Asperger- Syndrom

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Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Helmut Remschmidt
Inge Kamp-Becker
AspergerSyndrom
Mit 21 Abbildungen,
31 Tabellen und Diagnostik-CD
1 23
Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt
Dipl.-Psych. Dr. Inge Kamp-Becker
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie der Philipps-Universität
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg
Ergänzendes Material zu diesem Buch finden Sie auf http://extra.springer.com/
ISBN
978-3-540-20945-4
Springer-Verlag Berlin Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Springer Medizin
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Planung: Renate Scheddin
Projektmanagement: Renate Schulz
Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin
Design: deblik Berlin
SPIN 86095663
Satz: medionet AG, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem Papier
V
Vorwort
Die 1944 von Hans Asperger als »autistische Psychopathie« beschriebene Störung wird heute zu den »tiefgreifenden Entwicklungsstörungen« gerechnet und hat unter der Bezeichnung
»Asperger-Syndrom« inzwischen auch Eingang in die gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme ICD-10 der WHO und DSM-IV der American Psychiatric Association gefunden.
Im deutschen Sprachraum war die autistische Psychopathie in Fachkreisen seit der Veröffentlichung Aspergers wohl bekannt und wurde auch nach den von ihm beschriebenen Kriterien
diagnostiziert. Sie blieb aber, trotz Veröffentlichungen in englischer Sprache von van Krevelen (1963 u. 1971) und Bosch (1970) im angelsächsischen Sprachraum so gut wie unbekannt, bis
Lorna Wing (1981) 34 Fälle mit der Überschrift »Asperger-Syndrom« publizierte. Diese Arbeit
machte die Störung erst international bekannt und förderte das klinische und wissenschaftliche Interesse an dieser faszinierenden Variante des Menschseins in ungeahnter Weise.
Historisch gesehen gebührt der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Evimovna Ssucharewa (1891‒1981) das Verdienst, unter der Bezeichnung »die schizoiden Psychopathen des Kindesalters« wohl als erste auf ein Störungsbild hingewiesen zu haben, das viele, wenn nicht alle,
Merkmale des Asperger-Syndroms umfasst. Dies hat Sula Wolff herausgearbeitet, die auch die
Originalarbeit von Ssucharewa ins Englische übersetzt hat (Ssucharewa u. Wolff 1996). Es ist
nicht bekannt, ob Hans Asperger diese Arbeit kannte.
Der Wandel der Begriffsbildung »von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung« spiegelt den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse wider, deren Befunde
nahe legen, das Asperger-Syndrom als neurobiologische Entwicklungsstörung mit einem
genetischen Hintergrund zu begreifen, die unter charakteristischer Symptomatik früh manifest wird, sich in ihrem klinischen Bild altersspezifisch wandelt, aber als Entwicklungsvariante mit Störungscharakter persistiert. In unserer Darstellung betrachten wir das AspergerSyndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung und ordnen es den Autismus-Spektrum-Störungen zu. Die Frage, ob sich Asperger-Syndrom und High-functioning-Autismus valide und
reliabel unterscheiden lassen, muss nach derzeitigem Erkenntnisstand vorerst offen bleiben.
Unser Buch behandelt in acht Kapiteln jene Fragestellungen und Problemkreise, die uns in
unserer klinischen und wissenschaftlichen Arbeit immer wieder begegnet sind und die auch
weltweit diskutiert werden. Die historische Einleitung (▶ Kap. 1) erscheint uns wichtig, weil
alle neuen Erkenntnisse auf vorangehenden aufbauen und weil die historische Dimension oft
vernachlässigt wird. Es folgen Abschnitte zur Klassifikation und Epidemiologie (▶ Kap. 2) und
zur Ätiologie (▶ Kap. 3). Zur Ätiologie erscheinen uns die neuropsychologischen Konzepte
(Theory of Mind, zentrale Kohärenz, exekutive Funktionen) am meisten zum Verständnis der
Störung beizutragen. Deshalb wird diesen Konzepten auch in unserer Darstellung ein führender Platz eingeräumt. Der Exkurs zur Theory of Mind (▶ Kap. 3.7) vertieft die Betrachtungen
zur Ätiologie und ist für jene Leser gedacht, die sich mit diesem Konzept intensiver befassen
möchten. Der Text ist auch ohne diesen Abschnitt verständlich. Besonderen Wert haben wir
auch auf die Diagnostik und Differenzialdiagnostik gelegt (▶ Kap. 4 u. 5).
