Albert-Schweitzer-Rundbrief 2004

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Rundbrief Nr. 96 für alle Freunde von Albert Schweitzer.
Herausgegeben vom Deutschen Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V.,
August 2004
Eine andere Welt ist möglich
Nachhaltigkeit, Weltethos, Erd-Charta und die
Ehrfurcht vor dem Leben.
Weitere Texte und Informationen zu Albert Schweitzer und Fragen der Ethik finden Sie im Internet:
www.albert-schweitzer-zentrum.de
Die Rundbriefe erscheinen seit 1930. Begründet wurden sie von Richard Kik. Nach dessen Tode führte seine Frau Mine Kik diese Arbeit bis zu ihrem Tod im Jahre 1977 fort. Seitdem werden Rundbriefe
im Auftrag des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V. herausgegeben. Bis 1992 lag die Redaktion in den Händen von Manfred Hänisch. Von 1992 bis 2001 war für
die Redaktion Hans-Peter Anders verantwortlich.
Seit Herbst 2001 ist die Redaktion direkt dem Vorstand des Deutschen Hilfsvereins für das AlbertSchweitzer-Spital in Lambarene e.V. unterstellt.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Dieser Rundbrief dokumentiert ein wesentliches Anliegen des DHV-Vorstands: das
geistige Werk Albert Schweitzers in einem themenbezogenen Buch, dem „Rundbrief“,
mit Fragen, Problemen und Ereignissen unserer Zeit zu verbinden. Insbesondere der
Nachhaltigkeitsdiskurs kann von Schweitzers Ethik enorm profitieren. Darüber können Sie in diesem Rundbrief Vieles lesen.
Alles, was in den Schweitzer-Freundeskreisen seit Jahrzehnten getan wird, macht Sinn
gerade im Ringen um eine nachhaltige Zukunftsentwicklung. Auch die „Globalisierung“ war bereits bei Albert Schweitzer Programm, wenn er schreibt: „In dem Maße,
als die Vorstellung des Weltganzen wirksam zu werden beginnt, erweitert sich auch
der Horizont der Ethik“ (vgl. den zweiten Schweitzer-Text in diesem Rundbrief!).
Die Erd-Charta liegt ganz auf dieser Linie. Anliegen dieses Rundbriefs ist es, Ihnen
zu zeigen, dass die Kernfragen der Ökologie direkt etwas mit der „Ehrfurcht vor dem
Leben“ zu tun haben.
In eigener Sache sei noch gesagt:
Einige Neuerungen des alten Vorstands unter dem Vorsitz von Tomaso Carnetto dienten dem Versuch, „neuen Wein in neue Schläuche“ zu füllen, neue Wege zu suchen
und Ungewohntes in die DHV-Arbeit einzubringen. Tomaso Carnetto war in dieser
Hinsicht für viele ein radikaler „Provokateur“, weil er scheinbar unveränderbare Strukturen zumindest mal infrage gestellt hat. Davon zeugen auch die Rundbriefe 93 bis 96.
Sie regen an und auf und halten aber gerade dadurch die Schweitzerdiskussion offen
und lebendig. Dies ist in unserer immer unberechenbarer werdenden Welt unabdingbar notwendig.
Mit den besten Wünschen
Ihr Paul Mertens
IN H A LT
EINE A
AN
IST MÖGLICH
EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH
EINLEITUNG
Paul Mertens
Einleitung
8
ALBERT SCHWEITZER
Albert Schweitzer
Günter Altner
Unsere Erde
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Die Vorstellung des Weltganzen - Verbundenheit
mit allem Lebendigen
20
Ehrfurcht vor dem Leben in der Überlebenskrise heute
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ALBERT SCHWEITZER IM DENKEN UND HANDELN UNSERER ZEIT
Andreas Lienkamp
Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben:
Von Albert Schweitzer zur Erd-Charta
28
Hermann Garritzmann
Die Erd-Charta - Eine weltweite Initiative für eine
Ethik nachhaltiger Entwicklung
52
Falk Schmidt
30 Jahre globale Umweltpolitik - 30 Jahre
Ehrfurcht vor dem Leben?
62
Falk Schmidt
im Gespräch
Was bringen Institutionen? - Albert Schweitzers
Individualethik in einer organisierten Welt
72
Albert Schweitzer gescheitert?
80
ZWISCHENRUF
Horst Gunter
6
I NH A LT
ANDERE WELT
DIE RELIGIÖSE DIMENSION
Andreas Lienkamp
im Gespräch
Kein Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben
82
Martin Bauschke
Spirituelle Vernetzung Das interreligiöse Projekt Weltethos
90
NACHHALTIGKEIT MACHT SCHULE
Claus Günzler
Vom elementaren Denken zum lebensfreundlichen
Handeln - Albert Schweitzers Ethik als Leitorientierung
für die Umwelterziehung
102
Miriam Kunde
im Gespräch
...sich mit der Natur verbunden fühlen!
Antworten einer Schülerin
114
Gerhard Breidenstein
Eine andere Welt ist möglich - wenn wir anders leben.
Die Initiative „Aufbruch - anders besser leben“ als eine
Konkretion der Ehrfurcht vor dem Leben
122
Hermann Garritzmann
im Gespräch
Was wir tun können
Die Erd-Charta - mehr als nur Papier!
128
Stille, tüchtige, gütige Menschen werden
Ein Brief aus Lambarene 1959
136
Bücher, Adressen, Kontakte, Projekte, Internetseiten
138
Tagung 11. u. 12. Februar 2005 in Berlin
146
AUSKLANG
Albert Schweitzer
ANHANG
7
EINLEITUNG
Auf Zukunft arbeiten wir.
Möge es im rechten Geiste geschehen!
Albert Schweitzer
(Rundbrief Nr. 79-Titel, Nov. 1994)
Einleitung
von Paul Mertens
Es steht außer Zweifel: Albert Schweitzer ist wieder im Kommen. Allerdings anders,
als wir, also die in gewohnter Tradition mit Schweitzer Vertrauten, es kennen.
Was sich seit den frühen siebziger Jahren in den Bereichen Naturschutz, Menschenrecht, Friedenspolitik und Demokratisierung trotz aller Rückschläge entwickelt hat, ist
oft an der Arbeit der „Albert-Schweitzer-Kreise“ vorbei gegangen. Man hat erwartet
- und erwartet es vielfach immer noch! - , dass sich alle Welt mit Schweitzer beschäftigt. Stattdessen wäre es wichtiger gewesen, man hätte sich umgekehrt als SchweitzerVerehrer mit der Welt beschäftigt. Wir haben Jahrzehnte „unseren“ Schweitzer gehegt
und gepflegt, auf sein Leben, auf Lambarene und sein geistiges Werk verwiesen und
damit durchaus viele Menschen angesprochen und ermutigt. Dann stellten wir aber
mit der Zeit resignierend ein Schwinden der Popularität fest. Das Logo „Schweitzer“
verlor mit und mit an Zugkraft. Neben Lambarene entstanden viele weitere Entwicklungsprojekte weltweit. Und dem Slogan „Ehrfurcht vor dem Leben“ kam unmerklich
sein Begründer abhanden. Ein „Albert-Schweitzer-Abend“ zieht im Jahre 2004 nicht
mehr zwangsläufig Publikum.
Unterdessen haben sich aber viele andere, fern von Schweitzer, mit „grüner“ und Friedens- Politik beschäftigt. Umweltschutz, ökologisches Wirtschaften, Menschenrechte,
Friedensarbeit und andere Aufgabenfelder fanden zunehmend Aufmerksamkeit in der
Zivilgesellschaft und auch in der Politik. Heute stehen wir im Zuge der Globalisierung
an dem Punkt, Albert Schweitzers universale Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als
zeitgemäße globale Haltung zu erkennen. Dies wird auf allen Problemfeldern der heutigen Zeit zumindest diskutiert.
Immer klarer wird gesehen, dass wir alle für alles Leben auf dieser Erde verantwortlich
sind; dass wir zwar lokal-regional arbeiten, aber in ein globales Netzwerk eingebunden sind: biologisch, sozial, ökonomisch, religiös und kulturell. Unser Klima, unsere
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EI N LEI TU N G
Arbeitsplätze, unser Konsumangebot und -verhalten, unser multikulturell geprägtes
soziales Umfeld - überall kann man beobachten, wie wir mit der Welt vernetzt sind.
Die heutigen Kommunikationstechnologien, an der Spitze das Internet, haben diesen
Globalisierungsprozess rasant beschleunigt. Die neoliberale (einseitige)“Öffnung der
Märkte“ mit allen z.T. verheerenden Folgen ist nur eine Seite dieses Vernetzungsprozesses.
In Diskussionen über Nachhaltige Entwicklung, über ökologisch zentrierte Politik,
über den Dialog der Religionen und Kulturen, über Sicherheit und friedliche Wege
der Konfliktlösung, über Bioethik, über Gerechtigkeit auf dem Weltmarkt usw. geht
es bei allen Unterschieden immer mehr auch um die Formulierung und Bewusstmachung einer ethischen Grundhaltung. Bereits mit der Charta der Vereinten Nationen
von 1945 versuchte man eine allgemein verbindliche ethische Vereinbarung unter
möglichst vielen Ländern zu erreichen. Heute sind wir soweit, diese auf die Menschheit zentrierte Erklärung auf alles Leben dieser Erde zu beziehen. In einem langen
und weltweiten Arbeitsprozess entstand die von den Vereinten Nationen unterstützte
„Erd-Charta“(vgl. Beiträge von A. Lienkamp und H. Garritzmann). Damit kam
man auch dem Hauptanliegen Albert Schweitzers ein Stück näher: Alle Ethik bleibt
unvollständig und damit in ihrer Wirkung eingeschränkt, solange sie nicht alles Leben
mit einschließt. Ehrfurcht also nicht allein vor dem menschlichen Leben, sondern vor
allem, was leben will auf dieser Erde (Vgl. die Schweitzer-Texte in diesem Rundbrief ).
Die Beiträge des 96. Rundbriefs 2004 - Aufsätze, Analysen, Statements und Interviews - zielen im wesentlichen auf zwei Punkte: Einmal werden die angesprochenen
Themen von verschiedenen Gesichtspunkten aus beschrieben. Zur Debatte stehen
dabei die Grundfragen:
•
•
•
•
•
Was bedeutet „Nachhaltige Entwicklung“?
Was steht in der „Erd-Charta“?
Was ist das „Weltethos“?
Was heißt „Anders besser leben“?
Und: Was hat das alles mit Albert Schweitzer zu tun?
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EINLEITUNG
Zum Zweiten ist immer zu fragen:
• Was hat das alles mit mir zu tun?
• Und was kann ich selber tun?
Notwendig ist, dem folgend, in Zukunft eine Schweitzer-Basisarbeit, die in den öffentlichen Diskurs eingebunden ist. Ehe mit Schweitzers Ethik argumentiert wird, muss
zunächst von Energiegewinnung und -verbrauch, von Gentechnik, Bioethik, Friedenspolitik, Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, Natur- und Tierschutz, ökologischer
Landwirtschaft usw. die Rede sein.
So fand beispielsweise 1995 in Günsbach ein „Gesprächskreis“ in Zusammenarbeit
mit dem „förderverein energie- und solaragentur regio freiburg e.V.“ statt. Ausgangspunkt der Gespräche war der Gedanke, dass es möglich ist, auf der Grundlage der
Ethik Albert Schweitzers die Verwendung regenerativer Energiequellen (Sonne, Wind,
Wasser, Biomasse) in der Praxis aktiv voranzubringen (vgl. 81. Rundbrief, Nov. 1995,
S.45).
Oder: Am 12. Juni 2004 wurde in Borkhorst (bei Münster) ein Albert-SchweitzerProjekttag in Zusammenarbeit mit der Naturschutzorganisation NABU sowie der
Naturschutzjugend NAJU realisiert.
Als weiteres sei die Albert Schweitzer gewidmete Vortragsreihe der Schweisfurth-Stiftung in München erwähnt, die bis Juli 2004 stattfand. Die Themen waren: Albert
Schweitzer und der Nachhaltigkeitsdiskurs; Zur Bioethik Albert Schweitzers; Theologie des Tieres; Würde der Natur und Ehrfurcht vor dem Leben; Impulse für eine Umweltbildung (vgl. Beitrag von Cl.Günzler); Lebens-Landwirtschaft; in Frieden leben
- eine Politik des Miteinanders im Lichte Albert Schweitzers und anderes.
Im Grunde läuft Schweitzer-Arbeit heute darauf hinaus, sich in das Netzwerk der
vielfältig Engagierten inhaltlich und organisatorisch einzubringen.
Denn immer wieder muss man feststellen, dass man sich auf die „große Politik“ oder
die Einsicht der großen Wirtschaftsunternehmen nicht verlassen kann. Der Einzelne
ist gefragt und aufgefordert, sich an dem Prozess zu beteiligen. Vieles wird einfach
nicht funktionieren, wenn wir vielen Einzelnen nicht unseren Beitrag dazu leisten.
Damit sind wir dicht bei Albert Schweitzer. Sein Misstrauen gegenüber Organisationen und Institutionen (vgl. besonders das Interview mit F. Schmidt) war groß, und
seine Hoffnung richtete sich auf die Erziehung und Verantwortung der vielen Einzelnen. Politisch-gesellschaftlich müsste man heute eine Bewegung „von unten“, also
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EI N LEI TU N G
basisdemokratische Aktivitäten unterstützen (vgl. die Beiträge von G. Breidenstein
und H. Garritzmann). So erlebt dann jeder bei sich selbst: Das Wissen und Erkennen
ist zunächst der erste Schritt. Die praktische Umsetzung muss dann zwingend folgen.
Leider erleben wir derzeit noch eine große Diskrepanz bei vielen Akteuren, von den
internationalen Konzernen und Banken bis hinunter zum einzelnen Bürger. Eine freiwillige Selbstverpflichtung scheint überall möglich. Aber die verbindliche Umsetzung
des Versprochenen bleibt noch zu oft aus. Es gibt sicher niemanden mehr, der nicht
die Erde bewahren möchte oder der nachfolgenden Generation Wohlstand in einer
intakten Umwelt wünscht. Aber die Wirklichkeit sieht zwei Jahren nach dem größten
Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 immer noch anders
aus.
Und trotzdem: Was alles schon Gutes getan wird, darauf soll in den Beiträgen des
Rundbriefs ein Schwerpunkt liegen. Denn erst positive Bilanzen machen Mut, sich
vielleicht nach einem „Nebenamt“ umzuschauen. Aber gehen wir ins Einzelne:
Zunächst werden zwei Texte von Albert Schweitzer aus dem Nachlass vorgestellt. Sie
zeigen, wie sehr er in seiner ethischen Konzeption die ganze Erde im Blick hatte. Mit
der Globalisierung kommt das „Weltganze“ uns vor Augen, und damit erweitert sich
auch der Horizont der Ethik. Damit sind für Schweitzer auch Gefahren verbunden:
das Überleben der Menschheit kann nicht als gesichert angesehen werden.
Günter Altner untersucht in seinem Beitrag, welche Bedeutung die „Ehrfurcht vor
dem Leben“ in unserer Zeit der Krisen und Unsicherheiten haben kann. Was sagt sie
uns heute? Zunächst erinnert er an Schweitzers Lebensbejahung, die es erst sinnvoll
erscheinen lässt, ethisch zu handeln. In ihrer praktischen Umsetzung, in der Landund Forstwirtschaft, im Umgang mit anderen Menschen und Völkern, auf vielfältige
Weise könnte, so Altner, die Ehrfurcht vor dem Leben zu einer Kultur der Nachhaltigkeit führen.
Aber was bedeutet dieser mittlerweile recht überstrapazierte Begriff?
Andreas Lienkamp sieht in der Ehrfurcht vor dem Leben eine „Basistugend nachhaltiger Emtwicklung“, eine „basale Haltung“, die uns befähigt, zukunftsorientiert,
bedachtsam, umweltschonend, effizient, sozial gerecht, also nachhaltig auf dieser Erde
zu leben. Er zeichnet, von dieser Haltung ausgehend, den Weg von Albert Schweitzer
zur Erd-Charta nach. Auf diesem Weg finden sich viele Spuren ethischen Denkens im
Geiste Schweitzers: in Büchern und Dokumenten, aber auch in praktischer Umsetzung. In einem Gespräch mit Andreas Lienkamp gehen wir u.a. auf die Frage ein, wo
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EINLEITUNG
sich „Gott“ in der Erd-Charta finden lässt. Vor allem von theologischer Seite wurde
oft kritisiert, dass die Religion dort zu wenig Beachtung findet. Brauchen wir die Religion überhaupt, um mit den irdischen Problemen fertig zu werden? Ist nicht durch
den christlich-anthropozentrischen Geist schon genug angerichtet worden? Reicht
nicht die Vernunft?
Was „praktische Vernunft“ bereits erreichen kann, listet Hermann Garritzmann mit
einigen Beispielen auf. In einem Gespräch fragen wir ihn nach konkreten Handlungsmöglichkeiten. Als Projekt-Koordinator für die Erd-Charta in Deutschland stellt er
diese in einem separaten Aufsatz noch einmal vor.
Was ist seit dem Tode von Albert Schweitzer (1965) geschehen? Welche Wirkungen
hat seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gezeigt? Keine Frage: Viele Einzelne und
Gruppen haben sich intensiv um eine Umsetzung der Ehrfurchtsethik bemüht. Aber
wo sind die Ergebnisse zu sehen in Zivilgesellschaft und Politik?
Superintendent Horst Gunter stellt diesbezüglich in einem Zwischenruf die „Gretchenfrage“: Ist, summa summarum gerechnet, Albert Schweitzer gescheitert? Wir
konstatieren bis heute Kriege, soziales Elend, Ausbeutung und Raubbau, Naturvergiftung und -zerstörung, Luftverpestung etc. Ohne dies in Abrede zu stellen zeigt Falk
Schmidt, dass es durchaus hoffnungsvolle Entwicklungen in Politik und Gesellschaft
gibt. An diese muss immer wieder erinnert werden, da üblicherweise die Negativmeldungen („Katastrophen“ haben höhere Einschaltquoten und Verkaufsziffern!) stark
überwiegen und nachhaltig unser Weltbild prägen. Albert Schweitzer steht dagegen
für Lebensoptimismus und Lebensbejahung, die sich nicht von Misserfolgen erschüttern lassen dürfen. Überspitzt sagt er sogar mal: „Die Ethik gebietet ohne Rücksicht
auf die Durchführbarkeit“ (Kulturphilosophie III, Band 2, S.137). Vieles war und ist
aber durchführbar. Das beschreibt Schmidt in einer detailierten Übersicht, bezogen
auf die Umweltpolitik der letzten 30 Jahre. In einem Gespräch betont er dazu, dass
wir, trotz der Skepsis Schweitzers, auch Institutionen und Organisationen - und die
Politik brauchen.
Auf diesem Feld stehen auch die Kirchen. Was können diese leisten? Darauf versucht
der katholische Theologe Andreas Lienkamp eine Antwort zu geben. Dabei stellt er
einem möglichen kirchlichen Engagement die spirituellen Kräfte des einzelnen Menschen gegenüber. Martin Bauschke, der in der Weltethos-Stiftung von Hans Küng
mitarbeitet, zeigt, dass über das rein Kirchlich-Institutionelle hinaus die Religionen
weltweit in einen Dialog der Verständigung eintreten müssen. Frieden unter den Re-
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EI N LEI TU N G
ligionen ist eine Voraussetzung für den politischen Frieden. Das Weltethos will keine
neue „Religion“ oder ein übergeordnetes ethisches System sein. Vielmehr ist es die
Aufgabe, Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in den Religionen zu erkennen.
Was lässt sich an ethischer Substanz in den Weltreligionen finden? „Kultur und Ethik
in den Weltreligionen“ hat bekanntermaßen Albert Schweitzer schon erforscht (vgl.
vor allem die Nachlassbände!).
Aber wie lassen sich diese gewaltigen Aufgaben bewältigen, ohne dass eine elementare
Bildung und Schulung die Menschen mit der Ehrfurchtsethik vertraut machen. Bereits Kinder müssen durch das Erleben der Welt ethische Werte integrieren. Sie müssen zum festen Bestand der Persönlichkeit werden. Aber wie soll das möglich werden?
Claus Günzler, der wie kaum ein anderer „seinen“ Schweitzer kennt, sieht unter anderem einen pädagogischen Weg darin, möglichst früh elementares ethisches Denken
einzuüben, um „Alltagsmenschen individualethisch für die Freude an einer ernsthaften Orientierung zu gewinnen“. Denn, so sagt Günzler, „das elementare Denken [ist]
keine Sache der Gelehrsamkeit, sondern jedem Menschen auf jeder Altersstufe und
jedem Bildungsniveau zugänglich“.
Als quasi „Testfall“ haben wir in den Rundbrief ein Gespräch mit der Schülerin (13.
Klasse) Miriam Kunde aufgenommen. Sie lebt seit frühester Kindheit mit und für
Tiere. Heute hat sie sich auch wissenschaftlich in ihr Lebensthema eingearbeitet. Welche Chancen gibt sie einer ökologischen Neuorientierung auf dieser Erde? Und wie ist
das Bewusstsein bei der Jugend? Ein Kerngedanke von ihr sei vorweggenomen: Entscheidend ist die persönlich erlebte Erfahrung. Alles Geschriebene - und dazu gehört
auch dieser Rundbrief - bleibt wirkungslos, wenn es sich nicht mit selbst Erlebtem
verbindet. Das ist ganz Albert Schweitzer: „Miterleben aller Zustände und aller Aspirationen des Willens zum Leben“, Liebe, die „Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben
in sich fasst“, „Hingebung an Leben“, „alles wertvoll Enthusiastische“ - dies erst motiviert eine Kultur der Ehrfurcht vor dem Leben (vgl. Kultur und Ethik, Beck-Sonderausgabe, S. 332f.).
Ist also eine andere Welt möglich? Falk Schmidt korrigiert diese Aussage: Unsere Welt
ist anders möglich. Gerhard Breidenstein ergänzt dazu: wenn wir anders leben. Breidenstein plädiert für einen „Aufbruch“, der zu einer anderen, selbstbestimmten und
durchaus freud- und genussvollen Lebensweise aufruft. Jeder kann im Rahmen seines Lebens Dinge so variieren und ändern, dass mehr Gesundheit für ihn selbst und
mehr Lebenschancen für andere und die Natur möglich sind. Im Ganzen sieht er uns
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EINLEITUNG
„in einem epochalen Umbruch unseres Weltbildes und unseres Selbstverständnisses
als Menschen“ stehen. Mit dem „Bewusstsein vom Ganzen des Lebens [vgl. wieder
Schweitzers Texte] brauchen wir keine fordernden ethischen Appelle mehr. Schon irgendeine kleine Information, die wir aufnehmen und weiterleiten wie eine Nervenzelle, wird genügen, unser Verhalten zu ändern. Mit einem globalen Bewusstsein wollen
wir ganz selbst-verständlich anders leben als bisher: solidarisch, ökologisch, gesund
und nachhaltig, also zukunftsfähig.“
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Albert Schweitzer
Unsere Erde
Unsere Erde ist ein unendlich Kleines in dem unendlich Großen der Welt. Sie ist ein
vorübergehend im All umhergewirbeltes Stäubchen. In einer kosmischen Katastrophe
entstanden, wird sie einmal in einer solchen ihr Ende finden. Wie soll da vorstellbar
sein, dass das auf ihr vorhandene Leben eine Bedeutung für die Endvollendung des
gesamten Seins haben soll?
Nicht einmal die Überzeugung, dass die Bestimmung der Erde sich in dem auf ihr
entstehenden Leben erfüllt, ist in den Tatsachen begründet. Unendliche Zeiten hindurch war sie ein glühender Weltkörper. Leben, wie es sich heute auf ihr entwickelt
hat, konnte auf ihr nicht bestehen. Möglich ist es auf ihr erst seit einer Weltsekunde ...
vielleicht nur für die Dauer einer solchen. Eine geringste Störung in den zur Zeit auf
ihr bestehenden atmosphärischen Verhältnissen bedeutet sein Ende. Tritt irgendeine
Veränderung in ihrer Umdrehung um sich selbst und um die Sonne ein, nimmt aus
irgendeinem anderen Grund die Temperatur auf ihrer Oberfläche zu oder ab oder ist
sie nicht mehr in derselben Weise wie zur Zeit von einem Dunstkreise umgeben, der
als Regulator für die Temperatur dient, so wird sie wieder, wie vordem, ohne das jetzt
auf ihr befindliche Leben sein. Denn nicht von jeher und voraussichtlich nicht für
immer gehören Erde und Leben zusammen. Alles, was wir von der Erde wissen, nötigt
uns, mit der Wirklichkeit zu rechnen, dass sie einmal als völlig erkalteter oder glühend
gewordener Weltkörper in dem All kreisen wird.
Und nicht einmal für die Zeit, während der Leben auf der Erde möglich ist, kann die
Existenz der Menschheit als gesichert gelten. Sie ist nicht nur durch die Veränderung
der auf der Erdoberfläche bestehenden Daseinsbedingungen, sondern auch durch in
dem Leben selbst sich abspielende Vorgänge gefährdet. Ständig haben wir uns eines
unheimlichen Heeres kleinster Lebewesen, die zerstörend auf unser Dasein einwirken, zu erwehren. Der Endausgang dieses hin- und herwogenden Kampfes ist nicht
zu übersehen. Einige Schlachten haben wir in ihm durch erlangtes Wissen über die
Lebensbedingungen unserer Gegner und die sie schädigenden Stoffe zu gewinnen vermocht; in anderen gelang es uns, uns durch Abwehrstoffe, die sich im Laufe der Zeiten
in unserem Organismus gegen die ihn schädigenden Mikroorganismen bildeten, zu
behaupten. Aber die mehr oder weniger gelungene Abwehr der bisherigen Feinde besagt noch nichts über den Endausgang. Die bisherigen können uns, wie wir es in der
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ALBER T SCH WEI TZER
Aufeinanderfolge von Grippeepidemien zu erfahren bekamen, gefährlicher werden,
als sie es vordem waren. Es kann sich auch ereignen, wie dies bereits der Fall war, dass
neue auftreten. + Und ob es dann gelingen wird, uns aller der noch kommenden zu erwehren, bleibt im Dunkel. Das Aussterben der ganzen Menschheit liegt kaum minder
im Bereich des Möglichen als das von Tier- und Menschenrassen, das bereits Tatsache
geworden oder im Gange ist.
Die Menschheit ist wie ein Eiland, dem eine die vorangegangenen um ein Kleines
übertreffende Sturmflut verhängnisvoll werden kann.
In Frage steht überdies nicht nur die Fortdauer von menschlichem Leben, sondern
auch sein Verbleiben auf der erreichten Höhe. In welch furchtbarer Abhängigkeit befindet sich doch das Geistige von dem Physischen. Es beruht auf einer in bestimmter
Weise sich regelnden Funktion der den geheimnisvollen Chemismus unserer Körperkräfte bedingenden Drüsen. Irgendeine Störung in diesem Gleichgewicht, ein Ausfall
oder Zuviel macht aus dem Menschen ein vernunftloses Wesen. Die gleiche grausige
Wirkung kann von Stoffwechselprodukten kleinster in unsern Körper eingedrungenen Lebewesen ausgehen. Wer vermag zu übersehen, was das unseres Wissens erst
in unserer Zeit erfolgte Auftreten von Grippeerregern, die schlafkrankheitsähnliche
Erscheinungen hervorrufen, für die Zukunft der Menschheit bedeutet!+
Welche Bedrohung der Existenz der Menschheit bedeutet es weiterhin, dass die Menschen durch technische Errungenschaften immer mehr instand gesetzt werden, ihresgleichen in Massen zu vernichten und dass sie bisher mit fortschreitender Kultur immer weniger Nachkommenschaft haben! Tierarten und Menschenrassen sind bereits
ausgestorben oder im Aussterben begriffen, weil sie sich einer Veränderung der Lebensbedingungen nicht mehr anzupassen vermochten. Warum sie die Fähigkeit nicht
mehr aufbrachten oder aufbringen, bleibt im letzten Grunde unerklärlich. Es ereignet
sich etwas wie ein Nachlassen der Vitalität. Sollte da, müssen wir fragen, nicht auch
der Fall eintreten können, dass einmal die Vitalität der Menschheit sich überhaupt
erschöpft?
Jedenfalls darf unser Denken nicht so naiv sein, mit dem stetigen Fortbestehen der
Erde in der Welt und der Menschheit auf der Erde als mit etwas Selbstverständlichen
zu rechnen. Eine Weltanschauung, die den Gedanken erträgt, dass der Mensch in der
Welt etwas Vorübergehendes sein könne: Nur diese ist wahrhaft fest. Um in unserem
Denken mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bleiben, müssen wir unseren
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A L B E R T S C H WE I T Z ER
Blick auf den Himmel, auf die Erde und auf die vergitterten Fenster einer Irrenanstalt
gerichtet halten. Auf den Himmel: dass wir gegenwärtig haben, wie klein die Erde in
der Unendlichkeit der Welten ist; auf die Erde: damit wir uns Rechenschaft davon
geben, wie wenig der Mensch auf ihr bedeutet; auf die vergitterten Fenster einer Irrenanstalt: dass wir der furchtbaren Tatsache der Zerstörbarkeit des geistigen Wesens des
Menschen eingedenk bleiben.
(Aus: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben III, dritter und vierter Teil. Werke aus dem Nachlass. München 2000. Seite 40f. Ergänzt in ++ - Einklammerung durch eine Passage aus dem Paralleltext des
ersten und zweiten Teils, Seite 236f.)
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A L B E R T S C H WE I T Z ER
Die Vorstellung des Weltganzen - Verbundenheit
mit allem lebendigen Sein
In dem Maße, als die Vorstellung des Weltganzen wirksam zu werden beginnt, erweitert sich auch der Horizont der Ethik. Statt es nur mit Pflichten des Menschen gegen
den Menschen und die Gesellschaft zu tun zu haben, gelangt sie dazu, mit seinem
rechtem Verhalten mit allem Lebendigen beschäftigt zu sein. Indem sie aber in dieser
Weise universell wird und die Verantwortlichkeit des Menschen gegen alle in seinem
Bereich tretenden Wesen behauptet, hört sie auf, als ein geschlossenes System von
Tugenden und Pflichten begreifbar zu sein.
