheit“
im persönlichen Lebensstil starker
Tobak. Die islamische Theologie in
Deutschland gewinnt ihre internationale Attraktivität gerade dadurch,
dass sie die plurale Vielfalt muslimischen Religionsverständnisses aus
den staubigen Kerkern islamischer
Religionsbürokratie befreit und neu
beatmet – und dann marschiert
so ein Entwurf zur Lehrbefugnis
ohne Not in Gegenrichtung los.
Warum eigentlich? Ist es nicht Aufgabe der schulischen Lehrpläne, die
Vielfalt muslimischer Weltbilder zu
berücksichtigen? Was geht es einen
Beirat an, wo in dieser Vielfalt sich
eine Lehrkraft verortet, so lange sie
ihrer Pflicht zur Lehre gemäß geltender Curricula ohne jede Majori-
sierung der Schüler durch ein eventuelles religiöses Minderheitenvotum
nachkommt? Vor dem Hintergrund
dieses Befundes würde uns wirklich
einmal interessieren, woran genau die
Verfasser eigentlich gedacht haben,
als sie die Bestimmung 14.j formulierten. Und welches Verständnis von
„Scharia“ hat die Verfasser eigentlich
umgetrieben, als sie die Bestimmung
14.e zu Papier brachten? Das ist eine
heikle Sache und gegenüber den
Lehrkräften eine Ungeheuerlichkeit.
Uns als Religionspädagogen würde
auch interessieren, welches Menschenbild, welche Anthropologie
die Köpfe und Herzen der Verfasser
regiert, wenn sie einen Antragsteller
mit der Aufgabe konfrontieren, eine
Verhältnisbestimmung der beiden
in 14.m genannten theologischen
Fachbegriffe vorzunehmen. Wie
würden sie die beiden arabischen
Termini ins Deutsche übersetzen?
18. Kommentar: das Verständnis
von religiöser Gemeinschaft
und Moscheegemeinde
Das ist bei den Verfassern identisch.
Seltsam – so etwas ist im Islam eher
unüblich, da die Struktur und die
Funktion der Moschee im Islam weiter gefasst sind. Dort ist die Moschee
Dienstleister an die gesellschaftliche
Seite 22
Öffentlichkeit insgesamt und nicht
Fluchtpunkt einer lokalen Gemeinde.
Es mag zwar sein, dass in Deutschland solche Profile entstehen, aber
das hat eher etwas mit dem Vereinsrecht und mit den Nebenwirkungen
von Migration und dem damit verbundenen kulturellen Transmissionsmotiv ethnisch, religiös und sprachlich partikularer Gruppen zu tun.
Es damit zum Standard eines Berufungsverfahrens zu machen, halten
wir aber für nicht zukunftsweisend.
Praktika in Moscheen halten wir
ungeachtet dessen aber für eine
gute Idee – nicht unbedingt speziell für Lehrkräfte, aber für jeden
akademischen Studiengang, der
sich auf den Islam als Religion und
Lebensweise bezieht. Das wäre
dann die Angelegenheit der Studienordnung und nicht des Beirats.
Im Übrigen fragen wir uns, was
es mit den unter 10.c erwähnten
„berufsbegleitenden Praktika“ für
Lehrkräfte auf sich hat, die die 2.
Ausbildungsphase hinter sich haben.
Wir unterstellen nicht, dass die
mitunterzeichnende DITIB mit den
Bestimmungen unter 9.i-m, 10.c-f,
12.d.i-vi und 13.a.i-ii ihre eigenen
Moscheen aufwerten und deren
Mitglieder protegieren will, aber
so kommt es an. Wir haben nichts
gegen die DITIB, sondern arbeiten
im Gegenteil vertrauensvoll mit ihr
zusammen. Es geht uns ums Prinzip
– und in diesem Fall um eines, das
uns als Muslimen wichtig ist: Wir sehen einen Unterschied zwischen „in
Gemeinschaft leben“ und „in der Gemeinde in Erscheinung treten“ und
berufen uns hier auf Koran 107:4-7;
„… wehe dem, der betet um gesehen
zu werden …!“. Wir wissen, dass das
unterschiedlich gesehen wird. Immerhin gibt es in Deutschland ein
Schulbuch, in dem unter dem Foto
eines türkischen Predigers im vollen
Ornat tatsächlich die Bildunterschrift „Menschen, die Allah besonders nahe sind“ steht – womit die
potenzielle Gottesferne des Betrachters bestätigt wäre. Nicht gut, oder?