Das sechste Kapitel, über Interventionen, ist breit angelegt und konzentriert sich, wie auch
die anderen Abschnitte, nicht ausschließlich auf das Asperger-Syndrom, da viele Behandlungsmethoden auch bei anderen Autismus-Spektrum-Störungen angewandt werden. Jeder, der
sich mit dem Asperger-Syndrom oder mit Autismus-Spektrum-Störungen beschäftigt, möchte
natürlich wissen, wie Langzeitverlauf und Prognose sich gestalten. In ▶ Kap. 7 geben wir einen
Überblick über den derzeitigen Erkenntnisstand und im letzten Kapitel (▶ Kap. 8) werfen wir
die aus unserer Sicht wichtigsten offenen Fragen auf.
VI
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Vorwort
Ferner haben wir dem Buch eine CD beigefügt, die neben der Marburger Beurteilungsskala zumAsperger-Syndrom auch die Originalarbeit von Hans Asperger (1944) enthält.
Unser Buch ist aus einem wissenschaftlichen Projekt entstanden, das 1999 begann und dessen initiale Förderung durch den Max-Planck-Preis für internationale Kooperation ermöglicht
wurde, den einer von uns (H.R.) im Jahre 1999 erhalten hat. Die andere Autorin (I.K.-B.) hat
von Anfang an in diesem Projekt mitgearbeitet und hatte Gelegenheit, am Child Study Center
der Yale University in New Haven die dortige Autismusforschung kennen zu lernen.
Zu danken haben wir vielen, die unsere Arbeit, nicht nur zu diesem Buch, tatkräftig unterstützt haben: Der Max-Planck-Gesellschaft für die Anfangsförderung, den Kolleginnen und
Kollegen der Yale University, die uns kompetent beraten haben (Donald Cohen, Fred Volkmar,
Ami Klin und Sarah Sparrow) und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im AspergerProjekt (Nikolaus Barth, Isabell Germerott, Mardjan Ghahreman, Eva Schenk, Judith Smidt).
Dem Springer-Verlag, insbesondere der Programmplanerin Frau Renate Scheddin und der
Projektmanagerin Frau Renate Schulz, danken wir für die hervorragende Zusammenarbeit
und die zügige Umsetzung unseres Vorhabens. Ferner danken wir auch unserer Lektorin, Frau
Dr. Karen Strehlow, nicht nur für die genaue Durchsicht des Manuskriptes, sondern auch für
ihre Verbesserungsvorschläge.
Nicht zuletzt aber bedanken wir uns sehr herzlich bei unseren Patienten und ihren Eltern,
die uns die Gelegenheit gegeben haben, Erleben und Verhalten von Menschen mit AspergerSyndrom ausführlich kennen zu lernen und im Laufe der Zeit immer besser zu verstehen. Deshalb widmen wir dieses Buch auch unseren Patienten.
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20
Marburg, im Frühjahr 2006
Helmut Remschmidt
Inge Kamp-Becker
VII
Inhaltsverzeichnis
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.4.1
1.4.2
1.4.3
1.4.4
Ein Blick zurück: Zur Geschichte des
Asperger-Syndroms . . . . . . . . . . .
Historische Ansätze zur Einteilung von
Psychopathien . . . . . . . . . . . . . . . .
Gemeinsame Radikale historischer
Einteilungsversuche . . . . . . . . . . . .
Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes . . . .
Von der Psychopathie zur tiefgreifenden
Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . .
Der Begriff der Schizoidie –
Ernst Kretschmer (1921) . . . . . . . . . .
Die schizoiden Psychopathien im
Kindesalter – G.E. Ssucharewa (1926) . .
»Die autistischen Psychopathen« im
Kindesalter – H. Asperger (1944) . . . . .
Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende
Entwicklungsstörung . . . . . . . . . . . .
2
Worum es geht:
Definition, Klassifikation
und Epidemiologie . . . . . . . . . . .
2.1
2.2
Definition und Klassifikation . . . . . . .
Charakteristische Symptomatik und
Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . .
Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.5.1
3.5.2
3.5.3
3.5.4
3.5.5
3.5.6
Was erklärbar ist: Ätiologie und
Entwicklungspsychopathologie . . .
Genetische Faktoren . . . . . . . . . . .
Assoziierte körperliche Erkrankungen
bzw. Syndrome . . . . . . . . . . . . . . .
Komorbide psychopathologische
Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hirnschädigungen und
Hirnfunktionsstörungen . . . . . . . . .
Neuropsychologische und kognitive
Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . .
Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . .
Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Exekutive Funktionen . . . . . . . . . .
Zentrale Kohärenz . . . . . . . . . . . . .
Theory of Mind . . . . . . . . . . . . . . .
1
2
3
4
6
6
7
9
11
17
18
19
26
33
.
34
.
35
.
36
.
39
.
.
.
.
.
.
.
42
42
43
44
44
46
46
3.5.7 Ein neuropsychologisches Modell für
Autismus-Spektrum-Störungen . . . .
3.6 Modellvorstellungen zur
Ätiopathogenese . . . . . . . . . . . . .
3.7 Exkurs: Entwicklungspsychopathologie des Asperger-Syndroms unter
dem besonderen Aspekt der
Entwicklung der Theory of Mind . . . .