Von sich aus ist das Bewußtsein des Menschen, mit anderen Wesen solidarisch verbunden zu sein, in Erweiterung begriffen. Solange er in primitiven Verhältnissen lebt
und in primitivem Denken verharrt, sieht er nur seinen nächsten Blutsverwandten
und engeren Stammesverwandten als Seinesgleichen an. Alle anderen Menschenwesen
gelten ihm nichts. Er schädigt und vernichtet sie wie es ihm und seinen Interessen
geboten scheint oder wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Tritt er aus den primitiven Verhältnissen und der primitiven Denkweise heraus, so fängt er an, den Kreis
der Gemeinschaft weiter zu ziehen, und neben der mehr oder weniger individuellen
Verwandtschaft erkennt er die Wesens-Verwandtschaft an. Kommt es im Fortschritte
der Zeiten dahin, dass die Stämme sich zu Völkern zusammenschließen, so gelten ihm
die Angehörigen eines großen Volksganzen als Seinesgleichen.
Aber dies ist nur ein Durchgangspunkt, kein Endpunkt. Bewegt sich der Mensch
einmal in der Vorstellung dieser allgemeinen, in Wesensverwandtschaft begründeten
Verbundenheit mit anderem Leben, so kann er nicht haltmachen, wo er will, sondern
muß den damit betretenen Weg der Verallgemeinerung bis zu Ende gehen. Wagt er,
sich wirklich denkend zu verhalten, so kann er nicht anders, als den Menschen als solchen als Seinesgleichen anzusehen und sich verpflichtet zu fühlen, sich ihm gegenüber
in ethischer [ helfender ] Weise zu verhalten. Aus der Vorstellung der Wesensverwandtschaft entsteht die Idee der Menschheit.
Aber auch die Menschheit ist nicht ein Ende, sondern nur ein Kreis, der in einem noch
größeren liegt.
Legen wir alle Gedankenlosigkeit ab, so können wir nicht bei der Meinung verbleiben, das zwischen uns und den Geschöpfen keine Beziehungen bestehen und dass für
unser Verhalten zu ihnen Gut und Böse nicht gelten. Dass wir mit ihnen empfinden
und an ihrem Wohl und Wehe teilnehmen, kommt uns dann nicht mehr als ein zu
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ALBER T SCH WEI TZER
unterdrückender Gefühlsüberschwang, sondern als etwas in unserem Wesen natürlich
Gegebenes vor. Es geht uns auf, dass wir diesem Empfinden freien Lauf lassen müssen;
noch mehr, dass wir suchen müssen über es ins Klare zu kommen und es in seiner
ganzen Tragweite zu erfassen. Unternehmen wir dies, so geht uns auf, dass sich unsere
Verbundenheit mit der Kreatur nicht auf Geschöpfe, die mit uns leben und unser
Dasein teilen beschränken läßt. Wie sich innerhalb der Menschheit keine Grenze der
Wesensgemeinschaft zwischen Mensch und Mensch feststellen läßt also auch nicht
innerhalb der Kreatur zwischen Geschöpf und Geschöpf. Das ernsthafte Besinnen auf
unser Verhalten zur Kreatur führt notwendig zu dem Ergebnis, dass wir uns unserer
Verbundenheit mit allem lebendigen Sein bewußt werden. Naturgemäß ist unser Mitempfinden um so unmittelbarer und lebhafter, je näher die Wesen uns ihrer Art und
ihrem Erleben nach stehen. Aber auch zu dem Leben, dass von dem unserigen weit
abliegt, vermögen wir uns, wenn wir einmal der Gedankenlosigkeit entronnen sind,
nicht unfühlend zu verhalten. Mögen wir von seinen Regungen noch so wenig verstehen, so wissen wir doch, dass in ihm Wille zum Leben und Sehnsucht nach Glück ist
wie in uns, und dass ihm Leiden und Vernichtung beschieden sind wie uns. Mit allem,
was lebt, sind wir durch Wesens-Verwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft verbunden. Wahre Ethik verlangt, dass wir nicht nur uns nahestehendes Leben, sondern alles
Leben, dass in unsren Bereich tritt zu erhalten und zu fördern suchen. Alles Leben ist
Geheimnis; alles Leben ist wert.
Erst wenn die Lebensanschauung sich zu dieser Erkenntnis erhoben und in ihr Bezogenheit auf die Welt erreicht hat, kann sie es unternehmen, sich mit der Anschauung
von der Welt auseinander zu setzen und sich in ihr begreifen zu wollen. Erst wenn er
seine Verbundenheit mit allem Lebendigen anerkennt und betätigt, besitzt der Mensch
wahres Menschentum.
Wie das Wasser in unaufhaltsamem Laufe dem Gefälle folgend zum Meere gelangt,
also wird der Mensch in einfachstem sachlichem Überlegen über alle Grenzen, die er
innerhalb der Menschheit und innerhalb der Kreatur ziehen möchte, hinausgeführt
und zur Anerkennung seiner Verbundenheit mit allem lebendigen Sein genötigt.
(Aus: Kultur und Ethik in den Weltreligionen.
Werke aus dem Nachlass. C.H.Beck-Verlag. München 2001. S.179f.)
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A L B E R T S C H WE I T Z ER
Ehrfurcht vor dem Leben in der
Überlebenskrise heute
Günter Altner
Kein Jahrhundert hat das Bedürfnis nach der Ehrfurcht vor dem Leben so sehr empfunden und beschworen wie das gerade zu Ende gegangene 20. Jahrhundert. Aus den
furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege hervorgegangen, wurden die Jahre des internationalen Wiederaufbaus und des technisch-industriellen Fortschritts bald von der
globalen ökologischen Krise überschattet. Und damit war auf vielfältige Weise der Ruf
nach der Ehrfurcht vor dem Leben verbunden. Auf den großen internationalen Umweltkonferenzen, nicht zuletzt auf der Weltkonferenz in Rio de Janeiro 1992, wurde
die gemeinsame Verantwortung für das Leben auf der Erde beschworen. Dort heißt
es: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen und innerhalb von Völkern, eine immer
größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine
fortschreitende Schädigung der Ökosysteme.“ Und in der Präambel des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt“ wird die Erhaltung
der biologischen Vielfalt „ in theologischer, genetischer, sozialer, wirtschaftlicher, erzieherischer, ästhetischer und kultureller Hinsicht“ mit einem geradezu überbordenden Wortreichtum beschworen. Verglichen damit ist die Erklärung des Parlaments der
Weltreligionen von 1993, die zur Achtung vor dem Leben aller Kreaturen aufruft, fast
zurückhaltend formuliert.
So wäre also die von Albert Schweitzer 1915 auf den Weg gebrachte Botschaft der
Ehrfurcht vor allem Leben inzwischen bei allen Menschen angekommen und zum
Gemeingut aller Völker und Kulturen geworden? Es handelt sich wohl eher um eine
Krisenansage. Gleichzeitig erahnen wir, was uns da unter dem Druck lebensfeindlicher
Interessen zwischen den Fingern zu entrinnen droht. Das Menetekel der Überlebenskrise ist durchwirkt von der schmerzlichen Verlusterfahrung einer unermesslich reichen
Lebenswelt. Ob wir sie unter dem Blickwinkel der Astronauten als blauen Planeten
wahrnehmen oder von den Reiseerfahrungen ausgehen, die Millionen von Touristen
aus den reichen Ländern machen, immer ist die Erde auf eine begeisternde Weise die
Heimat des Lebens und damit auch die Heimat der Menschen: einmalig, kostbar,
nützlich, auf vielfaltige Weise vernetzt, verletzbar und in allem bewahrenswert.
Noch nie wurden wir der Geheimnisse und Schönheiten der Schöpfung so tiefge-
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ALBER T SCH WEI TZER
hend ansichtig, wie es heute mit Hilfe der modernen Medien und Aufnahmetechniken möglich ist. Ob wir die Wale singen hören oder die Fledermäuse auf ihrem
Zickzackflug begleiten - in der Begeisterung darüber sind wir mit den Lobpreisungen
der Schöpfung in den alten Bibeltexten elementar verbunden: „ Die Erde ist voll von
deinen Geschöpfen. Da ist das weite, unermessliche Meer, darin wimmelt es von Lebewesen... Schiffe ziehen dort ihre Bahn“ ( Ps 104 ).
Anlass zur Ehrfurcht ist die Erde aber auch darin, dass sie uns trägt und nährt. Von
den frühen Jäger- und Sammlerkulturen bis hin zu den modernen Formen des Landbaus schenkt uns die Erde, was wir brauchen. Die allerdings nur dann, wenn wir die
Formen unseres Anbaus von der Achtung vor dem Leben bestimmen lassen: nicht
Ausbeutung, sondern pflegliche Nutzung!
Ehrfurcht vor dem Leben ist also Begeisterung, ist Leidenschaft für die Vielfalt und für
das ganze der Schöpfung, Erntedank, aber auch Leidenschaft in der Freude über mein
eigenes Leben-dürfen, über mein Teilhaben am Leben. Albert Schweitzer umreißt das
Gebot zur Ehrfurcht vor dem Leben mit dem Satz: „Ich bin Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.“ In meinem Lebenswillen, in meinem Hängen
am Leben werde ich des Geheimnisses meines, aber auch alles anderen Lebens gewahr.
Aber dort, wo diese fundamentale Vorgabe, dass das Leben mir zugewendet und eröffnet ist, zerbricht und ich in Verzweiflung stürze, dort greift der suizidale Zwang der
Selbstzerstörung um sich. Wie stark muss dieser Impuls zur Lebenshoffung doch sein,
dass selbst bei denen, die auf den Abfallhalden des Lebens von heute elend vegetieren
müssen und Grund zu tiefster Verzweiflung hätten, der Wille zum Leben nicht verlöschen will.
Der tiefere Grund der Ehrfurcht vor dem Leben ist also „Lebens- und Weltbejahung“.
Ein Ja, das mir zugesprochen wurde, ehe ich antworten konnte. Ein Ja, das durch die
unendlich vielen Schritte der allgemeinen Schöpfungsgeschichte, die vorausgingen,
vermittelt ist. Ein Ja, das in der Beschaffenheit meines Körpers und in den Strukturen
meines Bewusstseins Fleisch geworden ist. Ein befreiendes, ein zum Leben befähigendes Ja.
Aber, warum ist dieses Ja der Ehrfurcht vor dem Leben heute in der Überlebenskrise
so schrecklich schwach, obwohl es doch, wie wir gehört haben, von allen beschworen
wird, von den Religionen, von den christlichen Kirchen, von den Umwelt- und Tierschützern, auch von den Industrieleuten und Staatsmännern und in den von ihnen
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A L B E R T S C H WE I T Z ER
formulierten Verträgen? Es ist kein ehrliches Ja, das wir da hören, vielmehr ein Ja, das
wir unter den Bedingungen unserer Interessen gestellt haben. Denken wir doch an das
Interessengezerre auf den Weltklimakonferenzen! Oder an die aggressive Bedenkenlosigkeit, mit der sich die Massenautomobilisierung bei uns und andernorts immer
noch ausweitet. Das Ansteigen der Spritpreise ist uns nur Anlass zu wehleidigem Gewimmer und zu kurzsichtigen Protesten. Wen interessiert es denn ernstlich, ob unsere
Kinder und Enkel noch gesunde Wälder oder ein einigermaßen stabiles Klima haben?
Und werden sie zu essen haben, wenn wir in den knapper werdenden Anbaugebieten
weiter so Raubbau betreiben wie bisher? Das alles ist keine Kultur der Ehrfurcht vor
dem Leben. Hier drückt man sich um die Frage nach der sozialen und ökologischen
Verträglichkeit des neuzeitlichen Fortschritts herum.
Die heutige Ehrfurchtsverweigerung hat viele Wurzeln. Sie hängt mit der Geistesgeschichte Europas, aber auch mit mehr oder weniger bewussten aktuellen Denk- und
Handlungszwängen zusammen. Der Psychotherapeut Horst-Eberhard Richter hat
schon in den siebziger Jahren dem modernen Bewusstsein einen „Gotteskomplex“bescheinigt. Das zu Beginn der Neuzeit von der Bindung an Gott frei gewordene menschliche Bewusstsein habe sich in eine zwanghafte Selbstübersteigerung - gewissermaßen
die eigene Endlichkeit überspielend - hineinphantasiert und sich so eine quasi-göttliche Unermesslichkeit, einen infantilen Größenwahn zugelegt. Also eine Majestätserschleichung mit schlimmen Folgen für die dem Menschen anvertraute Lebenswelt!
Der Amerikaner Al Gore, der als junger Senator einen von parteipolitischen Interessen
freies Umweltbuch mit dem Titel „Wege zum Gleichgewicht“ verfasst hatte, hat wohl
damals den Kern der neuzeitlichen Bewusstseinsverhärtung am besten charakterisiert.
Er spricht von der lebensfeindlichen Einsamkeit des neuzeitlichen Bewusstseins, von
seinem „Eingeschreintsein“ in egoistische Habenzwänge:
„Wir schließen das Selbst als die Einheit von ethischem Wert in einen Schrein ein,
nicht bloß getrennt von der Natur, sondern auch getrennt von jedem Gefühl der Verpflichtung gegenüber anderen und nicht bloß anderen in künftigen Generationen,
sondern zunehmend auch anderen in unserer eigenen Generation; und nicht bloß
denen in fernen Ländern, sondern mehr und mehr auch denen in unseren eigenen
Städten.“
Das Evangelium der Christen spricht von der Hartherzigkeit, mit der Menschen, obwohl sie leben, dem Tod verfallen sind. Was aber würde geschehen, wenn wir zu leben
wagten, wenn wir es wagten, dem durch die Ehrfurcht vermittelten Ja zu vertrau-
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ALBER T SCH WEI TZER
en und uns zu öffnen. Wenn die Ehrfurcht im Bewusstsein des von ihr berührten
Menschen Lebens- und Weltbejahung auslöst, macht sie eine Befreiungserfahrung, die
weit über den eigenen Bereich hinausgeht und den Mitmenschen und die Mitkreatur
einschließt. Der enge, krankmachende Schrein ist gesprengt, und die dadurch ermöglichte Befreiungserfahrung ist die Voraussetzung für die Zuwendung zum Mitleben.
Albert Schweitzer charakterisiert diesen Befreiungsprozess so:
„In dem Maße, als sie ethisch wird, wird die Lebens- und Weltbejahung wissend über
sich selbst. Erst durch die Ethik, die sich der Nötigung nicht entzieht, teilnehmendes
Verhalten zur Kreatur zu fordern, erlangt die Weltbejahung die wahre Weite.“
Ehrfurcht vor dem Leben ist eine Fundamentalerfahrung im Blick auf mein Bewusstsein und das mir zugeeignete Leben, aber sie wird real erst in dem Augenblick, in dem
sie sich öffnet und das Mitleben ausnahmslos mit einbezieht. Es geht um das Wirksamwerden einer Nötigung, die zu praktischer Ehrfurcht gegenüber Mitmenschen
und Mitkreaturen führt. In der so beschriebenen Ehrfurcht liegt eine Erfahrung, die
sich durchaus mit dem von Luther beschriebenen Vorgang der Befreiung des sündigen
Menschen durch die Gnade Gottes berührt. Nur, dass der Horizont der durch die
Ehrfurcht eröffneten Handlungsperspektive weit über die Menschenwelt hinaus in die
ganze irdische Lebenswelt hineinreicht und diese umschließt.
Aus der Dynamik dieser Horizonterweiterung ließen sich wahre Wunder des Lebens
vollbringen, nicht nur persönliche, sondern auch in kritischer Auseinandersetzung mit
der Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Politik. Ehrfurcht vor dem Leben wäre also
auf vielen Ebenen zu praktizieren: in der elementaren Mensch-Mensch- und MenschKreatur-Beziehung. Bei der Entwicklung von Technik, die nun nicht mehr auf Ausbeutung, sondern Koproduktion mit dem Lebenszusammenhang ausgelegt wäre. Bei
der Bewirtschaftung von Natur in der Land- und Forstwirtschaft, aber ebenso auch
in der Sekundärproduktion auf allen Feldern der Warenherstellung. Insgesamt ginge
es um eine Kultur der Nachhaltigkeit, die darum bemüht wäre, die Lebensbedürfnisse aller miteinander existierenden Lebensformen so abzustimmen, dass auf Dauer
für alle Existenzmöglichkeiten bestehen. Also keine Ausbeutung, die zur Verwüstung
und zum Zusammenbruch führte. Der Philosoph Klaus-Michael Meyer-Abich sagt zu
Recht: „Nachdem wir die Landwirtschaft industrialisiert haben, stehen wir nun vor
der Aufgabe, die Industrie zu verlandwirtschaftlichen.“
Man hat der Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben unterstellt, dass sie mit ihrer Absicht,
alles Leben fördern und erhalten zu wollen, in ausweglosen Entscheidungsprozessen
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A L B E R T S C H W E I T Z ER
stecken bleiben müsse. Bei dieser Kritik wird übersehen, dass die Grundeinstellung der
Ehrfurcht vor dem Leben bei prinzipieller Hochschätzung aller Lebensformen gerade
zu einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Lebensbedürfnisse anleitet. Es
ist die Ehrfurcht, die für die Verschiedenheit der kreatürlichen Bedürfnisse sehend
macht. Letztendlich geht es um die faszinierende Aufgabe, am Netz des Lebens, wie es
sich aus einer langen Werdegeschichte ergeben hat, in aller Behutsamkeit so weiterzustricken, dass neue Muster der Schöpfung Gestalt gewinnen können. Die christlichen
Kirchen stehen dabei vor der fundamentalen Aufgabe, den tieferen Ursprung der Ehrfurcht, die Herkunft jenes allem Geschehen vorausgehenden Ja so unmissverständlich
anzusagen, dass sie vor jedem Kleinglauben und vor jeder Austrocknung durch neurotische Habenzwänge bewahrt bleiben.
[Aus: Lebenswerte. Orientierung im Wandel der
Welt. Hrsg. Klaus Möllering und Ulrich Behlau.
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2001, S. 275281. Mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Verlagsanstalt.]
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PROF.DR.DR. GÜNTER ALTNER, geb. 1936,
ist Theologe und Biologe. Bis 1999 Professor für
evangelische Theologie an der Universität Koblenz.
Mitbegründer des Öko-Instituts Freiburg.
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Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben
Von Albert Schweitzer zur Erd-Charta
Andreas Lienkamp
Die im März 2000 veröffentlichte Erd-Charta bietet ein Konzept für eine nachhaltige Entwicklung und will zugleich einen weltweiten Dialog über gemeinsame Werte
fördern. Einer der zentralen Werte und „Tugenden“ in diesem Dokument ist die Achtung bzw. Ehrfurcht vor dem Leben. Damit greift die Erd-Charta unverkennbar auf
den Theologen und Philosophen Albert Schweitzer zurück, der den Begriff geprägt
und eine darauf basierende Ethik universaler Verantwortung entworfen hat. Eine von
Schweitzer ausgehende Spurensuche zeigt, dass die Ethik der Achtung bzw. Ehrfurcht
vor dem Leben nicht erst in der Erd-Charta, sondern zuvor schon in (umwelt-) ethischen Veröffentlichungen der christlichen Kirchen in Deutschland sowie in der von
Vertreterinnen und Vertretern der Weltreligionen 1993 verabschiedeten „Erklärung
zum Weltethos“ rezipiert und modifiziert wurde. Dabei werden interessante Konvergenzen, aber auch Akzentverschiebungen gegenüber dem Werk Schweitzers sichtbar.
The Earth Charter, published in March 2000, offers a conception for a sustainable
development and at the same time wants to promote a global dialogue about common
values. One of the main values and “virtues” in this text is respect or reverence for life.
Using this expression the Earth Charter obviously refers to the theologian and philosopher Albert Schweitzer who coined the term and for the first time depicted an ethics
of universal responsibility based on it. Looking at the traces starting with Schweitzer
it is clearly visible that the ethics of respect or reverence for life was adopted and modified by documents on (ecological) ethics of Christian churches in Germany and by
the “Declaration toward a Global Ethic” endorsed by representatives of the world’s
religions in 1993, several years before the Earth Charter was published. Interesting
convergences as well as shifts of emphasis compared with the work of Schweitzer become apparent.
Schlüsselbegriffe: Albert Schweitzer, Achtung, Ehrfurcht, Nachhaltige Entwicklung,
Erd-Charta
Keywords: Albert Schweitzer, respect, reverence, sustainable development, Earth
Charter
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
Basistugenden nachhaltiger Entwicklung
„Bitte zeigen Sie Respekt für die Erde – betreten Sie die Weltkarte nur ohne Schuhe!“
So lautete die Aufforderung am Rande einer zweidimensionalen, begehbaren Darstellung unseres Planeten – zu sehen im Rahmen der Luftbilder-Schau „Die Erde von
oben“ des Fotografen Yann Arthus-Bertrand. Nicht wenige – keineswegs alle – folgten
dem Aufruf zu dieser symbolischen Geste. Die Veranstalter wollten mit ihrer Bitte
ganz offenbar auf die „Heiligkeit“, aber auch die Verletzbarkeit unseres Planeten aufmerksam machen, denn schon in biblischen Zeiten galt es als Ausdruck der Ehrfurcht,
an heiliger Stätte die Schuhe abzulegen .
Szenenwechsel. Im September 2001 richteten die Evangelische Akademie Mülheim,
die Ökumenische Initiative Eine Welt, der Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland sowie das Ethik-Komitee des International Network of Engineers and
Scientists for Global Responsibility eine international besetzte Fachtagung aus, bei der
die „Erd-Charta“ einem größeren Publikum vorgestellt und in die politische Diskussion eingebracht wurde. Während dieser Veranstaltung lud der Buddhist Paul Köppler
unter dem Motto „Wir geben der Erde unsere Füße“ zu einem meditativen Gang
durch den Park ein, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten wurden,
schweigend, langsam und mit Bedacht Schritt für Schritt zu tun und dabei besonders
behutsam zu gehen, die Erde also nicht mit Füßen zu treten, sondern ihr die Hände
bzw. die Füße zu reichen (GARRITZMANN 2001).
In beiden Szenen geht es um Achtung und Ehrfurcht vor der Erde und vor dem Leben auf ihr, dem jetzigen und künftigen, sowie um Sensibilisierung und praktische
Einübung in diese Haltungen. Aber, so lässt sich fragen, reichen solche gut gemeinten
pädagogischen Akzente, reicht ein Bewusstseins- und Lebensstilwandel selbst vieler
Einzelner aus, um die notwendige Wende im Umgang mit dem vielfältig bedrohten
menschlichen und nichtmenschlichen Leben herbeizuführen?
Sustainable Development, so die spätestens seit dem Erdgipfel von Rio des Janeiro
(1992) international etablierte umweltethische und politische Zielvorgabe (LIENKAMP 2000b), bedarf unbestreitbar nicht nur eines veränderten Bewusstseins, sondern auch geeigneter Normen, Institutionen, Verfahren und Strukturen, die eine
nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Damit aber nicht genug. Es braucht eben
auch Subjekte, Initiativen, Bewegungen und Organisationen, die sie tragen und die
nicht nachlassen, ihnen – entgegen neoliberalen und umweltvergessenen Trends – zur
Durchsetzung zu verhelfen. Dazu wiederum sind nicht nur strategisch-taktische, technisch-instrumentelle, phronetisch-kreative und sozial-kommunikative Fähigkeiten
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
vonnöten, sondern auch entsprechende Tugenden, also aus Werten gespeiste und in
der Praxis bewährte „feste Grundhaltungen“ (Aristoteles) , die dem Handeln individueller und kollektiver Akteure erst Ausdauer, Kraft, Richtung, Authentizität und damit
Glaubwürdigkeit sowie – im Falle zugrunde liegender universalisierbarer Werte – auch
Moralität verleihen (können).
Dass sich auch Tugenden als moralische ausweisen müssen, dass es demnach auch unmoralische Tugenden gibt, wirkt zwar auf den ersten Blick wie eine Contradictio in adjecto, gilt doch Tugend (im Singular) als Inbegriff des Strebens nach dem sittlich Guten. Der Hinweis auf bürgerliche, preußische oder militärische Tugenden (im Plural)
mag jedoch als Beleg für die Ideologieanfälligkeit des Tugendbegriffs genügen. Dass
die Tugenden Achtung bzw. Ehrfurcht vor dem Leben hingegen die Universalisierbarkeitsprüfung bestehen, kann man leicht selbst anhand des Kant‘schen Kategorischen
Imperativs in seiner formalen Fassung testen: „Handle so, dass die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Wenn in diesem Beitrag Achtung bzw. Ehrfurcht vor dem Leben als Basistugenden
nachhaltiger Entwicklung entfaltet werden, so wird damit ökologische Ethik keinesfalls auf eine Tugendlehre reduziert. Vielmehr gilt es, die Dialektik von (ökologischer)
Individual- und Sozialethik in ihrer Vernetzung und gegenseitigen Verwiesenheit
wahr- und ernst zu nehmen. Gründe dafür, dass die Tugendethik in den letzten Jahren
eine Renaissance erlebte, liegen in einer ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ der Verhältnisse
sowie in dem Versuch, deren vielfach überfordernde Komplexität auf ein handhabbares Maß zu verringern. Dies geschieht etwa durch eine Verlagerung der Ethik weg von
den sozial-strukturellen Problemen (z.B. der Wirtschaftordnung) hin zu den relativ
überschaubaren Fragen individueller Haltungen und persönlicher Lebensstile. Eine
solche Reduktion der Ethik wird jedoch den tatsächlichen Problemkonstellationen
nicht gerecht. Darum sei ausdrücklich betont, dass nicht „konservativ-resignative Kapitulation vor der Komplexität ethischer Urteilsbildung in der Moderne“ (WILS U.
MIETH 1992, 182) die nachstehende ‚tugendethische‘ Reflexion leitet, sondern die
Überzeugung, dass eine ökologische Sozialethik der Nachhaltigkeit der Ergänzung
(nicht der Ersetzung) durch eine Ethik flankierender basaler Haltungen – wie insbesondere der Achtung bzw. Ehrfurcht vor dem Leben – bedarf.
Nach einer kurzen Begriffsklärung versuche ich darum im Folgenden, ausgehend von
Albert Schweitzer (1875-1965), der den Terminus der „Ehrfurcht vor dem Leben“
wirkmächtig geprägt und eine entsprechende Ethik wohl erstmals entworfen hat , eine
Brücke zu schlagen zu neueren Dokumenten der christlichen Kirchen in Deutschland, dem Projekt Weltethos sowie zu der im März 2000 veröffentlichten Erd-Charta
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
– Texte, die zum Teil explizit, zum Teil implizit auf Schweitzers ethische Konzeption zurückgreifen. Mit dieser Spurensuche geht es darum, den keineswegs beliebigen
Ursprungskontext der „Ehrfurcht vor dem Leben“ in Erinnerung zu rufen, der über
dem beinahe inflationären Gebrauch des Ausdrucks in Vergessenheit zu geraten droht.
Darüber hinaus geht es aber auch um den Ausweis bislang kaum registrierter Konvergenzen, die die Bildung neuer Koalitionen und ein gemeinsames Handeln erleichtern
könnten .
Ehrfurcht – zum Begriff
In seiner Studie „Die verlorene Ehrfurcht“ geht Gerhard Marschütz der These nach,
dass in der Moderne nicht nur das Wort, sondern auch die damit charakterisierte Haltung weitgehend abhanden gekommen sei. „Man betrachtet die Ehrfurcht weithin als
ein altmodisches und verstaubtes Wort, das in unsere moderne Zeit nicht hineinpasst
und deshalb zu Recht verloren gegangen ist“ (MARSCHÜTZ 1992, 1f.). Dass dem
keineswegs so ist, will der vorliegende Beitrag zeigen.
‚Ehrfurcht‘ verstehe ich hier mit Gerhard Mertens als „eine Grundeinstellung, die es
mit dem Achtbaren, Bewundernswürdigen und zugleich Verletzlichen zu tun hat, das
es gegebenenfalls vor drohenden Übergriffen zu schützen gilt“ (MERTENS 1998,
529). Ein Blick auf das Wortfeld lässt drei Dimensionen hervortreten: eine sinnlich-ästhetische (Staunen, Bewunderung), eine ethische (Achtung, Achtsamkeit, Beachtung,
Respekt, Rücksichtnahme, Bejahung, Anerkennung, Hochachtung, Wertschätzung)
und eine religiös-kontemplative (Scheu, Verehrung, Ehrerbietung, Pietät, Frömmigkeit, Demut) (ebd., 531ff.). ‚Furcht‘, der zweite Bestandteil des Kompositums, ist dabei nicht im Sinne von Angst, sondern als Scheu bzw. Zurückhaltung zu verstehen
(MARSCHÜTZ 1995, 512). Objekt der Ehrfurcht kann alles sein, was als wertvoll
angesehen oder erfahren wird. Sie kann sich auf Gott bzw. das Heilige, die Mitmenschen, die eigene Person sowie die außermenschliche – biotische und abiotische – Natur beziehen.
In der Bibel sind es Gott und Jesus Christus, ‚große‘ Menschen, wie Propheten, Priester, Könige, aber auch die Eltern, Großeltern bzw. allgemein alte Menschen, denen
gegenüber man sich ehrfürchtig verhalten soll. Über Gott und Mensch hinaus fällt
auf, dass auch die Gebote selbst, also die religiös-sittlichen Weisungen Gottes, mit
Ehrfurcht zu behandeln sind . Hingegen wird die außermenschliche Natur zwar als
Gottes gute Schöpfung gepriesen, trotz der Aufforderung zu einem haushälterischen
und sorgenden Umgang mit ihr (Genesis 2,15) aber nicht mit der Aufforderung zur
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
Ehrfurcht belegt. Angesichts dieses Befundes überrascht es, dass der Theologe und Bibelwissenschaftler Albert Schweitzer den für sein Werk grundlegenden Imperativ der
„Hingebung an Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben“ (SCHWEITZER 1996, 328)
auf das nichtmenschliche Leben ausweitet. Wie kam es dazu?
Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
„Albert Schweitzer ist vielen Menschen heute noch als jemand bekannt, der seine wissenschaftliche Karriere in Europa aufgab, um in Afrika ein Spital zu gründen. Als
der gutmütige ‚Urwalddoktor‘ wurde er berühmt – und doch zugleich verharmlost“.