Nun haben wir überhaupt nichts
gegen die Bindung an eine Moscheegemeinde. Im Gegenteil – sowohl
an der Universität als auch in den
Fortbildungen legen wir eine solche Bindung nahe. Wir bringen
sogar Moscheevertreter und unsere
Zielgruppen zusammen. Aber damit endet die Fürsorge; die weitere
Gestaltung obliegt der Verantwortung der Lehrkraft als autonomem
Subjekt. Zudem ist die Frage der
Moschee-Affinität von so vielen
lokalen Unwägbarkeiten und sonstigen Lebensentscheidungen abhängig, dass eine reglementierte Abfrage
nicht sinnvoll erscheint. Wir haben
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
mit solcher Regelung nämlich auch
ein Problem angesichts der in einigen
Bundesländern mehr oder weniger
unverhohlenen Dienstanweisung an
Lehrkräfte, nur noch eine bestimmte
Moschee des DITIB-Trägervereins
in der Stadt zu besuchen, die anderen 25 Moscheen nicht. In einem
Fall, der gottlob rasch abgewickelt
werden konnte, hob die derart
akkreditierte Gemeinde an, pro
Schüler flugs 1,50 Euro Eintritt zu
verlangen (Lehrerin kommt gratis mit rein). Mit der abfragbaren
Kirchenmitgliedschaft christlicher
Religionslehrkräfte (ohne Nachweis
des Gottesdienstbesuchs, aktiver
Gemeindearbeit oder der gehaltenen
Predigt) ist das alles aus rechtlichen,
religiösen und sozialen Gründen
schon gar nicht zu vergleichen.
Und uns drückt da der Schuh noch
woanders: Wir selbst haben es erlebt,
wie es ist, wenn sich ein Gemeindevorstand gleichzeitig als Wächterrat,
Cheftheologen und Superpädagogen
geriert, obwohl es sich im wirklichen
Leben um Mitarbeiter der Telekom,
der Stadtwerke und einen Rechtsanwalt handelt. Wir haben es erfahren,
wie es ist, wenn in den von uns professionell vertretenen Sachgebieten
inkompetente Menschen die fachliche Meinung eines Hochschullehrers in Abrede stellen, weil er nicht
zur eigenen Gruppe gehört, und die
pädagogische Expertise einer ausgebildeten muslimischen Lehrerin für
Deutsch, Geschichte und Islam mit
dem Argument vom Tisch fegen, sie
sei als Frau im Islamunterricht sowieso fehl am Platz. Wir haben es erlebt,
dass Vertreter einer Gemeinde im
Rahmen einer öffentlichen Tagung
den Veranstalter desavouieren, indem
sie darauf hinweisen, er sei deshalb
Professor für den Islam, weil sie das
so gewollt hätten. Noch am vorletzten Wochenende meinte ein muslimischer Lehrer, der im Dienst eines
Konsulats steht, zu dem hier in Rede
stehenden Entwurf: „Lehrer werden
dort von einer Gemeinde abhängig
gemacht, wo sie unabhängig und
im Kopf frei sein sollen; das bedingt
doch die pädagogische Aufgabenteilung zwischen Familie, Gemeinde
und Schule. Das Problem ist das
Machtpotenzial sagen zu können: Du
bist hier, weil wir wollen, dass Du
hier bist. Wenn wir wollen, bist Du
wieder weg. Das ist es, was die Unruhe birgt, nicht einmal unbedingt
die Ausübung dieser Macht selbst.“
20. Kommentar: das Verständnis von
„ijaza“
Die Verfasser berufen sich auf ein
Verständnis islamischer Lehrbefugnis, welches die Frage aufwirft, wer
Seite 23
ihnen selbst eigentlich die Befugnis
erteilt hat – um damit einmal beim
zitierten islamischen Verständnis
der so genannten „Akkuratesse“
anzufangen (5.a-f ). Ganz abgesehen
vom erwähnten Misstrauen in die
religiöse Treue der Lehrkräfte ist der
Text vor allem vom Misstrauen in die
universitäre Ausbildung der muslimischen Religionslehrkräfte geprägt,
den nötigen Beitrag zur deren fachlicher, pädagogischer und persönlicher Eignung leisten zu können.
