Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen Helmut Remschmidt Inge Kamp-Becker AspergerSyndrom Mit 21 Abbildungen, 31 Tabellen und Diagnostik-CD 1 23 Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt Dipl.-Psych. Dr. Inge Kamp-Becker Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg Ergänzendes Material zu diesem Buch finden Sie auf http://extra.springer.com/ ISBN 978-3-540-20945-4 Springer-Verlag Berlin Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin Design: deblik Berlin SPIN 86095663 Satz: medionet AG, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier V Vorwort Die 1944 von Hans Asperger als »autistische Psychopathie« beschriebene Störung wird heute zu den »tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« gerechnet und hat unter der Bezeichnung »Asperger-Syndrom« inzwischen auch Eingang in die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 der WHO und DSM-IV der American Psychiatric Association gefunden. Im deutschen Sprachraum war die autistische Psychopathie in Fachkreisen seit der Veröffentlichung Aspergers wohl bekannt und wurde auch nach den von ihm beschriebenen Kriterien diagnostiziert. Sie blieb aber, trotz Veröffentlichungen in englischer Sprache von van Krevelen (1963 u. 1971) und Bosch (1970) im angelsächsischen Sprachraum so gut wie unbekannt, bis Lorna Wing (1981) 34 Fälle mit der Überschrift »Asperger-Syndrom« publizierte. Diese Arbeit machte die Störung erst international bekannt und förderte das klinische und wissenschaftliche Interesse an dieser faszinierenden Variante des Menschseins in ungeahnter Weise. Historisch gesehen gebührt der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Evimovna Ssucharewa (1891‒1981) das Verdienst, unter der Bezeichnung »die schizoiden Psychopathen des Kindesalters« wohl als erste auf ein Störungsbild hingewiesen zu haben, das viele, wenn nicht alle, Merkmale des Asperger-Syndroms umfasst. Dies hat Sula Wolff herausgearbeitet, die auch die Originalarbeit von Ssucharewa ins Englische übersetzt hat (Ssucharewa u. Wolff 1996). Es ist nicht bekannt, ob Hans Asperger diese Arbeit kannte. Der Wandel der Begriffsbildung »von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung« spiegelt den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse wider, deren Befunde nahe legen, das Asperger-Syndrom als neurobiologische Entwicklungsstörung mit einem genetischen Hintergrund zu begreifen, die unter charakteristischer Symptomatik früh manifest wird, sich in ihrem klinischen Bild altersspezifisch wandelt, aber als Entwicklungsvariante mit Störungscharakter persistiert. In unserer Darstellung betrachten wir das AspergerSyndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung und ordnen es den Autismus-Spektrum-Störungen zu. Die Frage, ob sich Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus valide und reliabel unterscheiden lassen, muss nach derzeitigem Erkenntnisstand vorerst offen bleiben. Unser Buch behandelt in acht Kapiteln jene Fragestellungen und Problemkreise, die uns in unserer klinischen und wissenschaftlichen Arbeit immer wieder begegnet sind und die auch weltweit diskutiert werden. Die historische Einleitung (▶ Kap. 1) erscheint uns wichtig, weil alle neuen Erkenntnisse auf vorangehenden aufbauen und weil die historische Dimension oft vernachlässigt wird. Es folgen Abschnitte zur Klassifikation und Epidemiologie (▶ Kap. 2) und zur Ätiologie (▶ Kap. 3). Zur Ätiologie erscheinen uns die neuropsychologischen Konzepte (Theory of Mind, zentrale Kohärenz, exekutive Funktionen) am meisten zum Verständnis der Störung beizutragen. Deshalb wird diesen Konzepten auch in unserer Darstellung ein führender Platz eingeräumt. Der Exkurs zur Theory of Mind (▶ Kap. 3.7) vertieft die Betrachtungen zur Ätiologie und ist für jene Leser gedacht, die sich mit diesem Konzept intensiver befassen möchten. Der Text ist auch ohne diesen Abschnitt verständlich. Besonderen Wert haben wir auch auf die Diagnostik und Differenzialdiagnostik gelegt (▶ Kap. 4 u. 5). Das sechste Kapitel, über Interventionen, ist breit angelegt und