3.7.1 Begriffsbestimmung:
Emotionserkennung, Empathie,
sozial-kognitive Attribuierungen,
affektive und kognitive Perspektivenübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.7.2 Die Anfänge der Entwicklung einer
»Theory of Mind« . . . . . . . . . . . . .
3.7.3 Der weitere Entwicklungsverlauf bei
Kindern mit autistischen Störungen –
insbesondere bei solchen mit
Asperger-Syndrom . . . . . . . . . . . .
3.7.4 Zusammenhang zur Symptomatik . .
4
.
51
.
53
.
59
.
59
.
63
.
.
71
75
Der Blick auf das Besondere:
Störungsspezifische Diagnostik . . .
83
4.1 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.1 Qualitative Beeinträchtigung der
sozialen Interaktion . . . . . . . . . . . .
4.1.2 Qualitative Beeinträchtigung der
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . .
4.1.3 Begrenzte, repetitive und stereotype
Verhaltensweisen, Interessen und
Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1.4 Sonstige auffällige Verhaltensweisen .
4.2 Störungsspezifische Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Komorbidität und
Begleiterscheinungen . . . . . . . . . .
4.4 Störungsrelevante Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Apparative, Labor- und Testdiagnostik
4.5.1 Apparative und Labordiagnostik . . . .
4.5.2 Screening-Verfahren . . . . . . . . . . .
4.5.3 Exploration der Bezugspersonen . . .
4.5.4 Exploration und Verhaltensbeobachtung des Betroffenen . . . . .
.
87
.
88
.
91
. 95
. 101
. 102
. 105
.
.
.
.
.
106
107
107
108
113
. 114
VIII
1
2
4.5.5 Standardisierte Verfahren . . . . . . . . . 115
4.6 Weitergehende Diagnostik . . . . . . . . 126
4.7 Entbehrliche Diagnostik . . . . . . . . . . 127
5
3
4
5
6
Inhaltsverzeichnis
5.1
5.2
5.3
5.4
Unterscheiden ist wichtig:
Differenzialdiagnostik und
multiaxiale Bewertung . . . . . . . . . 137
Identifizierung von Leitsymptomen .
Identifizierung weiterer Symptome
und Belastungen . . . . . . . . . . . . .
Differenzialdiagnose . . . . . . . . . .
Interventionsrelevante Diagnostik
unter multiaxialen Gesichtspunkten
. . 139
–
–
–
–
Was zu tun ist: Interventionen . . . . 149
7
8
6.2.1
11
12
13
14
6.4
6.5
6.6
6.7
153
154
157
164
171
181
183
190
191
192
195
196
15
7
Der Blick voraus:
Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . 201
16
7.1
Die Symptomatik des
Asperger-Syndroms bei Erwachsenen . 206
Prognosekriterien und
Lebensbewährung (outcome) . . . . . . 209
Sind Menschen mit Asperger-Syndrom
gefährlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
17
7.2
7.3
18
19
20
8
Was wir nicht wissen: Offene Fragen . 221
8.1
Offene Fragen zur Definition und
Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Offene Fragen zur Ätiologie . . . . . . . . 224
Offene Fragen zur Diagnostik und
Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . 226
8.2
8.3
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
. . 143
Auswahl des Interventionssettings . . .
Behandlungsprogramme und ihre
Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . .
Krankheitsstadienbezogene
Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . .
Psychoedukative Maßnahmen . . . . . .
Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . .
Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . .
Therapieprogramme . . . . . . . . . . . .
Besonderheiten bei ambulanter
Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Besonderheiten bei teilstationärer und
stationärer Behandlung . . . . . . . . . .
Jugendhilfe und Rehabilitationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entbehrliche Behandlungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . .
10
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Marburger Beurteilungsskala zum
Asperger-Syndrom (MBAS) . . . . . . . . . . 241
6.1
6.2
9
Offene Fragen zur Behandlung . . . . . 228
Welche Determinanten bestimmen
den Verlauf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
. . 139
. . 140
6
6.2.2
6.2.3
6.2.4
6.2.5
6.3
8.4
8.5
Anleitung . . . . . . .
Fragebogen . . . . .
Auswertungsblatt. .
Auswertungsfolien .
.
.
.
.
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.
