Chaos in der Erbsubstanz - Spektrum der Wissenschaft

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MOLEKULARE GRUNDLAGEN
z
Chaos in der
Krebs
Erbsubstanz
Neue Forschungsergebnisse stellen etablierte Theorien
zur Entartung von Zellen in Frage. Zugleich eröffnen sie
Möglichkeiten, Tumoren Einhalt zu gebieten, bevor diese
sich im Körper ausbreiten.
Von W. Wait Gibbs
Jeff Johnson, Hybrid Medical Animation
W
12
ie entsteht Krebs? Durch
Zigarettenrauchen, wür­
den wohl die meisten
Leute antworten. Oder:
durch zu viel Alkohol, Sonnenbaden und
gegrilltes Fleisch, durch manche Viren
und Asbeststaub. All diese Umweltfakto­
ren erhöhen zwar das Risiko für Krebs­
erkrankungen enorm, können jedoch
nicht die eigentlichen Ursachen sein.
Denn obwohl ein Großteil der Bevölke­
rung solchen Risikofaktoren ausgesetzt
ist, erkrankt nur ein Bruchteil davon an
einem bösartigen Tumor.
Bei der eigentlichen Ursache einer
Krebserkrankung muss es sich um eine
gewisse Kombination von Schädigungen
und Fehlern handeln, die normale
­Körperzellen in bösartige umwandelt –
sprich: sie in die Lage versetzt, sich un­
gebremst zu vermehren und in entfern­
ten Körperregionen Tochtergeschwülste
zu bilden. Auf dieser Ebene liegt die
­Ursache von Krebs nicht völlig im Dun­
keln. Noch vor etwa zehn Jahren meinten
viele Genetiker sogar, sie endgültig einge­
kreist zu haben. Krebs – so lautete ihre
Theorie – resultiert aus einer Ansamm­
lung von Mutationen in krebsassoziierten
Genen, wodurch Struktur und Funktion
der entsprechenden Proteine verändert
werden. Dabei sind zwei Arten von Ge­
nen betroffen:
r Tumorsuppressorgene, die normaler­
weise die Teilungsrate in Grenzen halten;
Krebs erzeugende Mutationen inaktivie­
ren sie dauerhaft.
r wachstumsstimulierende Onkogene,
welche die Zellteilungsrate erhöhen;
Krebs erzeugende Mutationen versetzen
sie in einen dauerhaft aktiven Zustand.
Keines dieser Gene ist von Natur aus
ein »Krebsgen«. Alle haben ihre Aufgabe
in der Zelle (siehe Kasten S. 16). Einige
Wissenschaftler halten auch heute daran
fest, dass Mutationen in wenigen dieser
Gene der auslösende Faktor schlechthin
sind – und damit die eigentliche Ursache
von Krebs. Manche Forscher, darunter
auch prominente Onkologen, ziehen die­
ses klassische Dogma inzwischen aber zu­
nehmend in Zweifel.
Alles, was schief gehen kann
Fraglos sind die Ursachen von Krebs letzt­
lich in Veränderungen der Erbsubstanz
DNA zu suchen, doch steckt offenbar
noch mehr dahinter. Bei der Untersu­
chung der Mechanismen, die zu Krebs
führen, stießen nämlich Biologen im
Zellkern auf eine Fülle ungewöhnlicher
Vorgänge, wenn Zellen sich auf den Weg
in die Entartung begeben. Oft gehen gan­
ze Chromosomen mit mehreren tausend
Genen verloren oder treten in Überzahl
auf. Abschnitte vermischen sich, Stücke
werden abgetrennt und teilweise mit an­
deren Chromosomen verschmolzen. Da­
neben kommt es zu chemischen Modi­
fikationen der DNA oder ihrer Histon­
proteine, auf die das DNA-Molekül im
Chromosom aufgewickelt ist. Dadurch
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
können wichtige Gene stillgelegt werden;
anders als Mutationen bleiben diese Mo­
difikationen jedoch reversibel.
Aus den Forschungsergebnissen der
letzten Jahre haben sich mindestens drei
Hypothesen herauskristallisiert, die mit
dem klassischen Dogma der Krebsentste­
hung konkurrieren. Sie unterscheiden
sich von ihm in der Frage, was die Initial­
zündung liefert und auf welche Verände­
rungen es bei dem jahrzehntelangen Um­
wandlungsprozess ankommt, der schließ­
lich in aggressiven Tumorzellen gipfelt.
Die Verfechter dieser Hypothesen be­
zweifeln die vorherrschende Ansicht,
Krebs sei das Produkt exakt definierter
genetischer Zustände. Sie halten es für
sinnvoller, ihn als das Ergebnis eines cha­
otischen Prozesses aufzufassen, einer Ver­
quickung von Murphys Gesetz – »Alles,
was schief gehen kann, geht schief« – mit
Darwins Selektionstheorie – »Im Kampf
ums Dasein überleben und gedeihen nur
die Bestangepassten«.
Riskantes Altern
Eine tragfähige Theorie müsste erklären,
weshalb Krebs vor allem eine Krankheit
des höheren Alters ist, aber eben nicht
alle Menschen heimsucht. Die Wahr­
scheinlichkeit, dass ein Siebzigjähriger
die gefürchtete Diagnose erhält, ist im­
merhin hundertmal höher als bei einem
Neunzehnjährigen. Trotzdem werden die
meisten Menschen alt, ohne an Krebs zu
erkranken.
Um den Organismus über ein acht­
zigjähriges Menschenleben funktionsfä­
hig zu erhalten, müssen schätzungsweise
über 100 Billionen, vielleicht mehr als
10 Billiarden Zellen kooperieren. Wenn
jede dieser Zellen zur Tumorzelle werden kann, weshalb entwickelt dann nur
weniger als die Hälfte der Bevölkerung
Krebserkrankungen, die zu Lebzeiten di­
agnostiziert werden?
Eine mögliche Erklärung ist, dass Zel­
len für eine Krebskarriere einige außerge­
wöhnliche Fähigkeiten erwerben müssen.
»Fünf bis sechs regulatorische Systeme
Die verdoppelten Chromosomen
folgen während der Zellteilung einer komplexen Choreografie. Fehltritte,
durch die Chromosomen beschädigt werden oder in die falsche Tochterzelle gelangen, könnten nach neueren Vorstellungen
erste entscheidende Ereignisse bei der
Krebsentstehung sein.
r
13
MOLEKULARE GRUNDLAGEN
z
müssen außer Kraft gesetzt werden«, be­
tont Robert A. Weinberg vom Whitehead
Institute am Massachusetts Institute of
Technology in Cambridge. In einem
Übersichtsartikel Ende 2002 vertraten er
und William C. Hahn vom Dana Faber
Cancer Institute in Boston die Auffas­
sung, dass jeglicher lebensbedrohliche
Krebs mindestens sechs charakteristische
Fähigkeiten aufweist. (Weinberg ist ein
Verfechter der klassischen Theorie der
Krebsentstehung; trotzdem stimmen eini­
ge der wichtigsten Vertreter der neuen
Hypothesen ihm in diesem Punkt zu.)
Zunächst einmal teilen sich Krebs­
zellen auch in Situationen, in denen nor­
male Zellen zunächst auf ein bestimmtes
chemisches Signal, zum Beispiel von einer
verletzten Nachbarzelle an einer Wunde,
zu warten pflegen. Offenbar imitieren sie
für sich irgendwie diese wachstumsför­
dernden Signale (siehe Kasten rechts).