Denn Schweitzer, so Harald Schützeichel weiter, habe mit seinem Krankenhaus nicht
nur ein Zeichen der Humanität setzen wollen. „Sein Anliegen reicht tiefer: Zeit seines
Lebens bemühte er sich im Denken und Handeln um die Lösung der grundlegenden Frage, wie der Mensch seiner Verantwortung gegenüber seinem eigenen Leben
wie auch gegenüber den vielfältigen anderen Lebensformen auf dieser Erde gerecht
werden könne.“ (SCHÜTZEICHEL 1994, 7) Mit dem zweiten Aspekt dieser Frage, der von Ausnahmen abgesehen „völlig außerhalb des Blickfeldes abendländischer
Ethik“ lag, betritt Albert Schweitzer Neuland philosophischen und ethischen Denkens
(MERTENS 1998, 529). „Die Idee der Menschheit ist nur das Mittelgebirge, hinter
dem sich das Hochgebirge der Idee der Zusammengehörigkeit aller Wesen erhebt“
(SCHWEITZER 1999, 218).
Der 1875 im (damals deutschen) Elsass geborene Schweitzer ist ein vielseitig gebildeter
Wissenschaftler. Seine Studien in Straßburg, Berlin und Paris schließt er mit Promotionen in Philosophie, evangelischer Theologie und Medizin sowie mit einer theologischen Habilitation ab. Insbesondere das historische Leben Jesu und die Botschaft vom
Reich Gottes als einer gegenwartsrelevanten und vom Menschen mitzugestaltenden
Größe faszinieren ihn. Daneben ist er ein bedeutender Kulturforscher, Bachinterpret
und Schriftsteller. „Aber was immer Schweitzer in seiner Vielseitigkeit war, sein Leben
hat eine alles zusammenbindende Mitte: Ehrfurcht vor dem Leben“ (GRÄßER 1999,
675). 1913 gründet Schweitzer in Lambaréné in Französisch-Äquatorialafrika, dem
heutigen Gabun, ein erstes Spital, 1924 dann an gleicher Stelle – nach zeitweiliger
Internierung als ‚feindlicher Ausländer‘ in Frankreich – ein größeres Krankenhaus,
in dem er selbst, immer wieder zwischen Europa und Afrika pendelnd, über 30 Jahre
lang wirkt. „Sein Dienst als Arzt unter den Bewohnern des tropischen Urwalds in
Zentralafrika ist existentielle Konkretion dieses Postulats einer Humanität, die er als
konsequente Erweiterung und säkulares Äquivalent des Liebesgebots Jesu verstanden
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
wissen wollte“ (HILPERT 2000, 337).
Angesichts des beginnenden Ersten Weltkriegs sieht Schweitzer seine These vom Niedergang der geistigen und ethischen Kultur bestätigt: „Nunmehr hatte ich es mit der
fundamentalen Frage zu tun, wie eine Dauer habende, tiefere und lebendigere ethische
Kultur aufkommen könne. Die Genugtuung, das Problem erkannt zu haben, hielt
nicht lange an. Monat auf Monat verging, ohne dass ich in seiner Lösung auch nur
um einen Schritt vorangekommen war. Alles, was ich aus der Philosophie über Ethik
wusste, ließ mich im Stich.“ (SCHWEITZER 1994, 50)
Auf dem 200 Kilometer langen Flussweg zu einer Patientin hat er dann im September
1915 auf dem Ogowe die lebensprägende Intuition (SCHWEITZER 1994, 51): „Auf
einer Sandbank, zur linken, wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben
Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner großen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich
auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’, das ich, so viel ich weiß, nie gehört und nie
gelesen hatte. Alsbald begriff ich, dass es die Lösung des Problems, mit dem ich mich
abquälte, in sich trug. Es ging mir auf, dass die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis
zu den anderen Menschen zu tun hat, unvollständig ist und darum nicht die völlige
Energie besitzen kann. Solches vermag nur die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben.
Durch sie kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserem
Bereich befindlichen Kreatur in Beziehung zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen
in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen. [...] Ich konnte es nicht fassen, dass
mir der Weg zur tieferen und stärkeren Ethik, den ich vergebens gesucht hatte, wie im
Traum offenbar geworden war“. Der Ethik Schweitzers liegt damit ein spirituelles, um
nicht zu sagen ein Offenbarungserlebnis zu Grunde, ein Ergriffensein vom „Schauer
des Geheimnisses“, die mystische Erfahrung der geheimnisvollen Verbundenheit alles
Lebendigen – eine Erfahrung, die keineswegs einem elitären Zirkel vorbehalten ist,
sondern schon kleinen Kindern bei ihrer ersten Naturbegegnung vermittelt werden
könne (SCHWEITZER 1994, 129). Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich Schweitzer ausdrücklich zu einem „Vertrauen in das vernunftmäßige Denken“ (ebd., 99) bekennt und eine
betont rationale Ethik entwickelt.
Im selben autobiographischen Text, in dem er die Entstehung seiner Lehre von der
Ehrfurcht vor dem Leben nachzeichnet, fällt dann auch der „Zentralsatz seiner Ehrfurchtsethik“ (GRÄßER 1999, 679): „Die fundamentale Tatsache des Bewusstseins
des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben
will‘“ (SCHWEITZER 1994, 51). In diesem Diktum sieht Gerhard Mertens „die
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
unmittelbare Evidenzerfahrung“, die Schweitzer „der intellektuellen Cartesianischen
Selbsterfahrung des ‚cogito ergo sum‘ kontrapunktisch entgegenstellt“ (MERTENS
1998, 530). Dem „armseligen, willkürlich“ vom denkenden Ich ausgehenden Ansatz
René Descartes (1596-1650) (SCHWEITZER 1996, 330), seiner dualistischen Unterscheidung von Bewusstsein (res cogitans) und Materie (res extensa) sowie seiner
Theorie vom lebendigen Organismus als einer Maschine – Tiere sind für ihn Automaten ohne Empfindung – setzt Schweitzer den sozial und ökologisch immer schon
eingebundenen, denkenden und aktiv (mit-) fühlenden Menschen gegenüber, der an
der Geheimnishaftigkeit des Lebens trotz aller naturwissenschaftlichen Durchdringung und Entzauberung ehrfürchtig festhält und alles Leben als heilig betrachtet. Biographisch wie logisch steht am Beginn dieses ethischen Denkens die ‚compassion‘,
das Mitleid oder besser: das Mitempfinden. Der ethische Geist, so Schweitzer in seiner
Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises, sei „zu der Einsicht gelangt, dass das
Mitempfinden, in dem die Ethik wurzelt, seine rechte Tiefe und Weite nur hat, wenn
es nicht einzig auf Menschen, sondern auf alle lebendigen Wesen geht. Neben die
bisherige, der letzten Tiefe und Weite und Überzeugungskraft ermangelnde Ethik ist
die Ehrfurcht vor dem Leben getreten und findet Anerkennung“ (SCHWEITZER
1997, 124).
Schweitzers neuartiger erkenntnistheoretischer Ansatz hat massive Auswirkungen auf
die Grundlegung seiner Ethik, die er als das „Suchen nach einem in sich begründeten
Grundprinzip des Sittlichen“ versteht (SCHWEITZER 1996, 117f.), sowie auf die
von ihm vorgenommene Neubestimmung von Gut und Böse. Kriterium dafür ist,
ob und inwieweit das jeweilige Handeln der „Hingebung an Leben aus Ehrfurcht
vor dem Leben“ entspricht. Der denkend gewordene Mensch erlebe die Nötigung,
„allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen,
wie dem seinen. Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm, Leben
erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Als
böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist
das denknotwendige, universelle, absolute Grundprinzip des Ethischen“ (SCHWEITZER 1994, 52). Kants kategorischer Imperativ, der in seiner materialen Fassung die
unbedingte Achtung vor der Würde des Menschen, vor seiner Selbstzwecklichkeit einfordert , wird hier aus seiner anthropozentrischen Enge befreit und auf alles Lebende
erweitert: „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt“
(SCHWEITZER 1996, 332).
Auch bei Schweitzer handelt es sich dabei (wie bereits angedeutet) keineswegs bloß um
eine Intuition – dies scheidet ihn eindeutig vom Irrationalismus, etwa der materialen
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
Wertethik (GÜNZLER 1990) –, sondern um eine im Erleben und Denken erkannte
und anerkannte Pflicht (SCHWEITZER 1994, 40). Günzler charakterisiert deshalb
Schweitzers Ethik, m.E. sehr treffend, auf der Grundlegungsebene als eine naturbezogene, biophile Vernunftethik und auf der Handlungsebene als eine motivationale Haltungsethik (GÜNZLER 1996, 87, 119, 144f.). „Der Unterschied zu allen Irrationalismen liegt darin, dass diese von Anfang an auf emotionale Zugänge zur Wirklichkeit
bauen, während Schweitzer das rationale Denken bis zu seiner Grenze ausloten möchte und erst dann über diese Grenze hinaus in das Erlebnishaft-Arationale vorstoßen
will, um die Beziehung zwischen Ich und Universum ‚lebendiger’ zu erfassen, als es die
pure Rationalität vermag. In diesem Sinne versteht er Mystik als Denkmystik, eben
‚die durch den Rationalismus hindurchgegangene Mystik’.“ (GÜNZLER 1996, 104)
„Er [der wahrhaft ethische Mensch] fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als
wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume
ab, bricht keine Blume und hat Acht, dass er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer
nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe
Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht.
Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf
verirrt hat, so bedenkt er, dass er in der Sonne vertrocknen muss, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem
todbringenden Steinigen hinunter ins Gras. Kommt er an einem Insekt vorbei, das in
einen Tümpel gefallen ist, so nimmt er sich die Zeit, ihm ein Blatt oder einen Halm
zur Rettung hinzuhalten.“ (SCHWEITZER 1996, 331f.)
Die biblische Begründung für diese Haltung liegt für Schweitzer einerseits im Liebesgebot und andererseits in der Selbstidentifikation Jesu mit dem Kleinen und Unscheinbaren, die in der Gerichtsrede zum Ausdruck kommt (Matthäus 25) und die
der Neutestamentler – ebenso wie das Gebot der Nächstenliebe – über die Menschheit
hinaus auf alle Geschöpfe ausdehnt, ein Schritt, der für ihn einer Revolution gleichkommt (SCHWEITZER 1997, 95, 97, 156). „‚Was ihr getan habt einem dieser Geringsten, das habt ihr mir getan’ – dies Wort Jesu gilt nun für uns alle, was wir auch der
geringsten Kreatur tun“ (SCHWEITZER 1994, 135). Nicht zufällig ist Schweitzer
ein – wie er selbst schreibt – Verehrer des Franz von Assisi (1182-1226), dieses „tiefsten der Heiligen“. Er habe die „Verbrüderung der Menschen mit der Kreatur“ als eine
himmlische Botschaft verkündet (SCHWEITZER 1994, 57).
Für Schweitzer ist allerdings offensichtlich, dass menschliches Leben, ja Leben insgesamt nicht ohne Schädigung anderen Lebens möglich ist. Mit Charles Darwin (1809-
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1882) sieht er die Natur vornehmlich als „Kampffeld konkurrierender Lebensansprüche“ (GÜNZLER 1996, 99), sie kenne keine Ehrfurcht vor dem Leben: „Dass wir
gezwungen sind, vielfältig Leben zu vernichten, sei es für unsere Erhaltung, sei es, um
Tiere, die geboren werden und die wir nicht erhalten können, abzuschaffen, sei es, um
uns vor schädlichen Tieren zu schützen: das ist das furchtbare Gesetz der Entzweiung
des Willens zum Leben, dem wir unterworfen sind. Nie dürfen wir uns gedankenlos
darein ergeben. Immer ist es uns gleich furchtbar, gleich unheimlich. Aber das eine
müssen und können wir tun: die Verantwortung in jedem einzelnen Fall erwägen, die
Notwendigkeit prüfen und dann auf die schonendste Art vorgehen“ (SCHWEITZER 1994, 134). Das grausige Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben fordere eine bewusste persönliche Entscheidung und Stellungnahme im Zeichen
von Humanität und Leidüberwindung (GÜNZLER 1996, 114). In der die eigenen
Ansprüche zurückstellenden, ja auch sich selbst aufopfernden, rettenden Hingebung,
d.h. verantwortlichen Fürsorge für das fremde Leben, kann dann sogar das furchtbare Gesetz und damit die „destruktive Schattenseite des Naturgeschehens“ (ebd., 94),
wenn auch nur punktuell, durchbrochen werden. Bei solchen Eingriffen stellt sich
aber, „gerade angesichts von Jäger-Beute-Systemen, das Problem, wem geholfen werden soll“ (IRRGANG/BAMMERLIN 1998, 403), insbesondere wenn die Rettung
eines Lebewesens den Tod eines oder mehrerer anderer nach sich zieht.
Schweitzer weigert sich jedoch, über das universelle, absolute Grundprinzip des Ethischen hinaus allgemein gültige Normen zur Regelung typischer Entscheidungsfälle im
Umgang mit der Natur anzugeben: „Nur das Grundprinzip des Ethischen ist einfach
und allgemein gültig. Ihm einfache und allgemein gültige Ausführungsbestimmungen beizugeben, ist unmöglich. Von Fall zu Fall, aus tiefstem und stets lebendigem
Verantwortungsgefühl heraus, hat der Einzelne zu entscheiden, wie [er] ihm Genüge
tun [kann]. Ethik ist das Absoluteste, auf subjektivste und relativste Weise verwirklicht“ (SCHWEITZER 1999, 247). Die Philosophie wolle sich die Ethik als „ein
wohl geordnetes System von wohl durchführbaren Pflichten und Geboten“ vorstellen
(SCHWEITZER 1997, 96). Aber keine Philosophie könne hinsichtlich des entgrenzten Verantwortungsbereichs „moralische Anweisungen mit annähernd rational befriedigender Begründung formulieren“ (SCHWEITZER 1994, 70). Stattdessen zwinge
die Ethik den Einzelnen, in jeder Situation neu seine ganz persönliche Entscheidung
zu treffen: „Die Entscheide können so oder so ausfallen. Wenn du nur nach Verantwortung und Gewissen handelst – und nicht nach Gedankenlosigkeit, bist du im
Rechte“ (ebd., 133). Auch das folgende Zitat wirft die Frage auf, ob Schweitzer damit
nicht jede normative Ethik, im Sinne einer Begründung sittlicher Urteile, zurück-
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
weist und einem ethischen Subjektivismus und Relativismus das Wort redet: „Dem
wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig, auch das, das uns vom Menschenstandpunkt aus als tiefer stehend vorkommt. Unterschiede macht er nur von Fall zu
Fall und unter dem Zwange der Notwendigkeit, wenn er nämlich in die Lage kommt,
entscheiden zu müssen, welches Leben er zur Erhaltung des anderen zu opfern hat.
Bei diesem Entscheiden von Fall zu Fall ist er sich bewusst, subjektiv und willkürlich
[sic!] zu verfahren und die Verantwortung für das geopferte Leben zu tragen zu haben“
(SCHWEITZER 1931, 173).
Dennoch weist Schweitzer den Vorwurf des Subjektivismus zurück: „Das freie Denken, das Tiefe hat, verfällt nicht in Subjektivismus.“ (SCHWEITZER 1997, 148).
Dass Schweitzer dennoch so sehr auf das Subjekt setzt, hat vor allem zwei Gründe:
zum einen ein aufklärerisches Vertrauen in das denkende Ich, zum anderen die Sorge, die personale Verantwortung könne durch detaillierte Normvorgaben außer Kraft
gesetzt werden (GÜNZLER 1996, 82, 129). Das denkende Ich, das die universelle
Richtlinie der „Hingebung an Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben“ als plausibel eingesehen und persönlich angenommen habe, „bedarf danach keiner untergeordneten
Normen oder Regeln mehr, sondern trifft seine konkreten Entscheidungen unmittelbar vom Leitprinzip her“ (ebd., 129). Schweitzer baue deshalb „exklusiv auf die subjektive Verantwortung des vom Prinzip geleiteten Ichs. Dieses muss entscheiden, wie
es seine konkrete Verantwortung unter dem Anspruch des Prinzips zu realisieren hat;
normative Subsysteme können ihm dabei nicht helfen, ja würden die Verantwortung
eher entschärfen“ (ebd.).
Schweitzer freut sich zwar über die neuen Medikamente gegen die lebensbedrohliche Schlafkrankheit, die es ihm ermöglichten, Menschenleben zu retten, wo er zuvor
qualvollem Siechtum zusehen musste. „Jedesmal aber, wenn ich unter dem Mikroskop
die Erreger der Schlafkrankheit vor mir habe, kann ich doch nicht anders, als mir
Gedanken darüber zu machen, dass ich dieses Leben vernichten muss, um anderes zu
erretten“ (SCHWEITZER 1931, 173). Die Sensibilität und Ernsthaftigkeit, die er
hier unter Beweis stellt, sind sicher außergewöhnlich. Das Schuldgefühl, das schlechte
Gewissen jedoch, das Schweitzer nicht nur selbst empfindet, sondern – m.E. völlig
unnötig – auch anderen aufbürdet, stellt einen nicht unproblematischen Aspekt seines
Werkes dar. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, „unter welchen Umständen
es auch erfolgen mag“, sei nach der Ethik der veneratio vitae als böse zu qualifizieren.
Auch wer sich im Einzelfall der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von
Leben unterwerfe, lade Schuld auf sich. Darum ist das gute Gewissen für Schweitzer
„eine Erfindung des Teufels“ (SCHWEITZER 1996, 339f.).
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
„Allerdings“, so verdeutlicht Bruno Schüller, „etwas guten Gewissens tun heißt nicht
ohne weiteres auch etwas innerlich unbeschwert und leichten Herzens tun. [...] Die
Stellungnahme zu jedem Übel ist das Bedauern und die darin eingeschlossene Bereitschaft, es möglichst zu beseitigen oder zu verhindern. Aber unter innerem Widerstreben das geringere Übel verursachen, um auf diese einzig mögliche Weise das
schlimmere Übel zu verhindern, heißt nicht, ‚mit schlechtem Gewissen’ handeln müssen. Man ist in einer solchen Situation nur für die Differenz zwischen dem schlimmeren und weniger schlimmen Übel verantwortlich, nicht aber dafür, dass in jedem Fall
mindestens das weniger schlimme Übel geschieht oder bestehen bleibt“ (SCHÜLLER
1980, 212). Denn, so das aus dem römischen Recht in die Ethik eingegangene Axiom,
zum Unmöglichen kann niemand verpflichtet werden (ultra posse nemo obligatur).
Sollen setzt nun einmal Können im Sinne von Freiheit und Fähigkeit voraus. Auch
Claus Günzler merkt kritisch an, dass Schuld in ethischer Hinsicht Freiheit und damit
Zurechenbarkeit voraussetze, „so dass hier eine andere begriffliche Bestimmung des
Gemeinten sicherlich überzeugender wäre“ (GÜNZLER 1990, 97). Dennoch, darin
ist Günzler ebenso zuzustimmen, gibt das Tun des sittlich Richtigen, das mit der nicht
primär intendierten Nebenfolge der Tötung oder Schädigung fremden Lebens einhergeht, keinen Anlass zu einer „vorschnellen moralischen Selbstzufriedenheit“ (ebd.,
98) – zu einer Verurteilung durch das eigene Gewissen allerdings ebenso wenig: „Man
kann im religiösen Sinne Respekt vor Viren haben, aber mit gutem Grund und ohne
Schuldgefühl sich sittlich verpflichtet sehen, diese zu bekämpfen, wenn sie Menschen
schädigen oder gefährden“ (IRRGANG/BAMMERLIN 1998, 402f.).
In der Alltagspraxis hat auch Schweitzer selbst immer wieder Güterabwägungen vorgenommen, er hat Tiere getötet bzw. töten lassen, wie u.a. aus seinem Brief an Jack
Eisendraht aus dem Jahre 1951 hervorgeht: „Eben habe ich einen Moskito getötet, der
mich umflog beim Lampenlicht. In Europa würde ich ihn nicht töten, obgleich er mir
lästig ist. Aber hier, wo er die gefährlichste Form der Malaria verbreitet, nehme ich mir
das Recht, ihn zu töten, obwohl ich es nicht gerne tue.“ Nur, wo die Not es gebiete,
dürfe man schädigen und töten. Dies sei das Wesentliche. Die „Kasuistik der Fälle“ sei
dann etwas für sich. „Man hat mir vier junge arme Pelikane gebracht, denen gefühllose
Menschen die Flügel übel beschnitten haben, so dass sie nicht fliegen können. Nun
wird es 2 – 3 Monate dauern, bis ihnen die Flügel nachgewachsen sind und sie in der
Freiheit existieren können. Ich habe einen Fischer angestellt, der die nötigen Fische zu
ihrer Ernährung fängt. Jedesmal tun mir die armen Fische in der Seele weh. Aber ich
habe nur die Wahl, entweder die 4 Pelikane zu töten, die dem Hungertode ausgeliefert
wären, oder die Fische. Ob ich Recht tue, mich für dies statt für das andere zu ent-
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
scheiden, weiss ich nicht.“ (SCHWEITZER 1987, 207)
Genau hier liegt aber ein weiteres Problem der Position Schweitzers, vor dem allerdings jede starke Biozentrik steht, die auf der Ebene der ethischen Grundlegung von
dem gleichen Wert allen Lebens ausgeht . So sehr Schweitzer in seinen Schriften auf
dem gleichen Lebenswillen und recht allen Lebens insistiert, so sehr zeigt sich in seinem Handeln die theoretisch nicht weiter durchdrungene Position einer abgestuften
Eigenwertigkeit allen Lebens, das heißt etwa in Konflikten, in denen Leben gegen
Leben steht, dass er menschliches Leben zu Lasten von nichtmenschlichem Leben
schützt. Der Vorwurf, der sich hier erheben lasse, so Günzler, „ist der, dass Schweitzer
das Problem von Grundprinzip und praktischen Ausnahmen im Hinblick auf die Ehrfurchtsethik nicht systematisiert hat“ (GÜNZLER 1990, 96). Obwohl Schweitzer betont, dass alle Geschöpfe eine Bedeutung und einen Wert an sich haben (SCHWEITZER 1997, 93), und obwohl er unterstreicht, dass die Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben „den Unterschied zwischen höherem und niederem, wertvollerem und weniger
wertvollem Leben nicht geltend mache“ (SCHWEITZER 1994, 109), differenziert
er selbst an anderer Stelle ausdrücklich zwischen kostbarstem – hier: Mensch – und
niederstem Leben – hier: Tuberkelbazillus (ebd., 120f., 134, 136).
Der primäre Grund dafür, dass er „das Unternehmen, allgemein gültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren“, zurückweist (SCHWEITZER 1994,
109), liegt nach Günzler in der Einsicht Schweitzers begründet, „dass es keine begrifflich zwingende Begründung solcher Rangordnungen gibt“ (GÜNZLER 1990, 90).
Ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung Schweitzers ist der mögliche Missbrauch entsprechender Rangordnungen, in deren Gefolge die Ansicht aufkomme, dass
es wertloses Leben gäbe, dessen Schädigung und Vernichtung nichts auf sich habe.
„Unter wertlosem Leben werden dann, je nach den Umständen, Arten von Insekten
oder primitive Völker verstanden.“ Zu Recht richtet er an diese Position die auch
für die aktuelle Biodiversitätsdiskussion relevante Frage: „Wer von uns weiß, was das
andere Leben an sich und in dem Weltganzen für eine Bedeutung hat?“ (SCHWEITZER 1994, 109).
Wie viele radikale Gesinnungs- bzw. Prinzipienethiker ist er also in der Praxis zu unausweichlichen Kompromissen genötigt und auch bereit, ohne dass er dies innerhalb
seiner Ethik noch einmal einholen würde. Möglicherweise liegt darin auch eine gewisse Inkonsequenz Schweitzers begründet, die etwa dort zum Ausdruck kommt, wo
er sich einerseits gegen die „furchtbare Gedankenlosigkeit“, Schnittblumen als Zimmerschmuck aufzustellen, wendet, andererseits aber das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken legitimiert (SCHWEITZER 1994, 130f.). Die Moskito- und Pelikan-
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Beispiele veranschaulichen darüber hinaus, dass sich eine starke Biozentrik wohl auf
der Gesinnungsebene, nicht aber in den konfliktiven Entscheidungssituationen des
Alltags durchhalten lässt. Zu dieser Bewertung gelangt auch Gerhard Marschütz. Da
Schweitzer „die Ehrfurcht vor dem Leben, das ohne Rangunterschiede prinzipiell als
unantastbar gilt, als absolutes und im jeweiligen Subjekt fundiertes ethisches Handlungsprinzip bestimmt, sind keine Kriterien für die in der Praxis notwendigen und unvermeidbaren Konfliktentscheidungen angebbar“ (MARSCHÜTZ 1995, 513). Damit deckt sich auch Erich Gräßers Urteil: „Objektiv geltende Wertunterschiede lässt
die Ehrfurchtsethik nicht gelten. Ihr ist jedes Leben heilig [...]. Unter dem Anspruch
dieses Prinzips vermag der einzelne ‚nur subjektive Entscheide ... in den ethischen
Konflikten’ zu treffen, die ihm niemand mit objektiven Kriterien abnehmen kann“
(GRÄßER 1999, 679) .
Auch wenn Schweitzer an dem Dilemma leidet, nimmt er in seinem Handeln (bzw.
seinen Anordnungen) aufgrund von – letztlich doch verantwortungsethischen – Güterabwägungen faktisch Wertungen zwischen Leben und Leben vor (Mensch vor
Moskito, Pelikan vor Fisch), ohne ihnen jedoch eine über die Situation und das entscheidende Subjekt hinausgehende Bedeutung zuzumessen. Tut man aber Schweitzer
mit dieser Kritik Unrecht? Zieht man seiner Ethik damit vorschnell einen heilsam
verunsichernden Stachel? Entledigt man sich zu schnell seiner unbequemen, aber doch
weiterführenden Provokationen?
Eine rationale Ethik verpflichtet m.E. dazu, die rein subjektiven Wertungen vernünftig und intersubjektiv nachvollziehbar zu begründen, um sie der Willkür der bzw.
des Einzelnen zu entziehen und sie für die Gestaltung von Gesellschaft, Politik und
Wirtschaft fruchtbar zu machen. Schweitzer vertritt im Grunde einen sehr engen,
geradezu aseptischen Begriff von Ethik. Er verbannt den Kompromiss und distanziert
sich von jeder angewandten, in seinen Augen bloß relativen Ethik, die nichtethische
Aspekte wie den der Notwendigkeit mit Ethik vermische und damit eine ungeheure
Verwirrung und Verdunkelung des Begriffs des Ethischen anrichte (SCHWEITZER
1996, 339). Ethik hätte m.E. jedoch die Aufgabe, bei der Suche nach verantwortbaren
Antworten hinsichtlich der Fragen ‚Was soll ich, was sollen wir tun?‘, ‚Welche Normen sollen wir aufstellen?‘, ‚Welche Institutionen und Strukturen sind gerecht und
zielführend?‘ argumentative Hilfestellungen anzubieten. Sie muss vom Gipfel der reinen Ethik in die Niederungen der Klärung dilemmatischer Entscheidungssituationen
herabsteigen und auch hier ihre Qualitäten unter Beweis stellen.
Trotz der geäußerten Anfragen und Bedenken gegenüber der Ethik der Ehrfurcht vor
dem Leben stimme ich Erich Gräßer uneingeschränkt zu, wenn er Schweitzers ent-
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
scheidendes Verdienst darin erblickt, die „anthropozentrische Beschränkung der traditionellen Ethik“ aufgebrochen und den Weg zu einer globalen Verantwortungsethik
freigemacht zu haben. „Die Theorie, auf der sie gründet, ist längst gefunden. Sie lautet
Ehrfurcht vor dem Leben“ (GRÄßER 1999, 680). Eine Theorie, deren Wirkungsgeschichte bis heute nicht abgebrochen ist.
„Ehrfurcht vor dem Leben“ in kirchlichen Dokumenten
Im Jahre 1985 legen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz mit ihrer gemeinsamen Erklärung „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung“ eine amtliche Verlautbarung vor, in der die Kirchen – noch
ohne den Namen Schweitzers zu nennen – seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
aufgreifen: „Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die
Ehrfurcht vor dem Leben setzt voraus, dass Leben ein Wert ist und dass es darum
eine sittliche Aufgabe ist, diesen Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt
seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt zu tragen. Dies erfordert Rücksicht,
Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle“ (VERANTWORTUNG WAHRNEHMEN
FÜR DIE SCHÖPFUNG 1985, Ziffer 34). Dieser Abschnitt wirkt geradezu wie eine
Kurzfassung der ethischen Position Schweitzers. Allerdings liegen nicht weniger als 70
Jahre zwischen seiner Intuition am Ogowe und diesem ökumenischen Text.
Vier Jahre später veröffentlichen die christlichen Kirchen in Deutschland mit der gemeinsamen Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ ein weiteres Dokument zu
den „Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens“ – so der Untertitel
–, das nun erstmals explizit auf Schweitzer Bezug nimmt: „Es gibt Grund für die Erwartung, dass Menschen, die Leben in der Haltung dankbaren Staunens wahrnehmen,
ihm auch mit mehr Achtung und Scheu begegnen. Der Grundsatz der ‚Ehrfurcht vor
dem Leben‘, der vor allem mit dem Namen von Albert Schweitzer in Verbindung
gebracht wird, ist nicht notwendig ein Gegensatz zum Interesse an der Verwertung
nichtmenschlichen Lebens, aber sehr wohl ein Korrektiv und ein Gegengewicht“
(GOTT IST EIN FREUND DES LEBENS 1989, Ziffer III.1). Auch Schweitzer
hatte sich der Sache nach nicht gegen jegliche „Verwertung nichtmenschlichen Lebens“ ausgesprochen, sondern „nur“ – aber dies mit besonderem Nachdruck – gegen
dessen Schädigung ohne Notwendigkeit, eine Bedingung, deren Vorliegen in jedem
Einzelfall kritisch zu prüfen sei.