konzentriert sich, wie auch die anderen Abschnitte, nicht ausschließlich auf das Asperger-Syndrom, da viele Behandlungsmethoden auch bei anderen Autismus-Spektrum-Störungen angewandt werden. Jeder, der sich mit dem Asperger-Syndrom oder mit Autismus-Spektrum-Störungen beschäftigt, möchte natürlich wissen, wie Langzeitverlauf und Prognose sich gestalten. In ▶ Kap. 7 geben wir einen Überblick über den derzeitigen Erkenntnisstand und im letzten Kapitel (▶ Kap. 8) werfen wir die aus unserer Sicht wichtigsten offenen Fragen auf. VI 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Vorwort Ferner haben wir dem Buch eine CD beigefügt, die neben der Marburger Beurteilungsskala zumAsperger-Syndrom auch die Originalarbeit von Hans Asperger (1944) enthält. Unser Buch ist aus einem wissenschaftlichen Projekt entstanden, das 1999 begann und dessen initiale Förderung durch den Max-Planck-Preis für internationale Kooperation ermöglicht wurde, den einer von uns (H.R.) im Jahre 1999 erhalten hat. Die andere Autorin (I.K.-B.) hat von Anfang an in diesem Projekt mitgearbeitet und hatte Gelegenheit, am Child Study Center der Yale University in New Haven die dortige Autismusforschung kennen zu lernen. Zu danken haben wir vielen, die unsere Arbeit, nicht nur zu diesem Buch, tatkräftig unterstützt haben: Der Max-Planck-Gesellschaft für die Anfangsförderung, den Kolleginnen und Kollegen der Yale University, die uns kompetent beraten haben (Donald Cohen, Fred Volkmar, Ami Klin und Sarah Sparrow) und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im AspergerProjekt (Nikolaus Barth, Isabell Germerott, Mardjan Ghahreman, Eva Schenk, Judith Smidt). Dem Springer-Verlag, insbesondere der Programmplanerin Frau Renate Scheddin und der Projektmanagerin Frau Renate Schulz, danken wir für die hervorragende Zusammenarbeit und die zügige Umsetzung unseres Vorhabens. Ferner danken wir auch unserer Lektorin, Frau Dr. Karen Strehlow, nicht nur für die genaue Durchsicht des Manuskriptes, sondern auch für ihre Verbesserungsvorschläge. Nicht zuletzt aber bedanken wir uns sehr herzlich bei unseren Patienten und ihren Eltern, die uns die Gelegenheit gegeben haben, Erleben und Verhalten von Menschen mit AspergerSyndrom ausführlich kennen zu lernen und im Laufe der Zeit immer besser zu verstehen. Deshalb widmen wir dieses Buch auch unseren Patienten. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Marburg, im Frühjahr 2006 Helmut Remschmidt Inge Kamp-Becker VII Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms . . . . . . . . . . . Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche . . . . . . . . . . . . Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes . . . . Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . . Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) . . . . . . . . . . Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) . . »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter – H. Asperger (1944) . . . . . Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . . 2 Worum es geht: Definition, Klassifikation und Epidemiologie . . . . . . . . . . . 2.1 2.2 Definition und Klassifikation . . . . . . . Charakteristische Symptomatik und Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6 Was erklärbar ist: Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie . . . Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . Assoziierte körperliche Erkrankungen bzw. Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . Komorbide psychopathologische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen . . . . . . . . . Neuropsychologische und kognitive Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . Zentrale Kohärenz . . . . . . . . . . . . . Theory of Mind . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 4 6 6 7 9 11 17 18 19 26 33 . 34 . 35 . 36 . 39 . . . . . . . 42 42 43 44 44 46 46 3.5.7 Ein neuropsychologisches Modell für Autismus-Spektrum-Störungen . . . . 3.6 Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . . 3.7 Exkurs: Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms unter dem besonderen Aspekt der Entwicklung der Theory of Mind . . . . 