Umgekehrt ignorieren sie Befehle, ihre
Teilungsaktivität einzustellen. Solche
Aufforderungen erhalten sie zum Beispiel
vom umliegenden Gewebe, das vom
wachsenden Tumor bedrängt wird, oder
von ihren zelleigenen Alterungsmecha­
nismen.
Stufe sechs bedeutet
höchste Lebensgefahr
Alle Krebszellen zeigen irgendwelche
schwerwiegenden Anomalien oder Schä­
den im Erbgut. Hinzu kommt, dass in ei­
nem Tumor zahlreiche Zellen nicht mehr
ausreichend mit Sauerstoff und Nährstof­
fen versorgt werden. In solchen Situatio­
nen springt in normalen Körperzellen ein
Selbstzerstörungsprogramm an. Tumor­
zellen hingegen gelingt es auf irgendeine
Weise, sich dem »programmierten Zell­
tod« zu entziehen (siehe Beitrag S. 28).
Mehr noch: Sie senden Signale aus, die
zum Einsprossen von Blutgefäßen in das
Tumorareal führen und so die Infrastruk­
tur für weiteres Wachstum schaffen.
Eine weitere besondere Eigenschaft
praktisch aller Krebszellen ist ihre poten­
zielle Unsterblichkeit. Normale mensch­
liche Zellen stellen in einer Kultur nach
etwa fünfzig bis siebzig Teilungsrunden
ihre Vermehrung ein. Diese Zahl an Tei­
lungsschritten ist mehr als ausreichend,
um einen Menschen hundert Jahre oder
länger am Leben zu erhalten. Da nun die
Mehrzahl der Zellen in einem Tumor an
ihren – noch zunehmenden – geneti­
schen Defekten rasch zu Grunde geht,
müssen sich die Überlebenden unaufhör­
lich teilen, damit der Tumor überhaupt
an Masse zulegt. Ein Mechanismus, der
die Zahl möglicher Teilungen begrenzt,
betrifft die Telomere, die Schutzkappen
an den Enden der Chromosomen. Sie
schrumpfen gewöhnlich bei jeder Tei­
lungsrunde. Krebszellen können dem un­
ter anderem gegensteuern.
Tumoren, deren Zellen diese insge­
samt fünf Fähigkeiten erworben haben,
können große gesundheitliche Probleme
verursachen, stellen aber meist noch keine
tödliche Gefahr dar. Wirklich lebensbe­
drohlich werden sie, wenn es ihren Zellen
gelingt, über die natürlichen Gewebe­
grenzen hinweg in benachbarte Areale ein­
zudringen, sich im ganzen Körper auszu­
breiten und an entfernten Stellen Tochter­
geschwülste – Metastasen – zu bilden. In­
vasiv wachsende Tumoren, die noch lokal
begrenzt sind, lassen sich gewöhnlich auch
noch chirurgisch entfernen. Auf das Kon­
to tückischer Metastasen gehen jedoch
neun­zig Prozent aller Krebstodesfälle.
Zwar erwerben anscheinend nur eini­
ge wenige Zellen eines Tumors die Fähig­
keit, sich aus dem ursprünglichen Ver­
band zu lösen, im Blutstrom treibend ein
IN KÜRZE
r Krebs ist eine genetische Erkrankung. Veränderungen an der Erbsubstanz DNA
können eine Zelle mit »übernatürlichen« Fähigkeiten ausstatten – zum Beispiel
überall im Körper zu gedeihen und sich unbegrenzt zu teilen.
r Lange Zeit galt die Mutation einer relativ begrenzten Anzahl krebsassoziierter
Gene als entscheidender Schritt bei der Umwandlung normaler Zellen in Tumor­
zellen. Neuere Hypothesen stellen diese Sichtweise jedoch in Frage.
r Wenn Kopier- und Reparatursysteme für die DNA versagen – so die eine Hypo­
these –, häufen sich in kurzer Zeit tausende Mutationen an. Nach einer weiteren
Hypothese bringt der Ausfall einiger weniger »Mastergene« die Chromosomen
und ihre Organisation durcheinander, was gefährliche Konsequenzen hat. Eine
dritte Gruppe von Wissenschaftlern vermutet, dass eine Veränderung der Chromosomenzahl in der Zelle der erste Schritt auf dem Weg zum Krebs ist.
14
anderes Organ zu erreichen und dort tat­
sächlich eine neue Zellkolonie zu be­
gründen. Doch zum Zeitpunkt der Diag­
nose hat Krebs bereits oft metastasiert: in
den USA bei Lungen-, Darm- und Brust­
krebs in 72, 57 beziehungsweise 34 Pro­
zent der Fälle. Die Prognose ist in diesem
Stadium meist ungünstig.
Eine Hand voll Mutationen
Vorstadien von Krebs könnten früher dia­
gnostiziert werden, wenn es gelänge, die
Etappen der Krebskarriere nachzuvollzie­
hen, wenn der Angriff einer karzinogenen
Substanz oder ein zufälliges biochemi­
sches Missgeschick sie erst einmal gestar­
tet hat. Über die Eigenschaften entarteter
Zellen am Ende des Wegs besteht zwar
weitgehend Einigkeit, aber die treibenden
Kräfte und die Reihenfolge der Schritte
dorthin sind heftig umstritten.
Die vorherrschende Ansicht seit mehr
als 25 Jahren lautete, dass Tumoren in
Schüben von Mutation und Expansion
wachsen. DNA-Schäden inaktivieren oder
verkrüppeln beispielsweise ein Tumorsup­
pressorgen, wie Rb, p53 und APC, wo­
durch Proteine wegfallen, die normaler­
weise die Integrität des Erbguts sichern
und die Teilungsaktivität der Zellen re­
gulieren. Alternativ kann eine initiale Mu­
tation die Aktivität eines Onkogens – wie
BRAF, c-fos oder c-erbb3 – erhöhen, des­
sen Protein die Teilung der Zelle fördert.
Die veränderten Krebsgene verleihen der
Zelle eine oder zwei spezielle Fähigkeiten,
wodurch sie sich schneller vermehrt als
ihre normalen Nachbarn. Die Zelle gibt
mit ihrem Erbgut die Mutationen an ihre
Tochterzellen weiter, die sich als Klon bis
an ihr Limit vermehren. Irgendwann
kommt es zufällig zu einer Mutation in ei­
nem anderen Krebsgen, die eine weitere
regulatorische Schranke beseitigt und ei­
nen erneuten Wachstumsschub zulässt.
In normalen Zellen ist jedes Chromo­
som zweifach vorhanden; das eine stammt
von der Mutter, das andere vom Vater.
Damit ist auch jedes Gen in zwei Exemp­
laren vertreten – abgesehen von denen auf
dem ungleichen Geschlechtschromoso­
menpaar des Mannes. Um ein Onkogen
permanent zu aktivieren, genügt es, wenn
ein Exemplar mutiert. Um ein Tumor­
suppressorgen dauerhaft auszuschalten,
müssen hingegen beide Exemplare betrof­
fen sein. Vier bis zehn Mutationen in den
richtigen Genen können jede Zelle in
eine Tumorzelle umwandeln – zumindest
der Standardtheorie nach.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
Im Uhrzeigersinn von oben rechts: Chris Jones, Corbis; Peter Lansdorp, Universität
von British Columbia; Science Photo Library; Frank Lynch, Qualtech Molecular
Laboratories; Andrejs Liepins / SPL; CNRI / SPL; SPL
Sechs teuflische Eigenschaften von Krebszellen
1
Zellteilung auch
ohne externe Wachstumssignale
Die meisten normalen Zellen warten auf
externe Befehle, bevor sie sich teilen. Viele
Krebszellen (Bild) stimulieren sich selbst
mit imitierten Wachstumssignalen.