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In dem gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen „Für eine Zukunft in
Solidarität und Gerechtigkeit“ geht es vermutlich erneut auf die evangelische Seite
zurück, dass im Abschnitt ‚Nachhaltigkeit‘ ein Bezug zu Schweitzer hergestellt wird:
„Die besondere Stellung des Menschen begründet kein Recht zu einem willkürlichen
und ausbeuterischen Umgang mit der nicht-menschlichen Schöpfung. Vielmehr
nimmt sie den Menschen in die Pflicht, als Sachwalter Gottes für die geschöpfliche
Welt einzustehen, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend, haushälterisch und
bewahrend mit ihr umzugehen“ (FÜR EINE ZUKUNFT IN SOLIDARITÄT UND
GERECHTIGKEIT 1997, Ziffer 123). Wie bei Schweitzer wird hier der Begriff der
‚Ehrfurcht‘ auf die gesamte geschöpfliche Welt bezogen. Deutlicher aber als Schweitzer
selbst setzt das gemeinsame Wort den primären Akzent auf die rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, ohne die Verantwortung der Einzelnen auszublenden: „Während früher Gesellschaftsformen nach außen abgegrenzt und aus kleinen
Einheiten übersichtlich zusammengesetzt waren, sind moderne Gesellschaften durch
das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl institutioneller Teilordnungen unterschiedlicher Reichweite gekennzeichnet, welche verschiedene Leistungen hervorbringen und unterschiedliche Anforderungen an die Handelnden stellen. Hier genügt es
nicht mehr, allein das Handeln von Personen einer ethischen Beurteilung zu unterziehen. Zu bedenken sind ebenso die Regeln und Bedingungen, unter denen das Handeln der Individuen sich vollzieht und bestimmte Wirkungen zeitigt. Inwieweit die
Würde aller Menschen respektiert wird, wie groß die sozialen Ungleichheiten sind
und inwieweit die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt oder ausgebeutet werden,
ist nicht nur eine Frage des individuellen guten Willens, sondern vor allem der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, unter denen Menschen ihr Leben
führen“ (ebd., Ziffer 128).
Auch das Schreiben „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, das sich selbst als
Fortschreibung und Vertiefung vor allem „der ökologischen Aspekte des gemeinsamen
Wortes der Kirchen“ versteht (HANDELN FÜR DIE ZUKUNFT DER SCHÖPFUNG 1998, Ziffer 7), rezipiert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ,
wartet allerdings – trotz scharfer Kritik an einer den Menschen und seine Bedürfnisse
absolut setzenden Anthropozentrik (Ziffer 84) – ebenfalls mit einer neuen Akzentsetzung auf: „Den außermenschlichen Naturwesen und bereichen kommt eine abgestufte Eigenwertigkeit zu. Diesem Eigenwert entsprechen als geforderte menschliche
Haltungen Ehrfurcht und Sorgfalt im praktischen Umgang. Wo die Natur von ihrer
Schöpfungsqualität her verstanden wird, kann sie nicht mehr unter das ausschließliche
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
Vorzeichen ökonomischer Nutzungsinteressen gestellt werden“ (Ziffer 90). Die Annahme einer abgestuften Eigenwertigkeit, wie sie hier vertreten wird, hätte Schweitzer
auf der Theorieebene nicht mitvollzogen. Ist die Bezugnahme auf seinen Ansatz dennoch legitim, oder entfernt sich das Dokument damit soweit von seinem Vordenker,
dass es sich eigentlich nicht mehr auf ihn berufen dürfte?
Bedenkenswert sind die praktischen Orientierungslinien und Lösungsperspektiven,
die das Dokument im Sinne einer Zusammenfassung bisheriger kirchlicher Texte zur
ökologischen Frage darbietet. Auch hier wird – wie schon im Wirtschafts- und Sozialwort und wiederum deutlicher als bei Schweitzer – die tugendethische mit der politisch-strukturellen Ebene verknüpft und versucht, die Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben auf der Mikro-, Meso- und Makroebene in konkrete Handlungsoptionen zu
übersetzen. Notwendig seien
• ein grundlegender Gesinnungswandel hinsichtlich des
Mensch-Natur-Verhältnisses,
• ein verantwortliches Handeln des bzw. der Einzelnen (einfacherer
Lebensstil, Intensivierung der Umweltpädagogik, Bereitschaft zu
bürgerschaftlichem und umweltpolitischem Engagement),
• ein verantwortliches Handeln der Gemeinden und Kirchen,
• eine umfassende ‚Ökologiepolitik‘, die entsprechende Rahmendaten
setze (ökologisch verpflichtete soziale Marktwirtschaft) sowie
• eine ‚ökologische Weltordnung‘ mit supra- und internationalen
Handlungs- und Regelungsstrukturen, Solidarität zwischen Industrieund Entwicklungsländern im Bereich der Aufwendungen für den
(globalen) Umweltschutz und Mitverantwortung der multinationalen
Unternehmen (Ziffer 55).
Nach Günzler hatte Schweitzers „einseitiges Vertrauen auf das denkende Ich … ihm
den Blick dafür versperrt, dass auch das kollektive Handeln, die Welt der Institutionen, moralischer Spielregeln bedarf“ (GÜNZLER 1996, 163). Trotz des Vorrangs, den
Schweitzer der Individual- gegenüber der Sozialethik einräumt (ebd., 49, 81), steht
die hier vorgenommene Ausweitung m.E. nicht im Widerspruch zu seiner Position,
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sondern bedeutet eine legitime Fortschreibung einer Haltung, die u.a. in dem Plan zu
seiner (nicht realisierten) „Kulturphilosophie IV“ sowie in seinem friedenspolitischen
Denken und Handeln deutlichen Niederschlag fand .
Auch wenn dies hier nicht ausführlicher gewürdigt werden kann, so sei wenigstens
noch darauf hingewiesen, dass nicht nur christliche, sondern auch interreligiöse Dokumente die ethischen Grundsätze des Theologen und Philosophen Albert Schweitzer
rezipieren. Prominentes Beispiel ist die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der
Weltreligionen von 1993, die sich – in der Tradition Schweitzers – in einer der vier
unverrückbaren Weisungen für die „Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit
und der Ehrfurcht vor allem Leben“ ausspricht (KÜNG U. KUSCHEL 1996, 29):
„Die menschliche Person ist unendlich kostbar und unbedingt zu schützen. Aber auch
das Leben der Tiere und der Pflanzen, die mit uns diesen Planeten bewohnen, verdient
Schutz, Schonung und Pflege“ (ebd., 30).
Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben in der Erd-Charta
Albert Schweitzers Leitsatz der „Ehrfurcht vor dem Leben“ und das dahinter stehende
ethische Konzept wurden und werden allerdings nicht nur in kirchlichen und religiösen Dokumenten rezipiert. Der Rückgriff darauf kann vielmehr für die gegenwärtige Umweltdiskussion insgesamt als ‚paradigmatisch‘ angesehen werden (MERTENS
1998, 530). So überrascht es nicht, dass auch ein ‚säkularer‘ Text wie die Erd-Charta
darauf Bezug nimmt.
Die Erd-Charta selbst, die u.a. vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen unterstützt wird (TÖPFER 2001, 3), präsentiert sich als eine inspirierende Vision grundlegender ethischer Prinzipien für eine nachhaltige Entwicklung: „Grundlegend sind die
Achtung vor der Natur, die allgemeinen Menschenrechte, soziale und wirtschaftliche
Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens. Die Grundsätze der Erd-Charta ergeben
zusammen ein Konzept für eine nachhaltige Entwicklung und stellen grundlegende
Richtlinien für den Weg dorthin dar“ (DIE ERD-CHARTA 2001, 4). Der Text versteht sich aber auch als ein ‚empowering document‘, d.h. er will zeigen, wie man in einer nachhaltigen Art und Weise zusammen leben kann, und ist bestrebt, einen breiten
Dialog über gemeinsame Werte zu initiieren (ebd., 5). So will die die Erd-Charta tragende Initiative deren Verbreitung und Umsetzung durch Zivilgesellschaft, Wirtschaft
und Regierung fördern, sie will Mut machen und Hilfen geben, damit die Charta in
der schulischen und außerschulischen Bildung eingesetzt wird, und sie will die Unterstützung und Anerkennung durch die Vereinten Nationen erreichen mit dem Ziel,
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dass die Erd-Charta ein verbindlicher Vertrag der Völker auf der ganzen Welt werde.
In der deutschen Fassung steht das Wort ‚Ehrfurcht‘ zweimal, und zwar an den beiden – herausragenden – Stellen, an denen in der englischen Fassung der Ausdruck
‚reverence‘ verwendet wird, und zwar in der Präambel sowie in der Schlusspassage
‚Der Weg, der vor uns liegt‘. „Der Geist menschlicher Solidarität und die Einsicht in
die Verwandtschaft alles Lebendigen werden gestärkt, wenn wir in Ehrfurcht vor dem
Geheimnis des Seins, in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Platzes der Menschen in der Natur leben” (DIE ERD-CHARTA
2001, 8). Der Text schließt mit der Aufforderung: „Lasst uns unsere Zeit so gestalten,
dass man sich an sie erinnern wird als eine Zeit, in der eine neue Ehrfurcht vor dem
Leben erstarkte, als eine Zeit, in der nachhaltige Entwicklung entschlossen auf den
Weg gebracht wurde, als eine Zeit, in der das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden neuen Auftrieb bekam und als eine Zeit der freudigen Feier des Lebens“ (ebd.).
Erscheint in der Präambel die Haltung der Ehrfurcht als Voraussetzung für ein Erstarken mitmenschlicher Solidarität und ein wachsendes Bewusstsein der Vernetzung
von Natur und Zivilisation (Retinität: VOGT 1998), so in der Schlusspassage als eine
Antriebskraft für nachhaltige Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden.
Gleich die erste Anmerkung der Erd-Charta macht aber deutlich, dass auch dort, wo
der Text von ‚Achtung‘ spricht, die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben mitschwingt:
„Das engl. ‚respect‘ haben wir fast durchgehend mit ‚Achtung‘ übersetzt; dabei kann
es im Einzelnen durchaus auch die Bedeutung von ‚Respekt‘ oder ‚Ehrfurcht‘ haben.
Beides klingt aber auch in ‚Achtung‘ mit an. Der Begriff ‚Respekt‘ allein wäre uns in
der Übersetzung zu wenig gewesen. Die anderen Konnotationen sind also jeweils mit
zu hören“ (DIE ERD-CHARTA 2001, 7). In zwei der insgesamt sechzehn Grundsätze
der Charta wird die menschliche Verantwortung für die Gemeinschaft des Lebens
unter dem Stichwort „Achtung vor dem Leben“ konkretisiert:
„1. Achtung haben vor der Erde und dem Leben in seiner ganzen Vielfalt. a. Erkennen,
dass alles, was ist, voneinander abhängig ist und alles, was lebt, einen Wert in sich hat,
unabhängig von seinem Nutzwert für die Menschen. b. Das Vertrauen bekräftigen in
die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen“ (DIE ERD-CHARTA 2001, 9)
Und im Kapitel „Demokratie, Gewaltfreiheit und Frieden“ heißt es: „15. Alle Lebewesen rücksichtsvoll und mit Achtung behandeln. a. Tiere, die von Menschen gehalten
werden, vor Grausamkeit und Leiden schützen. b. Frei lebende Tiere vor solchen Methoden der Jagd, Fallenstellerei und des Fischfanges schützen, die extremes, unnötig
langes oder vermeidbares Leiden verursachen. c. Beifang oder Töten von nicht gewünschten Spezies vermeiden oder weitest möglich beenden.“ (DIE ERD-CHARTA 2001, 15)
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Wenn wir, so der Umweltrechtler Klaus Bosselmann, der am Drafting-Prozess der ErdCharta intensiv beteiligt war, auch nur den ersten Grundsatz beherzigen würden, so
könnten wir eine wahrhaft global gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung
einleiten (BOSSELMANN 2002). Wie eingangs skizziert stehen Verhalten (Gesinnung und Lebensstil) einerseits sowie Verhältnisse (Normen, Institutionen, Verfahren
und Strukturen) andererseits in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Individuelle und (klein-) gruppenbezogene Einstellungs- und Verhaltensänderungen sowie
eine unterstützende Umweltpädagogik, dies macht die Erd-Charta deutlich, sind deshalb unverzichtbar. Sie allein wären jedoch unzureichend. Es bedarf darüber hinaus einer Übersetzung des ethischen Imperativs „Achtung“ bzw. „Ehrfurcht vor dem Leben“
auf die Ebene der „Verhältnisse“, also etwa Recht, Wirtschaft, Politik, Organisationsleitbilder und Berufsethiken.
„Vielleicht“, so Bosselmann bei der eingangs erwähnten Mülheimer Tagung, „wird die
Erd-Charta einmal – neben der Menschenrechtserklärung – als zweiter Pfeiler einer
wahrhaft zivilen Gesellschaft in die Geschichte eingehen. Während der erste Pfeiler
das Verhältnis der Menschen untereinander als gleichberechtigt beschreibt, hebt der
zweite Pfeiler das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf eine nachhaltige Ebene.
Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit könnten so zu den Tragpfeilern der globalen
Zivilgesellschaft werden.“
Albert Schweitzer: ein Vorläufer der Erd-Charta
Trotz aller zum Teil gewichtigen Unterschiede gibt es zwischen Albert Schweitzer,
den christlichen Kirchen in Deutschland und der Erd-Charta-Initiative – das hat die
vorangehende Analyse gezeigt – eine große Übereinstimmung hinsichtlich des ethischen Grundsatzes „Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben“. Vertritt Schweitzer eine
starke Biozentrik, die allerdings in der Praxis unausweichliche Vorzugsentscheidungen
zwischen Leben und Leben vornimmt, so plädieren die zitierten kirchlichen Dokumente aus den 1980er/90er Jahren für eine aufgeklärte Anthropozentrik, oder besser:
Anthroporelationalität, sowie ausdrücklich für eine abgestufte Eigenwertigkeit allen
Lebens und verbinden dies mit einer stärker strukturethisch ansetzenden Position. Die
Erd-Charta, die den sozial-strukturellem Ansatz teilt, verfolgt hingegen – hierin steht
sie Schweitzer näher als die kirchlichen Texte – eine schwache Biozentrik, schwach
deshalb, weil sie anders als dieser nicht von dem gleichen Wert allen Lebens ausgeht.
Gemeinsam ist den drei hier vorgestellten Positionen, dass sie im Gegensatz zu stark
anthropozentrisch argumentierenden Ansätzen den Eigenwert allen Lebens unterstrei-
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chen, unabhängig von seinem Nutzwert für die Menschen. Andererseits halten sie aber
die Nutzung außermenschlichen Lebens für durchaus legitim, unter der Bedingung,
dass sie achtsam geschieht und Leiden so weit wie irgend möglich vermeidet. Aufgrund der aufgezeigten begrifflichen und inhaltlichen Nähe kann man Albert Schweitzer m.E. als einen Vorläufer der Erd-Charta bezeichnen; seine Ethik der Ehrfurcht vor
dem Leben findet in ihr eine legitime Fortschreibung.
Ehrfurcht vor dem Leben – auch eine Bildungsaufgabe
Angesichts des Gefährdungspotentials unserer technologischen Zivilisation mit ihren
rasanten Veränderungen seien, so Eberhard Schockenhoff, neue Haltungsbilder wie
Zivilcourage, Schonung im Umgang mit der Natur, Rücksichtnahme auf die Interessen künftiger Generationen und Lebensförderlichkeit im weitesten Sinn unerlässlich,
Haltungsbilder, die es dem Menschen erlaubten, gemeinsam nicht nur defensiv, sondern prospektiv auf die Herausforderungen des technologischen Zeitalters zu antworten (SCHOCKENHOFF 1990, 805). Meines Erachtens lassen sich die letzten drei
der von Schockenhoff genannten vier notwendigen Tugenden bestens in der Achtung
bzw. Ehrfurcht vor dem Leben zusammenfassen. In Anbetracht massiver Interessenkonflikte und Widerstände finden sie darüber hinaus in der Zivilcourage auch eine für
das Handeln notwendige Ergänzung. Solche Haltungsbilder entstehen jedoch nicht
von selbst.
Wir sahen, dass Albert Schweitzer seine erwachsenen Mitmenschen zu dem Wagnis
ermutigt, „Kinder von den ersten Jahren an zur Ehrfurcht vor dem Leben zu erziehen“
(SCHWEITZER 1994, 129). Auch hier wäre anzusetzen. Die viel zitierte Pisa-Studie,
so Ulrich Grober, habe manches, nicht aber den Grad der ökologischen Alphabetisierung erfasst. Die Fähigkeit der 15- bis 17-Jährigen „zur Empathie, ihr Einfühlungsvermögen, ihre ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ (Albert Schweitzer), ihr Verständnis von
Selbstsorge und Lebenskunst waren kein Gegenstand der Untersuchung. Wenn wir
jedoch weiter in Richtung Nachhaltigkeit gehen wollen, wäre eine Bildungsoffensive,
die die Konturen des neuen Denkens anschaulich macht, ein guter nächster Schritt“
(GROBER 2002).
Der Grundsatz 14 der Erd-Charta, der fordert, dass in die formale Bildung und in das
lebenslange Lernen das Wissen, die Werte und die Fähigkeiten zu integrieren sind, die
für eine nachhaltige Lebensweise nötig sind, verpflichtet darauf, für alle, insbesondere
für Kinder und Jugendliche, Bildungsmöglichkeiten bereitzustellen, die sie zur Mitarbeit an nachhaltiger Entwicklung befähigen. Dabei ist – wiederum im Geiste Schweit-
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zers formuliert – die Bedeutung der moralischen und spirituellen Bildung für einen
nachhaltigen Lebensstil anzuerkennen (DIE ERD-CHARTA 2001, 14).
Immerhin zwei deutsche Bundesländer haben in ihren Verfassungen eine entsprechende Grundlage gelegt. So heißt es in der Verfassung des Freistaates Sachsen vom
27. Mai 1992: „Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem
und politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor
der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu
freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen“ (Art. 101, Abs. 1). Und in der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 1993 ist zu lesen: „Das
Ziel der schulischen Erziehung ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus
Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die
Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen“ (Art. 15, Abs. 4). Damit dies nicht ‚Verfassungsrhetorik‘ bleibt,
sind – selbstverständlich nicht nur in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern – bestehende Bildungs- und Schulkonzepte, Lehrpläne, Unterrichtsfächer und modelle,
Projekte und Reihen zu prüfen und entsprechend zu modifizieren bzw. erst einmal zu
entwickeln. Ansätze dazu gibt es bereits. Angesichts der Tatsache lebenslangen Lernens
gehören dann aber auch Vorschulphase, Studium, Fort- und Weiterbildung, Erwachsenenbildung inner- und außerhalb bestehender Institutionen auf den Prüfstand.
Das Ziel ist klar: ein anderes Verhältnis zur Natur, „das Mensch und Natur nicht
als getrennt, sondern wieder als zusammengehörig erlebt“, und das das Interesse und
die Fürsorge „vom eigenen Ich auf die anderen, auch künftigen Menschen, weiter
auf die empfindungs- und leidensfähigen Lebewesen und schließlich auf alle Wesen“
ausdehnt. „Diese ehrfürchtig-achtsame Haltung haben wir wieder einzuüben, zu ihr
andere praktisch anzuleiten“ (KESSLER 1996, 253).
Prof. Dr. Andreas Lienkamp
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
Köpenicker Allee 39-57, D-10318 Berlin
E-mail: [email protected]
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
Die Erd-Charta: eine weltweite Initiative für eine
Ethik nachhaltiger Entwicklung
Hermann Garritzmann
“Leben bedeutet häufig Widersprüche zwischen wichtigen Werten. Das kann schwierige Entscheidungen bedeuten. Aber wir müssen Wege finden, um Vielfalt mit Einheit
zu versöhnen, Freiheit mit Gemeinwohl und kurzfristige Anliegen mit langfristigen
Zielen.“ ( „Erd-Charta“, S. 16 )
Die Ökumenische Initiative Eine Welt ( ÖIEW ) fungiert als deutsche Koordinierungsstelle ( focal point ) der internationalen Erd-Charta-Initiative, die ein internationales
Sekretariat in Costa Rica unterhält. Im Juni 2001 hat die ÖIEW in Kooperation mit
dem BUND eine deutsche Übersetzung der „Erd-Charta“ publiziert und gleichzeitig
auch eine Stelle für einen hauptamtlichen Projekt-Koordinator dieser Initiative eingerichtet. Die deutsche Erd-Charta-Broschüre ist inzwischen in der 4. Auflage erschienen und auf großes Interesse gestoßen. Die Erd-Charta ist also sowohl ein Dokument
als auch eine weltweite Initiative.
Die ÖIEW entstand Mitte der 70erJahre im Zuge des erwachenden ökologischen
und entwicklungspolitischen Bewusstseins, um eine Lernbewegung für einen neuen
/ anderen Lebensstil anzustoßen – nämlich: gesprächsbereit, solidarisch, einfach umweltgerecht. Sie ist ein Netz von Menschen, die sich als Unterzeichnerinnen selbst
verpflichtet haben, sich um eine für alle zukunftsfähige Lebens- und Wirtschaftsweise
zu bemühen.
Ausgehend von der oft wiederholten plakativen Aufforderung „Global denken – lokal
handeln“ könnte man sagen, dass die „Erd-Charta“ so etwas bieten will und kann wie
das globale Denken zum lokalen Handeln. Dabei geht es darum, weltweite gegenseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung neu zu begreifen. Gleichzeitig ist das
Dokument und die Initiative eine Einladung, die Vision eines nachhaltigen Lebensstils mit viel Fantasie zu entwickeln und anzuwenden, und zwar auf lokaler, nationaler,
regionaler und globaler Ebene. Grundsätzlich vermittelt sie ein anderes, ganzheitliches
vom Menschen, von der Natur und vom Verhältnis zwischen beiden.
“Der Geist menschlicher Solidarität und die Einsicht in die Verwandtschaft alles Lebendigen werden gestärkt, wenn wir in Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Seins, in
Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Plat-
52
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
zes der Menschen in der Natur leben.“ ( aus der Präambel der Erd-Charta ).
Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal an die „Botschaft“ der Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro. Eigentlich war sie ja ganz
einfach: Unsere Art zu leben und zu wirtschaften auf Kosten der uns tragenden Natur,
auf Kosten der kommenden Generationen und auf Kosten anderer Länder und Völker ist nicht zukunftsfähig, nicht nachhaltigkeitstauglich und auch kein gutes Muster
für Andere. Wenn wir so weiter machen, treiben wir auf Dauer Raubbau an unserer
wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Substanz. Wir können die Zukunft nicht
verbrauchen, um uns die Probleme der Gegenwart zu erleichtern. Die „Agenda 21“als ein Ergebnis dieser Konferenz - hat als Handlungsprogramm darauf aufmerksam
gemacht, dass unser Entscheiden und Handeln in viel stärkerem Maße vernetzt zu
sehen ist und wir nicht umhin kommen, die Auswirkungen unseres Handelns hier
vor Ort auf die Lebensmöglichkeiten anderenorts oder für künftige Generationen zu
sehen. Bevor die „Agenda 21“ in einzelnen Handlungsfeldern konkreter wird, ist sie
jedoch grundlegend zunächst ein ethisches Programm, das in seinem Kern die Frage
stellt nach einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung weltweit und zwischen den
Generationen. Und diesen verbindlichen ethischen „Rahmen“ will die „Erd-Charta“
genauer beschreiben.
Einige ‚Stimmen’ sollen helfen, die Bedeutung dieses Dokumentes zu erkennen und zu
beschreiben. Die ersten beiden Zitate beschreiben die Notwendigkeit des Umdenkens
und der Suche nach einer neuen Ethik und das dritte Zitat bewertet das nun nach
einem jahrelangen und weltweiten Konsultationsprozess vorliegende Dokument der
„Erd-Charta“:
Ervin Laszlo, ungarischer Naturwissenschaftler und Philosoph, auch Gründer/ Initiator des Club of Budapest International, hat einmal in einem längeren Interview zum
Thema „Umdenken oder Untergehen?“ auch auf die Frage geantwortet: Kann nur ein
umfassender Bewusstseinswandel die Menschheit retten?
Seine Antwort: “Wir brauchen eine neue Ethik, die auf einem neuen Verständnis
vom Menschen, von der Natur und der Verbindung zwischen beiden beruht. Wenn
wir begreifen, dass wir in einem höheren Maße mit der Erde verbunden sind, als wir
dachten, werden wir mehr Verantwortung für andere Menschen und für die Natur
übernehmen. Ohne einen solchen Bewusstseinswandel geraten wir in eine große Ge-
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A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
fahr. Wenn wir es schaffen umzudenken, dann können wir die Gefahr abwenden.
Zum Glück hängt die Verantwortung nicht nur vom Individuum ab. Der Mensch befindet sich in einem ganzheitlichen System. Unsere Werte verändern sich, auch wenn
wir uns dessen nicht bewusst sind: Sie tauchen aus dem Unbewussten auf. ... Es geht
darum , dass die Menschen in den kommenden Jahrzehnten ganzheitlicher denken
und vernetzter handeln.“1
( Vgl. dazu auch die Initiative und das Buch „You can change the world“ des Club of
Budapest International.)
Ganz ähnlich hat das auch der deutsch-brasilianische Umweltschützer José Lutzenberger in seinem letzten Interview formuliert ( Lutzenberger starb am 14. Mai 2002
in Porto Alegre ):
“Notwendig ist eine holistische, die gesamte Schöpfung umfassende und nicht mehr
nur anthropozentrische Ethik. Dazu müssen wir die Grundlagen des heutigen Wirtschaftsdenkens in Frage stellen.“2
Das dritte Zitat bewertet das Ergebnis dieses weltweiten Konsultationsprozesses:
Die „Erd-Charta“ ist „ohne Zweifel der überlegteste, universalste und eleganteste Entwurf einer Welt-Ethik, den es bisher gegeben hat. Sollte die Charta der Erde eines
Tages mit universaler Verbindlichkeit angenommen werden, wird sie den Bewusstseinsstand der Menschheit verändern“, so urteilt der brasilianische Theologe Leonardo
Boff, einer der profiliertesten Vertreter der lateinamerikanischen Theologie und Spiritualität, in seinem Buch „Ethik für eine neue Welt“.3
Die Erd-Charta versteht sich als eine inspirierende Vision grundlegender ethischer
Prinzipien für eine nachhaltige Entwicklung. „Vision“ meint dabei sowohl eine
Zusammenschau verschiedener gesellschaftlicher Fragestellungen, die über unsere
Zukunft entscheiden, als auch einen großen Weitblick – zeitlich (mit Blick auf die
kommenden Generationen) wie räumlich (mit Blick auf die Situation im Süden und
Osten dieser Erde). Grundlegend für diese Vision sind die Achtung vor der Natur,
1
Interview mit Antje Bultmann, in Publik Forum, Nr.31/2001, S. 8-10
Interview in „Publik Forum“ 11/2002; vgl. dazu auch: José Lutzenberger: Das Vermächtnis. „Wir können
die Natur nicht verbessern“. Mit Vorwort, Einleitung und Ausblick von Siegfried Pater, Bonn RETAP
Verlag 2003
3
Leonardo Boff: Ethik für eine neue Welt, Düsseldorf 2000; vgl. dazu auch: Leonardo Boff: Ethische Herausforderungen der Globalisierung, in: Novartis Stiftung für Nachhaltige Entwicklung, Dokumentation der
„Basler Denkanstöße 1998“, S.11 - 31
2
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ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
die allgemeinen Menschenrechte, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine
Kultur des Friedens.
Die Grundsätze der Erd-Charta ergeben zusammen ein Konzept für eine nachhaltige Entwicklung und stellen grundlegende Richtlinien für den Weg dorthin dar.
Die Erd-Charta stellt fest, dass die ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen,
ethischen und spirituellen Probleme und Hoffnungen der Menschheit eng miteinander verbunden sind. Die Herausforderungen zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden
sind eng verknüpft mit dem Schutz der Umwelt und der Sorge um das wirtschaftliche
Wohlergehen. Nur in einer globalen Partnerschaft und in gemeinsamer Verantwortung können umfassende Lösungen gefunden werden.
“Die Vision der Erd-Charta reflektiert die Überzeugung, dass die Sorge für die Menschen und die Sorge für die Erde zwei voneinander abhängige Seiten einer Aufgabe
sind. Wir können nicht Sorge tragen für Menschen in einer Welt, in der das Ökosystem
zusammenbricht, und wir können nicht Sorge tragen für die Erde in einer Welt mit
weit verbreiteter Armut, Ungerechtigkeit, wirtschaftlicher Ungleichheit und gewalttätigen Konflikten.“
( Steven Rockefeller, Chairman der Erd-Charta-Komission )
Das Leitbild der „Nachhaltigkeit“ – wie es vor allem durch den „Geist von Rio“ in
das Bewusstsein gekommen ist, wird inzwischen inflationär gebraucht und verwässert.
Deswegen bieten die in der Erd-Charta formulierten Prinzipien einer nachhaltigen
Entwicklung auch die Chance, diesen Begriff wieder neu zuzuspitzen und „stacheliger“ zu machen, damit dieses Leitbild nicht ganz zu einem politischen „Plastikwort“
verkommt.
Die Suche nach einer grundlegenden Erd-Charta geschah und geschieht aber auch
auf dem Hintergrund zweier konkurrierender Leitbilder / Paradigmen, die auch in
entsprechenden Institutionen und Konferenzen sichtbar werden: Die Vorstellungen
von Nachhaltigkeit auf der einen Seite und die neoliberale Sicht einer einseitig ökonomisch bestimmten Globalisierung auf der anderen Seite. Die Erd-Charta formuliert
ethische Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung und fragt so nach den Maßstäben
der Globalisierung. Aus diesem Blickwinkel ist die Frage nach der Zukunftsfähigkeit
der Globalisierung vor allem eine Frage nach Gerechtigkeit und Solidarität.
Die Erd-Charta hat eine unglaublich spannende, mehrere Jahre andauernde „Reise“
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hinter sich, und an ihrer Entwicklung waren Hunderte von Organisationen und Tausende von Einzelpersonen aus vielen Nationen beteiligt. Dass so Spannungen ausgetragen und in einem solchen Prozess ein Konsens formuliert werden konnte, ist in
sich eigentlich schon ein Friedensprogramm. Die Geschichte der Formulierung der
ethischen Grundsätze in den einzelnen Entwürfen „erzählt“ aber auch von einer spirituellen Suche nach ganzheitlichen Aussagen auf unterschiedlichen kulturellen und
religiösen Hintergründen.