3.7.1 Begriffsbestimmung: Emotionserkennung, Empathie, sozial-kognitive Attribuierungen, affektive und kognitive Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Die Anfänge der Entwicklung einer »Theory of Mind« . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Der weitere Entwicklungsverlauf bei Kindern mit autistischen Störungen – insbesondere bei solchen mit Asperger-Syndrom . . . . . . . . . . . . 3.7.4 Zusammenhang zur Symptomatik . . 4 . 51 . 53 . 59 . 59 . 63 . . 71 75 Der Blick auf das Besondere: Störungsspezifische Diagnostik . . . 83 4.1 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Sonstige auffällige Verhaltensweisen . 4.2 Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Komorbidität und Begleiterscheinungen . . . . . . . . . . 4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik 4.5.1 Apparative und Labordiagnostik . . . . 4.5.2 Screening-Verfahren . . . . . . . . . . . 4.5.3 Exploration der Bezugspersonen . . . 4.5.4 Exploration und Verhaltensbeobachtung des Betroffenen . . . . . . 87 . 88 . 91 . 95 . 101 . 102 . 105 . . . . . 106 107 107 108 113 . 114 VIII 1 2 4.5.5 Standardisierte Verfahren . . . . . . . . . 115 4.6 Weitergehende Diagnostik . . . . . . . . 126 4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . . 127 5 3 4 5 6 Inhaltsverzeichnis 5.1 5.2 5.3 5.4 Unterscheiden ist wichtig: Differenzialdiagnostik und multiaxiale Bewertung . . . . . . . . . 137 Identifizierung von Leitsymptomen . Identifizierung weiterer Symptome und Belastungen . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . Interventionsrelevante Diagnostik unter multiaxialen Gesichtspunkten . . 139 – – – – Was zu tun ist: Interventionen . . . . 149 7 8 6.2.1 11 12 13 14 6.4 6.5 6.6 6.7 153 154 157 164 171 181 183 190 191 192 195 196 15 7 Der Blick voraus: Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . 201 16 7.1 Die Symptomatik des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen . 206 Prognosekriterien und Lebensbewährung (outcome) . . . . . . 209 Sind Menschen mit Asperger-Syndrom gefährlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 17 7.2 7.3 18 19 20 8 Was wir nicht wissen: Offene Fragen . 221 8.1 Offene Fragen zur Definition und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Offene Fragen zur Ätiologie . . . . . . . . 224 Offene Fragen zur Diagnostik und Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . 226 8.2 8.3 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 . . 143 Auswahl des Interventionssettings . . . Behandlungsprogramme und ihre Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsstadienbezogene Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukative Maßnahmen . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . Therapieprogramme . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei ambulanter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei teilstationärer und stationärer Behandlung . . . . . . . . . . Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 10 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) . . . . . . . . . . 241 6.1 6.2 9 Offene Fragen zur Behandlung . . . . . 228 Welche Determinanten bestimmen den Verlauf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 . . 139 . . 140 6 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3 8.4 8.5 Anleitung . . . . . . . Fragebogen . . . . . Auswertungsblatt. . Auswertungsfolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 244 250 251 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1 Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms 1.1 Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien – 2 1.2 Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche 1.3 Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes – 4 1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung – 6 1.4.1 1.4.2 Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) – 6 Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) – 7 »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter – H. Asperger (1944) – 9 Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung – 11 1.4.3 1.4.4 H. Remschmidt, I. Kamp-Becker, Asperger-Syndrom, DOI 10.1007/978-3-540-35072-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 –3 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms Hans Asperger (1944) hat das später nach ihm benannte Syndrom »autistische Psychopathie« genannt. Seine erste Publikation über die Störung trägt den Titel »Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter«. Damit hat er den Begriff der Psychopathie auf das Kindesalter angewandt. Die historische Betrachtung der Entwicklung des Psychopathiebegriffes (vgl. Aschoff 1968) zeigt, dass bereits in früheren Zeiten das Für und Wider dieser Bezeichnung heftig diskutiert wurde. Auch heute hat das Problem keineswegs an Aktualität verloren. Im Gegenteil zeigt die stets neue Beschäftigung mit dem Thema Psychopathie (in moderner Nomenklatur Persönlichkeitsstörung), dass hier ein fundamentales Problem der Psychopathologie wie des Menschseins überhaupt getroffen ist, nämlich die Frage nach dem Charakter und der Persönlichkeit. Derartige Fundamentalprobleme werden zu jeder Zeit erörtert und erfahren zu jeder Zeit auch epochal-typische Antworten. Bei einer Durchsicht der Literatur unter dem Aspekt der Wandlung des Psychopathiebegriffes und seiner Anwendung auf das Kindes- und Jugendalter haben wir nicht weniger als 24 verschiedene Einteilungsversuche mit insgesamt 50 Typen gefunden, von denen sich allerdings viele auf 10–15 Kerngruppen reduzieren ließen (Remschmidt 1978). Diese Vielfalt veranlasste uns seinerzeit, nach allgemeinen Maßstäben zu suchen, die geeignet sind, an jedes Einteilungs- oder Klassifikationsschema angelegt zu werden. Es sind dies folgende: 1. Der Persönlichkeitsbegriff bzw. das Persönlichkeitsmodell (z. B. Schichtmodell, dynamisches Modell, Strukturmodell, statistisches Modell), 2. Der Normbegriff (statistische Norm, ideale Norm), 3. Der Krankheitsbegriff (sogenanntes medizinisches Modell, Anerkennung psychischer Störungen als Krankheiten, Psychopathie als Normabweichung oder Krankheit etc.), 4. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise (z. B. unter dem Aspekt der Entwicklung, unter dem Aspekt verschiedener Wissen- schaften wie Psychopathologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse etc.) und 5. der Begriff oder das Konzept der Entwicklung. Auch diesbezüglich können verschiedene Entwicklungsmodelle zugrunde gelegt werden (z. B. Entwicklung als Stufenfolge, Entwicklung als Strukturierung und Differenzierung, Entwicklung als fortschreitende Sozialanpassung oder deren Fehlen etc.). Nach Maßgabe dieser fünf Kriterien unterscheiden sich die verschiedenen Theorien psychopathischer Persönlichkeiten. Wenn man sich bemüht, jedem »Psychopathie-Konzept« diese Kriterien in Form von Fragen zu stellen, so wird zugleich auch der implizit in jeder Theorie enthaltene theoretische oder weltanschauliche Hintergrund deutlich, der stets mit berücksichtigt werden muss. 1.1 Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien Überblickt man die historisch überlieferten Einteilungsgesichtspunkte der Psychopathien, so kann man systematische von unsystematischen Ansätzen unterscheiden. Erstere versuchen auch, auf der Grundlage vorgegebener Kategorien (meist Persönlichkeitseigenschaften) ein System von psychopathischen Typen abzuleiten. Die zugrunde liegenden Eigenschaften werden in der Regel unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefasst und umfassen jeweils einander polar entgegengesetzte Eigenschaftspaare. Ein Beispiel für eine derartige systematische Typenlehre ist die von Gruhle (1922, 1940). Gruhle unterscheidet sieben Grundeigenschaften oder Bereiche, deren übermäßige oder unzureichende Ausprägung für verschiedene Typen psychopathischer Persönlichkeiten charakteristisch sein sollen. Diese sieben Bereiche sind: 1. Aktivität, 2. Grundstimmung, 3 1.2 Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche 3. 4. 5. 6. 