Dabei wären es eigentlich die muslimischen Hochschullehrer, welche
die Lehrbefugnis erteilen, einmal
das klassische islamische Verständnis
ebenso zu Grunde gelegt ebenso wie
die Bestimmungen unter 12.c.i-ix.
Zum Kernproblem wird nämlich,
dass heutzutage im Islam Lehre und
Kultus institutionell und funktional
ausdifferenziert sind: Der Gemeindevorstand ist nicht der Prediger,
und beide sind nicht die Professoren.
Was also ist mit „Lehre“ gemeint? In
der Geschichte des Islams war das
in die Regel nicht die Lehre einer
bestimmten Religionsgemeinschaft
oder einer Moschee. Noch einmal:
Wir sind Muslime und keine Christen. Vermutlich geht es also um
eine von den Verfassern bevorzugte
kulturelle Ausprägung des Islams
(vor dessen Hintergrund wir von
den Verfassern gerne mal eine De-
finition ihres aufdringlichen Sittlichkeitsbegriffs in 9.j und m sowie
in 12.d.v und vi erfahren würden).
In der klassischen osmanischen
Zeit war der Lehrbefugnisbrief
(iğāzetnāme) der Nachweis oder das
Zeugnis, welches den Inhaber zur
Überlieferung tradierter Wissensbestände oder zur Fortschreibung
(i.d.R. abschreiben und kommentieren) der Lehrbücher des Lehrers
autorisierte. Er wurde in der Regel
im Anschluss an ein Studium vom
Lehrer ausgestellt, in seltenen Fällen
auch vom Vater für den Sohn (beide
beispielsweise bei Muhammad alKhādimī). Er weist den Inhaber als
jemanden aus, der das Wissensgebiet,
das er vertritt, auch studiert hat, und
der deshalb, also ob der fachlichen
und nicht der persönlichen Eignung, zur Weitergabe befähigt und
im Übrigen auch verpflichtet ist.
Hier könnte auch auf die kenntnisreichen Schilderungen in Yaşar
Sarıkayas Dissertation zu Leben und
Werk von Abū Sacīd Muhammad
al-Khādimī hingewiesen werden.
Sie deuten auf die in den damaligen Zeiten (18. Jahrhundert AD)
europaweit verbreiteten Traditionen von Lehre und studentischen
Traditionen: „Die zeremonielle
iğāzet-Übergabe an die Absolventen
bildete einen der Höhepunkte im
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
Ganz abgesehen vom
erwähnten Misstrauen in die
religiöse Treue der Lehrkräfte
Jahresverlauf der Medresenausbildung […] Mehrere Tage vor der
offiziellen Feier in der Moschee […]
bereiteten [die Schüler] ihr eigenes
Programm vor. Dieses bestand aus
humorvollen Gedichten, satirischen
Sketchen und Rollenspielen, die
während eines nächtlichen Umzugs
zum Haus des Lehrers aufgeführt
wurden. Selbst die Lehrer wurden
dabei parodiert. […]“ (a.a.O., 119f.).
ist der Text vor allem vom
Misstrauen in die universitäre
Ausbildung der muslimischen
Religionslehrkräfte geprägt,
den nötigen Beitrag zu deren
fachlicher, pädagogischer
und persönlicher
Eignung leisten zu können.