242
244
250
251
Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
1
Ein Blick zurück: Zur Geschichte
des Asperger-Syndroms
1.1
Historische Ansätze zur Einteilung von Psychopathien – 2
1.2
Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche
1.3
Verschiedene historische Interpretationen
des Psychopathiebegriffes – 4
1.4
Von der Psychopathie zur tiefgreifenden
Entwicklungsstörung – 6
1.4.1
1.4.2
Der Begriff der Schizoidie – Ernst Kretschmer (1921) – 6
Die schizoiden Psychopathien im Kindesalter –
G.E. Ssucharewa (1926) – 7
»Die autistischen Psychopathen« im Kindesalter –
H. Asperger (1944) – 9
Das Asperger-Syndrom als tiefgreifende Entwicklungsstörung – 11
1.4.3
1.4.4
H. Remschmidt, I. Kamp-Becker, Asperger-Syndrom,
DOI 10.1007/978-3-540-35072-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006
–3
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
Hans Asperger (1944) hat das später nach ihm
benannte Syndrom »autistische Psychopathie«
genannt. Seine erste Publikation über die Störung
trägt den Titel »Die autistischen Psychopathen«
im Kindesalter«. Damit hat er den Begriff der
Psychopathie auf das Kindesalter angewandt.
Die historische Betrachtung der Entwicklung
des Psychopathiebegriffes (vgl. Aschoff 1968)
zeigt, dass bereits in früheren Zeiten das Für und
Wider dieser Bezeichnung heftig diskutiert wurde. Auch heute hat das Problem keineswegs an
Aktualität verloren. Im Gegenteil zeigt die stets
neue Beschäftigung mit dem Thema Psychopathie (in moderner Nomenklatur Persönlichkeitsstörung), dass hier ein fundamentales Problem der Psychopathologie wie des Menschseins
überhaupt getroffen ist, nämlich die Frage nach
dem Charakter und der Persönlichkeit. Derartige Fundamentalprobleme werden zu jeder Zeit
erörtert und erfahren zu jeder Zeit auch epochal-typische Antworten. Bei einer Durchsicht
der Literatur unter dem Aspekt der Wandlung
des Psychopathiebegriffes und seiner Anwendung auf das Kindes- und Jugendalter haben wir
nicht weniger als 24 verschiedene Einteilungsversuche mit insgesamt 50 Typen gefunden, von
denen sich allerdings viele auf 10–15 Kerngruppen reduzieren ließen (Remschmidt 1978). Diese Vielfalt veranlasste uns seinerzeit, nach allgemeinen Maßstäben zu suchen, die geeignet sind,
an jedes Einteilungs- oder Klassifikationsschema
angelegt zu werden. Es sind dies folgende:
1. Der Persönlichkeitsbegriff bzw. das Persönlichkeitsmodell (z. B. Schichtmodell, dynamisches Modell, Strukturmodell, statistisches Modell),
2. Der Normbegriff (statistische Norm, ideale
Norm),
3. Der Krankheitsbegriff (sogenanntes medizinisches Modell, Anerkennung psychischer
Störungen als Krankheiten, Psychopathie als
Normabweichung oder Krankheit etc.),
4. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise (z. B. unter dem Aspekt der Entwicklung,
unter dem Aspekt verschiedener Wissen-
schaften wie Psychopathologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse etc.) und
5. der Begriff oder das Konzept der Entwicklung. Auch diesbezüglich können verschiedene Entwicklungsmodelle zugrunde gelegt
werden (z. B. Entwicklung als Stufenfolge,
Entwicklung als Strukturierung und Differenzierung, Entwicklung als fortschreitende
Sozialanpassung oder deren Fehlen etc.).
Nach Maßgabe dieser fünf Kriterien unterscheiden sich die verschiedenen Theorien psychopathischer Persönlichkeiten. Wenn man sich
bemüht, jedem »Psychopathie-Konzept« diese
Kriterien in Form von Fragen zu stellen, so wird
zugleich auch der implizit in jeder Theorie enthaltene theoretische oder weltanschauliche Hintergrund deutlich, der stets mit berücksichtigt
werden muss.
1.1
Historische Ansätze zur
Einteilung von Psychopathien
Überblickt man die historisch überlieferten Einteilungsgesichtspunkte der Psychopathien, so
kann man systematische von unsystematischen
Ansätzen unterscheiden. Erstere versuchen
auch, auf der Grundlage vorgegebener Kategorien (meist Persönlichkeitseigenschaften) ein
System von psychopathischen Typen abzuleiten. Die zugrunde liegenden Eigenschaften werden in der Regel unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefasst und umfassen
jeweils einander polar entgegengesetzte Eigenschaftspaare. Ein Beispiel für eine derartige systematische Typenlehre ist die von Gruhle (1922,
1940). Gruhle unterscheidet sieben Grundeigenschaften oder Bereiche, deren übermäßige oder
unzureichende Ausprägung für verschiedene
Typen psychopathischer Persönlichkeiten charakteristisch sein sollen. Diese sieben Bereiche
sind:
1. Aktivität,
2. Grundstimmung,
3
1.2 Gemeinsame Radikale historischer Einteilungsversuche
3.
4.
5.
6.
7.
Affektansprechbarkeit,
Willenssphäre,
Eigenbeziehung,
Umweltverarbeitung und
Selbstgefühl.