7. Affektansprechbarkeit, Willenssphäre, Eigenbeziehung, Umweltverarbeitung und Selbstgefühl. Am zuletzt genannten Beispiel kann man einen Begriff dieses systematischen Ansatzes erfahren. Ein stark ausgeprägtes Selbstgefühl geht mit Selbstbewusstsein und Sicherheit einher, ein schwach ausgeprägtes mit Psychasthenie, ein unnatürlich gesteigertes ist für den hysterischen Charakter typisch. Weitere systematische Einteilungen stammen von Homburger (1926), Kahn (1928), Kretschmer (1955) und Ewald (1959). Unsystematische Ansätze gehen in der Regel davon aus, dass abnorme Persönlichkeiten durch ein starres Schema einander entgegengesetzter Eigenschaften nicht erfasst werden können und dass auf diese Weise artifizielle Typen zustande kommen, die in der Wirklichkeit kaum zu finden sind. Ein Beispiel für eine unsystematische Klassifikation ist das System von Kurt Schneider, der 10 Typen psychopathischer Persönlichkeiten unterscheidet. Typologien Die meisten historischen Systeme zur Klassifikation der Psychopathien stützt sich auf Typologien. Typologische Ansätze dienen zunächst nur dazu, ein komplexes Problemfeld vorzustrukturieren. Sie können jedoch nicht als strenge wissenschaftliche Abgrenzungen angesehen werden. Denn sie gehen von einigen wenigen Eigenschaften aus, wählen diese als Schwerpunkt und verallgemeinern sie. Dadurch kommt es zu erheblichen Überschneidungen zwischen den verschiedenen Typen. Typologien gehen in der Regel von einer idealen Norm aus. In der Praxis sind jedoch die Mischtypen wesentlich häufiger als die sogenannten reinen Typen. Andererseits haben Typologien auch wiederum den Vorteil, dass sie bei Vorliegen einer gewissen Anzahl charakteristischer Merkmale den Schluss auf andere 1 Merkmale ermöglichen, die ebenfalls zum Typus gehören. Generell werden typologische Verfahren nur dort angewandt, wo das Merkmalsfeld noch zu komplex für exaktere Möglichkeiten der Erfassung ist. In dieser Auffassung sind sie vorläufige Schwerpunktbildungen mangels besserer Lösung. Dies gilt in besonderem Maße auch für das Problem der Persönlichkeitstypologien bzw. der Psychopathien. 1.2 Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche Wenn man sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Einteilungsversuche der Psychopathien stellt, so stößt man im Wesentlichen auf drei Gemeinsamkeiten, die van Krevelen (1970) in einer Arbeit zum gleichen Thema herausgestellt hat: 1. Qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale Es werden bestimmte qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale herausgestellt (z. B. Aktivität, Stimmung, Anpassungsfähigkeit usw.). 2. Der Gesichtspunkt der Reifung Der für das Kindes- und Jugendalter wichtige Gesichtspunkt der Reifung wurde schon von Kraepelin (1915) hervorgehoben, wenn er zwei verschiedene Formen der Psychopathien unterscheidet: Konstitutionelle Psychopathien und Psychopathien als Entwicklungshemmung. Letztere wurden von Oseretzky (1935) als psychologische Entwicklungen abgewandelt. 3. Der Gesichtspunkt der Regulation Damit ist gemeint, dass die qualitativen Merkmale im Falle einer normalen Entwicklung einer gewissen Regulation unterliegen müssen. Überregulation und Unterregulation führt zu Normabweichungen und damit zur Psycho- 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms pathie. Der Begriff der Regulation lässt jedoch offen, aus welchen Gründen eine Fehlregulation eintritt (z. B. durch eine entsprechende Anlage, durch früh erworbene organische Schädigungen oder durch Umwelteinflüsse). Van Krevelen (1970) hat versucht, unter diesen drei Gesichtspunkten verschiedene Typen von Psychopathien im Kindes- und Jugendalter voneinander abzugrenzen. Die erste Gruppe nennt er Psychopathien qualitativen Ausdrucks. »Es handelt sich um Individuen, die von der frühen Kindheit an Zeichen dieses oder jenen Defektes zeigen, d. h. dass der Defekt ein Defizit oder einen Überschuss bedeutet, eine örtliche Vertiefung oder eine lokale Schwellung der Persönlichkeit«. Hierzu rechnet er auch die autistische Psychopathie. Bei der zweiten Gruppe, den reifungsgestörten Psychopathen, tritt in der Regel ein Auseinanderklaffen von Intellekt und Willensanlagen zutage. Die Unreife lässt sich auch im Habitus, in den Gebärden und in der Motorik erkennen. Man muss sich fragen, ob bei dieser Gruppe von Psychopathen nicht auch organische Schädigungen beteiligt sein können. Bei der dritten Gruppe, bei der die regulierenden Kräfte fehlen oder insuffizient sind, stehen Unruhe, Labilität und Mangel an Beherrschung im Vordergrund. 