2
Wachstum trotz
Stoppsignal der Nachbarzellen
Der wachsende Tumor (gelblich) bedrängt
das Nachbargewebe. Dessen Zellen geben
Botenstoffe ab, die eine weitere Vermeh­
rung verhindern sollen. Zellen eines bösar­
tigen Tumors ignorieren diese Signale.
3
5
Umgehen des
Selbstzerstörungsprogramms
Gesunde Zellen können sich höchstens
siebzigmal teilen. Krebszellen unterlau­
fen die Systeme, welche die Gesamtzahl
der Teilungen begrenzen, bewahren
etwa die Telomere (gelb) an den Enden
der Chromosomen (blau).
Häufen sich zu viele DNA-Schäden an, wird
in normalen Zellen meist ein Selbstmord­
programm aktiviert. Krebszellen (violett)
umgehen es, werden aber gelegentlich
doch von Immunzellen (orange) zur Selbst­
zerstörung gezwungen.
4
6
Stimulation
des Blutgefäßwachstums
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Invasion und Bildung
von Metastasen
Ein Tumor wird gewöhnlich erst dann ­
lebensbedrohlich, wenn er die Mechanis­
men inaktiviert, die sein Wachstum auf
sein Herkunftsgewebe beschränken.
Einige abgesiedelte Zellen bilden Tochter­
geschwülste (orange und gelb), die
schließlich auch lebenswich­tige Organ­
systeme beeinträchtigen.
Tumoren benötigen Sauerstoff und Nähr­
stoffe, um größer zu werden. Sie veranlas­
sen nahe gelegene Blutgefäße, neue
Verzweigungen (braune Streifen) zu bilden
und in die wachsende Gewebemasse
einzusprossen.
Praktisch universell anerkannt wurde
diese Theorie, weil sie experimentelle Be­
obachtungen an genetisch veränderten
Mäusen und Kulturen menschlicher Zel­
len sehr gut erklärt. Moderne Techniken
erlauben es jedoch inzwischen, dem le­
benden Menschen entnommene Krebs­
zellen und ihre Vorstufen direkt auf Ver­
änderungen ihres Erbguts zu untersu­
chen. Viele neuere Befunde passen nicht
zu der Vorstellung, dass Mutationen eini­
ger spezieller Gene der Ursprung aller
Krebserkrankungen sind.
Im April 2003 beispielsweise berich­
teten Muhammad Al-Hajj von der Uni­
versität von Michigan in Ann Arbor und
seine Kollegen, sie hätten auf mensch­
lichen Brustkrebszellen, die neue Tumo­
ren – sprich Metastasen – zu bilden ver­
mochten, charakteristische »Marker«
Gewinn
potenzieller Unsterblichkeit
identifiziert. Nur etwa hundert dieser
Zellen, ins Blut injiziert, reichten aus, um
in einer Maus den Krebs neu wuchern zu
lassen (die verwendeten Tiere stoßen art­
fremdes Gewebe nicht ab). Wählten die
Wissenschaftler hingegen Zellen aus den
gleichen bösartigen Brusttumoren, aber
ohne diese speziellen Marker, passierte
nichts – selbst bei zehntausenden injizier­
ten Zellen auf einmal.
Abtrünnig sind nur wenige
Die isolierten aggressiven Zellen stellten
nur einen winzigen Bruchteil der jeweili­
gen Tumormasse dar. »Dies ist die erste tu­
morinitiierende Zell-Linie, die aus einem
soliden Tumor isoliert wurde«, kommen­
tiert John E. Dick, Biologe an der Uni­
versität Toronto, der entsprechende Zell­
typen bei Leukämien, also Blutkrebs, iden­
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II tifiziert hat. Interessanterweise, so Dick,
verursache also nur ein ganz geringer
­An­teil der Zellen in einem Krebsherd das
invasive Wachstum und die Metastasie­
rung – und damit Leiden und Tod des Pa­
tienten. Sollte sich diese Annahme gene­
rell für Tumorerkrankungen bei Menschen
bewahrheiten, könnte das für die Muta­
tionstheorie Probleme aufwerfen. Denn
wenn Krebs seine Überlegenheit durch
Mutationen erhält, die ja von jeder Zelle
an all ihre Nachkommen vererbt werden – sollten dann nicht alle einer »Sippe«
die gleichen Fähigkeiten aufweisen?
Tatsächlich handelt es sich bei den
meisten Tumoren nicht um homogene
Ansammlungen identischer Zellen. Ge­
nauere Analysen förderten eine erstaunli­
che genetische Vielfalt zu Tage: Manche
menschlichen Tumorzellen haben sich
15
MOLEKULARE GRUNDLAGEN
z
von ihren normalen Vorläufern – und
selbst von ihren Schwesterzellen – gene­
tisch schon so weit entfernt, dass man ge­
radezu von einer anderen Spezies spre­
chen könnte.
Einige wenige krebsassoziierte Gene,
darunter p53, sind zwar – wie es aus­sieht
– sehr wohl bei der Mehrzahl der Tumo­
ren mutiert. Viele andere Krebsgene aber
sind nur bei manchen Krebsarten, einem
Teil der Patienten oder höchstens weni­
gen Zellen in einem Tumor verändert.
David Sidransky und seine Mitarbei­
ter von der Medizinischen Fakultät der
Johns-Hopkins-Universität in Baltimore
(Maryland) beispielsweise haben die
DNA von 476 Tumoren verschiedenster
Art untersucht. Das Onkogen BRAF er­
wies sich bei zwei von drei papillären
Schilddrüsenkarzinomen als mutiert, je­
doch nicht bei mehreren anderen Krebs­
arten des gleichen Organs.
Merkwürdige Inkonsistenzen
Bei einigen der am häufigsten mutierten
Krebsgene zeigen sich zudem merkwür­
dig inkonsistente Effekte. Die Gruppe
um Bert E. Vogelstein an der Johns-Hop­
kins-Universität fand heraus, dass die gut
untersuchten Onkogene c-fos und c-erbb
im Tumorgewebe erstaunlicherweise we­
niger aktiv sind als in benachbarten nor­
malen Geweben. Das Tumorsuppressor­
gen Rb hingegen ist in manchen Darm­
karzinomen nicht etwa inaktiviert,
sondern überaktiv. Noch perverser: Es
schützt diese Tumoren damit offenbar
von dem programmierten Selbstmord.
Erschüttert wurde auch die »ZweiTreffer«-Hypothese, nach der beide Ex­em­plare eines Tumorsuppressorgens aus­
geschaltet werden müssen, damit ihre
­zügelnde Wirkung entfällt. In einigen
Tumoren sind aber überhaupt keine
Gene dieser Art mutiert, lediglich ihre
Produktivität ist vermindert, was aber of­
fenbar ausreicht, um die Zellen in die
maligne Entartung zu treiben. Diesen Ef­
fekt haben Forscher inzwischen bei mehr
als einem Dutzend Tumorsuppressorgene
beobachtet, und für viele weitere erwar­
ten sie es. Offenbar ist es eine Überver­
einfachung, nur nach der reinen Anoder Abwesenheit eines Genprodukts zu
fragen. Die Dosis macht’s.