Am zuletzt genannten Beispiel kann man einen
Begriff dieses systematischen Ansatzes erfahren. Ein stark ausgeprägtes Selbstgefühl geht
mit Selbstbewusstsein und Sicherheit einher,
ein schwach ausgeprägtes mit Psychasthenie, ein
unnatürlich gesteigertes ist für den hysterischen
Charakter typisch.
Weitere systematische Einteilungen stammen
von Homburger (1926), Kahn (1928), Kretschmer
(1955) und Ewald (1959).
Unsystematische Ansätze gehen in der Regel
davon aus, dass abnorme Persönlichkeiten durch
ein starres Schema einander entgegengesetzter
Eigenschaften nicht erfasst werden können und
dass auf diese Weise artifizielle Typen zustande
kommen, die in der Wirklichkeit kaum zu finden sind. Ein Beispiel für eine unsystematische
Klassifikation ist das System von Kurt Schneider,
der 10 Typen psychopathischer Persönlichkeiten
unterscheidet.
Typologien
Die meisten historischen Systeme zur Klassifikation der Psychopathien stützt sich auf Typologien. Typologische Ansätze dienen zunächst nur
dazu, ein komplexes Problemfeld vorzustrukturieren. Sie können jedoch nicht als strenge wissenschaftliche Abgrenzungen angesehen werden. Denn sie gehen von einigen wenigen Eigenschaften aus, wählen diese als Schwerpunkt
und verallgemeinern sie. Dadurch kommt es zu
erheblichen Überschneidungen zwischen den
verschiedenen Typen. Typologien gehen in der
Regel von einer idealen Norm aus. In der Praxis
sind jedoch die Mischtypen wesentlich häufiger
als die sogenannten reinen Typen. Andererseits
haben Typologien auch wiederum den Vorteil,
dass sie bei Vorliegen einer gewissen Anzahl charakteristischer Merkmale den Schluss auf andere
1
Merkmale ermöglichen, die ebenfalls zum Typus
gehören.
Generell werden typologische Verfahren nur
dort angewandt, wo das Merkmalsfeld noch zu
komplex für exaktere Möglichkeiten der Erfassung ist. In dieser Auffassung sind sie vorläufige Schwerpunktbildungen mangels besserer
Lösung. Dies gilt in besonderem Maße auch für
das Problem der Persönlichkeitstypologien bzw.
der Psychopathien.
1.2
Gemeinsame
Radikale historischer
Einteilungsversuche
Wenn man sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten der verschiedenen Einteilungsversuche der Psychopathien stellt, so stößt man im
Wesentlichen auf drei Gemeinsamkeiten, die van
Krevelen (1970) in einer Arbeit zum gleichen
Thema herausgestellt hat:
1. Qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale
Es werden bestimmte qualitative Eigenschaften oder Ausdrucksmerkmale herausgestellt (z. B. Aktivität, Stimmung, Anpassungsfähigkeit usw.).
2. Der Gesichtspunkt der Reifung
Der für das Kindes- und Jugendalter wichtige Gesichtspunkt der Reifung wurde schon
von Kraepelin (1915) hervorgehoben, wenn
er zwei verschiedene Formen der Psychopathien unterscheidet: Konstitutionelle Psychopathien und Psychopathien als Entwicklungshemmung. Letztere wurden von Oseretzky (1935) als psychologische Entwicklungen abgewandelt.
3. Der Gesichtspunkt der Regulation
Damit ist gemeint, dass die qualitativen Merkmale im Falle einer normalen Entwicklung einer
gewissen Regulation unterliegen müssen.
Überregulation und Unterregulation führt
zu Normabweichungen und damit zur Psycho-
4
1
2
3
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Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
pathie. Der Begriff der Regulation lässt jedoch
offen, aus welchen Gründen eine Fehlregulation
eintritt (z. B. durch eine entsprechende Anlage,
durch früh erworbene organische Schädigungen
oder durch Umwelteinflüsse).
Van Krevelen (1970) hat versucht, unter diesen drei Gesichtspunkten verschiedene Typen
von Psychopathien im Kindes- und Jugendalter voneinander abzugrenzen. Die erste Gruppe
nennt er Psychopathien qualitativen Ausdrucks.
»Es handelt sich um Individuen, die von der
frühen Kindheit an Zeichen dieses oder jenen
Defektes zeigen, d. h. dass der Defekt ein Defizit oder einen Überschuss bedeutet, eine örtliche
Vertiefung oder eine lokale Schwellung der Persönlichkeit«. Hierzu rechnet er auch die autistische Psychopathie.
Bei der zweiten Gruppe, den reifungsgestörten Psychopathen, tritt in der Regel ein Auseinanderklaffen von Intellekt und Willensanlagen zutage. Die Unreife lässt sich auch im Habitus, in den Gebärden und in der Motorik erkennen. Man muss sich fragen, ob bei dieser Gruppe
von Psychopathen nicht auch organische Schädigungen beteiligt sein können.