20. Kommentar: das Verständnis von
Universität
Eine evangelische Religionspädagogin warf nach der Lektüre des Dokuments folgende Fragen auf: „Dass die
erhaltene Ausbildung nachgewiesen
werden muss, ist klar. Aber: Müssen ‚bearbeitete Bücher und Texte
dokumentiert‘ werden, die in der
Ausbildung oder zusätzlich gelesen
wurden? Gibt es einen Bücherkanon,
der bearbeitet werden musste? An
sich muss es doch um obligatorische
Themen gehen, nicht um einzelne
Autorenschaften, oder? Und wer ist
der ‚erteilende Lehrer‘? Gibt es auch
eine ‚erteilende Lehrerin‘? Könnten
damit ein bestimmter Professor oder
eine Professorin gemeint sein, die an
der Ausbildung im Studium beteiligt waren? Immerhin publizieren
die ja, und da wäre doch am besten
Seite 24
nachprüfbar, was sie lehren. Und in
den klassischen Ijaza-Traditionen
geht es vorrangig um Bücher. Und
wer ist dann der ‚persönliche Lehrer‘, der selber Inhaber einer Ijaza
ist? Diese Dinge gehen sicher auf
islamische Traditionen zurück. Aber
werden sie auch noch in der Türkei
an den islamischen Fakultäten gepflegt? Oder sind das arabische
Traditionen? Wissen würde ich auch
gerne, was Folgendes heißt: ‚…hat
ihre Wurzeln in der Akkuratesse der
mündlichen Weitergabe autorisierter religiöser Texte …‘. Gibt es also
einen Kanon der Texte, die studiert
sein müssen und die im Studium
gelesen werden und beim Antrag
auf Ijaza genannt werden müssen?“
Wir möchten uns diesen Fragen
in diesem Punkt anschließen: Es
kann nur um Sachgebiete gehen,
die studiert werden müssen, aber
die Autoren oder Lehrer sind nicht
vorgeschrieben. Sachgebiete werden von den Studiencurricula ausgewiesen, weniger die Autoren;
die Personalisierung des Wissens
halten wir für eine antiquierte Auffassung. Wir gehen nämlich auch
davon aus, dass Lehrveranstaltungen des Osnabrücker Lesezirkels
nicht dahingehend funktionalisiert
werden, als es bei der Lektüre beispielsweise des Werks Mirqatu'lwusul ila 'ilmi'l-usul von Mulla
Husraw mehr um eine kanonischnormative Lesung gehen könnte als
um eine analytisch-reflektierte.
Für uns wird nämlich zum Problem,
dass wir, ausgehend von unserem
Verständnis von Universität, keinen
Strukturen Vorschub leisten wollen
und dürfen, die den freiheitlichen
Prinzipien unserer Gesellschaftsordnung, wenn auch nicht im Sinne des
Gesetzestextes, so doch aber vom
Geist her zuwiderlaufen. Wir können es auch nicht einordnen, dass
auf derart flachem Niveau, wie es
das Dokument ausweist, der Wert
der Studienabschlüsse der akademischen Lehrerbildung auch im
Bereich Religion – auch im Bereich
Islam! – unterhöhlt wird. So jedenfalls kommt uns das Ganze vor.
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
Der Schaden, den das in diesem
Dokument angelegte Misstrauen
Zu dem unter 8 und 10.b entfalanrichtet, ist größer als der Schaden, den die eine oder andere Niete
teten Verständnis von islamischer
Religionspädagogik wollen wir uns
anrichtet, die immer durchschlüpft;
das ist das angemessene Risiko der
hier nicht weiter äußern. Allerdings
fragen wir uns schon, was die Verfas- Freiheitlichkeit, und auf diesem
Geist möchten wir für alle Belange
ser unter „Verinnerlichung“ verstehen und warum mit begrifflichen
des religiösen Unterrichts bestehen.