Neben Genmutationen untersuchen
die Wissenschaftler heute verstärkt andere
Krebs erzeugende Mutationen: Streckennetz mit Lücken
WNT
Forscher haben bislang weit über hundert Gene identifiziert, die je nach Tu­
morart häufig mutiert sind. Nach der klassischen Theorie sind alle Protei­
ne, die von diesen Tumorsuppressorgenen (rote Kreise) und Onkogenen
(grüne Kreise) stammen, in komplexe biochemische Regelkreise einge­
bunden, welche die Teilungsrate und Lebensdauer der Zellen steuern.
Mutationen, die Elemente dieses Systems inaktivieren (Kreuze) oder
überstimulieren (Pfeile), führen zur Umwandlung in eine Tumorzelle. Ver­
suche zu klären, welche Genmutationen für die Entstehung eines Tumors
notwendig und hinreichend sind, scheiterten bisher an der schieren Zahl
der krebsassoziierten Gene, von denen hier nur einige aufgeführt sind.
Frizzled
Disheveled
GSK3β
APC
β-Catenin
TGF-β
TCF
Nach: »A Subway Map of Cancer Pathways« von William C. Hahn und Robert A. Weinberg in: Nature Reviewes Cancer, Mai 2002;
online unter www.nature.com/nrc/journal/v2/n5/weinberg–poster; © 2002 Macmillan Magazines Ltd.; Abdruck genehmigt
TGF-βR
SMADs
INK4B
RB
INK4A
TERT
CYCD-CDK4
ARF
MDM2
Zelle wird
»unsterblich«
LT
p53
CYCE-CDK2
WAF1
Proteinkonzentrationen
verändern sich
Stoffwechsel
und Verhalten
der Zelle
verändern sich
MEK
RAF
RSK
PTEN
PP2A
eIF4E
Noch im Bau:
GRB2-SOS
Genetische Übersichtskarten für …
TOR
Wachstums­
faktor
16
RTK
PI3K
G-Protein
Cytokin
GPCR
ALT
Zelle zerstört
sich selbst
BAX
MAPK
RAS
Zelle teilt sich
E2Fs
AKT
ST
r Gefäßneubildung in Tumoren
r Metastasierung
r Umprogrammierung von Nachbar
zellen zur Kollaboration mit dem
Tumor
r Destabilisierung der Chromosomen
r Unterlaufen der Immunabwehr
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
Abweichungen bei den Chromosomen können mit einem Schlag die
»Gendosis« vieler tausend Gene verändern. Der Kern einer weiblichen menschlichen Zelle enthält 23 als Paar vorhandene
Chromosomen (Ausschnitt oben). In einer Krebszelle (unten) tragen manche
von ihnen zusätzliche Teile, die von anderen Chromosomen stammen (mehrfarbiges Stäbchen am linken Bildrand). Manchen wiederum fehlen einzelne Arme
(königsblau) oder sie sind in falscher Anzahl vorhanden (gelbgrün).
Labor im Januar 2003 ein, dass die Mu­
tation krebsassoziierter Gene nicht die
ganze Wahrheit sein kann. »Die entschei­
dende Frage lautet: Was ist zuerst da,
Mutation oder Aneuploidie?«
Mindestens drei verschiedene Ant­
worten werden derzeit diskutiert. Nen­
nen wir sie das modifizierte Dogma, die
Hypothese der frühen Instabilität und
die Nur-Aneuploidie-Hypothese. Erfreu­
licherweise scheinen sich die drei Model­
le einander anzunähern, je mehr sie den
jeweils neuen experimentellen Befunden
angepasst werden.
Mechanismen, welche die Konzentration
eines Proteins in der Zelle dramatisch ver­
ändern können. Dazu gehören der Ver­
lust oder die Verdopplung ganzer Chro­
mosomen oder ihrer Teile, auf denen kri­
tische Gene liegen, aber auch veränderte
Pegel regulatorischer Proteine, welche die
Ausprägung von Genen beeinflussen.
Selbst so genannte epigenetische Effekte
werden in Betracht gezogen, also reversib­
le Modifikationen im Bereich des Gens,
die es beispielsweise abschalten können.
All diese Phänomene kommen praktisch
ubiquitär bei etabliertem Krebs vor.
»Bei den meisten soliden Tumoren
des Erwachsenenalters möchte man mei­
nen, im Zellkern hätte eine Bombe ge­
zündet«, erläutert Hahn. »Große verket­
tete Fragmente verschiedener Chromoso­
men, daneben überzählige oder völlig
fehlende Chromosomen.«
Zündender Mutationsschub?
Die modifizierte Form des klassischen
Dogmas greift eine Idee auf, die Lawrence
A. Loeb, heute an der Universität von
Washington in Seattle, schon 1974 for­
muliert hat. Er und andere Genetiker
schätzten, dass im Laufe eines Menschen­
lebens pro Zelle durchschnittlich nur ein
einziges Gen von einer bleibenden zufälli­
gen Mutation betroffen wird. Vorausset­
zung für die Entstehung eines Tumors sei
demnach, so Loeb, eine dramatisch er­
höhte Mutationsrate – etwa durch den
Einfluss karzinogener Substanzen oder re­
aktionsfreudiger Radikale, vielleicht auch
durch Fehlfunktionen in der Zellmaschi­
nerie, die DNA vermehrt und repariert.
»Dies ist wahrscheinlich richtig«, stimmt
Hahn zu, »andernfalls würden nie genü­
gend Mutationen zusammenkommen,
um eine normale Zelle in eine Tumorzelle
zu verwandeln.«
Loeb glaubt, dass früh in der Ent­
wicklung eines Tumors eine enorme Zahl
von Mutationen auftritt – etwa 10 000 bis
100 000 pro Zelle. Er räumt jedoch ein,
dass es bislang noch kaum Beweise für
diese Hypothese gibt. Die Zahl zufälliger
Mutationen zu bestimmen ist allerdings
auch äußerst aufwendig. Dazu muss das
Erbgut verschiedener Zellen Buchstabe
für Buchstabe verglichen werden, was erst
seit kurzer Zeit mithilfe neuer biotechno­
logischer Methoden möglich ist.
Das modifizierte Dogma stellt also der
seit langem akzeptierten klassischen Sicht­
weise lediglich ein Kapitel voraus. Der
entscheidende Aspekt bleibt die Mutation
von Genen, die den Tumorzellen einen
Wachstumsvorteil bescheren. Derangierte
und instabile Chromosomen sind auch in
diesem Modell lediglich Begleiterschei­
nungen des Umwandlungsprozesses.
Von Christoph Lengauer und seinem
Kollegen Vogelstein – beide bekannte
Chromosomen-Tohuwabohu
Bisher besteht noch keine Einigkeit über
einen Sammelbegriff für die verschie­
denen Chromosomen-Aberrationen in
Krebszellen. Der dafür verwendete Be­
griff »Aneuploidie« bezeichnete früher
nur Abweichungen in der Anzahl ganzer
Chromosomen. Seit einiger Zeit wird er
auch in einem weiteren Sinne gebraucht
und schließt dann Chromosomen mit
fehlenden, zusätzlichen oder vertausch­
ten DNA-Fragmenten ein. In eben die­
sem Sinne benutze auch ich ihn.
Schon vor etwa hundert Jahren beob­
achtete der deutsche Biologe Theodor Bo­
very in Würzburg ein auffälliges Missver­
hältnis mütterlicher und väterlicher Chro­
mosomen in Krebszellen. Er spekulierte
sogar, dass darin die Ursache für Krebs lie­
gen könnte. Ein wiederkehrendes Muster
im chromosomalen Chaos der Tumorzel­
len konnten Forscher in der Folge freilich
nicht entdecken, denn das Erbgut – das
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Hesed M. Padilla-Nash und Thomas Ried, National Cancer Institute
r
Genom – einer typischen Krebszelle ist
nicht bloß aneuploid, sondern dazu noch
instabil und verändert sich innerhalb we­
niger Teilungsschritte. Boverys Idee wurde daher aufgegeben, als die Suche nach
­Onkogenen Früchte zu tragen begann.