Bei der dritten Gruppe, bei der die regulierenden Kräfte fehlen oder insuffizient sind,
stehen Unruhe, Labilität und Mangel an Beherrschung im Vordergrund.
1.3
Verschiedene historische
Interpretationen des
Psychopathiebegriffes
Die Vielzahl historischer Einteilungen der Psychopathien und der Interpretation des Psychopathiebegriffes kann hier nicht referiert werden.
Es wird lediglich auf vier Systeme eingegangen,
die von besonderer Bedeutung für das Kindesund Jugendalter sind. Diese sind in . Tab. 1.1
zusammengefasst.
Das System von J.L.A. Koch, der den Begriff
der Psychopathie geprägt und systematisch angewandt hat, unterscheidet drei Formen der »ange-
borenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« und war Ausgangspunkt für
viele Weiterentwicklungen.
Emil Kraepelin (81915) betrachtet die psychopathischen Persönlichkeiten entweder als Vorstufen von Psychosen oder als umschriebene
Entwicklungshemmungen. Damit wurde erstmalig der Entwicklungsbegriff in die Betrachtung psychopathischer Persönlichkeiten einbezogen. Das System von Kraepelin wurde durch
Oseretzky (1935) weiterentwickelt, der insbesondere die Besonderheiten des Kindesalters berücksichtigt hat. Er zählt zu den von ihm so genannten »konstitutionellen Psychopathien« die schizoiden, zykloiden und die epileptoiden. Mit dem
Begriff der Schizoiden ist die Brücke zu den späteren Arbeiten von Ssucharewa (1926) und Hans
Asperger (1944) geschlagen. Unter den pathologischen Entwicklungen fasst Oseretzky folgende
Persönlichkeitsstörungen zusammen:
5 hysteroide,
5 dystonische (passive und aktive),
5 expressive und
5 reaktiv-labile.
Oseretzky vertrat bereits die Meinung, dass die
konstitutionellen Psychopathien und die pathologischen Entwicklungen gänzlich verschieden
seien und dass man bei jüngeren Kindern (auf
jeden Fall im vorschulpflichtigen Alter) auf die
Diagnose »konstitutionelle Psychopathie« überhaupt verzichten sollte. Er wies bereits darauf hin, dass auch bei der Diagnose der pathologischen Entwicklungen Vorsicht am Platze
ist, vor allem, wenn sie bei verwahrlosten und
obdachlosen Jugendlichen gestellt werden. Das
System Oseretzkys stellt eine Weiterentwicklung der Position Kraepelins unter dem Aspekt
der Entwicklung dar. Seine Gedanken sind zum
Teil so modern, dass sie auch heute noch diskussionswürdig sind.
Wie aus . Tab. 1.1 hervorgeht, unterscheidet
August Homburger (1926) vier Gruppen von Persönlichkeitsanlagen und entsprechende »Abarten«. Homburger verwendet einen relativ starren
1.3 Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes
5
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. Tab. 1.1. Verschiedene historische Interpretationen des Psychopathiebegriffes bezogen auf das Kindes- und
Jugendalter
Autor
Einteilung/Interpretation
J.L.A. Koch (1888,
1891–1893)
Die »angegeborenen, andauernden psychopathischen Minderwertigkeiten« werden in 3 Formen eingeteilt:
5 Angeborene psychopathische Dispositionen (z. B. asthenische Psychopathie)
5 Angeborene psychische Belastung (z. B. Sonderlinge)
5 Psychopathische Degeneration (z. B. intellektuelle oder moralische Schwächezustände)
E. Kraepelin (81915)
und Oseretzky (1935)
5 Psychopathische Persönlichkeiten als Vorstufen von Psychosen (konstitutionelle Psychopathien nach Oseretzky)
5 Psychopathien als »umschriebene Entwicklungshemmungen« (pathologische
Entwicklungen nach Oseretzky)
A. Homburger (1926)
5 Abarten der einfachen formalen Persönlichkeitsanlagen: z. B. Hyperthymische,
Depressive, Impulsive
5 Abarten der einfachen Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Phantasten, Willensschwache, Haltlose
5 Abarten der komplexeren Ich-Umwelt-Beziehungen: z. B. Asthenische, ReizbarSchwache, Sensitive
5 Asoziale Sonderformen
M. Tramer (1931, 1949)
5 Auffälligkeiten der Stimmungsdisposition:
(1) Hyperthymische (2) Depressive
(3) Stimmungslabile (4) Triebmenschen
5 Auffälligkeiten der Affektdispositionen:
(5) Hypothymische (6) Explosible (7) Misstrauisch-paranoide und gereizte
Psychopathen
5 Auffälligkeiten der Willensdisposition:
(8) Willensschwache und willenlose Psychopathen
5 Auffälligkeiten der Ich-Disposition:
(9) Psychopathische Fanatiker (10) Passive psychopathische Fanatiker (11)
Geltungsbedürftige (12) inzerte oder infirme Psychopathen (unsichere, mit
Insuffizienzgefühlen beladene Menschen)
Persönlichkeits- und Normbegriff und der Entwicklungsaspekt steht nicht, wie bei Oseretzky,
im Vordergrund. Schließlich hat Moritz Tramer
(1949), der das erste allgemeine Lehrbuch der
Kinder- und Jugendpsychiatrie verfasst hat, eine
systematische Typologie der Persönlichkeitsstörungen entwickelt, wobei er vom Begriff der Disposition im Sinne von William Stern (1934, 1950)
ausgeht. Er unterscheidet dabei die in . Tab. 1.1
angeführten vier Dispositionen, denen er entsprechende Auffälligkeiten zuordnet.