Dass eine solche Suche aber nicht im luftleeren Raum stattgefunden hat, sondern
vor einem harten politischen Hintergrund, macht Dr. Klaus Töpfer, Exekutiv-Direktor der UNEP (Umweltprogramm der Vereinten Nationen) in seinem Grußwort zur
deutschen Ausgabe der Erd-Charta in wenigen Sätzen ganz deutlich: das Ziel von
UN-Generalsekretär Kofi Annan, bis zum Jahre 2015 die absolute Armut um 50 Prozent zu halbieren, sei nur mit einer grundsätzlich veränderten Haltung der Solidarität
zwischen den Ländern des Nordens und des Südens zu realisieren.
„Neben der dramatischen und weiter ansteigenden Armut in den Entwicklungsländern ist das exzessive Konsumverhalten und die ineffiziente Ressourcennutzung in
den hochentwickelten Ländern das sicherlich größte Gift für die Stabilität von Natur
und Umwelt und für eine friedliche Gestaltung dieser Welt.“ Eine „ökologische Aggression“ nennt Töpfer es, dass die hochentwickelten „reichen“ Nationen dieser Welt
bedeutende Teile ihrer Wohlstandskosten auf die unterentwickelten Länder abwälzen.
- Die Erd-Charta verdeutliche diese Zusammenhänge auf bestechende Weise.
Die formulierten Grundsätze der Erd-Charta ergeben zusammen ein Konzept für eine
nachhaltige Entwicklung und stellen grundlegende Richtlinien für den Weg dorthin
dar. - Diese Wortwahl zeigt schon, dass die Erd-Charta eine ähnliche Geschichte und
ähnliche Wurzeln hat wie das Handlungsprogramm „Agenda 21“ der UN-Konferenz
für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro. Beide gehen davon aus, dass
die Herausforderungen zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden eng verknüpft sind mit
dem Schutz der Umwelt und der Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen. Nur in
einer globalen Partnerschaft können umfassende Lösungen gefunden werden: „Wir
haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde
und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens
zugrunde zu richten.“ ( aus der Präambel der Erd-Charta )
Die Entstehungsgeschichte der „Erd-Charta“ ist in der „Einführung“ zur deutschen
Erd-Charta-Broschüre beschrieben und kann hier nur mit wenigen Daten angedeutet
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werden. Die Aufgabe, eine „Erd-Charta“ zu entwickeln wurde zuerst im BrundtlandBericht (1987) genannt. Mit der Rio-Deklaration zu Umwelt und Entwicklung (
1992 ) wurde dieses Anliegen aufgegriffen. Diese Deklaration war ursprünglich als
völkerrechtsverbindliche „Erd-Charta“ geplant, konnte jedoch als solche nicht verabschiedet werden. Insbesondere Gruppen aus den sog. Entwicklungsländern sahen sich
nicht richtig repräsentiert. - Parallel zu den offiziellen Verhandlungen der Regierungen
haben aber bereits NGO’s erste Entwürfe einer Erd-Charta auf dem „Global Forum“
in Rio erarbeitet.
Kurze Zeit nach dem ‚Erdgipfel’ in Rio kamen dann neue Impulse für eine Erd-Charta-Initiative – diesmal „von unten“: Vom „Earth Council“ in Costa Rica ( federführend: Maurice Strong ), vom „internationalen Grünen Kreuz“ ( eine Art „Rotes Kreuz“
für die Umwelt ), 1992 von Michail Gorbatschow ins Leben gerufen, und von der
niederländischen Regierung ( vor allem von Ruud Lubbers ). Gemeinsam engagierten
sie sich weiter für die Entwicklung einer Erd-Charta. Dazu einige Stationen:
1995/96: wurden in einer Studie wichtige Dokumente auf eine Erd-Charta hin ausgewertet.
1995 fand eine internationale Konferenz in den Haag statt. Anschließend wurde eine
Struktur und Organisation für die Erd-Charta-Initiative geschaffen mit einem eigenen
Sekretariat beim „Earth Council“ in Costa Rica.
Bei dem gemeinsamen Treffen mit anderen NGO’s wurde 1995 in den Haag eine
Kommission für die Erd-Charta gegründet mit dem Auftrag, eine weltweite Konsultation durchzuführen und den Entwurf einer Erd-Charta vorzulegen.
Es wurde danach eine breite Diskussion in allen Erdteilen initiiert, in deren Verlauf
1997 ein erster und 1999 ein zweiter Textentwurf vorgelegt wurde. Hunderte von
Organisationen und Gruppen und Tausende von Einzelpersonen nahmen an diesem
Prozess teil. Im März 2000 wurden bei einem Treffen der Kommission in Paris ( bei
der UNESCO ) die letzten Eingaben eingearbeitet und die Erd-Charta in einer endgültigen Fassung veröffentlicht. Der offizielle „Stapellauf“ fand im Juni 2000 im Friedenspalais in Den Haag statt.
Ursprünglich war es ein Ziel der internationalen Initiative, eine Bestätigung der ErdCharta durch den „Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung“ in Johannesburg (2002)
zu erreichen. Die Erd-Charta ist aber als Dokument nicht offiziell in Johannesburg
diskutiert und verabschiedet worden. Trotzdem hat die Erd-Charta dort Spuren hinterlassen und hat während des Konferenzgeschehens in Johannesburg an vielen Stellen
eine bedeutende und inspirierende Rolle gespielt. In einer ganzen Reihe von Erklä-
57
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rungen wurde sie unterstützend erwähnt. So haben z.B. Vertreterinnen und Vertreter von Städten und Kommunen aus der ganzen Welt dazu aufgerufen, sich an den
Werten und Prinzipien der Erd-Charta zu orientieren ( „Johannesburg Call“ ). Einen
Niederschlag gefunden hat diese Diskussion sicher auch im „Durchführungsplan von
Johannesburg“, wo es heißt: “Wir erkennen die Bedeutung der Ethik für die nachhaltige Entwicklung an und betonen daher die Notwendigkeit, bei der Umsetzung der
Agenda 21 ethische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.“ ( Einleitung, Abs. 6 )4
Die Ziele dieser internationalen Erd-Charta-Initiative sind ( heute ):
• Die Verbreitung, Unterzeichnung ( endorsement ) und Umsetzung der
Erd-Charta durch die Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Regierung zu fördern.
• Mut zu machen und Hilfen zu geben, damit die Erd-Charta in Schulen,
Universitäten, Glaubensgemeinschaften und in anderen Zusammenhängen
eingesetzt wird.
• Die Unterstützung und Anerkennung der Erd-Charta durch die Vereinten
Nationen zu erreichen suchen.
Die Erd-Charta will auch eine erste Antwort geben auf die große spirituelle Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Trotzdem ist dieses Dokument nicht eine „heilige
Schrift“, sondern eher gedacht als ein wichtiges und hilfreiches „Werkzeug“, um aus
verschiedenen Anlässen und auf verschiedenen Ebenen miteinander ins Gespräch zu
kommen über unsere grundlegenden ethischen und spirituellen Überzeugungen und
Erfahrungen. Nachhaltige Entwicklung scheint heute ohne einen „spirituellen Aufbruch“ nicht möglich zu sein.
Mit Blick auf die Entstehung der Erd-Charta ist es auch kein Dokument, das Vertreter
verschiedener Regierungen zusammen erarbeitet haben, sondern eher ein Prozess „von
unten“ , den Nichtregierungsorganisationen auf den Weg initiiert haben und den jahrelang Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen mit ihrem Engagement lebendig gehalten haben. Bei diesem Prozess quer durch Nationen, Kulturen und Religionen haben alle Beteiligten viel zusammen gelernt. Auch wenn die Initiatoren der Erd-Charta
sich weiterhin auch um Unterstützung und Anerkennung durch die UN bemühen,
4
BMU: Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung 26. August bis 4. September 2002 in Johannesburg – Dokumente, Berlin September 2003
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bleibt die Charta doch auch weiterhin ein „empowering document“: Das Dokument
soll in einer weltweiten Initiative Menschen zeigen, wie sie in einer nachhaltigen Art
und Weise zusammen leben können, und es soll einen breiten Dialog über gemeinsame Werte fördern. Dieses Anliegen ist getragen von der Hoffnung, dass immer mehr
Menschen, Gruppen, Initiativen, Institutionen und Regierungen dieser ganzheitlichen
ethisch-ökologischen Betrachtungsweise zustimmen. In den 16 Grundsätzen der ErdCharta können sich viele Initiativen und Gruppen mit ihren Ideen wiederfinden, die
sich seit vielen Jahren für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung enagieren( z.B. auch im „konziliaren Prozesses“ der Kirchen seit den 80er Jahren ). Das
Dokument ist etwas Verbindendes und kann Frauen und Männern, die sich an ganz
unterschiedlichen Stellen engagieren, deutlich machen, dass sie sich aus einem ähnlichen Geist engagieren und auch eine gemeinsame Perspektive haben. Wenn dieses
Verbindende stark genug ist, können die formulierten Grundsätze einer nachhaltigen
Entwicklung auf Dauer auch verbindlich werden.
Die Ideen und Werte der Erd-Charta fundieren auf Wissenschaft Völkerrecht, Religionen und philosophischen Traditionen. Sie stammen aus den Erklärungen und Berichten der UN-Gipfeltreffen , die in den 1990er Jahren stattfanden, aus den globalen
ethischen Bewegungen, aus zahlreichen Erklärungen von NGO’s und verschiedenen
Verträgen, die in den letzten 30 Jahren geschlossen wurden sowie aus den guten Beispielen im Aufbau nachhaltiger Gemeinschaften.
Hat die Erd-Charta eine völkerrechtliche Bedeutung?
Prof. Klaus Bosselmann, Umweltvölkerrechtler mit einem Lehrstuhl in Auckland /
Neuseeland hat in einem Vortrag5 darauf aufmerksam gemacht, dass die Erd-Charta
das bisher einzige internationale Dokument ist, das den Grundsatz der nachhaltigen
Entwicklung mit konkretem Inhalt und ethischem Profil definiert. Sie könne durchaus kulturübergreifende Gültigkeit beanspruchen und durchsetzungsfähiges globales
Recht werden. Zum ersten Mal ordnet sich die Menschheit nicht nur einer Verantwortung für sich selbst unter ( wie im Beispiel der Menschenrechte ), sondern auch einer
Verantwortung für die Nachwelt und die natürliche Mitwelt. Aus völkerrechtlicher
Sicht ist die Charta zunächst nur ein Entwurf, noch dazu ohne Regierungsbeteiligung
von NGO’s und Einzelpersonen verfasst, der allerdings später völkerrechtliche Bedeutung haben könnte. Völkerrechtlich bedeutsam ist schon die Möglichkeit des sog. „soft
5
Klaus Bosselmann, Auf dem Weg zu globalem Recht - Die Erd-Charta aus der Sicht eines Juristen, in:
ÖIEW ( Hg.): Rundbrief „initiativ“ Nr. 104 ( September 2003 ), S.20 - 33
59
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
law“ ( „weiches Völkerrecht“). Anders als sog. „hard law“ ( Verträge, Gewohnheitsrecht, Allgemeine Rechtsgrundsätze ) ist ‚soft law’ nicht rechtlich verbindlich, kann
nicht ratifiziert werden und löst keine unmittelbaren Rechtsfolgen aus. Dennoch zählt
‚soft law’ heute zum festen völkerrechtlichen Bestand, weil es eine besondere politischmoralische Stärke hat, die ‚hard law’ nicht unbedingt besitzt. Denken sie z.B. an die
„Agenda 21“, die als nicht ratifizierungsfähiges ‚soft law’-Dokument Staaten zwar nicht
bindet, aber durchaus von innen her unter erheblichen politisch-moralischen Druck
setzt. Es wird gleichsam eine Ratifizierung von unten nach oben praktiziert. Von allen
in Rio verabschiedeten Abkommen hat sich die „Agenda 21“ so als die erfolgreichste,
vielleicht einzige Antriebskraft für nachhaltige Entwicklung erwiesen. Eine Annahme
der „Erd-Charta“ durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen könnte zu
ähnlichen Ergebnissen führen wie die Allgemeine Erklärung Menschenrechte im Jahre
1948.
Grundlegend für die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
An vielen Orten der Welt wurden inzwischen gute Erfahrungen in der Bildungsarbeit
mit der Erd-Charta gesammelt.. Beim Weltgipfel in Johannesburg (2002) wurde – als
ein offizielles Ergebnis – auch ein mehrjähriges Bildungsprogramm vereinbart „Educating for Sustainable Living with the Earth Charter“. Unter Federführung des internationalen Erd-Charta-Sekretariats soll dieses Programm in Zusammenarbeit mit einigen
Regierunge, vielen NGO’s und auch mit der UNESCO umgesetzt und mit Leben
erfüllt werden. Insgesamt wurde und wird die Erd-Charta von vielen Organisationen
für Bildung und Erziehung als ein sehr wichtiges und hilfreiches Instrumentarium
für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung. Wichtige Impulse für die Arbeit mit
der Erd-Charta erwarten wir uns auch von der UN-Dekade „Bildung für Nachhaltige
Entwicklung“ ( 2005-2015 ). Die Erd-Charta formuliert das als Prinzip 14 so: “In die
formale Bildung und in das lebenslange Lernen das Wissen, die Werte und die Fähigkeiten integrieren, die für eine nachhaltige Lebensweise nötig sind.“
Uns ist bewusst, dass es bei den anzuzettelnden Dialogen über grundlegende ethische
Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung um Bewusstseins- und Gefühlsbildung
unserer Gesellschaft geht. Die Erd-Charta bietet dafür einen wichtigen Ansatz. Aber
die Erd-Charta ist in sich noch nicht breitenwirksam. Sie setzt auf ein hohes Maß an
intellektueller Einsicht und moralischem Fundus, wie sie bei vielen Menschen nicht
vorauszusetzen sind. – Soll die Erd-Charta über den Kreis der ihr leicht Zustimmenden hinauswirken, wird sie in den Lebenshorizont und in den Alltag anderer sozialer
60
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
Schichten eingebettet werden müssen. Das ist eine lohnende, aber mit Mühen verbundene Übersetzungsaufgabe und kann nicht für andere geleistet werden, sondern nur
mit den erwünschten Adressaten zusammen gelingen.6
Die deutsche Koordinierungsstelle plant zurzeit ein zweijähriges Projekt, mit dem die
„Erd-Charta“ in die Sprache und Lebenswelt jungen Menschen ‚übersetzt’ werden
soll.
Zusammenfassend kann zur Bedeutung der Erd-Charta man sicher mit Günter Altner
sagen: „In der langen Tradition der internationalen Erklärungen zur Neuorientierung
des Fortschritts im Geiste von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung
nimmt die Erd-Charta eine besondere Stellung ein. Sie ist wie ein Schlussstein im
Gewölbe der bisherigen Erklärungen.“7
Und etwas weiter im Text fährt er dann fort: “Wenn die Erd-Charta einerseits Handlungsgrundsätze und -perspektiven für eine nachhaltige globale Gemeinschaft entfaltet
und andererseits die geistigen und spirituellen Voraussetzungen benennt, so liegt in
dieser zweiseitigen Ausrichtung eine wichtige Voraussetzung für weitere Schritte in
der Zukunft.“
Hermann Garritzmann
Projekt-Koordinator Erd-Charta
c/o Ökumenische Initiative Eine Welt
Mittelstr. 4
D-34474 Diemelstadt-Wethen
Tel. 05694 – 1417
eMail: [email protected]
6
Auf diesen Aspekt hat uns im Rahmen eines Workshops besonders Manfred Linz aufmerksam gemacht.
Günter Altner: Die Erd-Charta und die Aufgaben von morgen, in: Ökumenische Initiative Eine Welt
(Hg.): ECHT 09 ( = Erd-Charta-Themen ), Diemelstadt-Wethen, April 2004, S. 2-6
Weitere Informationen zur Erd-Charta:
7
• Die Erd-Charta ( 4. Auflage der deutschen Ausgabe ), Mai 2003
• ÖIEW: Rundbrief „initiativ“ Nr. 104 – als Sonderheft zur Erd-Charta,
September 2003
• Misereor Lehrerforum Nr. 45 / September 2002:
Im Brennpunkt: Die Erd-Charta
• Ausgaben 01 – 10 von „ECHT“ ( = Erd-Charta-Themen )
www.erdcharta.de
www.earthcharter.org ( international )
61
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
30 Jahre globale Umweltpolitik – 30 Jahre Erfurcht
vor dem Leben?
Falk Schmidt
Dieser als Frage formulierte Titel kann sich kaum (s)einer Suggestivkraft entziehen
und die naheliegende Antwort scheint allein in einem klaren „Nein“ zu bestehen.
Wie kann man den derzeitigen Zustand unserer Umwelt mit der „Erfurcht vor dem
Leben“ vergleichen, wie sie Albert Schweitzer vorschwebte? Wie kann man die weiter
fortschreitende Zerstörung der Natur verkennen und behaupten, in den letzten drei
Dekaden sei dem ein Riegel vorgeschoben worden? Und wie kann man schließlich in
unserer Zeit glauben, die Menschen wollen so etwas wie die „Erfurcht vor dem Leben“ als wirksamen Gegenentwurf zu unserer von der ökonomischen Globalisierung
geprägten Welt etablieren? Nein, all dies kann man wahrscheinlich nicht annehmen.
Dennoch möchte ich, vielleicht zur Verwunderung für einige Leser, eine zumindest
ansatzweise bejahende Antwort auf die Titelfrage finden und das mit Hilfe eines kurzen Abrisses der Entwicklung globaler Umweltpolitik unternehmen, die in den letzten
30 Jahren auch eine Geschichte der Kooperation der Staatengemeinschaft war, wie sie
in vergleichbarer Weise in sehr wenigen Politikfeldern stattgefunden hat.
Von Stockholm nach Rio
Bis zu Beginn der 1970er Jahre spielte die Umweltpolitik auf der internationalen Bühne nahezu keine Rolle. Wahrgenommene Probleme waren primär lokaler Natur und
wurden von nationalen Behörden bearbeitet – oder auch nicht. Doch mit zunehmendem Problemdruck drängte dieses Politikfeld auch auf die internationale Agenda und
so fand 1972 in Stockholm unter Führung der Vereinten Nationen die erste „Weltumweltkonferenz“ statt. (Deren Eröffnungstag, 5. Juni, wird seither als jährlicher
Weltumwelttag begangen.) Das Ziel dieser ersten Konferenz war die Erfassung aller
Umweltprobleme, die ein globales Ausmaß besitzen, was beispielsweise bei der Veränderung des Weltklimas, dem Verlust an genetischer Vielfalt oder der Verschmutzung
der Weltmeere der Fall ist. Mit der Gründung von UNEP, dem Umweltprogramm der
Vereinten Nationen, konnte die Konferenz zugleich die zentrale Institution für Fragen
globaler Umweltpolitik ins Leben rufen. UNEP übernimmt bis heute die Aufgabe,
die drängendsten Umweltfragen auf die Tagesordnung zu setzen, dient als „Arena“
62
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
und „Katalysator“ für umweltpolitische Prozesse und war in diesem Zusammenhang
immer wieder an der Ausarbeitung so wichtiger Umweltabkommen bzw. -regime wie
dem Washingtoner Artenschutzabkommen (1973) oder dem Montrealer Protokoll
zum Schutz der Ozonschicht (1987) beteiligt. Mit seinem Sitz in Nairobi/Kenia wurde mit UNEP das erste UN-Organ in einem sogenannten Entwicklungsland angesiedelt, was in seiner symbolischen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte.1
Einen Paradigmenwechsel und damit auch den Durchbruch erlebte die globale Umweltpolitik mit dem Leitbild „Nachhaltige Entwicklung“, das 1987 mit dem
„Brundtland-Bericht“ der gleichnamigen UN-Kommission, benannt nach der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin und Kommissionsvorsitzenden Gro Harlem
Brundtland, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Der zentrale Gedanke besteht hierbei darin, die Politikbereiche „Umwelt“ und „Entwicklung“ miteinander zu verbinden, weil sie in der Sache auch miteinander verknüpft sind – so
erzeugen und beschleunigen Armut und Unterentwicklung vielerorts schwerwiegende
Umweltzerstörungen, die ihrerseits Armut und Unterentwicklung forcieren. Zugleich
greift dieses Leitbild in seiner wohl bekanntesten Definition (der Brundtland-Kommission) Aspekte einer Zukunftsethik auf: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeit
künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“2
Eine solche Sichtweise macht (zumindest implizit) klar, dass eine Versöhnung von
Umwelt und Entwicklung sowie die Solidarität mit zukünftigen Generationen nur
durch eine Abkehr vom klassischen, auf intensiven Ressourcenverbrauch beruhenden
Entwicklungsmodell der Industriestaaten möglich wird. Ebenso wurde in den 1980er
Jahren zunehmend anerkannt, dass die Staaten eine gemeinsame Verantwortung für
globale (Umwelt-) Probleme haben, diese Verantwortung zugleich aber differenziert
ausgestaltet werden muss. So müssen die Industrieländer aufgrund ihres größeren
Handlungspotenzials (und wegen ihrer historischen Verantwortung) ein größeres Maß
der anstehenden Lasten schultern.3 Diese im Sinne „klassischer internationaler Politik“ keineswegs selbstverständlichen Grundgedanken wurden 1992 auf der Konferenz
für Umwelt und Entwicklung, Rio, das Ereignis globaler Umweltpolitik schlechthin,
auch als „Konsens von Rio“ beschrieben, der die Positionen der zunehmend an Um1
Vgl. dazu auch Schmidt 2004.
Vgl. zum Thema der Zukunftsverantwortung auch allgemein Jonas 1979 sowie Böhler, Neuberth 1993.
3
Vgl. dazu auch Apel 2000, wo philosophisch grundlegend aus dem einen, diskursethisch fundierten Moralprinzip eine je spezifische Mit-Verantwortung hergeleitet wird, um die Probleme unserer (Gefahren-)
Zivilisation bewältigen zu können.
2
63
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
weltschutz interessierten Industrieländer und die primär an (nachholender) Entwicklung orientierten Entwicklungsländer zum Ausgleich bringen sollte. Seither ist um
den Begriff „nachhaltige Entwicklung“ heftig gerungen worden, vor allem seit seiner
Weiterentwicklung zum sogenannten „Nachhaltigkeitsdreieck“, das eine ökologische,
soziale, aber auch ökonomische Säule von Entwicklung ausmacht. Wie dem auch sei,
Fakt scheint zu sein, dass trotz aller (oftmals berechtigter) Kritik höchst selten hinter
das mit diesem Politikkonzept erreichte Reflexionsniveau zurückgegangen wird.4
Auch Deutschland hat im Jahre 2002, kurz vor dem Johannesgipfel, endlich die nationale Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“ verabschiedet. Mit ihr
liegt ein Arbeits- und Diskussionspapier vor, in welchem anhand von 4 Leitbilder
(Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung) und 21 Indikatoren zur Messung der Erreichung dieser Leitbilder
Nachhaltigkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft verankert werden soll. Damit wird
Nachhaltigkeit als „Querschnittsaufgabe“ zum „Grundprinzip der Politik“ erhoben
– so wenig, so viel. Im Rundbrief des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital Lambarene verdient eines freilich besonderer Hervorhebung: Es ist Albert
Schweitzer („mit dem es begann“), der in der Kurzfassung der Nachhaltigkeitsstrategie
als Einstieg in den Unterpunkt „Global Verantwortung übernehmen“ dient.5 Das unterstreicht sowohl die Bedeutung als auch die Aktualität Schweitzers Ethik, woran es
anzuknüpfen gilt. Dies versucht dieser Rundbrief, indem er sich einem der gegenwärtig zentralen Themen wahrhaft praktisch gewordener Philosophie inhaltlich stellt.
Von Rio nach Johannesburg 6
Es war aber nicht nur ein neues Leitbild, was auf der Konferenz von Rio zu Tage
trat. Mit Repräsentanten von etwa 180 Ländern wurde dem Anliegen globaler Umwelt- und Entwicklungspolitik ein bis dato unvorstellbarer öffentlicher Rahmen bereitet und dieses Aufgabenfeld ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gerückt. Dazu
fiel diese Konferenz kurz nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts in eine
Zeitspanne, in der das Klima für neue Politikkonzepte – so auch das der nachhaltigen Entwicklung – günstig schien. Die in Rio verabschiedete und weithin bekannte
„Agenda 21“ listete auf circa 400 Seiten detailliert die bestehenden Herausforderungen auf, dient seither als wichtiger Referenzpunkt und fand ihrerseits auf lokaler Ebene
mit den Bewegungen zur „Lokalen Agenda 21“ wertvolle Entsprechungen („global
64
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
denken, lokal handeln“). Gleichfalls wurden in Rio globale Umweltabkommen bzw.
Konventionen erarbeitet, die mit den Arbeitsfeldern „Klimawandel“, „Biodiversität“
und „Desertifikation“ (Wüstenbildung) drei der drängendsten globalen Umweltprobleme endlich einen globalen Bearbeitungsrahmen gaben. Nach wie vor war und ist
es keineswegs ausgemacht, globale (Umwelt-) Probleme ebenfalls durch globale Lösungsmechanismen zu bearbeiten, weil das kooperative Zusammengehen der Staatengemeinschaft den Willen und die Fähigkeiten der einzelnen Staaten oft übersteigt.
Insofern stellen auch und insbesondere die Konventionen von Rio einen Meilenstein
globaler Umweltpolitik dar.7 Und schließlich traten in Rio die zivilgesellschaftlichen
und wissenschaftlichen Akteure mit neuer Wirkungsmacht auf und holten damit dieses für uns alle (überlebens-) wichtige Politikfeld in den Einflussbereich einer sich neu
formierenden Welt(-zivil-)gesellschaft.
Die Euphorie von Rio war bald einer Ernüchterung gewichen, die auch in Johannesburg, der Rio-plus-10-Konferenz, konstatiert wurde und die bis heute anhält. Die
1990 im Bereich des Möglichen scheinende „Neue Weltordnung“ hatte sich weder
allgemein noch in Bezug auf globale Umwelt- und Entwicklungspolitik hinreichend
durchsetzen können. Blickt man beispielsweise auf die Umsetzung der in Rio verabschiedeten bzw. initiierten Umweltkonventionen, ist „ernüchternd“ womöglich noch
eine wohlwollende Beschreibung der Sachlage. Als oft diskutiertes Beispiel sei hier an
die Klimarahmenkonvention erinnert, der durch die bislang nicht erfolgte Ratifizierung des Kyoto-Protokolls – mit diesem Protokoll soll die noch allgemein gehaltene
Klimarahmenkonvention in Bezug auf konkrete Maßnahmen weiterentwickelt wer
4
Vgl. dazu jetzt aktuell Dettling et al 2004 und Bundeszentrale für politische Bildung (2001). Vgl. zur
grundlegenden Vereinbarkeit von „schützenden“ und „progressiven“ Aspekten normativer Handlungsempfehlungen auch Apel 1988, in kritischer Auseinandersetzung mit Hans Jonas. Vgl. auch Apel 1994, wo
kritisch auf Albert Schweitzer Bezug genommen wird. Im Sammelband „Diskurs und Verantwortung“ von
1988 ist meines Erachtens die Diskursethik Apels, der auch ich inhaltlich nahe stehe, in ihrer praktischen
Reichweite nach wie vor am besten entfaltet worden.
5
Vgl. dazu: http://www.bundesregierung.de/Politikthemen/Nachhaltige-Entwicklung-,11409/Die-Nachhaltigkeitsstrategie-d.htm und besonders S. 49 der Kurzfassung mit Bezug auf Albert Schweitzer. Mittlerweile liegt bereits ein erster „Fortschrittsbericht“ (Entwurf ) vor, der im „Dialog-Nachhaltigkeit“ in einem
breiten gesellschaftlichen Diskurs erarbeitet worden ist, für Anregungen und Kritiken weiterhin offen steht
und es damit auch ein Stück weit zur Sache von uns allem macht, ob und wie dieses Politikkonzept ein
einflussreiches werden kann. Vgl. dazu: http://www.bundesregierung.de/Politikthemen/Nachhaltige-Entwicklung-,11419/Fortschrittsbericht-2004.htm
6
Vgl. dazu auch BMZ 2002.
7
Vgl. allgemein zur globalen Umweltpolitik Simonis 1996 sowie Rechkemmer 2003.
65
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
den – eine wirksamere Arbeitsweise verwehrt geblieben ist. Vor diesem Hintergrund
drängt sich zwangsläufig die Frage auf, ob nicht angesichts solch umfassender Probleme wie dem Klimawandel die eingeleiteten Maßnahmen in keinerlei Verhältnis zu den
tatsächlichen Herausforderungen stehen. Bereits 1997 auf der Rio-plus-5-Konferenz
war bemerkt worden, dass die positive Dynamik von Rio weitgehend zum Stillstand
gekommen war.
Diese Entwicklung beruht ihrerseits auf einer Reihe an Gründen, die in ihrer Komplexität hier nicht wiedergegeben werden können. Man denke hier nur an die seit
Mitte der 90er Jahre in das Bewusstsein gerückte „Globalisierung“, die ihrerseits eine
immense Dynamik entfachte, sich mit Schlagworten wie „Standortwettbewerb“ und
„Arbeitsplatzabwanderung“ in den Vordergrund schob und zugleich mit der Tatsache
der rasant gestiegenen Transport-, Handels- und Kapitalverflechtungen nun auch den
Industrieländern den (wahrgenommenen) Spielraum für ökologische Politikvorgaben
immer stärker einschränkte.8 Dieser Umstand brachte und bringt verheerende Folgen
mit sich. So kann beispielsweise Paul Wapner von der School of International Service,
Washington, konstatieren, dass mit dem Prioritätenwechsel in den Industrieländern
und insbesondere in den Vereinigten Staaten (hin zu Fragen der ökonomischen Globalisierung) der globale Umweltschutz seine wichtigsten Fürsprecher und damit an
Schlagkraft verloren habe.9 Ebenso wird weithin festgestellt, dass im Zuge der schleppenden Umsetzung der Beschlüsse von Rio die Industrieländer stark ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten, eben weil ihren großen Worten keine Taten folgten. Dies kann
beispielsweise in letzter Konsequenz dazu führen, dass viele Entwicklungsländer zu
keinen umweltschonenderen Politiken bereit sind, solange die Industrieländer nicht
endlich ihre „Vorreiterschaft“ ernst nehmen – so etwa auch ein Argument aus der Perspektive vieler Endwicklungsländer in Sachen Reduktion der Treibhausgase.