1.3 Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes Die Vielzahl historischer Einteilungen der Psychopathien und der Interpretation des Psychopathiebegriffes kann hier nicht referiert werden. Es wird lediglich auf vier Systeme eingegangen, die von besonderer Bedeutung für das Kindesund Jugendalter sind. Diese sind in . Tab. 1.1 zusammengefasst. Das System von J.L.A. Koch, der den Begriff der Psychopathie geprägt und systematisch angewandt hat, unterscheidet drei Formen der »ange- borenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« und war Ausgangspunkt für viele Weiterentwicklungen. Emil Kraepelin (81915) betrachtet die psychopathischen Persönlichkeiten entweder als Vorstufen von Psychosen oder als umschriebene Entwicklungshemmungen. Damit wurde erstmalig der Entwicklungsbegriff in die Betrachtung psychopathischer Persönlichkeiten einbezogen. Das System von Kraepelin wurde durch Oseretzky (1935) weiterentwickelt, der insbesondere die Besonderheiten des Kindesalters berücksichtigt hat. Er zählt zu den von ihm so genannten »konstitutionellen Psychopathien« die schizoiden, zykloiden und die epileptoiden. Mit dem Begriff der Schizoiden ist die Brücke zu den späteren Arbeiten von Ssucharewa (1926) und Hans Asperger (1944) geschlagen. Unter den pathologischen Entwicklungen fasst Oseretzky folgende Persönlichkeitsstörungen zusammen: 5 hysteroide, 5 dystonische (passive und aktive), 5 expressive und 5 reaktiv-labile. Oseretzky vertrat bereits die Meinung, dass die konstitutionellen Psychopathien und die pathologischen Entwicklungen gänzlich verschieden seien und dass man bei jüngeren Kindern (auf jeden Fall im vorschulpflichtigen Alter) auf die Diagnose »konstitutionelle Psychopathie« überhaupt verzichten sollte. Er wies bereits darauf hin, dass auch bei der Diagnose der pathologischen Entwicklungen Vorsicht am Platze ist, vor allem, wenn sie bei verwahrlosten und obdachlosen Jugendlichen gestellt werden. Das System Oseretzkys stellt eine Weiterentwicklung der Position Kraepelins unter dem Aspekt der Entwicklung dar. Seine Gedanken sind zum Teil so modern, dass sie auch heute noch diskussionswürdig sind. Wie aus . Tab. 1.1 hervorgeht, unterscheidet August Homburger (1926) vier Gruppen von Persönlichkeitsanlagen und entsprechende »Abarten«. Homburger verwendet einen relativ starren 1.3 Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes 5 1 . Tab. 1.1. Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes bezogen auf das Kindes- und Jugendalter Autor Einteilung/Interpretation J.L.A. Koch (1888, 1891–1893) Die »angegeborenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« werden in 3 Formen eingeteilt: 5 Angeborene psychopathische Dispositionen (z. B. asthenische Psychopathie) 5 Angeborene psychische Belastung (z. B. Sonderlinge) 5 Psychopathische Degeneration (z. B. intellektuelle oder moralische Schwächezustände) E. Kraepelin (81915) und Oseretzky (1935) 5 Psychopathische Persönlichkeiten als Vorstufen von Psychosen (konstitutionelle Psychopathien nach Oseretzky) 5 Psychopathien als »umschriebene Entwicklungshemmungen« (pathologische Entwicklungen nach Oseretzky) A. Homburger (1926) 5 Abarten der einfachen formalen Persönlichkeitsanlagen: z. B. Hyperthymische, Depressive, Impulsive 5 Abarten der einfachen Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Phantasten, Willensschwache, Haltlose 5 Abarten der komplexeren Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Asthenische, ReizbarSchwache, Sensitive 5 Asoziale Sonderformen M. Tramer (1931, 1949) 5 Auffälligkeiten der Stimmungsdisposition: (1) Hyperthymische (2) Depressive (3) Stimmungslabile (4) Triebmenschen 5 Auffälligkeiten der Affektdispositionen: (5) Hypothymische (6) Explosible (7) Misstrauisch-paranoide und gereizte Psychopathen 5 Auffälligkeiten der Willensdisposition: (8) Willensschwache und willenlose Psychopathen 5 Auffälligkeiten der Ich-Disposition: (9) Psychopathische Fanatiker (10) Passive psychopathische Fanatiker (11) Geltungsbedürftige (12) inzerte oder infirme Psychopathen (unsichere, mit Insuffizienzgefühlen beladene Menschen) Persönlichkeits- und Normbegriff und der Entwicklungsaspekt steht nicht, wie bei Oseretzky, im Vordergrund. Schließlich hat Moritz Tramer (1949), der das erste allgemeine Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie verfasst hat, eine systematische Typologie der Persönlichkeitsstörungen entwickelt, wobei er vom Begriff der Disposition im Sinne von William Stern (1934, 1950) ausgeht. Er unterscheidet dabei die in . Tab. 1.1 angeführten vier Dispositionen, denen er entsprechende Auffälligkeiten zuordnet. Fazit In der Zusammenfassung des historischen Überblicks lassen sich folgende Aussagen treffen: 1. Die meisten Autoren gehen von statistischen Persönlichkeitskonzepten (Schichtenmodell, Strukturmodell) aus, dynamische Aspekte werden erst später, vor allem unter dem Einfluss der Psychoanalyse (Aichhorn 1925), sichtbar. 2. Der Normbegriff wird in der Regel im Sinne der statistischen Norm angewandt (z. B. bei Kurt Schneider), mitunter aber im Sinne 6 1 2 3. 3 4 5 4. 6 7 8 5. 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 6. Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms einer Idealtypologie (z. B. bei Ernst Kretschmer). Die Frage, ob Psychopathien Krankheiten sind, wird unterschiedlich beantwortet. Während Kraepelin ihnen Krankheitswert zuerkennt, lehnt Kurt Schneider dies ab. Neuerdings versucht man beide Aspekte zu vereinigen, indem man besondere Formen der Persönlichkeitsstörungen als »Persönlichkeitsstörungen mit Krankheitswert« bezeichnet. Der Entwicklungsaspekt taucht früh auf (schon bei Kraepelin). Er wird durch Oseretzky weiterentwickelt, von Homburger und Tramer aufgegriffen, ebenso von Aichhorn aus psychoanalytischer Sicht. Der Anlagebegriff, der zunächst für die Lehre von den Psychopathien konstitutiv war, wurde im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zunehmend erweitert. Er tritt in den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend mehr in den Hintergrund, da sich gezeigt hat, dass eine Abgrenzung von Anlage und Umwelteinflüssen nicht möglich ist. Die heutige Tendenz geht – unter dem Einfluss der angelsächsischen Auffassung – vorwiegend in Richtung einer Beschreibung des äußeren Verhaltens, dem eine Kombination verschiedener psychischer Eigenschaften zugrunde liegt. In positiver Umschreibung (schon bei van Krevelen 1970) ist Persönlichkeit eine in der Anlage gegebene Extremvariante, welche unter Umständen normwidriges Verhalten mit sich bringt. In negativer Umschreibung (Stutte 1961) läßt sich Psychopathie als Normvariante definieren, die nicht als Psychose, nicht als Schwachsinn aufgefasst werden kann und weder durch Organogenese noch ein Psychotrauma erklärbar ist. Eine Abgrenzung der Psychopathien von Psychosen ist allgemein akzeptiert, ihre Abgrenzung von neurotischen Störungen ist je nach Auffassung strittig. Diejenigen, die den Begriff der Psychopathie ablehnen, zählen die schweren Per- sönlichkeitsstörungen zu den Neurosen (Kernneurosen). 1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung Für die Beschreibung des Asperger-Syndroms waren zwei Begriffe maßgeblich, die Hans Asperger auch in seiner Erstbeschreibung verwendete, der Begriff der Psychopathie, von dem bis jetzt die Rede war, und der Begriff der Schizoidie, auf den wir im Folgenden eingehen und der durch den Psychiater Ernst Kretschmer in die Literatur eingeführt wurde. Bereits 1908 hatte allerdings Eugen Bleuler die Bezeichnung »schizoid« zur Beschreibung von Menschen verwendet, deren charakteristisches Verhalten durch Insichgekehrtsein, Rückzug und Sensitivität gekennzeichnet war. 1.4.1 Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) In seinem Epoche machenden Werk »Körperbau und Charakter« (1921) prägte Ernst