Fazit
In der Zusammenfassung des historischen Überblicks lassen sich folgende Aussagen treffen:
1. Die meisten Autoren gehen von statistischen
Persönlichkeitskonzepten (Schichtenmodell,
Strukturmodell) aus, dynamische Aspekte
werden erst später, vor allem unter dem Einfluss der Psychoanalyse (Aichhorn 1925),
sichtbar.
2. Der Normbegriff wird in der Regel im Sinne
der statistischen Norm angewandt (z. B. bei
Kurt Schneider), mitunter aber im Sinne
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6.
Kapitel 1 · Ein Blick zurück: Zur Geschichte des Asperger-Syndroms
einer Idealtypologie (z. B. bei Ernst Kretschmer).
Die Frage, ob Psychopathien Krankheiten
sind, wird unterschiedlich beantwortet. Während Kraepelin ihnen Krankheitswert zuerkennt, lehnt Kurt Schneider dies ab. Neuerdings versucht man beide Aspekte zu vereinigen, indem man besondere Formen der Persönlichkeitsstörungen als »Persönlichkeitsstörungen mit Krankheitswert« bezeichnet.
Der Entwicklungsaspekt taucht früh auf
(schon bei Kraepelin). Er wird durch Oseretzky weiterentwickelt, von Homburger
und Tramer aufgegriffen, ebenso von Aichhorn aus psychoanalytischer Sicht.
Der Anlagebegriff, der zunächst für die Lehre von den Psychopathien konstitutiv war,
wurde im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zunehmend erweitert. Er tritt in
den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend
mehr in den Hintergrund, da sich gezeigt
hat, dass eine Abgrenzung von Anlage und
Umwelteinflüssen nicht möglich ist.
Die heutige Tendenz geht – unter dem Einfluss der angelsächsischen Auffassung – vorwiegend in Richtung einer Beschreibung des
äußeren Verhaltens, dem eine Kombination verschiedener psychischer Eigenschaften
zugrunde liegt. In positiver Umschreibung (schon bei van Krevelen 1970) ist Persönlichkeit eine in der Anlage gegebene
Extremvariante, welche unter Umständen
normwidriges Verhalten mit sich bringt. In
negativer Umschreibung (Stutte 1961) läßt
sich Psychopathie als Normvariante definieren, die nicht als Psychose, nicht als
Schwachsinn aufgefasst werden kann und
weder durch Organogenese noch ein Psychotrauma erklärbar ist.
Eine Abgrenzung der Psychopathien von Psychosen ist allgemein akzeptiert, ihre Abgrenzung
von neurotischen Störungen ist je nach Auffassung strittig. Diejenigen, die den Begriff der Psychopathie ablehnen, zählen die schweren Per-
sönlichkeitsstörungen zu den Neurosen (Kernneurosen).
1.4
Von der Psychopathie
zur tiefgreifenden
Entwicklungsstörung
Für die Beschreibung des Asperger-Syndroms
waren zwei Begriffe maßgeblich, die Hans Asperger auch in seiner Erstbeschreibung verwendete,
der Begriff der Psychopathie, von dem bis jetzt die
Rede war, und der Begriff der Schizoidie, auf den
wir im Folgenden eingehen und der durch den
Psychiater Ernst Kretschmer in die Literatur eingeführt wurde. Bereits 1908 hatte allerdings Eugen
Bleuler die Bezeichnung »schizoid« zur Beschreibung von Menschen verwendet, deren charakteristisches Verhalten durch Insichgekehrtsein,
Rückzug und Sensitivität gekennzeichnet war.