Von Johannesburg nach -???Angesichts dieser Entwicklung seit Rio war das zentrale Dokument des Johannesburggipfels für Nachhaltige Entwicklung, 2002, folgerichtig auch der sogenannte Johannesburg Implementierungsplan, der unter anderem zur Umsetzung von Zielen im
Bereich Süßwasser, Energie, Erhaltung der Fischbestände und Schutz der Weltmeere
sowie zur Bannung der gefährlichsten Umweltgifte auffordert. Auch wenn dieser Plan
leider (zu) oft nicht ausreichend konkret und ohne Sanktionspotenzial verfasst worden
ist, so dokumentiert er doch die Einsicht, dass das Gebot der Stunde die Anwendung
66
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
der oftmals schon richtig erkannten Problemlösungsstrategien ist. Nun reicht dieser
Umstand, d.h. die klare Wahrnehmung und Anerkennung des Umsetzungsproblems
der Politik nachhaltiger Entwicklung, allein gewiss nicht hin, den Johannesburggipfel
einen Erfolg zu nennen. Sieht man diesen Gipfel aber auch vor seinen gegenüber Rio
ungleich schwierigeren Bedingungen (ökonomische Globalisierung, aber auch der 11.
September 2001 und dessen Folgen sowie eine allgemeine „Multilateralitätskrise“ seit
einiger Zeit), dann muss man ihm doch zuerkennen, dass er globaler Umwelt- und
Entwicklungspolitik erneut einen zentralen Platz auf der internationalen Agenda einräumen konnte und die anstehenden Herausforderungen (abermals) klar benannt hat,
denen sich die Staatengemeinschaft weiterhin stellen muss.
Darüber hinaus können auch einzelne durchaus hoffnungsvolle Entwicklungen aufgelistet werden. So wurden in Johanneburg „neue Elemente“ globaler (Umwelt-) Politik
eingesetzt, so z.B. die sogenannten „Typ-2-Abkommen“, die es motivierten individuellen „Vorreitern“ (Staaten und/oder zivilgesellschaftliche Akteure) erlauben, in einem
Arbeitsfeld auch ohne die Zustimmung der gesamten Staatengemeinschaft tätig zu
werden.10 Ein meines Erachtens vielversprechendes Beispiel eines solchen „Typ-2-Abkommens“ war die eben zu Ende gegangene „renewables 2004“, die von der deutschen
Bundesregierung initiierte Konferenz zur Förderung erneuerbarer Energien, Bonn,
Juni 2004. Des weiteren war auch in Johannesburg der anhaltende Bedeutungszuwachs zivilgesellschaftlicher Gruppen (NGOs) zu verzeichnen gewesen, die sich damit
ein weiteres Mal als relevante Akteure dieses Politikfeldes präsentiert hatten und die
in ihren parallel zum offiziellen Gipfel abgehaltenen „Events“ vielmals äußerst professionell und einflussreich agierten. Ein Novum von Johannesburg war auch die relativ
starke Beteiligung der Privatwirtschaft, die von vielen Vertretern der Zivilgesellschaft
sehr kritisch gesehen wurde, deren tatsächlicher Einfluss, zum Positiven wie zum Negativen, sich aber in den nächsten Jahren erst noch erweisen wird. (Und: Ebenso sind
die Aktivitäten von NGOs keineswegs immer, d.h. quasi „naturgesetzlich“, der Sache
8
Das Phänomen der Globalisierung ist freilich nicht allein auf seine ökonomische Ausprägung reduzierbar.
Gleichwohl ist es oft dieser Bereich, d.h. die (noch) ungeregelt vonstatten gehende ökonomische Globalisierung, die viele Folgeprobleme hervorbringt und es ist auch diese Dimension der Globalisierung, die
primär von den sogenannten „Globalisierungskritikern“ „attackiert“ wird. In dieser Kontroverse wird dann
vorwiegend mit dem Schlagwort „Neoliberalisierung“, und deren Ziel bzw. Wunschbild eines freien Welthandels, operiert.
9
Vgl. Wapner 2003.
10
Der hierfür geprägte Begriff ist der der „Koalition der Willigen“ – dieser reicht somit über seine traurige
Berühmtheit hinaus, die er im Zusammenhang mit der US-amerikanisch geführten „Koalition der Willigen“ des Irakkrieges erreicht hat.
67
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
dienlich. Deshalb müssen auch sie sich einer kritischen Beurteilung stellen; was bisweilen vergessen zu werden scheint.) Das Politikfeld der nachhaltigen Entwicklung ist
keine Domäne rein zwischenstaatlicher Verhandlungen mehr ist. Mit den „tausend
Gesprächen und Konferenzen zu Menschheitsfragen“ (Apel) hat sich in den letzten
Jahren ein vielschichtiges Akteursgeflecht zur Bearbeitung der anstehenden Probleme
herausgebildet, in welchem, im Idealfall, staatliche Maßnahmen und zivilgesellschaftliche Initiativen als komplementäre Elemente globaler Politik ineinander greifen. Mit
anderen Worten: Globale Umwelt- und Entwicklungspolitik muss und kann durch
eine Globalisierung der Ordnungspolitik, auch „Global Governance“ genannt, unterstützt werden.11 Schließlich war im Zusammenhang mit (wenn auch nicht auf ) dem
Johannesburggipfel die Frage der institutionellen Aufwertung globaler Umweltpolitik,
sprich der Ausbau des Umweltprogramms UNEP zu einer Weltumweltorganisation
(vergleichbar mit der Weltgesundheitsorganisation WHO oder auch der Welthandelsorganisation WTO) thematisiert worden. Dieses Ansinnen fußt auf der Überzeugung,
dass der gegebene institutionelle Rahmen trotz einer guten Arbeit seitens UNEP – und
dies insbesondere seit der Amtszeit Klaus Töpfers bei UNEP – nicht den bestehenden
Herausforderungen gerecht wird und es deshalb einer signifikanten Aufwertung (bezüglich des Mandats und natürlich auch der Finanzen) bedarf.12
Abschließend sei von den aktuellen Entwicklungen des „Johannesburgfolgeprozesses“
zumindest noch eines genannt: Nach dem Johannesburggipfel hat die jährlich tagende Commission on Sustainable Development (Kommission für nachhaltige Entwicklung) der Vereinten Nationen im Frühjahr 2003 mit Bezug auf den Johannesburg
Implementierungsplan ein ehrgeiziges Programm zur Bearbeitung zentraler Themen
globaler Umwelt- und Entwicklungspolitik entworfen und mit der diesjährigen ersten
Sitzungsperiode zum Thema „Globale Wasserpolitik“ einen verheißungsvollen (Neu-)
Start unternommen.
Wenn ich an dieser Stelle erneut die im Titel aufgeworfene Frage aufgreife, dann möchte
ich sie jetzt dahingehend beantwortet wissen, dass in 30 Jahren globaler Umweltpolitik
eine Reihe an Entwicklungen stattgefunden haben und ein vielfältiges Instrumentarium zur Lösung globaler (Umwelt- und Entwicklungs-) Probleme geschaffen worden
ist, die ohne hochengagierte Menschen und dazu ohne einen zumindest partiellen normativ-ethischen Rahmen nicht denkbar gewesen wären. Dass viele notwendige Veränderungen noch nicht stattgefunden haben bzw. dass die vollzogenen Veränderungen
nicht immer mit dem Problemzuwachs Schritt halten, ist wahrscheinlich weniger auf
das Versagen der Umweltpolitik als solches, sondern vielmehr darauf zurückzuführen,
68
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
welchen Stellenwert Umweltpolitik innerhalb des politischen Prozesses überhaupt einnimmt. Diesem Politikfeld ein größeres Gewicht zu geben, durch eigene Konsum- und
Lebensgewohnheiten massiv ressourcenverbrauchende Wirtschaftsformen nicht zu
unterstützen und durch persönliches Engagement auch alternative Formen des Umweltschutzes zu entwerfen, dies sind alles ganz reale Möglichkeiten für einen jeden von
uns, der gestellten Herausforderung einer globalen nachhaltigen Entwicklung gerecht
zu werden. Hans Jonas hat davor gewarnt, in Fatalismus zu verfallen, auch wenn die
Probleme noch so übermächtig erscheinen mögen und der Erfolg unseres Engagements
nicht gewiss ist. Karl-Otto Apel ruft dazu auf, den moralischen Fortschritt im Auge zu
behalten und mitverantwortlich und „frustrationsresistent“ zu dessen Verwirklichung
beizutragen. Albert Schweitzer hat mit seiner „Ethik der Erfurcht vor dem Leben“ als
einer der ersten im 20. Jahrhundert unseren ethischen Horizont radikal universalisiert
und mit seinem Leben eindrucksvoll demonstriert, dass normative Forderungen auch
umsetzbar sind. Mit diesen drei Denkern im Rücken kann man sich den Herausforderungen globaler Umwelt- und Entwicklungspolitik nur stellen wollen.
11
Vgl. zur Konkretisierung einer Politik der Global Governance auch die Reihe „Globale Trends“ der Stiftung Entwicklung und Frieden, hrsg. von Hauchler, Messner und Nuscheler.
12
Vgl. dazu Rechkemmer, Schmidt 2004 und zur Bewertung der Umweltpolitik seit Johannesburg allgemein dies. 2003.
69
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Literatur:
Apel, Karl-Otto (1988): Verantwortung heute – nur noch Prinzip der Bewahrung und Selbstbeschränkung
oder immer noch der Befreiung und Verwirklichung von Humanität?, in: ders. Diskurs und Verantwortung,
Frankfurt a.M., S. 179-216
Ders. (1994): Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik, in: Böhler, Dietrich (Hrsg.)
Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München
Ders. (2000): First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Begründung einer planetaren Makroethik, in: Kettner, Matthias (Hrsg.) Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt a.M.
Böhler, Dietrich; Neuberth, Rudi (Hrsg.) (1993): Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas
zu Ehren, Münster
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hrsg.) (2002): BMZ Spezial
Nr. 54, Von Rio nach Johannesburg, Bonn
Bundesregierung (2004): Politikthema „Nachhaltige Entwicklung“; abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Politikthemen/-,11405/Nachhaltige-Entwicklung.htm
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2001): Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, vom 16. März 2001, Schwerpunkt Nachhaltige Entwicklung, Bonn
Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation,
Frankfurt a.M.
Rechkemmer, Andreas (2003): Lösungsansätze für globale Umweltpolitik, in: Bundeszentrale für politische
Bildung (Hrsg.) Informationen zur politischen Bildung, Globalisierung, Bonn
Rechkemmer, Andreas; Schmidt, Falk (2003): Ein Jahr nach Johannesburg. Zum (Zu)Stand globaler Umweltpolitik, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin; abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/
get_document.php?id=562
Dies. (2004): Reform der Architektur globaler Umweltpolitik, Konferenzbericht, Stiftung Wissenschaft und
Politik, Berlin; abrufbar unter: http://www.swp-berlin.org/common/ get_document.php?id=812&PHPSES
SID=b8e2ba378c5407dd18c049c420a9006f
Schmidt, Falk (2004): Internationale Organisationen und die Kommunikation des Konzeptes nachhaltiger
Entwicklung – der Fall UNEP, in: Dettling, Daniel et al (Hrsg.) Lust auf Zukunft. Kommunikation für eine
nachhaltige Globalisierung, Norderstedt
Simonis, Udo E. (1996): Globale Umweltpolitik. Ansätze und Perspektiven, Mannheim
Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends. Fakten, Analysen, Prognosen, hrsg. von Hauchler, Ingomar et al, Frankfurt a.M.
70
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Wapner, Paul (2003): World Summit on Sustainable Development: Toward a Post-Jo`Burg Environmentalism, in: Global Environmental Politics, Februar 2003, S. 1-10
FALK SCHMIDT, geb. 1975, studierte Philosophie, Wirtschaft und Recht mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsethik. Derzeit promoviert er zum Thema “Globale Umweltregime”.
71
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Was bringen Institutionen?
Albert Schweitzers Individualethik in einer
organisierten Welt
Falk Schmidt im Gespräch
P.M.: Albert Schweitzer richtet mit seiner
Individualethik seine Aufmerksamkeit
auf den Einzelnen und dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Er selber hat mit
seinem Leben gezeigt, was einem Einzelnen möglich ist. Andererseits leben wir
heute in einer Welt weitverzweigter Institutionen und Organisationen. Für ethische Fragen werden extra Kommissionen
mit Fachleuten geschaffen. Die humanitäre Hilfe wird zuständigen Organisationen übergeben. Der Einzelne scheint nur
noch als Geldgeber nötig. Gibt es also
eine „institutionalisierte Menschlichkeit“ (Drewermann), die dem Menschen
die ethische Bildung und Arbeit erlässt?
Brauchen wir den Einzelnen überhaupt
noch?
Schmidt: Um einen Einstieg zu finden,
möchte ich an Überlegungen der Diskursethik anknüpfen, mit der ich mich
seit einiger Zeit intensiv beschäftige.
Karl-Otto Apel, der Begründer der Diskursethik, hatte bereits in den 1970er
Jahren die Notwendigkeit gesehen, zu
sogenannten „makroethischen“ Fragen
vorzudringen. Darunter verstand er, dass
unsere moderne Zivilisation ethische Pro
72
bleme solchen Ausmaßes mit sich bringt,
die mit traditionalen ethischen Maßstäben, hier könnte man in einem ersten
Zugang auch von „Individualethik“ sprechen, kaum noch erfasst werden können.
Dieser Herausforderung musste sich die
akademische Ethik erst einmal stellen,
was bis heute anhält. Die Frage die sich
nämlich stellte war die, wie die Herausforderungen moderner Gefahrenzivilisationen überhaupt noch an den Einzelnen
herangetragen werden können, ohne in
einem selbst unverantwortlichen „Verantwortungsutopismus“ zu münden. In
den mittlerweile gut 30 Jahren, in denen
dieser Diskurs verfolgt wird, wurde das
Prinzip „Mitverantwortung“ erarbeitet,
das die Verantwortung differenziert. So
gibt es neben der individuellen Verantwortung auch eine Verantwortung des
Einzelnen als Rollenträger auf der Ebene
der Institutionen, seien diese nun lokal,
national oder global angesiedelt. Schließlich gibt es auch noch oberhalb der Institutionen etwas, was Apel die „Meta-Institution“ des Diskurses nennt und die,
anders ausgedrückt, gut mit „kritischer
(Welt-) Öffentlichkeit“ beschrieben werden kann. Diese erfüllt die Aufgabe, die
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
faktischen Institutionen kritisch zu hinterfragen, nicht zuletzt weil Institutionen
in ihrer Wirkung ambivalent sind – worauf ja auch Schweitzer immer wieder
verwiesen hat.
Somit möchte ich als erste Antwort festhalten, dass wir institutionalisierte Formen von Verantwortung benötigen, um
unsere wahrhaft „erdrückenden“ Probleme überhaupt noch lösen zu können.
Zugleich muss der Mensch neben seiner
Funktionen als institutioneller Rollenträger noch einmal unterhalb und oberhalb
der Institutionen zu Geltung gebracht
werden, wird also auch dann nicht „aus
seiner Verantwortung entlassen“, wenn
er keine institutionell gebundene Verantwortung trägt – was für jeden von uns ja
in den allermeisten Fragen der Fall ist.
P.M.: Hier möchte ich noch einmal nachfragen. Ist der Einzelne in einer globalen
Welt nicht schlichtweg von vielen Problemen überfordert? Zum einen haben wir
globale Probleme, wo der Einzelne das
Gefühl hat, er könne sie ohnehin nicht
lösen, zum anderen werden die Themenbereiche dazu immer komplizierter, man
denke etwa an den Bereich der Gentechnologie. Verführt nicht die Flut auch der
Institutionen und Kommissionen und
deren je spezifischen Zuständigkeiten
dazu, dass man sich immer mehr aus den
Problemstellungen herauszieht und damit
die eigene ethische Kompetenz grundsätzlich an externe Institutionen abgibt?
Schmidt: Diese Gefahr ist unbestritten
und auf keinen Fall will ich mit dem genannten, noch recht groben differenzierten Verantwortungskonzept einen „naiven Optimismus“ verbreiten. Durch das
„Zusammenrücken der Welt“, durch globale Interdependenzen ist der Einzelne in
seiner Urteilskompetenz und erst recht
in seinen Handlungsfähigkeiten sehr oft
hoffnungslos überfordert, was in letzter
Konsequenz zu Resignation, bis hin zu
Apathie gegenüber den Problemen, und
schließlich zur Abgabe von Verantwortung führen kann – und das auch oft bei
Menschen „guten Willens“. Hans Jonas,
ein anderer Bezugspunkt meiner Studien,
hat darauf verwiesen, dass zunehmend
die „Merkwelt“ und die „Wirkwelt“ der
Menschen auseinander fallen, was, etwas
abgewandelt, in unserem Zusammenhang zu folgendem Sachverhalt führt:
Während wir in der Erzeugung (Wirken)
von moralischen Problemen diese Handlung vielerorts kaum noch als moralisch
problematisch wahrnehmen (Merken),
z.B. die Auswirkungen von CO2-Ausstoß oder die Folgen einer global vernetzten Wirtschaftsweise, erzeugt unser
Engagement (ebenfalls ein Wirken) zur
Behebung verschiedener Defizite oftmals
vermeintlich keinerlei wahrnehmbare
(Merken) Resultate. Es scheint evident,
dass dies unmittelbar auf die Motivation Einzelner zu moralischem Handeln
durchschlägt, weil sie sich ohnmächtig
fühlen.
73
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
Gleichzeitig möchte ich etwas Positives
herausstellen. So hat sich etwa im Zuge
der Globalisierung auch so etwas wie eine
„Weltgemeinschaft“ zumindest in Ansätzen herausgebildet, nicht zuletzt um
bereits bestehende globale Probleme bearbeiten zu können. Hier denke ich beispielsweise an ökologische Probleme wie
den Klimawandel oder die Ausdünnung
der Ozonschicht, die globalen Ausmaßes
sind und gerade deshalb eine ebenfalls
globale Antwort erhalten müssen – diese
Herausforderung besteht. Freilich gilt es
hier, den Einzelnen nicht zu übergehen,
ihn in die „Weltgemeinschaft“ hineinzuholen, was beispielsweise eine immense Herausforderung für die (ethische)
Bildung darstellt. So könnte es letztlich
vielleicht in „globalen Netzwerken“ möglich werden – und teilweise ist das schon
Realität – , die eigene Wirksamkeit auch
in globalen Fragen erfahren zu können
(„Eine andere Welt ist möglich“).
P.M: Auch bei den bereits mehrfach angesprochenen Organisationen muss man
letztlich sagen, dass es der Einzelne ist,
der handelt. Die eine Frage wäre nun,
wie man Menschen gewinnt, in Institutionen mitzuwirken. Aber ich möchte hier
mit Albert Schweitzer noch einmal kritisch weiterfragen: Die Arbeit einer Organisation ist „zu unpersönlich, zu wenig
menschlich“, „jede Organisation [...] ist
auf Dauer nur so viel wert, als sich tüchtige Menschenenergien in ihr betätigen,
74
denn die persönliche Initiative, die vielgestaltig anpassungsfähige Kraft der Einzelnen, ist die Einheit, aus der sich jede
wirkliche Leistung aufbaut“ (Predigt, 1.
Juni 1919).
Und an anderer Stelle kritisiert Schweitzer: „dass wir uns bei der Tätigkeit der
Gesellschaft und der Gesellschaften zu
leicht beruhigen und es im Vertrauen auf
sie mit unserer persönlichen Verantwortung zu leicht nehmen“.
Besteht also nicht die Gefahr, dass Institutionen unpersönlich bleiben und sich
verselbständigen? Und noch mehr: man
weiß halt, dass es Amnesty International,
den BUND und ähnliche Organisationen gibt, die sich schon um die Probleme kümmern. Wie kann man dann dem
Einzelnen noch deutlich machen, dass es
auch auf ihn ankommt?
Schmidt: In einer rein diskursethischen,
d.h. philosophischen Antwort auf diese Frage könnte ich nochmals darauf
verweisen, dass die Pointe der Mitverantwortung gerade darin besteht, vom
Einzelnen den je individuell möglichen
Beitrag zur Lösung der anstehenden
Probleme einzufordern, man sich damit
auch nicht „aus der Verantwortung stehlen“ kann. Der Einzelne ist und bleibt
Adressat ethischer Überlegungen, nicht
eine abstrakte Organisation. Darüber hinaus möchte ich ernüchternd festhalten,
dass Institutionen notwendiger Weise ein
gewisses Maß an „Verselbständigung“
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
- man könnte hier auch von „Entfremdung“ sprechen - in sich bergen. Wenn
wir dennoch für viele Probleme einen
durch Institutionen gestützten Lösungsweg brauchen, was ich erneut unterstreichen möchte, dann ist die sich stellende
Frage, wie man die negativen Begleiterscheinungen kleingearbeitet bekommt.
Und das führt mich zu einem Punkt, der
in meiner Wahrnehmung – die in diesem Punkt durchaus auch eine falsche
sein kann – bislang in der Schweitzerforschung etwas einseitig ausgefallen ist: es
ist das Verhältnis von Schweitzer zu den
Institutionen, das bekanntlich eher ein
kritisches ist. Dieses Verhältnis basiert
meines Erachtens zumindest zum Teil
auf den konkreten Entwicklungen einer
Zeit, in der Schweitzer zum Beispiel die
Kulturphilosophie erster und zweiter Teil
verfasst hatte, also in etwa Anfang des 20.
Jahrhunderts. In dieser Zeit wurden auch
andere Werke verfasst. Man denke hierzu
etwa an Max Webers „Bürokratietheorie“, die in idealtypischer Weise die Organisation als von formaler Rationalität
geprägte Einheit umschrieb und auch für
die Praxis anempfahl. Oder man denke
an Frederick W. Taylor, der mit seinem
„Scientific Management“ zwar in der damals noch „neuen Welt“ beheimatet war,
mit seinen Überlegungen zur Fließbandfertigung aber schon bald die gesamte
industrielle Arbeitswelt revolutionierte.
Ich vermute nun, dass sich Schweitzers
Institutionenkritik aus diesen realen Ent-
wicklungen speiste und insofern auch berechtigt ist, zumal in ethischer Hinsicht.
Nun setzte aber seit den 1960er Jahren
eine Entwicklung ein, die zu Organisationsmodellen und neuen Arbeitsweisen
führten, die im individuellen Mitarbeiter keinen Störfaktor für immer gleich
zu verrichtende Prozessabläufe, sondern
vielmehr den Garant für den Erfolg erblickten, und das gilt, prinzipiell versteht
sich, für privatwirtschaftliche, öffentliche
und ehrenamtliche Organisationen gleichermaßen. So wird es heute vielerorts
anerkannt, dass der Erfolg von Organisation in vielen Bereichen nur noch über
innovative, selbstdenkende und Verantwortung übernehmende Mitarbeiter zu
erreichen ist. Anders formuliert: In gelungenen Organisationsformen finden
Individuen institutionelle Stützen für
ihr Engagement – was auch dem Inhalt
des Schweitzerzitats sehr nahe kommen
dürfte. Auch hier will ich vor zu viel Optimismus warnen, gewiss ist noch vieles
verbesserungswürdig, was insbesondere
im globalen Kontext gilt. Dennoch sollte man es nicht versäumen, die erzielten
Verbesserungen zu würdigen, zu bewahren und freilich weiter auszubauen.
P.M.: In diesem Zusammenhang entsteht auch die Frage, wo man ein Verantwortungsgefühl verankert. Aus welchem
Teil der menschlichen Persönlichkeit
entspringt so etwas wie Initiative zu
ethischem Handeln? Für Schweitzer war
75
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
das weniger die Frage einer politischen
Einstellung oder eines allgemeinen Bewusstseins für gesellschaftliche Zusammenhänge. Schweitzer nimmt Bezug zur
Gesinnung des Einzelnen und sagt, dass
eine solche nicht von juristischen Institutionen geschaffen wird, „dies vermag nur
der ethische Geist“. Ist solch ein Glaube
heute überhaupt noch realistisch?
Schmidt: Auch das spricht eine weit
verzweigte Debatte innerhalb der ethischen Diskussion an, die sich um die
konfrontative Gegenüberstellung von
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik rankt. So gesteht man dem Gesinnungsethiker zu, dass er das Gute will,
zugleich wird aber behauptet, dass er
an der „grausamen Realität“ oft scheitern müsse. (Und Schweitzer ist inhaltlich und mit seiner „neukantianischen
Herkunft“ auch geistesgeschichtlich ein
klassischer Gesinnungsethiker.) Der reine Verantwortungsethiker neigt hingegen dazu, das normativ Wünschenswerte
bzw. Gesollte auf das Machbare zu reduzieren. Auch in dieser Frage besteht die
meines Erachtens einzige Lösung darin,
das eine (Gesinnung) zu tun, ohne das
andere (Realisierbarkeit) zu lassen. Man
muss also in verantwortungsethischer
Weise die realen Umstände mitbedenken, ohne jedoch die eigene Gesinnung
im harten Alltagsgeschäft zu verlieren.
Erst wenn man beide Seiten vereint, wird
es überhaupt möglich, bestehende, oft
76
unmoralische Zustände tatsächlich und
(!) unter ethischen Gesichtspunkten zu
verändern.
Das philosophisch grundlegendere Problem besteht freilich noch darin, inwieweit aus im Denken gewonnener Einsicht Motivation zum Handeln entstehen
kann, mit anderen Worten, ob so etwas
wie eine „Einheit von Denken und Handeln“ existiert. Dass Einsicht auf unsere
Motivation durchschlagen kann, ohne sie
zu determinieren – und dies tatsächlich
auch immer wieder tut – , ist ein Punkt,
in welchem ich mich ganz mit Schweitzer
wähne.
P.M.: Auch das Thema dieses Rundbriefes, die nachhaltige Entwicklung, benötigt einen ethischen Boden, etwa wenn
es darum geht, die zukünftigen Generationen in unser Denken und Handeln
einzubeziehen. Nun ist eine solche Zukunftsverantwortung nichts rein Abstraktes oder ausschließlich auf spätere
Generationen bezogen, sondern wird in
unseren schon heute lebenden Kindern
und Jugendlichen ganz konkret. Welche
Angebote könnte man ihnen unterbreiten, sich auch als aktiv gestaltender Teil
in und vielleicht auch für unsere(r) Welt
fühlen zu können?
Schmidt: Vorab möchte ich eine allgemeine, persönliche Sicht auf die ethische
Bildung werfen. Hier fällt meine Bilanz
unterm Strich durchaus positiv aus, weil
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
sich in den letzten Jahrzehnten viele notwendige gesellschaftliche Diskurse verankern konnten, die ohne einen Bezug
zu ethischen Fragen gar nicht denkbar
gewesen wären – und der Diskurs über
Nachhaltigkeit ist einer davon. Dies
war wohl nur deshalb möglich, weil auf
eine hinreichend große Resonanz in der
Gesellschaft gebaut werden konnte, die
erst einmal herzustellen war und in der
ökologischen Frage vor 1970 so noch
nicht bestand. Dass es hierzu noch besser gehen könnte und dass in den letzten
Jahren eher ein abflauendes Engagement
ausgemacht wird, möchte ich nicht bestreiten. Blickt man jedoch auch auf die
Herausforderungen, die in den letzten
Jahren mit der Globalisierung allgemein
und für Deutschland insbesondere hervorgebracht worden sind (oder auch nur
in den Köpfen der Menschen existieren),
dann sehe ich noch immer erstaunlich
viel guten Willen, der das Handeln vieler Menschen antreibt. Die in den letzten
Jahren deutlich an Anzahl und Bedeutung gestiegenen NGOs (Nichtregierungsorganisationen) – die in den meisten Fällen auch zu begrüßen sind – sind
ebenso ein gutes Anzeichen dafür, wie
über neue, innovative Ansätze, oft auch
„Graswurzelbewegungen“ genannt, der
Einzelne sich in aktuelle Themen einbringen kann. Diese vorhandenen Entwicklungen gilt es politisch zu stärken
und ethisch zu orientieren, um immer
neue Wege der richtigen „Arbeitsteilung“
zwischen staatlichen Institutionen und
zivilgesellschaftlichen Initiativen zu finden. Freilich kann man sich auf einmal
Erreichtem nicht ausruhen, schließlich
muss jede Generation, ja jeder einzelne
Mensch neu an die Herausforderungen
herangeführt werden. Und: Weder der
Erfolg der Bemühungen noch das stetige
Ansteigen ihrer Früchte sind gewiss und
dennoch sind wir darauf verpflichtet.
Ein besonders interessantes Projekt
scheint sich mir mit dem „Dialog-Projekt“ von Tomaso Carnetto anzubahnen.
Soweit ich bislang Einblick hatte, sehe
ich in der Thematisierung von ethischer
Orientierung und dem eigenen lebensweltlichen Hintergrund der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen einen sehr
fruchtbaren und konkreten Ansatz. Hier
kann nämlich die Verbindung zwischen
individueller Umwelt und allgemeinen
bzw. universalen ethischen Überlegungen
(und umgekehrt!) erfahren werden. Das
beste an diesem Vorhaben scheint mir
aber zu sein, dass dies nicht nur in der
Form „klassischer Bildungsmaßnahmen“
gleichsam „von oben herab“, sondern
im Dialog, d.h. im konkreten Miteinander-Reden geschieht und daher von den
Teilnehmenden auch wirklich angeeignet
oder auch verinnerlicht werden kann. Insofern stellt dieses Projekt ebenfalls eine
hervorragende Antwort auf die vorangegangene Frage dar, weil hier ein Weg aufgezeigt wird, wie „ethische Gesinnung“
entstehen kann. Weiter so!
77
A L B E R T S C H WE I T Z ER IM DENK EN UND HANDELN UNSERER ZEI T
P.M.: Werfen wir noch einen Blick auf
den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung von Johannesburg, 2002. Dort hatte man primär ein großes Umsetzungsproblem festgestellt. Wäre eine größere
und substanzvollere ethische Basis im
einzelnen Menschen nicht auch hier der
Schlüssel für bessere Ergebnisse? Sind
es nicht die vielen einzelnen Menschen
und nicht die Großorganisationen und
„Mega-Konferenzen“, die in Sachen Umsetzung wirklich etwas bewegen können?