Anleihen wie „Korrelation“ vorrangig Wenn das kirchlich anders gesehen
werden sollte – im Islam ist das so.
auf althergebrachte bibeldidaktische
Konzeptionen verwiesen wird. Den
Verfassern fehlt offenbar ein grundWir fänden es gut, wenn die Rolle
legendes Verständnis davon, was isla- der Gemeinden zurückgenommen
mische Religionspädagogik in ihrem würde. Es wäre besser, der realen
genuin eigenen Sinne charakterisiert. soziologischen und religiösen Vielfalt muslimischer Strukturen den
Das ist ein bedauerlicher Befund.
angemessenen Raum zu geben,
Wir nehmen auch nicht Stellung zu
der im Dokument formulierten Maß- indem die Bezugnahmen darauf
gabe der Kostenpflicht für die Befug- allein der Selbstauskunft der Antragsteller anheimgestellt wird.
niserteilung. Die lehnen wir einfach
ab. Wir wollen aber stattdessen
einige Ideen zusammenfassen und in Insgesamt würden wir die Aufkonstruktive Vorschläge ummünzen: wertung der Selbstauskunft ohne
weiteren Prüfmodus begrüßen. Ein
Falls den Verfassern vorschwebt, die
Berufungsgespräch könnte an der
akademische Lehrerbildung abzuUniversität oder vor dem Beirat
stattfinden, je nach Wahlwunsch
werten, dann sollen sie das offen
der Antragsteller. Diese sollten auch
sagen, sie aber keinesfalls für das in
diesem Dokument vorgeschlagene
die Möglichkeit haben, bestimmte
Personen als Gesprächspartner
Verfahren in Beschlag nehmen. Als
Hochschullehrer können wir es nicht einladen oder ausladen zu können.
zulassen, unsere Studierenden in die
Es könnte sich um ein BeratungsgeSituation zu führen, sich am Ende
spräch im Beisein eines Beiratsvertreeinem solchen Verfahren stellen zu
müssen. Hier bitten wir um Klarheit. ters oder eines von den Antragstellern mandatierten Hochschullehrers
Vorschlag
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handeln. Diesem Gespräch läge ein
Motivationsschreiben der Antragsteller zu Grunde, das von Motiven
wie in 9.b und 14.h ausgeht und
über das man sich unterhält. Es
würde nur protokolliert und archiviert, dass diese Unterhaltung
stattfand, nicht ihre Inhalte.
Außerdem sollte dieses Gespräch
rechtzeitig vor der 1. Staatsprüfung
stattfinden und nicht erst nach
dem 2. Examen – das ist zu spät;
eine Sonderung nach befristeter
und unbefristeter Befugnis sollte
entfallen. In dem Gespräch könnte
auch ein Formblatt unterzeichnet
werden, das neben der Schahada
einige kurze Formulierungen wie
nach Maßgabe von 9.d, g, h, 10.b
und 12.b.i, ii enthält. Das wäre dann
mit der Gegenzeichnung etwa wie
bei der Verbeamtung erledigt. Dann
könnte einmal im Jahr zu einem
schönen Festakt eingeladen werden,
wo die Urkunde überreicht würde,
gerahmt durch ein ansprechendes
Programm (gerne auch mit ein wenig
Humor) – das würde dann auch
eine Entgeltregelung rechtfertigen.
vii und viii, 12.d, 13, 14.b-g sowie
14.i-o. Die Bestimmungen unter
15 könnten dann stehen bleiben,
sofern geklärt ist, dass solche Visitation nur im begründeten Beschwerdefall anberaumt wird.
Wir empfehlen zudem die Korrektur
der Fehler in der Umschrift bzw. der
Latinisierung der arabischen Vokabel
unter 5 sowie der arabischen Vokabel
unter 7 und eine lesbare Bearbeitung
der Paraphrase „(s.a.s)“ unter 7.
Mit herzlichem Gruß und der
Bitte um Nachsicht für die eine
oder andere Flapsigkeit.