1.4.1 Der Begriff der Schizoidie –
Ernst Kretschmer (1921)
In seinem Epoche machenden Werk »Körperbau
und Charakter« (1921) prägte Ernst Kretschmer
u. a. den Begriff des schizoiden Temperamentes,
der eine rege Diskussion auslöste. Kretschmer
wurde nicht zuletzt auch deshalb heftig angegriffen, weil er in seinen Arbeiten fließende Übergänge zwischen schizoiden Persönlichkeitsmerkmalen zur Schizophrenie postulierte und
einen schizophrenen Prozess als eine Art Zuspitzung bestimmter konstitutioneller Temperamentseigenarten ansah. In späteren Arbeiten hat
Kretschmer diesen Standpunkt revidiert. So hat
er bereits in seiner Schrift »Das Konstitutionsproblem in der Psychiatrie« (1922) darauf hingewiesen, dass die Schizophrenie sich nicht aus
einem Schizoid durch eine Kumulation schizoider Eigentümlichkeiten entwickelt, sondern
dass im Falle des Überganges vom Schizoid in
eine Schizophrenie ein Erbfaktor hinzukommen
müsse. Die von Kretschmer postulierte schizoide
1.4 Von der Psychopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstörung
Psychopathie wurde jedoch zunehmend akzeptiert. Kretschmer selbst erklärte die symptomatische Ähnlichkeit zwischen bestimmten Merkmalen der schizoiden Psychopathie und der Schizophrenien dadurch, dass er gemeinsame Lokalisation in bestimmten Hirnsystemen annahm.
Später stellte Kleist (1930) einen Zusammenhang zwischen den Denkstörungen schizophrener Patienten und einer Dysfunktion
des Frontalhirns heraus und verglich diese mit
den »frontalen Denkstörungen« Hirnverletzter,
wobei er allerdings vermerkte, dass, im Gegensatz zu den Hirnverletzten, bei den Schizophrenen »in erster Linie die höheren Sprachgebiete und die verwickelteren Begriffsstrukturen
geschädigt sind« (S. 854).
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insbesondere den psychotischen Erkrankungen
sowie den Psychopathien.
Im Gefolge der Arbeiten von Ernst Kretschmer beschrieb G.E. Ssucharewa (1926) 6 Kinder
im Alter von 10½–12 Jahren, deren Persönlichkeitszüge sie unter dem Begriff der schizoiden
Psychopathie zusammenfasste.
Ungeachtet der Verschiedenheit des klinischen Bildes stellte sie die in nachfolgender
Übersicht angefügten Gemeinsamkeiten heraus,
die viele, wenn nicht alle Merkmale umfassen,
welche für das Asperger-Syndrom typisch sind.
Darauf hat Sula Wolff (1995), der wir eine bemerkenswerte Untersuchung über schizoide Kinder
und ihren Lebensweg verdanken, hingewiesen.
Sie hat auch die Studie von Ssucharewa ins Englische übersetzt und damit international bekannt
gemacht (Ssucharewa u. Wolff 1996).
1.4.2 Die schizoiden Psychopathien
im Kindesalter – G.E. Ssucharewa
(1926)
Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981) war im
Zeitraum von 1917–1921 an der psychiatrischen
Universitätsklinik in Kiew tätig. Von 1921 bis
1933 betätigte sie sich als Organisatorin psychiatrischer Einrichtungen in Moskau, um 1933 eine
Professur am Lehrstuhl für Psychiatrie in Charkov zu übernehmen.
1938 wurde sie Leiterin der Klinik für Kinderpsychiatrie am Institut für Psychiatrie des
Gesundheitsministeriums in Moskau und
gleichzeitig Professorin am zentralen Institut
für ärztliche Weiterbildung daselbst. Sie gehört
zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der UdSSR und hat sich sowohl um
die kinder- und jugendpsychiatrische Forschung
als auch um die Versorgung sowie die Aus- und
Weiterbildung sehr verdient gemacht. Hierzu hat
auch ihr mehrfach aufgelegtes Buch »Klinische
Vorlesungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie«
maßgeblich beigetragen. Ihr wissenschaftliches
Interesse galt der Klassifikation psychischer
Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und
»Die schizoiden Psychopathien im
Kindesalter« (Ssucharewa 1926)a
I Ein eigenartiger Typus des Denkens
5 »Neigung zu Abstraktem und Schematischem (das Einführen des Konkreten
erhöht nicht Denkprozesse, sondern
erschwert sie)«
5 »Diese Besonderheit dieser Denkprozesse kombiniert sich oft mit einer Neigung zum Räsonieren und absurdem
Grübeln«.
II Autistische Einstellung
»Alle Kinder dieser Gruppe halten sich
abseits in dem Kindermilieu, passen sich
nur schwer an dieses Milieu an und gehen
in ihm niemals vollständig auf«.
Sie werden oft zum Gespött der anderen Kinder. Zwei der fünf Fälle erhielten
von den anderen Kindern den Spitznamen
»Sprechmaschine«.
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Die in Anführungszeichen gesetzten Passagen
sind wörtlich übernommen.
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