Aneuploidie und massive genomische In­
stabilität galten fortan als Folgen, nicht als
Ursachen des Tumorwachstums.
Trotz zwei Jahrzehnten Forschung ist
die Onkogen-Tumorsuppressor-Hypo­
these jedoch ebenfalls an der Aufgabe ge­
scheitert, einen bestimmten Satz von
Mutationen zu definieren, die bei den
häufigsten und gefährlichsten Krebsarten
regelmäßig auftreten. Die Liste krebsas­
soziierter Gene umfasst inzwischen über
hundert Onkogene und 15 Tumorsup­
pressorgene. »Die Zahl dieser molekula­
ren Marker wächst immer schneller,«
konstatierten Weinberg und Hahn in ih­
rem erwähnten Übersichtsartikel. »Es ist
denkbar, dass jeder einzelne Tumor ein­
zigartig ist, was das Muster seiner geneti­
schen Unordnung anbelangt.«
Hahn, der zusammen mit Weinberg
erstmals artifizielle Tumoren mittels mu­
tierter Krebsgene erzeugt hatte, räumte
bei einem Interview in seinem Bostoner
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II 17
MOLEKULARE GRUNDLAGEN
z
Vier Theorien zur Entstehung von Krebs
pothesen an Publizität gewonnen. Die eine modifiziert die klas­
sische Theorie dahingehend: Ein Fehler in den Vorläuferzellen
des Tumors soll bewirken, dass sich Mutationen darin stark an­
häufen. Zwei weitere Hypothesen richten ihr Augenmerk auf
Tumorsuppressorgene
2 Mutationen
Klassisches Dogma
Die jahrzehntelang weithin akzeptierte Theorie zur Entstehung
von Krebs besagt, dass durch Mutationen weniger spezieller
Gene Tumorsuppressorproteine eliminiert und Onkoproteine
über­aktiv werden. In der letzten Zeit haben drei alternative Hy­
p53
APC
1Karzinogene
Umweltfaktoren
RB
wie etwa UVLicht oder
Zigarettenrauch
verändern die
DNA-Sequenz
einiger Gene,
darunter auch
krebsassoziierter
Gene.
BRAF
c-fos
Onkogene
Durch inaktivierende
in Tumor­
suppressorgenen können
deren wachstumshemmende
Proteine verschwinden, so­dass die Zelle sich einfach
weiterteilt.
3 OnkogenenOnkoproteine
Mutationen in
können
überaktive
entstehen lassen, sodass sich die Zellen
in Situationen vermehren,
wo sie sonst ruhten.
c-erbb3
Modifiziertes Dogma
1
Etwas inaktiviert mindestens
eines der Gene, die zur
korrekten Synthese und Repara­
tur der DNA erforderlich sind.
DNAReparaturgen
2
Mutationen
Bei der Zellteilung
entstehen zufällige
, die nicht
repariert werden können und sich nun
zu Zehntausenden
anhäufen. Irgendwann sind auch krebs­
assoziierte Gene betroffen.
Frühe Instabilität
1
»Mastergen«
Etwas inaktiviert
mindestens ein
, das für den
korrekten Ablauf der
Zellteilung nötig ist.
2
Bei der Verdopplung der
Chromosomen und ihrer
Verteilung auf die Tochterzellen
kommt es zunehmend zu
Fehlern. Einige Zellen erhalten
Chromosomen in abnormer
Zahl oder mit fehlenden oder
überzähligen Stücken. Die »Dosis«
vieler Gene verändert sich
durch die Gewinne und Verluste.
1
Nur-Aneuploidie
Durch einen Fehler bei
der Zellteilung entsteht
eine aneuploide Zelle.
18
2
Ein falsch zugeordnetes, aber auch
ein verkürztes oder verlängertes
Chromosom verändert die Dosis vieler
tausend Gene. Kooperierende Enzyme,
die DNA kopieren oder reparieren,
zeigen Ausfälle. Die meisten aneuploi­
den Zellen sterben ab.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
die »Aneuploidie« – Veränderungen in der
Anzahl und im Aufbau der Chromoso­
men. Sie könnte das Erbgut schon früh
destabilisieren und dann zur Mutation
Darmkrebsspezialisten – stammt hin­
gegen die Hypothese, die chromosomale
Instabilität könne bereits dicht am An­
fang stehen. Durch fortwährende Selekti­
on der schneller wachsenden Zellen, wel­
che die anderen überwuchern, entstünde
eine gutartige Geschwulst, die sich später
in einen invasiven und metastasierenden
Tumor umwandeln kann.
­ ekannter Krebsgene führen. Alternativ
b
könnte sie über verschiedenartigste Me­
chanismen allein zur Bildung von Tumo­
ren führen.
4
Der Überschuss an Onkoproteinen und
der Mangel an Tumorsuppressorproteinen
lässt die mutierten Zellen wuchern.
5
Nach vielen Zyklen
von Mutation und
weiterer Expansion
entzieht sich eine Zelle
in der Tumormasse
jeglicher Kontrolle. Ihre
Nachkommen dringen in
benachbarte andere
Gewebe ein.
3
Wie beim klassischen
Dogma werden dadurch Tumorsuppressor­
proteine eliminiert und
Onkoproteine aktiviert,
sodass der Selbstzerstö­
rungsmechanismus der
Zelle außer Kraft gesetzt,
der »programmierte
Zelltod« verhindert wird.
3
Mit der Zeit fällt die
Konzentration von
Suppressorproteinen
unter eine kritische
Schwelle. Überzählige
Onkogene erhöhen den
Gehalt an Onkoproteinen
auf gefährliche Werte.
6
Schließlich
gelangen
Krebszellen ins
Blut und damit an
entfernte Körperstellen,
wo sie zu Tochterge­
schwülsten heranwach­
sen und dann auch
lebenswichtige Funk­
tionen beeinträchtigen.
3
Einige wenige überleben. Bei
den folgenden Zellteilungen
entstehen weitere aneuploide
Zellen mit immer wieder verän­
derten Eigenschaften.
5
4
Schließlich erwirbt mindestens eine Zelle,
wenn die Mixtur der Chromosomen-Fehler
es erlaubt, eine oder mehrere der teuflischen
Fähigkeiten von Krebszellen. Sie vermehrt sich
zu einem präkanzerösen Tumor.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II Christy Krames
Über Jahre oder
Jahrzehnte erwer­
ben solche Tumorzellen
allmählich die Fähig­
keit, in anderes Gewe­
be einzudringen.
Meister der Instabilität
Dieser Hypothese zufolge gibt es eine
Reihe von »Mastergenen«, deren Funkti­
on für die korrekte Reproduktion einer
Zelle unverzichtbar ist. Wird nur eines
dieser Gene ausgeschaltet – sei es durch
Mutation oder durch epigenetisches Still­
legen –, gerät die sorgfältige Choreografie
durcheinander, nach der eine Zelle ihre
Chromosomen sortiert und auf die bei­
den künftigen Tochterzellen aufteilt. Das
Ergebnis ist eine Aneuploidie. Dabei
steigt die Wahrscheinlichkeit, eines der
beiden Exemplare eines beliebigen Gens
zu verlieren, auf das 100 000fache. Bei
­einem Tumorsuppressorgen kann dies
schon den kompletten Funktionsverlust
bedeuten, entweder weil das Pendant be­
reits mutiert ist oder aber weil ein Exem­
plar alleine den Verlust doch nicht aus­
gleichen kann. Sowohl Lengauer als auch
Vogelstein sind jedoch noch der Auffas­
sung, dass es zur Mutation einiger Krebs­
gene kommen muss, bevor ein bösartiger
Tumor entsteht.