Die folgenden Bestimmungen sollten
ersatzlos entfallen, weil sie zentralen
berufsethischen, islamisch-theologischen und persönlichkeitsrechtlichen Maßgaben zuwiderlaufen: 7,
8, 9.b-m, 12.a.iii und iv, 12.c.vi,
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
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Antwort vom 13.3.2012
Firouz Vladi
Der Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen, Hannover
An die Friedrich-Alexander Universität, Phil.
Fak. FB Theologie, Herrn Prof. H. Behr,
Regensburger Straße 160, 90478 Nürnberg
Anfrage wg. Ijaza-Ordnung Niedersachsen
Ihre eMail vom 10.02.2012
As-salamu-aleikum,
sehr geehrter Herr Behr,
sehr geehrter Herr Rochdi,
sehr geehrte Frau Ulfat,
wir bedanken uns für Ihr ausführliches Schreiben, in dem Sie auf die
Ijaza-Ordnung Bezug nehmen.
Die Ijaza-Ordnung ist das mehrfach
weiterentwickelte Produkt intensiver
Erörterungen seitens muslimischer
und nicht-muslimischer Theologen, Religionspädagogen aus dem
muslimischen wie christlichen und
jüdischen Kontext, mit Juristen und
Fachkräften verschiedener Universitäten. Zugrunde liegen die Vorstellungen der durchaus heterogen
positionierten Moscheegemeinden,
die durch die beiden Landesverbände
in Niedersachsen vertreten sind und
in deren Auftrag der Beirat Partner
beim IRU als einer res mixta ist. Wir
werten es als Erfolg, hierbei einen
Konsens gefunden zu haben, der nun
die Grundlage darstellen wird für
die weitere Arbeit. Dabei sind wir
offen für die ersten Erfahrungen und
an uns herangetragene konstruktive
Kritik, die wir zu gegebener Zeit
einer Evaluation unterziehen werden.
Wir sind uns als Pioniere auf diesem
Gebiet der Verantwortung bewusst,
die mit der Einführung des IRU
nach Art.7 (3) GG verbunden ist.
Aus diesem Grund ist der Beirat mit
muslimischen Theologen und Religionspädagogen besetzt. Der IRU
in Niedersachsen wurde mit einem
neun Jahre dauernden Modellversuch vorbereitet und evaluiert. Das
Kerncurriculum wurde im Einvernehmen mit beiden Landesverbänden unter Einbeziehung religionspädagogischer, theologischer,
kultursensibler und entwicklungspsychologischer Aspekte erstellt.
Wir möchten darauf hinweisen, dass
der Beirat (Schura ebenso wie DITIB) keine berufsständische Interessenvertretung ist; er vertritt weder
die Geistlichen (Imame, Hodschas)
noch die Lehrkräfte. Vielmehr sind
die beiden Mitglieder des Beirates
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
gemäß BGB-Vereinsrecht ihren jeweiligen Mitgliedern, also den
Moscheevereinen und über diese wiederum letztlich den Eltern gegenüber
verantwortlich und von diesen nach
religionsverfassungsrechtlicher Vorgabe mandatiert. Nur deren Interessen dürfen wir vertreten. Der Beirat
hat sich mit der Ijaza-Ordnung das
klare Ziel gesetzt, dass seine Mitglieder (die Eltern) in die künftigen
Lehrkräfte und damit in das gesamte
System des islamischen Religionsunterrichts Vertrauen haben können.
Die Arbeit des Beirates samt Ijaza
ist transparent und allen zugänglich.
Wir freuen uns, dass dies bisher sehr
positiv aufgenommen wurde. Unser
jetziges Augenmerk liegt auf einer
vertrauensvollen und kooperativen
Zusammenarbeit mit unseren beteiligten Lehrern, den Gemeinden
und allen zuständigen Gremien. Im
Mittelpunkt unserer Arbeit stehen
die muslimischen Kinder, die seit
geraumer Zeit Anspruch auf diesen
Unterricht haben. In diesem Sinne
laden wir Sie herzlich ein, weiterhin interessiert den Fortschritt
in Niedersachsen zu verfolgen.