Kretschmer u. a. den Begriff des schizoiden Temperamentes, der eine rege Diskussion auslöste. Kretschmer wurde nicht zuletzt auch deshalb heftig angegriffen, weil er in seinen Arbeiten fließende Übergänge zwischen schizoiden Persönlichkeitsmerkmalen zur Schizophrenie postulierte und einen schizophrenen Prozess als eine Art Zuspitzung bestimmter konstitutioneller Temperamentseigenarten ansah. In späteren Arbeiten hat Kretschmer diesen Standpunkt revidiert. So hat er bereits in seiner Schrift »Das Konstitutionsproblem in der Psychiatrie« (1922) darauf hingewiesen, dass die Schizophrenie sich nicht aus einem Schizoid durch eine Kumulation schizoider Eigentümlichkeiten entwickelt, sondern dass im Falle des Überganges vom Schizoid in eine Schizophrenie ein Erbfaktor hinzukommen müsse. Die von Kretschmer postulierte schizoide 1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung Psychopathie wurde jedoch zunehmend akzeptiert. Kretschmer selbst erklärte die symptomatische Ähnlichkeit zwischen bestimmten Merkmalen der schizoiden Psychopathie und der Schizophrenien dadurch, dass er gemeinsame Lokalisation in bestimmten Hirnsystemen annahm. Später stellte Kleist (1930) einen Zusammenhang zwischen den Denkstörungen schizophrener Patienten und einer Dysfunktion des Frontalhirns heraus und verglich diese mit den »frontalen Denkstörungen« Hirnverletzter, wobei er allerdings vermerkte, dass, im Gegensatz zu den Hirnverletzten, bei den Schizophrenen »in erster Linie die höheren Sprachgebiete und die verwickelteren Begriffsstrukturen geschädigt sind« (S. 854). 1 7 insbesondere den psychotischen Erkrankungen sowie den Psychopathien. Im Gefolge der Arbeiten von Ernst Kretschmer beschrieb G.E. Ssucharewa (1926) 6 Kinder im Alter von 10½–12 Jahren, deren Persönlichkeitszüge sie unter dem Begriff der schizoiden Psychopathie zusammenfasste. Ungeachtet der Verschiedenheit des klinischen Bildes stellte sie die in nachfolgender Übersicht angefügten Gemeinsamkeiten heraus, die viele, wenn nicht alle Merkmale umfassen, welche für das Asperger-Syndrom typisch sind. Darauf hat Sula Wolff (1995), der wir eine bemerkenswerte Untersuchung über schizoide Kinder und ihren Lebensweg verdanken, hingewiesen. Sie hat auch die Studie von Ssucharewa ins Englische übersetzt und damit international bekannt gemacht (Ssucharewa u. Wolff 1996). 1.4.2 Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981) war im Zeitraum von 1917–1921 an der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiew tätig. Von 1921 bis 1933 betätigte sie sich als Organisatorin psychiatrischer Einrichtungen in Moskau, um 1933 eine Professur am Lehrstuhl für Psychiatrie in Charkov zu übernehmen. 1938 wurde sie Leiterin der Klinik für Kinderpsychiatrie am Institut für Psychiatrie des Gesundheitsministeriums in Moskau und gleichzeitig Professorin am zentralen Institut für ärztliche Weiterbildung daselbst. Sie gehört zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der UdSSR und hat sich sowohl um die kinder- und jugendpsychiatrische Forschung als auch um die Versorgung sowie die Aus- und Weiterbildung sehr verdient gemacht. Hierzu hat auch ihr mehrfach aufgelegtes Buch »Klinische Vorlesungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie« maßgeblich beigetragen. Ihr wissenschaftliches Interesse galt der Klassifikation psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und »Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter« (Ssucharewa 1926)a I Ein eigenartiger Typus des Denkens 5 »Neigung zu Abstraktem und Schematischem (das Einführen des Konkreten erhöht nicht Denkprozesse, sondern erschwert sie)« 5 »Diese Besonderheit dieser Denkprozesse kombiniert sich oft mit einer Neigung zum Räsonieren und absurdem Grübeln«. II Autistische Einstellung »Alle Kinder dieser Gruppe halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm niemals vollständig auf«. Sie werden oft zum Gespött der anderen Kinder. Zwei der fünf Fälle erhielten von den anderen Kindern den Spitznamen »Sprechmaschine«. a Die in Anführungszeichen gesetzten Passagen sind wörtlich übernommen. 6