Zusammen mit Martin A. Nowak
und Natalia L. Komarova vom Institute
for Advanced Study in Princeton publi­
zierten sie im Dezember 2002 eine ma­
thematische Analyse, die ihre Hypothese
auf nicht ererbten Darmkrebs anwendet.
Selbst wenn es im menschlichen Erbgut
nur ein halbes Dutzend Mastergene ge­
ben sollte, ist es demnach sehr wahr­
scheinlich, dass eines davon inaktiviert
wird, bevor ein bestimmtes Krebsgen
eine Mutation erleidet.
So aufschlussreich diese Berechnun­
gen auch sein mögen – letztlich überzeu­
gend ist nur der empirische Beweis. Die
Ergebnisse einiger aktueller Studien stüt­
zen tatsächlich die Annahme, dass es be­
reits früh in der Entstehungsgeschichte
von Tumoren zur Instabilität des Erbguts
kommt.
Lengauer und seine Mitarbeiter bei­
spielsweise haben Kolonadenome unter­
sucht; das sind zunächst gutartige Darm­
polypen, die zu bösartigen – malignen –
Geschwulsten entarten können. Bei
19
MOLEKULARE GRUNDLAGEN
z
neunzig Prozent der Polypen gab es in
mindestens einem Chromosom fehlende
oder zusätzliche Abschnitte. Bei mindes­
tens der Hälfte fehlte der lange Arm von
Chromosom 5, auf dem das Tumorsup­
pressorgen APC sitzt. Dessen Zusam­
menhang mit der Entstehung von Darm­
krebs ist schon länger bekannt. Andere
Forscher fanden ähnliche Abweichungen
bei Krebsvorstufen des Magens, der Spei­
seröhre und der weiblichen Brust.
Weiter ohne Boxenstopp
Aber auch die Hypothese der frühen ge­
nomischen Instabilität ist noch nicht in
allen Punkten konsistent. Wie ist es bei­
spielsweise zu erklären, dass Zellen mit
instabilen Chromosomen rascher wach­
sen als ihre gesunden Nachbarn? Unter
normalen Bedingungen würde ihnen
dies vermutlich nicht gelingen, vermutet
der Immunologe Jarle Breivik von der
Universität Oslo. In einer »Kampfzone«
­hingegen, wo Karzinogene oder andere
Stressfaktoren den Zellen immer wieder
aufs Neue zusetzen, stellen normale Zel­
len ihre Teilungsaktivität ein, bis sie ihre
DNA-Schäden repariert haben. Gene­
tisch instabile Zellen, mit ihren bereits
defekten DNA-Reparaturmechanismen,
ignorieren dagegen den Schaden, teilen
sich weiter und gewinnen so die Ober­
hand, meint Breivik.
Er zitierte ein Experiment, bei dem
Lengauer und seine Kollegen mensch­
liche Zell-Linien toxischen Konzentra­
tionen eines häufigen Karzinogens aus
gebratenem Fleisch ausgesetzt hatten.
Die wenigen überlebenden Zellen waren
nicht nur resistent, sondern auch schon
vorher genetisch instabil.
Doch was bringt überhaupt die
Chromosomen ins Straucheln? Bisher ist
noch kein Mastergen sicher identifiziert,
wenn auch einige Kandidaten in die en­
gere Wahl kommen. German A. Pihan an
der Medizinischen Hochschule der Uni­
versität von Massachusetts in Worchester
hat mit seinen Mitarbeitern in einer im
März 2003 publizierten Studie ein mög­
licherweise wichtiges Indiz veröffentlicht.
Sie untersuchten 116 Tumoren aus Ge­
bärmutterhals, Prostata und Brustdrüse,
die rechtzeitig – vor dem Eindringen in
benachbartes Gewebe – entfernt worden
waren. Bei 30 bis 72 Prozent dieser prä­
malignen Tumoren fanden sie defekte
Centrosomen: Diese Strukturen dienen
bei der Zellteilung dazu, die jeweils vor­
her verdoppelten Chromosomen säuber­
lich auf die künftigen Tochterzellen auf­
zuteilen. Daher ist es kaum verwunder­
Krebstheorien –
Boveri
1926 Hermann J.
Muller beobach­
tet, dass Zellen
durch Röntgen­
strahlung
mutieren.
1951 Muller
unterbreitet
seine Hypothe­
se, nach der
eine Zelle über
mehrere
Mutations­
schritte zur
Krebszelle
wird.
1914 Theodor Boveri
vermutet, dass Chromo­
somen-Aberrationen
zu Krebs führen.
1915
1920
1925
1930
lich, dass die meisten dieser Zellen
aneuploid waren. Noch ist die Erfor­
schung der Gene im Fluss, die für das
Entstehen und Funktionieren der Cen­
trosomen verantwortlich sind. Jedes aber
könnte ein Mastergen sein.
Epimutationen – ein neuer Ansatz
frank lyko, deutsches krebsforschungszentrum heidelberg
Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin – so heißen die vier Hauptbau­ großen Rätseln: Obwohl bei manchen Zellen offensichtlich eini­
steine der Erbsubstanz DNA. In ihrer Abfolge im Molekül ist die ges schief lief, konnten sie oft keine direkten Schäden im Erbgut
Erbinformation verschlüsselt. Doch es gibt quasi noch einen entdecken. Die Antwort kam von der Epigenetik: Viele Krebs­
fünften im Bunde: das 5-Methylcytosin. Diese Variante ist das zellen unterscheiden sich im Methylierungsmuster sehr deutlich
Ergebnis einer kleinen chemischen Modifizierung des Cytosins: von gesundem Gewebe. Sie tragen so genannte Epimutationen.
Es bekam eine Methylgruppe angehängt. Die DNA-Methylie­ Dies macht sich besonders dramatisch bemerkbar, wenn etwa
rung ist von enormer Bedeutung: Sie erzeugt fest eingebaute Tumorsuppressorgene betroffen sind und stillgelegt werden.
Sperren und verändert so den Zugang zur DNA. Nicht benötigte Das Abschalten dieser wichtigen Kontrollinstanzen kann letztlich
Gene können dadurch stillgelegt werden. Das Methylierungs­ dazu führen, dass sich die Zelle ungebremst teilt.
Auch eine zu geringe Methylierung könnte prinzipiell Krebs ver­
muster bestimmt also, ob ein Gen überhaupt abgelesen und die
ursachen, da die Chromosomen an
darin verschlüsselten Proteine er­
zeugt werden.
Stabilität verlieren. Allerdings tritt
Die ursprüngliche genetische
dieser Effekt erst ein, wenn das
­Information, die Reihenfolge der
Methylierungsniveau auf weniger
Bausteine, bleibt unverändert. Die
als zwanzig Prozent des Normal­
werts herabsinkt. Zu wenig 5-Me­
übergeordnete Regulation durch
thylcytosin wird also besser tole­
Methylierung verändert aber ihre
riert als zu viel.