Schmidt: Das bringt uns noch einmal
zu unserer Eingangsdebatte zurück. In
diesem Anwendungsbereich muss man
vorerst sagen, dass die wissenschaftliche
Reflexion zur Umsetzungsproblematik
nicht so sehr auf ein Defizit in der ethischen Gesinnung hinweist, sondern auf
fehlende Rahmenbedingungen, falsche
ökonomische Anreize und eben die bereits
erwähnte Globalisierung, die vielerorts
bislang rein ökonomischer Natur geblieben ist. So sehr wir diese institutionellen
Rahmenbedingungen weiterhin auf eine
Orientierung der Nachhaltigkeit abstimmen müssen, und damit in unserer modernen Gesellschaft sicher auch die „big
points“ in Sachen Umsetzung zu erzielen
sind, so sehr hat meines Erachtens auch
die „ethische Gesinnung“ eine, ja die
zentrale Funktion zu übernehmen. Es ist
äußerst interessant zu sehen, dass in keinem politischen Dokument, z.B. im Johannesburg-Plan der Implementierung,
78
der Hinweis auf den „politischen Willen“
fehlt, der vorhanden sein muss (!), um
überhaupt zur Umsetzung nachhaltiger
Politikmaßnahmen vorzudringen. Nehmen wir hierzu den Fall des mittlerweile
recht bekannten Emissionshandels, der
zum derzeitigen Stand des Wissens ein
wirksames Instrument zur Bekämpfung
des Klimawandels sein kann. Auch wenn
die tragende Säule dieses Instrumentes
darin besteht, umweltpolitische Vorgaben quasi „systemimmanent“ über Preise
zu reformulieren, was dann das Verhalten
der Unternehmen direkt steuern kann,
kann die Motivation bzw. der Wille zur
Etablierung (und konsequenten Anwendung!) dieses Instruments nicht selbst
allein aus monetären Überlegungen abgeleitet werden. Mit anderen Worten:
ohne eine breitere, normative Grundlage
sowohl bei den Entscheidungsträgern als
auch in der davon betroffenen Gesellschaft können auch so raffinierte Konzepte wie der Emissionshandel letztlich
nicht zielgerichtet eingesetzt werden.
Es ist meine feste Überzeugung, und
das kann man auch begründen, dass
nicht alle Probleme dieser Welt durch
sogenannte „Win-Win-Strategien“, d.h.
durch rein zweckrationale Überlegungen
zu beidseitigem Nutzen aufgelöst werden
können.
Wir brauchen einen ethischen Boden
für unsere institutionellen Arrangements, der gegebenenfalls auch widerstrebenden Partikularinteressen (z.B.
ALB ER T SCHWEITZER IM DENKEN UN D HA N D ELN UN SERER ZEI T
der Kohle-Lobby beim Emissionshandel) standhält. Diese ethische Basis, das
möchte ich noch einmal festhalten, bezieht sich aber nicht allein auf die je individuellen Aktivitäten, sondern ebenso
auf das mitverantwortliche Handeln aller, die den politischen Willen zum Entwerfen und Umsetzen einer „Kultur der
Nachhaltigkeit“ einfordern sollen und
können.
FALK SCHMIDT, geb. 1975, studierte Philosophie, Wirtschaft und Recht mit dem Schwerpunkt
Wirtschaftsethik. Derzeit promoviert er zum Thema „Globale Umweltregime“.
79
Z WI S C H E N R U F
Albert Schweitzer gescheitert?
Horst Gunter
Welthistorisch betrachtet ist Albert Schweitzer mit seiner Lehre gescheitert. 100 Jahre
nach ihrer Entstehung ist die Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zwar eine
hehre Idee, eine wünschenswerte Konzeption, erdacht von einem Gelehrten. Er selbst
hat sie lebenslang unter schwierigen Bedingungen praktiziert, aber die Welt hat sie
nie akzeptiert, nicht einmal verstanden, jedenfalls nirgends realisiert. Schon als Albert
Schweitzer den Begriff seiner Ethik auf dem Ogowe in Afrika fand, wurde die Ethik
der „Ehrfurcht vor dem Leben“ durch den 1. Weltkrieg mit seinen Massakern widerlegt. Schlimmer noch im 2. Weltkrieg, als Albert Schweitzer seine Ethik bereits in
mehreren Büchern ausgearbeitet hatte und sie weltweit bekannt wurde.
Im 2. Weltkrieg wurde die Ethik „der Ehrfurcht vor dem Leben“ ad absurdum geführt
mit den Millionen von Menschenopfern von Stalingrad bis Ausschwitz, von Hiroshima bis Nagasaki. Die Wannseekonferenz in Berlin mit dem folgenden Holocaust,
der 6 Millionen Menschen das Leben kostete, die Vernichtung von über 50 Millionen
Menschen in den Trümmern der Städte und Industrien, sprechen der „Ehrfurcht vor
dem Leben“ Hohn. Die Erfindung und Anwendung von Nuklearwaffen sprechen so
laut, dass die leise Stimme Albert Schweitzers nicht zum Zuge kommt. Und mit dem
2. Weltkrieg fand das Massentöten ja kein Ende. Schrecklichere Waffen noch wurden
erfunden und angewendet. Chemische und biologische Massenvernichtungsmittel
und die Völkermorde setzten sich Jahr für Jahr durch das ganze 20. Jahrhundert fort.
Und heute?
Nach 100 Jahren Wirkungsgeschichte seiner Lehre? Wissenschaftlich publiziert, jedoch von der Menschheit und ihrer Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen,
erleben wir die im Moment letzte furchtbare Erfindung einer Waffe und gerade sie
steht im schrecklichen Kontrast zur Ethik Albert Schweitzers, denn sie beruht auf der
Vernichtung eigenen Lebens, um anderer Leben zu vernichten. Gemeint ist die Waffe der sogenannten Suizid-Attentate. Seither prägt der Terror die Völker, wütet und
breitet sich aus, während es um Albert Schweitzer immer stiller wird. Die Verachtung
des Lebens scheint die „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu überwinden. Man kann es auch
umgekehrt sehen.
Während die Welt Millionen von Menschen zum Töten mobilisiert, Milliarden von
Menschen die Verachtung des Lebens lehrt und in Chaos, Armut und Verzweiflung
versinkt, gibt es die Lichtgestalt Albert Schweitzers, der mit seiner Ethik die Lösung
80
ZWI SCH ENRU F
der Probleme bereit hält. Würde seine Ethik akzeptiert und praktiziert, könnte die
Wende zum Weltfrieden und globalem Wohlergehen kommen. Das ist jedoch nicht in
Aussicht. Ein Indiz für geschwundenen Bekanntheitsgrad Albert Schweitzers sind die
Umfragen etwa in Jugendzeitschriften nach Vorbildern. Während noch vor 20 Jahren
Albert Schweitzer unter Fußballstars und Show-Größen in der Regel unter den ersten
10 erschien, erscheint er heutzutage überhaupt nicht mehr. Und die kleineren Gruppen von Anhängern und Nachfolgern Albert Schweitzers, die tapfer sein Fähnlein aufrecht halten, spielen bedauerlicherweise weltpolitisch überhaupt keine Rolle.
Also ist Albert Schweitzer gescheitert?
Man möchte es wahrhaftig nicht wünschen. Man möchte sich einen weltweiten Erfolg
seiner Ethik wünschen. Aber die Realität ist von diesem Wunsch weit entfernt.
(Aus: Heilsbronner Gemeindebrief. Berlin, März 2004)
HORST GUNTER, Superintendent em. in Berlin
81
D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
Kein Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben
Professor Dr. Andreas Lienkamp im Gespräch
P.M.: Zunächst, Herr Professor Lienkamp, die Frage: Wie ist Ihnen als katholischer Theologe die Beschäftigung mit
Albert Schweitzer bekommen?
Lienkamp: Sehr gut. Mich beschäftigte
der Gedanke der „Ehrfurcht vor dem Leben“ schon länger. Dann bin ich darüber
gestolpert, dass in dem Gemeinsamen
Wort der Kirchen von 1997 „Für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ das Stichwort der „Ehrfurcht“ vor
der Schöpfung (Nr. 123) auftaucht, ohne
dass allerdings auf Albert Schweitzer direkt Bezug genommen wird. Ich dachte,
dass man dem doch einmal näher nachspüren müsste. Ich hatte den „Verdacht“,
dass der Gedanke über die evangelische
Seite in das „Gemeinsame Wort“ und damit auch in die gemeinsame christliche
Sozialethik gelangt ist. In diesem Text
heißt es, dass man durch den Konsultationsprozess, der dem „Wort“ vorausging,
gelernt habe, dass ein gemeinsames sozialethisches Sprechen der christlichen
Kirchen möglich, aber auch notwendig
sei. Und nicht nur ein Sprechen, sondern auch ein gemeinsames, von einer
gemeinsamen Ethik getragenes Handeln.
Das besagt, dass die vor allen Dingen im
engeren dogmatischen Bereich liegenden
82
Differenzen zwischen katholischer und
evangelischer Theologie und Kirche im
Rahmen der Ethik mittlerweile keine
Rolle mehr spielen. Von daher kann man
von einer christlichen Ökumene in der
Ethik sprechen, so dass sich alle Berührungsängste seitens katholischer Ethikerinnen und Ethiker gegenüber den evangelischen Vertretern, und damit auch
gegenüber Albert Schweitzer erübrigen.
P.M.: Nun ist es ja bei Albert Schweitzer noch brisanter. Er beruft sich nicht
nur auf die jesuanische Nachfolge und
fühlt sich als evangelisch-protestantischer Theologe, sondern er beschreibt
in seinen kulturphilosophischen Werken
sein Hauptanliegen, also die Ethik der
Ehrfurcht vor dem Leben, fast „säkular“.
Man ist, nach der Lektüre der theologischen Werke, überrascht, in seiner Kulturphilosophie aus dem Jahre 1923 recht
wenig von Jesus zu lesen. In den Nachlassbänden ist der Aufriss noch größer,
wenn er auf Hunderten Seiten das indische und chinesische Denken abhandelt.
Wie verbindet sich das alles für Sie?
Lienkamp: Ich denke, dass ein Grund
dafür ist, dass Albert Schweitzer Bibelwissenschaftler war. Und als Exeget weiß
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
er darum, dass der Gott der Bibel Schöpfer der Menschen und der nichtmenschlichen Mitwelt ist und den Menschen in
all seiner Verschiedenheit mit Vernunft
begabt hat. Es kann also von daher für
einen gläubigen Menschen, wie Albert
Schweitzer es war, keinen Widerspruch
geben zwischen Vernunft und Glaube.
Von daher konnte er sich offen zeigen
gegenüber den Wahrheiten, die er in anderen kulturellen und religiösen Zusammenhängen fand und konnte auf diesem
Wege auch das christliche Denken noch
einmal bereichern.
P.M.: Er sagte einmal, dass das Christentum das Denken nicht zu fürchten
brauche. Viele Ängste, Glaubenszweifel
und Unsicherheiten sind ja in seiner Zeit
auch durch das naturwissenschaftliche
Denken aufgekommen. Dann liest man
in seiner Kulturphilosophie den Satz:
„Wie das wahre Denken religiös, so ist
die wahre Religion denkend“. Brauchen
wir die Religion dann noch? Oder kann
man religiös sein, ohne es zu wissen?
Lienkamp: Das hängt davon ab, wie
man „religiös“ definiert. Wenn man religio mit „Gottesfurcht“ übersetzt, so
steckt darin ein unmittelbarer Gottesbezug. „Gegenstand“ der Religion kann
aber auch das sein, woran ich mich zurückbinde. Martin Luther hat einmal
formuliert, dass Gott das ist, woran mein
Herz hängt. Der evangelische Theologe
und Religionsphilosoph Paul Tillich, ein
Zeitgenosse Albert Schweitzers, interpretierte Religion ganz ähnlich als ultimate
concern, als das, was mich unbedingt
angeht. Demnach kann auch ohne einen
ausdrücklichen Bezug zum biblischen
Gott ein religiöses Moment vorhanden
sein. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass man Menschen, die sich bewusst als nicht-religiös verstehen, religiös
vereinnahmt. So ist zum Beispiel Karl
Rahners Theorie der „anonymen Christen“ missverstanden worden, als würden
nun alle zu anonymen Christen, ohne
dass sie darum wüssten. Eine derartige
Vereinnahmung wollte weder Rahner
noch Schweitzer. Aus Schweitzers Sicht
kann man auch von einem nicht-religiösen Standpunkt zu tiefen philosophischen Einsichten gelangen. Das ist für
ihn allerdings auch von einem religiösen
Standpunkt aus möglich, da sich für ihn
Glaube und Vernunft – wie wir sahen –
nicht widersprechen, wie dies auf katholischer Seite auch das Erste Vatikanische
Konzil betont hat. Da Gott der Schöpfer
auch der menschlichen Vernunft ist, ist
eine rationale Annäherung an das, was
wir Wahrheit nennen, möglich. Eine religiöse Ethik kommt deshalb in aller Regel
zu den gleichen inhaltlichen Schlussfolgerungen wie eine vernunftorientierte
philosophische Ethik. Von daher kann
es also keinen echten Widerspruch geben. Ernst Bloch schreibt im Vorwort
seines Werkes „Das Prinzip Hoffnung“:
83
D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
„Denken heißt Überschreiten“, also
Transzendieren. Denken hat etwas mit
Transzendenz zu tun. Schon Anselm
von Canterbury betonte: fides quaerens
intellectum, d.h. der Glaube sucht geradezu das Verstehen, also die intellektuelle
Durchdringung. In diesem Sinne kann
man vielleicht auch den Satz von Albert
Schweitzer verstehen sowie sein Changieren zwischen einer philosophischen und
einer theologischen Ethik.
So macht etwa der Klimawandel in aller
Schärfe deutlich, dass wir eine globale
Risiko-Gemeinschaft bilden. Wir dürfen
nicht mehr so produzieren und konsumieren wie bisher. Wir müssen vielmehr
umdenken und grundlegende Einschnitte machen, damit die Menschen in Nord
und Süd, damit wir selbst und unsere
Nachkommen, aber auch die natürliche
Mitwelt, die Ökosysteme eine Existenzchance haben.
P.M.: Lassen Sie uns nun einmal unter
diesen Voraussetzungen die Erd-Charta
betrachten. Anknüpfen könnte man an
dem Grundgedanken Paul Tillichs, weil
ja die Grundsätze der Erd-Charta etwas
sind, „was uns unbedingt angeht“. Wie
sehen Sie die Chancen, dass man das
als Einzelner spürt. Wie schafft es ein
Mensch, der in sein privates Leben mit
Ängsten und Hoffnungen eingebunden
ist, diese Unbedingtheit in diesem Text
wieder zu erkennen? Und zwar nicht nur
abstrakt-theoretisch, sondern mit der Intention: Ich brauche das ganz konkret für
mein Leben.
P.M.: Nun wird z.B. von der Ökumenischen Initiative Eine Welt eingefordert,
man möge sich selbst verpflichten, eine
nachhaltige Lebensweise umzusetzen.
Dies geschieht fast schon programmatisch in vielen Selbstdarstellungen von
den großen Unternehmen über die Politik bis zu den Kirchen und anderen
Gruppierungen. Dem steht aber ein
großes Handlungsdefizit gegenüber. Wie
bleibt einem der Mut erhalten, als Einzelner dennoch dranzubleiben?
Lienkamp: Ich glaube, dass ein Ausgangspunkt, so traurig es ist, die ökologische Krise mit ihren verschiedensten
Phänomenen sein kann. Sie trägt dazu
bei, dass der Gedanke der globalen Vernetzung zwischen Mensch und Natur, der
den Menschen als Teil der Natur begreift,
auch in unsere westliche Welt einbricht.
84
Lienkamp: Es ist leider zu beobachten,
dass viel an Engagement und Motivation
zerstört wird. So z.B., wenn ich in meinem privaten Bereich versuche, Müll zu
trennen, und dann erlebe, dass das Altpapier, das ich sorgsam aussortiert habe,
von den Müllverbrennungsanlagen aufgekauft wird, weil dort sonst keine Energiegewinnung mehr stattfinden kann.
Oder wenn getrennter Müll dann doch
auf der gleichen Deponie landet. Das
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
kann Umweltengagement auch zerstören. Andererseits kann ich, wenn ich
mich in Initiativen oder Umweltverbänden mit anderen zusammenschließe, die
Erfahrung machen, dass gemeinsames
Handeln auch erfolgreich sein kann. Und
darüber hinaus kann es auch eine persönliche Befriedigung bedeuten, wenn ich in
meinem eigenen Bereich einen Lebensstil
pflege, der im größeren Einklang mit der
Natur steht. Wenn ich z.B. nur Strom
aus erneuerbarer Energie verbrauche und
mich bewusst von Energieerzeugern abkopple, die nach wie vor auf Kernkraft
oder solche Energieträger setzen, die klimaschädliche Folgen haben.
P.M.: Wie ist es nun möglich, auf Kinder und Jugendliche einzuwirken. Es
geht ja bei dem Nachhaltigkeitsgedanken
wesentlich um die nachkommenden Generationen, die aber schon leben. Insofern wollen junge Menschen jetzt schon
daran mitwirken. Ferner ist der pädagogische Ansatz ja nicht ganz unerheblich,
der besagt, dass eine nachhaltige Lebensweise gelernt sein will. Nachhaltigkeit ist
auch ein Lernprozess. Was sehen Sie da
für Möglichkeiten z.B. in Elternhaus und
Schulen?
Lienkamp: Lernen geschieht u.a. durch
Vorbild und Modell. In der Pädagogik
gibt es Ansätze, die ökologische Frage in
ihrer Vernetzung mit sozialen und ökonomisch-haushälterischen Anliegen zu
sehen. Nehmen wir die Waldkindergärten. Diese versuchen, bei den Kindern
das Sensorium im Umgang mit der außermenschlichen Natur wach zu halten
oder erst einmal zu wecken, also die
Einbindung des Menschen in die Natur
und seine Abhängigkeit von den natürlichen Lebensgrundlagen ins Bewusstsein
zu rufen. Natürlich braucht es dazu auch
glaubwürdige Vorbilder, weil die Kinder
durch Personen, die durch ihr Verhalten
das, was sie sagen, konterkarieren, verunsichert werden und dann nicht mehr wissen, was jetzt richtig und was falsch ist.
P.M.: Beim Stichwort „Vorbild“ denke
ich natürlich auch an Albert Schweitzer,
der auf vorbildliche Weise Theorie und
Praxis zusammengeführt hat. Auf die Religion bezogen lesen wir in einer Predigt
vom 14. Juni 1903: „Die Werke kommen nicht aus dem Glauben, sondern
der Glaube aus den Werken.“ Überspitzt
heißt es dann gar: „Gott ist Wirken.“
Gibt es hier vielleicht über das Tun bei
Kindern Möglichkeiten, den Glauben
wieder zu entdecken?
Lienkamp: Es gibt biblisch betrachtet
einen engen Zusammenhang zwischen
Menschen- und Gottesliebe. Jesus macht
uns deutlich, dass wir Gott nicht lieben
können, ohne den Nächsten zu lieben.
Wir sollen keine Lippenbekenntnisse
abgeben, sondern durch Praxis unseren
Glauben bewahrheiten. Wenn Kinder in
85
D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
der Schule mit Fragen der Ökologie vertraut gemacht werden sollen, muss auch
die Umgebung dazu passen. Das heißt,
wie der US-amerikanische Pädagoge und
Moralpsychologe Lawrence Kohlberg es
formuliert hat, wir brauchen eine just
community, eine gerechte und demokratische Gemeinschaft, um Gerechtigkeit
und Demokratie zu erlernen. Ebenso
brauchen wir aber auch eine ecological
community, eine ökologische Gemeinschaft, um umweltgerechtes Denken und
Handeln einzuüben. Die Schule muss
also ein Raum sein, der selbst ökologisch
ausgerichtet und orientiert ist. Dass Menschen, die bisher keinen religiösen Bezug
hatten, religiös werden können, halte ich
für möglich, da Naturerfahrungen auch
spirituell sein können. Im Gebirge oder
am Meer die Größe der Schöpfung zu
bewundern, kann auch dazu führen, dass
man nach dem Schöpfer fragt, der hinter
dieser Schöpfung steht.
P.M.: Da könnte dann doch auch die
Kirche ansetzen. Diese wäre dann aufgerufen, vom Glauben aus auf Nachhaltigkeit zuzugehen.
Lienkamp: Es gibt viel versprechende
Ansätze in dieser Richtung, wenn man
beispielsweise auf das kirchliche Umweltmanagement und das Bemühen von
katholischen und evangelischen Einrichtungen schaut, sich nach dem europäischen Gütesiegel EMAS (Eco-Manage-
86
ment and Audit Scheme), zertifizieren zu
lassen und somit selbst voran zu gehen,
also nicht nur zu reden, sondern zu tun,
auch um dadurch mehr Glaubwürdigkeit
zu erreichen.
Ein Problem ist allerdings, dass die Kirchen in einer Tradition stehen, die lange den so genannten Herrschaftsauftrag
der Bibel (Genesis/1. Mose 1,26) in den
Vordergrund gestellt und dabei vergessen
hat, dass das dahinter stehende Modell
der gute König ist, der für seine „Untertanen“ sorgt und sich um ihr Wohlergehen müht. Man hat dies über Jahrhunderte als einen Auftrag zur Ausbeutung
der Natur missverstanden. Eine weitere
wichtige Stelle in der Genesis, die von
dem Auftrag zum Bebauen und Hüten
des Gartens Eden spricht (Genesis/1.
Mose 2,15), trat dadurch in den Hintergrund. Die Kirchen haben darum die
Aufgabe, mit den verhängnisvollen Fehlinterpretationen aufzuräumen, mit dem,
was Carl Amery die „gnadenlosen Folgen
des Christentums“ genannt hat, und
sich kritisch und öffentlich vernehmbar
mit der Wirkungsgeschichte der eigenen
Missdeutungen auseinanderzusetzen.
Einen weiteren Schritt sehe ich in dem
meines Erachtens zu Unrecht kritisierten
Bemühen des bischöflichen Hilfswerks
Misereor, zusammen mit dem Bund für
Umwelt und Naturschutz Deutschland
BUND, also einer nicht religiös ausgerichteten, aber doch von vielen Christinnen und Christen mit getragenen Orga-
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
nisation der Umweltbewegung, die Lage
in Deutschland auf den Prüfstand zu
stellen mit der Studie „Zukunftsfähiges
Deutschland“, die vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie 1996
durchgeführt wurde. Diese kirchliche
Annäherung an die Umweltbewegung
wurde von einigen kritisiert, von anderen aber auch sehr positiv aufgenommen.
Das bereits erwähnte Gemeinsame Wort
„Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ hat wenig später Nachhaltigkeit als neues Sozialprinzip entdeckt und
integriert, nicht zuletzt angeregt durch
Impulse aus der Umweltbewegung. In
ihr sind, wie gesagt, viele Christinnen
und Christen engagiert, ohne jedoch ein
religiöses Etikett vor sich herzutragen.
Auch dort gibt es, wie in der Erd-Charta spürbar, eine spirituelle Ausrichtung,
die wiederum Menschen, die sich nicht
explizit religiös verstehen, aufschließen
kann, zumindest für eine Offenheit gegenüber der Gottesfrage.
P.M.: Das entspricht dann auch dem
Anliegen Albert Schweitzers, der ja seine
Ethik bewusst kulturphilosophisch und
nicht theologisch formuliert hat, um diese „Öffnung“ in Richtung anderer Denkund Glaubensarten möglich zu machen.
Lienkamp: Angesichts der Pluralität der
verschiedenen religiösen, philosophischen und weltanschaulichen Positionen,
mit denen wir nicht nur hierzulande,
sondern europa- und weltweit zu tun haben, ist das eigentlich der einzig gangbare
Weg. John Rawls, der US-amerikanische
Gerechtigkeitsphilosoph, hat darauf hingewiesen, dass wir uns um einen overlapping consensus, einen übergreifenden Konsens bemühen sollten. Genau
das versucht die Erd-Charta, die – trotz
der unhintergehbaren Tatsache des Pluralismus – dazu aufruft, in der Vielfalt
nach Gemeinsamkeiten zu su¬chen.
Das unternimmt aber auch das Projekt
Weltethos. So heißt es in der „Erklärung
zum Weltethos“, dass die darin enthaltenen Prinzipien von allen Menschen mit
ethischen Überzeugungen mitgetragen
werden können, ob sich diese nun als
religiös verstehen oder nicht. Beide Initiativen versuchen also, universal geteilte moralische Grundlagen zu ermitteln
– unabhängig von den unterschiedlichen
Begründungen, die dahinter stehen.
P.M.: Dann kann man also durchaus die
Erd-Charta parallel zur Bibel lesen. Trotzdem gibt es viele gläubige Menschen, die
das konkrete Gotteswort bzw. die direkte
Gottesansprache in diesen Grundsätzen
vermissen. Finden Sie „Gott“ in der ErdCharta?
Lienkamp: Durchaus. Der gleiche
„Streit“ entspinnt sich ja derzeit um die
Verfassung der EU. Johannes Rau hat sich
kürzlich in die Debatte eingemischt und
dafür plädiert, ähnlich wie im deutschen
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D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
Grundgesetz und der polnischen Verfassung, einen Gottesbezug in der Präambel
herzustellen. Aber auch die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte von 1948
der Vereinten Nationen verzichtet auf einen expliziten Gottesbezug. Und das, obwohl zwei christliche Philosophen an der
Erarbeitung mitgewirkt haben: Jacques
Maritain und Pierre Teilhard de Chardin.
Die Überlegung dabei war, dass die angestrebte weltweite Geltung – die auch die
Erd-Charta erreichen will, da sie einmal
zu einem völkerrechtlichen Dokument
werden soll – durch einen expliziten
Gottesbezug möglicherweise verhindert
wird. Denn viele Menschen fühlen sich
dann durch ein solches Dokument nicht
vertreten. Andererseits können aber, meiner Meinung nach, alle Christinnen und
Christen den Anliegen der Erd-Charta
genau so wie den Anliegen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – auch ohne expliziten Gottesbezug
– nicht nur zustimmen, sondern sie auch
voll und ganz, und zwar gerade aus ihrer
religiösen Motivation heraus, unterstützen. Zudem gibt es in der Erd-Charta
eine ganze Reihe von religiösen Anklängen, z.B. überall dort, wo die Stichworte
„Ehrfurcht“, Heiligkeit“ oder „Spiritualität“ verwendet werden. Darüber hinaus
wird an zwei Stellen ganz bewusst die
Rolle der Religionen betont, zum einen
bei der Erarbeitung der gemeinsamen
Werte, die die Erd-Charta repräsentiert,
und zum anderen bei der Suche nach
88
Wegen, um Vielfalt mit Einheit zu versöhnen, Freiheit mit Gemeinwohl und
kurzfristige Anliegen mit langfristigen
Zielen. Die anvisierte weltweite Zustimmung würde erschwert, wenn Gott in der
Erd-Charta ausdrücklich genannt würde.
Christinnen und Christen müssen sich
aber gerade aus ihrem Glauben heraus
um einen solchen Konsens bemühen.
Aufgrund der dringenden Notwendigkeit, dass es im 21. Jahrhundert zu einem
weltweiten Umdenken hinsichtlich der
nachhaltigen Gestaltung wirtschaftlicher
und sozialer Prozesse kommt, können sie
mit diesem Kompromiss, denke ich, gut
leben.
P.M.: Vielleicht sollte man auch Schülern empfehlen, sich umzuschauen, ohne
sich zu früh festlegen zu lassen. Also im
besten Sinne „vernetzt“ zu denken und
zu handeln, indem sie mit Einzelnen,
Gruppen oder Organisationen und auch
mit den christlichen Einrichtungen in
Kontakt treten.
Lienkamp: Ja. Ziel ist, wie ich in meinem
Beitrag schreibe, die Bildung neuer Allianzen im Dienste nachhaltiger Entwicklung – unter Beteiligung der Kirchen, die
ja die Erd-Charta bislang noch nicht offiziell unterstützen und die sich, was die
vatikanische Seite anbelangt, auch beim
Projekt Weltethos sehr zurückgehalten
haben. Hier wäre viel mehr möglich an
Gemeinsamkeit unter den Religionen.
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
Aber auch über die Religionen hinaus
wäre es möglich und nötig, Bündnispartnerinnen und Bündnispartner zu finden
für die Anliegen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – religiös gesprochen – bzw. Bewahrung der
natürlichen Lebensgrundlagen.
ANDREAS LIENKAMP, geb. 1962, ist Professor
für Theologisch-ethische Grundlagen der Sozialen
Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.
89
D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
Das interreligiöse Projekt Weltethos
Spirituelle Vernetzung
Martin Bauschke
Die Situation der Weltreligionen hat sich im 20. Jahrhundert sehr verändert. Gleichzeitig haben sich auch die Weltpolitik und die Weltgesellschaft gewandelt, v.a. infolge
des Falls der Berliner Mauer 1989 und den Terrorattentaten vom 11. September 2001.
Im Folgenden seien zunächst einige globale Trends benannt, die die gesellschaftliche
und politische Entwicklung in der Welt charakterisieren. Auf diesem Hintergrund
kann das dann darzustellende Projekt Weltethos besser verstanden und eingeordnet
werden.
Menschen haben zwar zu allen Zeiten Glaubenskriege gegeneinander geführt, doch
zeigen neuerdings in Konfliktlagen religiöse Strömungen vor allem im Bereich des
Monotheismus eine immer größere Affinität zur Gewalt sowie zur Instrumentalisierung für primär politische Zwecke. Zwei Beobachtungen sind an dieser Stelle jedoch
hinzuzufügen. Meistens ist die Religion nicht der primäre Auslöser, wohl aber der
sekundäre Verstärker gewaltsamer Konflikte. Und: immer seltener sind es Staaten, die
Krieg gegeneinander führen. Fast alle gewaltsam ausgetragenen Konflikte sind Bürgerkriege. Kriege sind heute zumeist innerstaatlich; sie sind keine Kämpfe zwischen verschiedenen Kulturen, sondern innerkulturelle Auseinandersetzungen, keine Heiligen
Kriege zwischen rivalisierenden Religionen, sondern innerreligiöse Konflikte.