Mit freundlichen Grüßen
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Erwiderung vom 24.4.2012
Harry Harun Behr, Amin Rochdi und Fahimah Ulfat
An den Gemeinsamen Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen
der Schura Niedersachsen Geschäftsstelle,
Herrn Firouz Vladi, Dieckbornstraße 11, 30449
Hannover und via [email protected]
Sehr geehrter Herr Vladi, sehr
geehrte Damen und Herren,
wir danken Ihnen für Ihre Antwort
auf unsere Anfrage in Sachen niedersächsisch-islamischer Befugnisordnung. Wir sind von Ihrer Antwort
enttäuscht. Sie gehen mit keiner
Zeile auf unsere Sachargumente ein.
Auf unserer Seite entsteht dadurch
der Eindruck, dass die von Ihnen
verwendeten Vokabeln „Transparenz“
und „Vertrauen“ anderen Absichten
dienen, die Sie nicht offenlegen können oder wollen. Das wird dadurch
verstärkt, dass sich Ihre Antwort auf
unsere Anfrage wie ein Werbetext
liest. Wir nehmen mit Bedauern zur
Kenntnis, dass wir von Ihnen in der
Sache nicht ernst genommen werden.
Sie heben in Ihrem Entwurf hervor, er sei das Ergebnis interreligiös und interdisziplinär, in diesem
Sinne auch akademisch „mehrfach
weiterentwickelter“ sowie „intensiv erörterter“ Expertise. Dass sich
die von Ihnen erwähnten Fachleu-
te von unserer Seite auch mit den
Instrumenten der Nachfrage und
Recherche in einschlägigen Kollegenkreisen nicht ermitteln lassen,
geht vermutlich zu Lasten unseres
Unvermögens. Sie hätten an dieser
Stelle auch einfach Ross und Reiter
nennen können – welche Fachfrau, welcher Fachmann, und von
welcher Universität? Das wäre ein
Beitrag zur Transparenz gewesen.
Theologie und Religionspädagogik
für maßgeblich. Was Jüdinnen und
Juden oder Christinnen und Christen mit Blick auf ihre jeweils eigene
oder womöglich auch auf eine muslimische Befugnisordnung bewegt, ist
eine andere Frage. Aber wir möchten uns auf das islamische Ethos in
solchen Fragen konzentrieren und
an unsere ausführlich dargestellten
Vorbehalte in dieser Sache erinnern.
Sie bewerten Ihre Arbeit als Konsenserfolg im Rahmen heterogener
Vorstellungen sowie als Grundlage
für Ihre Weiterarbeit, und Sie bezeichnen sich selbst als „Pioniere auf
diesem Gebiet“. Sie stellen klar, wessen Interessen Sie vertreten, wobei
wir Ihre Parallelisierung von „Moscheevereinen“ und „letztlich [...]
Eltern“ nicht unterstützen können.
Denn wir können nicht glauben,
dass es Ihnen nur um solche Eltern
geht, die gleichzeitig auch Mitglieder
in Moscheevereinen sind. Anders
als Sie, und das ist sicher auch eine
Ursache für die unterschiedlichen
Wahrnehmungen, vertreten wir übrigens niemandes Interessen; keiner
von uns gehört einer muslimischen
Interessengruppe an. Uns beschäftigt deshalb nicht, wen Sie vertreten,
sondern einzig die Frage, was Sie
vertreten. Von der von Ihnen so zahlreich angerufenen Expertise halten
wir letztlich nur die muslimische
Dass mein geschätzter Kollege de
Wall in der „Zeit“ mit der Bemerkung zitiert wird, an der Ijaza-Ordnung gebe es wenig zu beanstanden,
mag eben genau darauf zurückzuführen sein, dass die unterschiedlichen
kirchlichen Modelle einer Lehrbefugnisordnung als Folie für diese Wahrnehmung dienen. Das ist aber genau
der Punkt, an dem wir nachfragen
und auf den Sie nicht eingehen.
Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung
staltet sich im Islam Bekenntnisbindung, Konfessionalität und Denomination, und wie wirkt sich die von
Ihnen avisierte Verkirchlichung des
Islams auf die Reformulierung der
Lehre des Islams aus? Kurzum: Gäbe
es nicht Wege, eine intelligentere
Variante einer solchen „Ijaza“ zu formulieren als die, die Sie momentan
vorlegen? Es geht uns ja nicht darum, dieses Instrument rundheraus
in Abrede zu stellen. Dazu hatten wir
Ihnen konkrete Vorschläge gemacht,
auf die Sie nicht eingegangen sind.
Wir plädieren dafür, mit Blick auf
die Belange des islamischen Unterrichts und seines Personals Regelungen zu formulieren, die den
modernen Standards der NichtEinmischung des islamischen Rechts
und der Stärkung der islamischtheologischen Begründung für die
religiöse Selbstverantwortung des
Subjekts besser gerecht werden als
Wir sind der Auffassung, dass die
die von Ihnen auf den Weg gebrachte
kirchen- und kulturgeschichtlichen
Einschränkungen des PersönlichKonstruktion. Deshalb rufen wir
Sie auf, von Ihrem Entwurf für
keitsrechts, wie sie in dem hier in
Rede stehenden Sektor des „Bekennt- eine weitere Frist des Nachdenkens
nisses“ zum Tragen kommen, hinter
zurückzutreten und die Debatten in
offenere Bahnen zu lenken, und zwar
die Maßgaben des Persönlichkeitswenn möglich ergänzt um Experschutzes nach Maßgabe des
ten, die selbst institutionell nicht an
islamischen Rechts heutiger Lesart
solche Befugnisordnungen in ihren je
zurückfallen. Es ist Ihre Auffassung
eigenen Milieus gebunden sind.
von Bekenntnisbindung, über die
noch zu sprechen wäre, und zwar auf Wir verbleiben mit muslimischem
der grundsätzlichen Ebene: Wie geFriedensgruß.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Harry Harun Behr, geboren 1962, ist
Inhaber der Professur für Islamische
Religionslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
(FAU). Sein Forschungsschwerpunkt
liegt im Bereich von Islam und Bildung. Die FAU ist einer der vom
Bundesministerium für Bildung und
Forschung und der Stiftung Mercator
geförderten Schwerpunktstandorte für
Islamische Theologie in Deutschland.
Amin Rochdi, geboren 1983, ist Realschullehrer in Erlangen-Nürnberg für
die Fächer Deutsch, Geschichte und
Islamische Religionslehre. Er forscht
am Interdisziplinären Zentrum für
Islamische Religionslehre zu Fragen
der religiösen Sozialisation junger
Musliminnen und Muslime in Deutschland, zur Didaktik der Textarbeit mit
dem Koran im Unterricht und zum
Fachprofil Islamischen Religionsunterrichts in der Sekundarstufe II.
Fahimah Ulfat ist Lehrerin und Kollegiatin am Graduiertenkolleg für Islamische
Theologie und promoviert an der Universität Erlangen-Nürnberg über „Die subjektiv-relative Wertdimension als Schlüssel zum Gottesbild muslimischer Kinder“.
Zuvor studierte sie in Essen Lehramt
und arbeitete als Grundschullehrerin.
Herausgegeben von
Harry Harun Behr
(v.i.S.d.P.)
Emel und Amin Rochdi
Interdisziplinäres Zentrum für
Islamische Religionslehre
an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg
Regensburger Straße 160
90478 Nürnberg
Telefon 0911 5302-607
www.izir.de
Satz und Layout:
Yasmine Behr
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des Urheberrechts bleiben hiervon unangetastet. Nähere Informationen unter www.creativecommons.org
ISSN: 1864-6670
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