Interpretation – sie ist epigene­
tisch. Epigenetische Mechanismen
Der Nachweis von Epimutatio­
spielen auch bei der Krebs­ent­
nen ist äußert knifflig, weshalb das
stehung eine große Rolle. In der
Forschungsfeld lange Zeit vernach­
Mit diesem Modell der Methyl­
lässigt wurde. Mittlerweile stehen
Vergangenheit standen Wissen­
transferase suchen Forscher
schaftler bei der Untersuchung
jedoch geeignete Techniken zur
am Computer nach geeigneten
Hemmstoffen.
von Tumorzellen immer wieder vor
Verfügung und weltweit untersu­
20
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
1935
Meilensteine und Weggabelungen
1971 Alfred G. Knudsen
erklärt die Unterschie­
de in den Häufigkei­
ten erblicher und
spontan entstandener
Retinoblastome
(Netzhauttumoren)
mit der Hypothese,
dass zwei »Treffer«
erforderlich sind, um
beide Exemplare des
Rb-Gens zu inakti­
vieren. Wurde ein
mutiertes Exemplar
bereits ererbt, ist nur
ein Treffer nötig.
1960 Forscher entdecken, dass
ein Austausch von DNA zwischen
Chromosom 9 und 22 die chro­
nische myeloische Leukämie
verursacht.
1940
1945
1950
1955
1997 Christoph Lengau- 2002 Thomas Ried
er, Vogelstein und ihre
Kollegen zeigen, dass
die Rate, mit der
Darmkrebszellen
Chromosomen
hinzugewinnen und
verlieren, dramatisch
erhöht ist. Ihrer
Ansicht nach ist das
Instabilwerden der
Vogelstein
Chromosomen ein
1990 Bert E. Vogelstein frühes kritisches Er­eignis, das zur Muta­
und Eric R. Fearon
tion von Onkogenen
publizieren eine
modellhafte Abfolge und Tumorsuppres­
von Genmutationen, sorgenen führt.
die zu Darmkrebs
führen.
1974 Lawrence A. Loeb pos­tuliert,
dass die allgemeine Mutations­
rate in Krebsvorläuferzellen
wesentlich erhöht sein muss.
1960
Selbst bevor überhaupt irgendwelche
Mastergene, Onkogene oder Tumorsup­
pressorgene mutiert sind, könnten Zellen
vielleicht schon maligne entarten. Eine
solche Hypothese vertreten Peter H.
Duesberg und Ruhong Li von der Univer­
1965
1970
Viel wichtiger ist Lyko jedoch die Rolle, welche die Erkenntnisse
für die Krebstherapie spielen könnten. Die anvisierte epigeneti­
sche Therapie zielt nicht drauf ab, entartete Zellen abzutöten,
sondern sie umzuprogrammieren. »Während genetische Muta­
tionen automatisch von einer Zellgeneration auf die nächste
vererbt werden, ist die Methylierung ein aktiver Prozess, den
man mit geeigneten Hemmstoffen blockieren kann«, erklärt
Lyko. Nach jeder Zellteilung müssen die neu gebildeten DNAStränge nachmethyliert werden. Da die DNA in jeder Tochterzel­
le jeweils zur Hälfte alt und zur Hälfte neu ist, bedeutet eine
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II Krebsgene sind be­
kannt – und laufend
kom­men weitere hinzu.
Duesberg und seine
Mitarbeiter publizie­
ren eine detailliert
ausgearbeitete
Theorie, nach der
schon eine Aneu­
ploidie allein eine
Krebserkrankung
auslösen könne –
ohne dass Mutatio­
nen in spezifischen
Genen erforderlich
wären.
Duesberg
1986 Robert A.
Weinberg und seine
Kollegen isolieren
Rb, das erste Tumor­
suppressorgen.
1975
2003 Weit über hundert
1999 Peter H.
1980
sität von Kalifornien in Berkeley. Sie be­
sagt: Fast alle Krebszellen sind deswegen
aneuploid, weil ihre Karriere mit diesem
Schritt beginnt. (Ausnahmen gibt es bei­
spielsweise bei Leukämie.) Der kompli­
zierte Prozess der Zellteilung ist leicht zu
chen Forscher die Mechanismen, die hinter den abnormen Me­
thylierungen stecken. Bekannt ist, dass sie auf einem Zusam­
menspiel bestimmter Enzyme, den Methyltransferasen, und
Methyl bindenden Proteinen beruhen.
»Für die Krebsmedizin hat die Epigenetik in zweierlei Hinsicht
eine wichtige Bedeutung«, erklärt Frank Lyko, Leiter der Ar­
beitsgruppe Epigenetik im Deutschen Krebsforschungszentrum
in Heidelberg. Zum einen können Epimutationen als sehr prä­
zise »Marker« für die Diagnostik dienen, mit denen sich bereits
frühe Formen von Krebs erkennen lassen. So hat ein amerika­
nisches Forscherteam aus Baltimore, Maryland, festgestellt,
dass eine bestimmte Art von Darmkrebs mit einer Übermethy­
lierung von DNA einhergeht.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
identifiziert Aneuploi­
die-Muster bei mensch­
lichen Karzinomen des
Gebämutterhalses und
des Dickdarms.
1985
1990
1995
Boveri: SPL; Muller: Hulton-Deutsch Collection / Corbis;
Vogelstein: Alex Wong, Getty Images; Duesberg: Marc Geller
Muller
2000
stören, sodass eine Tochterzelle weniger
und die andere mehr als die beim Men­
schen übliche Zahl von 46 Chromosomen
erhält. Asbestfasern zu Beispiel könnten
die Verteilung der Chromosomen rein
physikalisch behindern, erläutert Dues­
Hemmung der Methylierung, dass das Erbgut – zumindest auf
der Ebene der Epigenetik – wieder »normalisiert« wird. Lyko
baut darauf, dass einer Tumorerkrankung immer mehrere Verän­
derungen zugrunde liegen – meist sowohl genetischer als auch
epigenetischer Art. »Wenn es gelingt, die Epimutationen rück­
gängig zu machen, wäre schon viel gewonnen, weil dadurch
möglicherweise ein Ausbrechen oder Fortschreiten der Krebs­
erkrankung verhindert werden kann«, so der Biologe.
Auch Resistenzen gegen Krebsmedikamente, denen oftmals
eine Übermethylierung zugrunde liegt, könnten auf diese Art
und Weise aufgehoben werden. Ein Hemmstoff wurde bereits
gefunden: Das 5-Aza-Cytidin, das sich zumindest bei Tumor­
mäusen und in menschlichen Tumorzell-Linien als wirkungsvoll
erwies: Die Methylierung des Erbmaterials konnte weitgehend
normalisiert werden. Außerdem wurde es bei klinischen Stu­
dien ­– in sehr geringen Dosen – mit Erfolg zur Behandlung be­
stimmter Leukämien (myelodysplastisches Syndrom) einge­
setzt. Leider ist der Wirkstoff in größeren Mengen äußerst
toxisch und verursacht starke Nebenwirkungen. Doch Lyko und
seine Kollegen lassen sich davon nicht entmutigen: Sie haben
schon einen neuen hoffnungsvollen Kandidaten im Visier.
Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin und Wissenschaftsjourna­
listin in Heidelberg.
21
z
berg. Die meisten aneuploiden Zellen
sind nicht überlebensfähig oder zumin­
dest in ihren normalen Funktionen stark
beeinträchtigt. Bei den wenigen Überle­
benden solcher chromosomalen Unfälle
ist auf ­ einen Schlag die Dosis tausender
Gene verändert. Das kann Enzymsysteme,
die der Synthese und Instandhaltung der
DNA dienen, durcheinander bringen. Es
kommt zu Brüchen in beiden Strängen
der DNA, was das Erbgut weiter destabili­
siert. »Je aneuploider eine Zelle ist, desto
instabiler wird ihr Genom und desto
wahrscheinlicher entstehen neuartig ar­
rangierte Chromosomensätze, die ihr er­
möglichen, sich praktisch überall im Kör­
per zu vermehren«, erläutert Duesberg.
Im Gegensatz zu den drei vorherigen
Vorstellungen besagt die Nur-Aneuploi­
halskrebs hingegen ist es das Chromosom
3, das schon sehr frühzeitig aneuploid
wird – offenbar haben diese Zellen davon
einen Selektionsvorteil.« Im Darm steigt
mit der Zeit – so Ried – die durchschnitt­
liche Anzahl abnormer Chromosomen
von 0,2 pro Zelle in der normalen
Schleimhaut auf zwölf pro Zelle in Karzi­
nomen, die Metastasen gebildet haben.
»Duesberg hat wohl tatsächlich Recht
mit der Vermutung, die Aneuploidie kön­
ne der initiale genetische Fehler bei der
Entstehung von Tumoren sein«, meint
Ried. »Er behauptet jedoch auch, es seien
für die Umwandlung einer normalen in
eine maligne Zelle keinerlei Genmutatio­
nen erforderlich. Dies ist schlicht falsch.«
Weder das klassische Dogma noch
die neueren Hypothesen, die es in Frage
Eine hinreichende Wachstumsverzögerung kann einer Heilung
gleichkommen
die-Hypothese, dass das Entstehen und
das Fortschreiten eines Tumors mehr mit
der Aufteilung der Chromosomen in sei­
nen Zellen zu tun hat als mit Mutationen
einzelner krebsassoziierter Gene darauf.
Einige experimentelle Befunde sprechen
für diese Auffassung – so die im Mai
2003 publizierten Ergebnisse einer Koo­
peration von Duesberg mit Rüdiger
Hehlmann und Alice Fabarius von der
Medizinischen Klinik Mannheim der
Universität Heidelberg. Bei ihren Experi­
menten mit normalen und aneuploiden
Hamsterembryonen beobachteten die
Forscher, dass es umso schneller zu Ab­
weichungen innerhalb der Chromoso­
men kommt, je stärker die Chromoso­
menzahl einer Zelle numerisch von der
Norm abweicht. Die Instabilität des Ge­
noms wächst dabei exponentiell mit dem
Grad der Aneuploidie.
Thomas Ried, Leiter der Abteilung
Krebsgenomik am Nationalen Krebsinsti­
tut in Bethesda (Maryland), untersuchte
die Aneuploidie bei menschlichen Tumo­
ren des Gebärmutterhalses und des Dick­
darms einschließlich Enddarm. »Zweifel­
los gibt es wiederkehrende Muster geno­
mischer Ungleichgewichte«, bemerkt er,
»Bei allen untersuchten Fällen nichterbli­
cher Dickdarmkarzinome finden sich
überzählige Exemplare bei Chromosom 7,
8, 13 oder 20 – oder es fehlt ein Exemplar
von Chromosom 18. Beim Gebärmutter­
22
stellen, können bisher die ganze Vielfalt
der etwa hundert verschiedenen bekann­
ten Krebsformen erklären und ihre Ent­
stehung als Variationen eines Grundprin­
zips erklären. Zudem müssten alle Theo­
rien erweitert werden, um epigenetische
Phänomene zu berücksichtigen, deren
Bedeutung derzeit noch recht unklar ist
(siehe den Kasten Seite 20).
Die Frage, welche Erklärungsversuche
der Realität am nächsten kommen, ist
nicht nur von akademischem Interesse,
da sich aus jeder These verschiedene Kon­
sequenzen für die mutmaßlich beste The­
rapie der häufigsten und gefährlichsten
Krebsarten ergeben. Nach der klassischen
Auffassung ist das Wachstum von Tumor­
zellen abhängig von Onkoproteinen und
wird von Tumorsuppressorproteinen ge­
hemmt. Die Therapie sollte in diesem Fall
auf Entzug der Onkoproteine oder Ersatz
der fehlenden Tumorsuppressorfunktio­
nen gerichtet sein. Darauf zielen einige
neuere Medikamente ab wie Glivec, ein­
gesetzt bei manchen seltenen Leukä­
mieformen und Magenkrebs, sowie Her­
ceptin gegen Brustkrebs bestimmter Art
(siehe den Beitrag S. 74).
Alle verfügbaren Therapien, auch die
neuen, versagen jedoch bei manchen Pati­
enten, weil sich resistente Tumorzellen
weiterentwickeln. Loeb befürchtet, dass
das Resistenzproblem kaum zu überwin­
den sein wird. »In einem Tumor aus zirka
100 Millionen Zellen wird es wohl immer
einige geben, die durch zufällige Mutatio­
nen gegen jedes erdenkliche Mittel resis­
tent sind«, vermutet er. »Bestenfalls er­
reicht man eine Verzögerung des Wachs­
tums, aber keine Heilung.« Für Senioren,
bei denen Krebs ja am häufigsten ist,
kommt ei­ne hinreichende Wachstums­
verzögerung aber einer Heilung gleich.
Noch besser wäre jedoch, das Ent­
stehen von Tumoren überhaupt zu ver­
zögern. Falls es Lengauer und den ande­
ren Verfechtern der frühen Instabilität
tatsächlich gelingen sollte, Mastergene
zu identifizieren, könnten Therapeutika
entwickelt werden, die deren Funktion
schützen oder wiederherstellen. Zur Su­
che nach geeigneten Wirkstoffen hat Len­
gauers Gruppe bereits einigen Pharma­
unternehmen Zell-Linien zur Verfügung
gestellt.
Sollte sich die Nur-Aneuploidie-Theo­
rie bewahrheiten, so wäre wohl eine neue
Form der Früherkennung angebracht. Bis­
her gibt es keine Möglichkeit, aneuploide
Zellen selektiv anzugreifen. Doch könnte
der Nachweis aneuploider Zellen in Ge­
webeproben als Alarmsignal gewertet wer­
den, um den Patienten engmaschig zu
überwachen oder das betroffene Gewebe
vorsorglich zu entfernen. Duesberg schlägt
vor, Nahrungsmittel, Medikamente und
Chemikalien nun unter dem Blickwinkel
zu prüfen, ob sie eventuell eine Aneuploi­
die verursachen.
Wie immer die Suche nach den ei­
gentlichen Ursachen letztlich ausgeht, die
Antwort zwingt uns womöglich, den
Schwerpunkt der Bekämpfung von Krebs
zu verlagern – von Medikamenten, die
ihn heilen sollen, zu solchen, die ihm
vorbeugen. W. Wayt Gibbs ist Wissenschaftsjournalist bei Scientific
American.
Multiple Mutations and Cancer.
Von Lawrence A. Loeb et al. in:
Proceedings of the National Academy of Sciences
USA, Bd. 100, Nr. 3, S. 776, 2003.
Rules for Making Human Tumor Cells. Von W. C.
Hahn und R. A. Weinberg in: New England Journal of Medicine, Bd. 347, Nr. 20, S. 1593, 2002.
Chromosome Segregation and Cancer: Cutting
­through the Mystery. Von P. V. Jallepalli und Ch.
Lengauer in: Nature Reviews Cancer, Bd.1, Nr. 2,
S. 109, 2001.
Aneuploidy Precedes and Segregates with Carcinogenesis. Von P. Duesberg et al. in: Cancer Genetics and Cytogenetics, Bd. 119, Nr. 2, S. 83, 2000.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
q SPEZIAL: KREBSMEDIZIN II
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