Wiederentdeckter Faktor Religion für die Politik
Nach dem Ende der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts melden sich die Religionen zurück. Religions- und Politikwissenschaftler stellen fest: der Faktor Religion
spielt in der Weltpolitik wie auch in der Regionalpolitik eine immer wichtigere Rolle. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche grundlegende außenpolitische
Fehler begangen, einfach deshalb, weil man den Faktor Religion in den betreffenden
Krisenregionen unterschätzt oder bei Konfliktlösungsstrategien ausgeklammert hatte.
Die Unterschätzung und Ausblendung des Faktors Religion führte zu politischen Fehlgriffen. Realpolitik kann vielmehr nur diejenige Politik genannt werden, welche die
90
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
Relevanz insbesondere der Religionen - für politische Entscheidungen generell und für
Strategien in Konfliktsituationen speziell - mit berücksichtigt. „Weltweite Renaissance
der Religionen„ (Der Spiegel Nr. 52/2000, S. 112ff) - das bedeutet auch: wir müssen
die sog. Säkularisierungsthese revidieren. Angesichts der Ereignisse des 11. September hatte Jürgen Habermas bei seiner Rede in Frankfurt anläßlich der Verleihung des
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 von der „postsäkularen
Gesellschaft„ gesprochen, auf die wir zugingen. Damit meinte er natürlich nicht eine
Rückkehr zu einer religiösen Gesellschaft nach dem Muster einer Staatsreligion oder
gar eines Gottesstaates. Wohl aber eine Gesellschaft, die sich der Religion als einer
identitätsstiftenden, Werte und Normen vermittelnden Macht wieder neu bewußt
wird und sie als solche auch würdigt, statt sie ins Abseits, ins Private, zu verdrängen.
Die Säkularisierung in den meisten Ländern Europas ist im globalen Vergleich eher
ein Ausnahmephänomen. Außerhalb Europas läßt sich feststellen: die meisten Länder
sind nach wie vor oder auch stärker denn je religiös geprägt. Religionsschwund ist
kein globales, sondern eher ein regionales Phänomen. Die Modernisierung von Gesellschaften geht nicht zwangsläufig einher mit ihrer Säkularisierung, wie gerade das
Beispiel USA zeigt.
Im Zuge dieser Renaissance der Religionen ist insbesondere die Neigung zum Fundamentalismus, oder besser: zum religiösen Extremismus zu beobachten. Manche
befürchten daher, daß wir im 21. Jahrhundert vom Krieg der Religionen weiterschreiten zu einem globalen Kampf der Kulturen. So lautet die These des amerikanischen
Politologen und langjährigen Pentagon-Beraters Samuel P. Huntington. In seinem
1996 erschienenen Buch „The Clash of Civilizations„ meint Huntington, aufgrund
der Ereignisse der 90er Jahre feststellen zu können, daß an die Stelle der Rivalität
der beiden Supermächte nunmehr die vielen Kulturen getreten seien. Diese stünden
jedoch, gleichsam von Natur aus, im Konflikt miteinander. So scheut Huntington sich
nicht zu behaupten, daß der nächste Weltkrieg zu einem „Kampf der Kulturen„ werde.
Diese Prognose hat durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die USA
für viele noch an Attraktivität gewonnen. Der 11. September 2001 war jedoch nicht
der Beginn oder auch nur ein Beispiel für einen Kampf der Kulturen. Es war dies vielmehr der Tag, an dem zwei Fundamentalismen aufeinander geprallt sind: der religiöse
Fundamentalismus solcher, die sich für Muslime halten, und der ökonomisch-politische Fundamentalismus solcher, die sich mehrheitlich Christen nennen. Gefahr für
die Welt geht gegenwärtig und künftig nicht von einem Kampf zwischen „dem Christentum„ und „dem Islam„ (wer soll das denn sein?) aus, wohl aber vom wechselseitigen
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D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
Terror zwischen den Fundamentalisten hüben und drüben, die vom Mainstream der
Christen und Muslime nicht unbedingt als ihresgleichen anerkannt werden.
Das Ringen um eine neue Weltordnung
Ein weiterer Trend ist: unsere Gesellschaften sind zunehmend multireligiös und multikulturell verfaßt. Noch nie haben im Laufe der Geschichte so viele verschiedene
Menschen verschiedenen Glaubens zusammengelebt. Kein Wunder, daß der Dialog
der Religionen und Kulturen nie als so notwendig empfunden wurde wie heute, wenngleich die Vorstellungen, wie und wozu der Dialog zu geschehen habe, bekanntlich
auseinandergehen. Die Vereinten Nationen hatten deshalb das Jahr 2001 zum „Jahr
des Dialogs der Kulturen„ (Dialogue among Civilizations) ausgerufen und seither zu
ihrer bleibenden Aufgabe gemacht. Die tatsächlichen Signale in der Welt der Religionen wie auch der Nationen sind jedoch ambivalent. Derzeit sind zwei Konzepte
denkbar, wie eine „neue Weltordnung“ aussehen könnte: das Paradigma eines Kampfes der Nationen, Kulturen und Religionen und das Paradigma ihrer Kooperation.
Die Etablierung einer globalen Zivilgesellschaft, einer multilateralen Partnerschaft der
Nationen und Religionen ist ein positiver Trend. Dem steht derzeit nicht einfach nur
das Problem (politisierter) Islam, sondern mindestens ebensosehr das Problem USA
als negativer weltpolitischer Trend entgegen. Die Tatsache also, daß sich die einzig
verbliebene Supermacht seit Mitte der 90er Jahre vom Sicherheitsfaktor zum Risikofaktor, vom Garant des Friedens zum Störer des Friedens gewandelt hat. 1997 haben
2/3 der Weltbevölkerung eine negative Bewertung der USA vorgenommen; seit dem
Afghanistan- und dem Irakkrieg sind es mehr als 3/4 aller Menschen. Die imperiale Weltpolitik, das Weltherrschaftsgebaren der USA, ihre Rivalität mit UNO und
NATO, die Mißachtung des Völkerrechts (z.B. des Weltstrafgerichtshofs) und des Gewaltmonopols des UNO-Sicherheitsrates und v.a. die einseitige Parteinahme für Israel
im Nahostkonflikt bedeuten de facto ein Rückfall in das Freund-Feind-Denken der
überkommenen Staatenwelt. Unilateralismus heißt: das Recht des Stärkeren kommt
vor der Stärke des Rechts. Dieselbe Ambivalenz treffen wir in der Religionswelt an.
Auch hier konkurrieren zwei Strömungen, die quer durch alle Religionen gehen, miteinander: auf der einen Seite der Fundamentalismus, der seit 2001 nicht nur im Islam,
sondern in etlichen Religionen regen Zulauf erhält und genau dasselbe manichäische
Denken in Gut und Böse an den Tag legt wie bestimmte Akteure in der Staatenwelt.
Etwas zugespitzt ausgedrückt: das Problem des (nicht nur islamischen) Fundamenta-
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D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
lismus in der Welt der Religionen entspricht sachlich dem Problem USA in der Welt
der Nationen. Beide sind Hindernisse für Frieden und Gerechtigkeit weltweit. Den
Fundamentalisten stehen liberale Strömungen in den Religionen gegenüber, die sich
für das Paradigma des Dialogs der Religionen einsetzen. Gegen die Strategie der Konfrontation (Devise: „Entweder-Oder„) und die Einteilung der Welt in Gewinner und
Verlierer verfolgt dieses Paradigma die Strategie der Kooperation, der Komplementariträt (Devise: „Sowohl-Als auch„) und des Konsenses. Multilateralismus heißt politisch wie religiös: entweder gewinnen wir am Ende alle - oder wir haben alle verloren.
Angesichts dieser ambivalenten Entwicklungen unserer jüngeren Geschichte stellt sich
die Frage: Welche Seite wird sich am Ende durchsetzen? Hat gegenüber dem aggressiven fundamentalistischen Potential der Religionen ihr anderes Gesicht eine Chance?
Wie steht es um ihr friedensstiftendes Potential? In welcher Form kann es eingesetzt
und in der Weltpolitik und Weltgesellschaft umgesetzt werden? Was können die Religionen zu einer lebenswerten menschlichen Zukunft in der einen Welt beitragen, und
zwar so, daß alle davon profitieren und nicht allein die religiösen Menschen?
Das Weltparlament der Religionen
Im Jahre 1893, anläßlich der Weltausstellung in Chicago, wurde erstmals in der Geschichte ein Weltparlament der Religionen abgehalten. Am Morgen des 11. September
1893 betraten unter dem Jubel von 4.000 Zuschauern Vertreter von etwa 50 bis 60
verschiedenen Religionen und Konfessionen Arm in Arm die Kolumbushalle im „Memorial Art Palace“: Hindus, Buddhisten, Jainas, Zoroastrier, Taoisten, Konfuzianer,
Shintoisten, Juden, Christen und Muslime - alle in ihren religionstypischen Farben
und Gewändern. Den Teilnehmern hatten die Vision der „Brüderlichkeit„ der Religionen. Der seither stattfindende 110jährige globale Dialog der Religionen hat zu folgender Einsicht geführt: Ohne Geschwisterlichkeit der Religionen auf der Grundlage
gleichberechtigter Partnerschaft gibt es keine Versöhnung zwischen den Religionen.
In durchschlagender Weise hat der Tübinger katholische Theologe Hans Küng mit
seinem Buch „Projekt Weltethos„ (1990) diese Einsicht auf den Punkt gebracht. Seit
den 80er Jahren hat Küng zahllose Male betont: „Kein Überleben ohne Weltethos.
Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog.„
Die entscheidende Frage ist: Welcher Dialog der Religionen ist für den Weltfrieden
unverzichtbar? Was für eine Art von Gespräch soll zwischen den Religionen geführt
werden, wenn es ihrer aller friedensstiftendes Potential entbinden soll? Die doppelte
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D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
Antwort, die sich seit dem Religionsparlaments 1893 herauskristallisiert hat, lautet:
Es darf dies kein dogmatischer Dialog sein, sondern sollte primär ein ethischer Dialog
sein. Und: Der Dialog sollte bei den Gemeinsamkeiten anfangen und die Unterschiede zurückstellen. Die Wirkung der Idee eines globalen Ethos war so ungeheuer, daß
dieses Projekt auf die Tagesordnung des weltweiten interreligiösen Dialogs kam. Drei
Jahre später fand in Chicago das Zweite Weltparlament der Religionen statt, genau
100 Jahre nach dem ersten. Rund 6.500 Anhänger wie auch Repräsentanten von etwa
250 Religionen, Denominationen und religiösen Gruppen nahmen daran teil. Am
letzten Tag verabschiedete das Parlament die „Erklärung zum Weltethos„, deren Erstunterzeichner der Dalai Lama war.
Die Weltethos-Erklärung von 1993
Ethos bedeutet: moralische Grundhaltung eines Menschen oder einer Gruppe von
Menschen. „Ethos„ ist nicht zu verwechseln mit „Ethik„, denn eine Ethik meint stets
ein ganzes System moralischer Überlegungen, also eine Moral-Lehre über Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen, welche Menschen oder eine Gruppe von Menschen
einzuhalten haben. Die Weltethos-Erklärung ist jedoch kein fertiges System, keine
Moralpredigt an die Völkerwelt, schon gar keine neue Weltideologie oder synkretistische Einheitsreligion, sondern sie versteht sich als „einen Grundkonsens bezüglich
bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen.„ Bei der Weltethos-Erklärung geht es nicht darum, die ethischen Werte
der Menschheit selber zu minimalisieren und aufzuweichen. Es geht vielmehr um einen ethischen Minimalkonsens, der angesichts der Globalisierung aller Lebensbereiche für das Überleben und gedeihliche Zusammenleben der Menschheit notwendig
erscheint. Die Erklärung formuliert diese minimalen ethischen Standards in einer
Weise, die nicht auf eine bestimmte religiöse Überzeugung festlegt. Ihres globalen
Charakters wegen kann und soll sie auch von nichtreligiösen Menschen akzeptiert
werden. Intendiert ist eine Koalition von Glaubenden und Nichtglaubenden. Die Erklärung will nicht ethisch „das Rad neu erfinden„ oder vorhandene und bewährte
religiöse bzw. philosophische Ethiken ersetzen. Sondern sie macht nur bewußt, was
den verschiedenen Religionen und ethischen Traditionen im Kern längst bekannt und
gemeinsam ist: ihre elementaren Werte und Normen im Umgang miteinander und
mit unserer Mitwelt. Das erste Prinzip der Weltethos-Erklärung ist das der Humanität, die Grundforderung, alle Menschen menschlich zu behandeln. Das grundlegende
94
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
Recht auf menschliche Behandlung impliziert die ebenso grundlegende Pflicht, andere Menschen menschlich zu behandeln. In der Weltethos-Erklärung gehen also in
jeder Hinsicht Menschen-Rechte und Menschen-Pflichten bzw. Verantwortlichkeiten
Hand in Hand. Die Weltethos-Erklärung bestätigt einerseits die UNO-Menschenrechtserklärung (1948), andererseits jedoch ergänzt und vertieft sie sie. Das zweite
Prinzip der Weltethos-Erklärung ist das der Reziprozität (Gegenseitigkeit) im Verhältnis zueinander. Dieses Prinzip wird zum Ausdruck gebracht durch die Goldene Regel
(„Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu!„). Diese Regel
angewandter Humanität ist in allen Kulturen und Religionen in leichter Abwandlung
wiederzufinden. Einige Beispiele: „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht
anderen Menschen an.„ (Konfuzius) - „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen
tun, das tut ihr ihnen ebenso.„ (Jesus) - „Niemand von euch ist ein gläubiger Mensch,
solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.„ (Muhammad)
- „Wenn du auf Gerechtigkeit siehst, dann wähle für deinen Nächsten, was du für dich
selbst wählst.„ (Bahá’u’lláh, Stifter der Bahai-Weltreligion). Erst durch die Goldene
Regel wird das Prinzip Menschlichkeit zum Prinzip gelebter Mit-Menschlichkeit.
Vierfache Selbstverpflichtung
Den Hauptteil der Erklärung bilden vier „unverrückbare Weisungen„ (dies der Ausdruck für die Gottesgläubigen) bzw. „Selbstverpflichtungen„ (so der Ausdruck für
diejenigen, die eine ethische Gesinnung haben, ohne an eine Gottheit zu glauben).
Sie sind elementare Anwendungsfelder gelebter Mitmenschlichkeit. Erstens: sich zu
verpflichten auf eine Kultur - man könnte auch sagen: die Werte - der Gewaltlosigkeit
und der Ehrfurcht vor dem Leben. Dahinter steht ein uraltes Tabu: „Du sollst nicht
töten!„ Doch es geht um mehr, nämlich „Ehrfurcht vor allem Leben„ zu lernen. In
unserer christlichen Tradition kennen wir z.B. das Vermächtnis von Albert Schweitzer,
dessen Ethik der unbedingten Ehrfurcht vor allem Lebendigen - das ja ebenso leben
will wie wir selber! - es neu zu bedenken gilt: etwa angesichts der vielen tausend toten Zivilisten in Afghanistan und im Irak. Millionen von Menschen demonstrierten
weltweit im Februar und März 2003 gegen den Irak-Krieg. Sie brachten damit quer
durch alle Nationen, Kulturen und Religionen genau das zum Ausdruck, was man ein
ethisches Weltgewissen nennen könnte. Ein Weltgewissen, das uns sagt: Habt Ehrfurcht nicht nur vor euresgleichen, sondern vor dem Leben aller! Gewalt und Krieg
sind kein legitimes Mittel der Politik! Ihr müßt intelligentere Wege finden, um Dikta-
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D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
toren das Handwerk zu legen, als bei ihrer Bekämpfung so zu werden wie sie! Was die
sog. primitiven Völker und die asiatischen Kulturen nie vergessen haben, wird uns im
Westen erst heute wieder bewußt: die universale Vernetzung allen Lebens auf dieser
Erde. Entsprechend diesem vernetzten Denken formuliert die Weltethos-Erklärung:
„Wir alle sind in diesem Kosmos miteinander verflochten und voneinander abhängig.
Jeder von uns hängt ab vom Wohl des Ganzen. Deshalb gilt: Nicht die Herrschaft des
Menschen über Natur und Kosmos ist zu propagieren, sondern die Gemeinschaft mit
Natur und Kosmos zu kultivieren.„
Die zweite Weisung oder Selbstverpflichtung zielt auf eine Kultur (den Wert) der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung. Dahinter steht das Gebot, das jede
Religion kennt: „Du sollst nicht stehlen!„ Doch es geht um mehr: zu lernen, gerecht
und fair zu handeln. Den 6.500 Parlamentariern von Chicago war klar, daß es ohne
Gerechtigkeit zwischen Armen und Reichen auf dieser Erde keinen dauerhaften Frieden geben kann: „Statt die wirtschaftliche und politische Macht in rücksichtslosem
Kampf zur Herrschaft zu mißbrauchen, ist sie zum Dienst an den Menschen zu gebrauchen. Statt einer unstillbaren Gier nach Geld, Prestige und Konsum ist wieder neu
der Sinn für Maß und Bescheidenheit zu finden! Denn der Mensch der Gier verliert
seine ‚Seele‘, seine Freiheit, seine Gelassenheit, seinen inneren Frieden und somit das,
was ihn zum Menschen macht.„
Die dritte Weisung bzw. Selbstverpflichtung bezieht sich auf eine Kultur (den Wert)
der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. Dahinter steht das Gebot, das überall
bekannt ist: „Du sollst nicht lügen!„ Doch es geht um mehr: nämlich zu lernen, tolerant (nicht ignorant) und wahrhaftig zu sein, so, daß Wort und Tat übereinstimmen.
Dies zielt auf die Massenmedien, auf Kunst, Literatur und Wissenschaft, besonders
aber auf Politiker und Repräsentanten der Religionen, von denen gesagt wird: „Wenn
sie Vorurteile, Haß und Feindschaft gegenüber Andersgläubigen schüren, wenn sie
Fanatismus predigen oder gar Glaubenskriege initiieren oder legitimieren, verdienen
sie die Verurteilung der Menschen und den Verlust ihrer Gefolgschaft.„
Die vierte Weisung oder Selbstverpflichtung hat eine Kultur (den Wert) der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau vor Augen. Ausgangspunkt ist
das alte Verbot: „Du sollst die Sexualität nicht mißbrauchen!„ Doch auch hier geht es
um viel mehr: Achtung und Liebe zu lernen, auch zwischen Eltern und Kindern.
Die Weltethos-Erklärung stellt kein Kunstprodukt dar, sondern sie macht nur bewußt,
was den verschiedenen Kulturen und Religionen an uralten Werten längst bekannt
und gemeinsam ist. Wenn man sich diese Werte- und Normentafel vor Augen hält,
wird klar: die Deklaration eines globalen Ethos bedeutet noch nicht seine Realisati-
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D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
on. Das flächendeckend konzipierte Weltethos muß allerorts als Lokalethos umgesetzt
werden. Die nunmehr zehnjährige Erfahrung zeigt: es bedarf bei der regionalen Umsetzung des Menschheitsethos einer Lokalethos-Agenda, die am besten in Kooperation
aller jeweils vor Ort vorhandenen Akteure entwickelt werden kann, etwa als konkretes
Schulethos, Unternehmensethos oder Bürgerethos einer Stadt. Ein globales Ethos ist
erst der Anfang, das glokale Ethos aber ist das Ziel. Auf dem weiten Weg solcher ReLokalisierung eines transkulturellen oder planetarischen Ethos müssen zahllose kleine
Schritte zahlloser einzelner Menschen gemacht werden. Es bedarf vieler zivilgesellschaftlicher Kräfte, die bei der Umsetzung eines globalen Ethos zusammenwirken,
damit es zu einem Bewußtseins- und Strukturwandel unserer materialistischen Profitund Leistungsgesellschaft kommt. Oder salopper mit Erich Kästner ausgedrückt: „Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es.„
Auf dem Weg zu einem globalen Ethos
Die zehn Jahre seit der Weltethos-Erklärung 1993 sind nicht wirkungslos verstrichen
(vgl. Hans Küng [Hg.], Dokumentation zum Weltethos, 2002). 1995 wurde in Tübingen die erste Stiftung Weltethos gegründet zur Förderung der interkulturellen und
interreligiösen Forschung, Bildung und Begegnung. In der Schweiz, in Tschechien,
der Niederlande und Österreich sind ebenfalls Weltethos-Stiftungen gegründet worden. Im Dezember 1999 fand im südafrikanischen Kapstadt die dritte Versammung
des Weltparlaments der Religionen mit rund 7.000 geistlichen Führern, Theologen
und Gläubigen aller Religionen statt. Wieder spielte das Thema Weltethos eine wichtige Rolle und führte zu einem „Aufruf an unsere führenden Institutionen„. Das vierte
Weltparlament wird 2004 in Barcelona sein. Daß die Etablierung eines weltweiten
Ethos im Zeitalter der Globalisierung ein dringendes Desiderat ist, hat sich in den vergangenen Jahren weit herumgesprochen. Immer mehr nichtreligiöse Organisationen
erheben ebenfalls die Forderung nach einer Charta der globalen Gesellschaft, z.B. der
InterAction Council, bestehend aus 25 früheren Staats- und Ministerpräsidenten, dem
auch Helmut Schmidt und Michail Gorbatschow angehören. Der Council präsentierte 1997 der Öffentlichkeit und besonders den Vereinten Nationen einen konkreten
Vorschlag für eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten„. Dieser Vorschlag
erweist sich inhaltlich als die säkulare Variante der Weltethos-Erklärung mit exakt
derselben Werte- und Normentafel.
In der Tat beteiligen sich zunehmend die Vereinten Nationen - besonders der Ge-
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D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
neralsekretär - an der Suche nach einem für alle Menschen gültigen Ethos. Kofi Annan begrüßte den Vorschlag des InterAction Council. Im Jahre 2000 startete er eine
Initiative im Bereich der Weltwirtschaft unter der Bezeichnung „Global Compact„
(Weltvertrag). Es handelt sich dabei um ein Projekt der UNO und der Internationalen
Handelskammer, dessen Ziel es ist, die Mechanismen des Marktes mit einem globalen
ethischen Wertesystem zum Zwecke nachhaltiger Entwicklung zu verknüpfen. Der
Global Compact fordert die Einhaltung von neun Prinzipien: zwei sind den Menschenrechten, vier der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen und drei dem Umweltschutz
zugeordnet. Doch auch damit gab sich Kofi Annan noch nicht zufrieden. Angesichts
des bereits erwähnten „Jahres des Dialogs der Kulturen„ berief er aus aller Welt eine
19köpfige Expertengruppe ein, die in primär politischem Kontext Vorschläge machen
sollte für ein neues Paradigma der internationalen Beziehungen. Zu dieser Gruppe
gehörten etwa Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, Jacques Delors, Prinz ElHassan bin Talal von Jordanien, Nadine Gordimer, die Literaturnobelpreisträgerin aus
Südafrika, Hanan Ashrawi (sie war Sprecherin der Palästinensischen Delegation beim
Nahostfriedensprozeß 1991 bis 1993) und Hans Küng. Die Gruppe übergab im November 2001 ein Manifest („Crossing the Divide„) an Kofi Annan. Am 9. November
hatte Hans Küng die Gelegenheit, ein Statement vor der UNO-Vollversammlung abzugeben. Zum Abschluß der Debatte verabschiedete die Vollversammlung einstimmig
eine Resolution (56/6), in der sie eine „Globale Agenda für den Dialog der Kulturen„
proklamiert. Darin wird anerkannt, daß durch einen solchen Dialog die Ausarbeitung
gemeinsamer ethischer Standards wesentlich vorangebracht werden kann. Das Manifest der Expertengruppe ist noch 2001 in deutscher Übersetzung erschienen. Der
Titel: „Brücken in die Zukunft. Ein Manifest zum Dialog der Kulturen„.
Am 12. Dezember 2003 kam Kofi Annan persönlich nach Tübingen, um die dritte
Weltethos-Rede zu halten zum Thema: „Gibt es noch universelle Werte?„ Kofi Annan
hat dies ausdrücklich bejaht, denn ohne einen Kanon gemeinsamer Werte, die alle
Menschen anerkennen, wäre auch die UNO undenkbar, gäbe es nichts, was die Völkergemeinschaft miteinander verbinde. Weltethos ist also inzwischen ein Projekt, das
vom Religionen- und vom Völkerparlament unterstützt wird.
Dialog als Mittel zur Selbstzivilisierung
Die Geschichte zeigt: wo immer eine Gesellschaft sich weiterentwickelt hat, geschah
das nicht im Kampf gegen andere Kulturen, sondern primär im Ringen der jeweiligen
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Kultur mit sich selber. Allen Kulturalisten vom Schlage Huntingtons sei gesagt: Zivilisiertheit muß sich jede Kultur und Religion selber abringen. Nicht eine angeblich
feindliche Kultur oder Religion gilt es zu besiegen, sondern sich selber zu überwinden. Nicht die Kreuzzüge mit ihren Blutbädern haben uns Abendländer nachhaltig
vorangebracht, sondern der Kampf eines Martin Luther oder Giordano Bruno gegen
das römische Papsttum um die Freiheit des Gewissens. Nicht der Kolonialismus, die
Ausbeutung wehrloser Länder hat uns Abendländern wirklich weitergeholfen, sondern der Kampf ungezählter Frauen gegen die Männer um gleiche Rechte, gleiche
Behandlung und gleiche Bezahlung wie die Männer. Unsere modernen oder postmodernen Gesellschaften in Europa wären nicht, was sie sind, ohne diese Streitkultur
zwischen Toleranten und Intoleranten, zwischen Demokraten und Antidemokraten,
zwischen weitherzigen Pluralisten und engherzigen Fundamentalisten in unseren eigenen Reihen. Dieser interne Konflikt zwischen dem angeblich „alten Europa„ und den
angeblich „neuen Europäern„ im Schulterschluß mit den (neuen) USA wird derzeit
ausgefochten. Setzen wir auf die Stärke des Völkerrechts, gründen wir eine neue Weltordnung auf alle Menschen verbindende Werte und Normen - oder setzen wir auf das
Recht des Stärkeren und die Hegemonie des Stärksten, der willkürlich entscheidet, was
recht und was unrecht ist, wer „gut„ und wer „böse„ ist?
Ein Dialog der Kulturen und Nationen basiert auf der Einsicht in die Kultur des
Dialogs, auf der Einsicht in die zivilisierende und humanisierende Wirkung unmittelbarer Verständigung gleichberechtigter Partner. Der Dialog der Religionen, der Nationen und Kulturen ist in diesem Sinne ein Mittel zur Selbstzivilisierung der Welt.
Oft geschieht dieser Dialog widerwillig, weil viele Menschen noch dem alten SchwarzWeiß-Denken verhaftet sind und alles Fremde am liebsten ignorieren würden. Aber
zu diesem Dialog gibt es als Alternative nur den Krieg. Entweder wir reden miteinander, wir arbeiten zusammen, wir lernen voneinander - oder wir schießen aufeinander,
töten einander, womöglich im Namen Gottes oder der Nation. An den Religionen
vorbei gibt es keinen dauerhaften Frieden der Völker. Auch die religiösen Menschen
müssen sich zivilisieren, nicht nur die Regierungen. Das ist umso dringender, wenn
religiöse Menschen Regierungsgewalt besitzen. Ohne ein Menschheitsethos kann die
Globalisierung wohl kaum erfolgreich bewältigt werden. Unsere Weltgesellschaft ist
nämlich erst dann zivilisiert, wenn sie sich ein globales Ethos gegeben hat mit gemeinsamen Menschenrechten und daraus resultierenden Verantwortlichkeiten für alle. Die
Weltgesellschaft ist dann zivilisiert, wenn sie wenigstens über ein Minimum an gemeinsamen ethischen Standards verfügt, die in den Köpfen, Herzen und Händen und
aller Menschen verankert sind, gleich welcher Religion, Hautfarbe, Kultur oder Her-
99
D I E R E L I G I Ö S E D I MENSION
kunft sie sind. Mit den Worten Kofi Annans aus seiner Weltethos-Rede: „Wir müssen
imstande sein zu sagen, dass bestimmte Handlungen und Überzeugungen nicht nur
unseren eigenen sittlichen Vorstellungen zuwiderlaufen, sondern von allen Menschen
verworfen werden.„ Solange dieser gemeinsame Wertekanon für alle, ein Weltethos,
nicht allgemeine Akzeptanz findet, ist das Weltchaos, das aus Nachbarn im „globalen
Dorf„ reißende Wölfe macht, eine stete Gefahr.
DR. MARTIN BAUSCHKE, geb. 1962, ist Theologe und Religionswissenschaftler. Seit 1999 leitet er das
Berliner Büro der Stiftung Weltethos.
100
D I E RELI G I Ö SE D I MENSI O N
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N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Vom elementaren Denken zum lebensfreundlichen
Handeln
Albert Schweitzers Ethik als Leitorientierung für die Umwelterziehung
Claus Günzler
Vor einigen Jahren (2000/01) haben Berge von brennenden Rinderkadavern und dazu
die jeder Skepsis baren Klonierungsannoncen medizintechnischer Macher das zeitgenössische Bewusstsein aufgeschreckt. Die immer noch virulente BSE Krise der europäischen Landwirtschaft und die sich geradezu zwangsläufig abzeichnende Aussicht,
in absehbarer Zeit einen geklonten Menschen registrieren zu müssen – in Südkorea ist
er bereits in der Fertigung - , haben auch die breite Öffentlichkeit zum Jahrhundertbeginn mit einem grundsätzlichen ethischen Defizit konfrontiert: Es fehlt an verbindlichen Orientierungen für die verantwortliche Kontrolle des sprunghaft eskalierenden
Machtzuwachses in Wissenschaft und Technik, wir scheinen zunehmend in die Rolle
des Zauberlehrlings zu geraten.
Albert Schweitzer hat diese Entwicklung bereits 1936 auf die schlichte Formel gebracht: „Das Können des Menschen ist größer geworden als seine Vernünftigkeit.„1
Hier scheint in der Tat das Grundproblem der Gegenwartsgesellschaft zu liegen, und
daraus resultiert die Grundsatzfrage, wie man die Vernünftigkeit des Menschen steigern kann, damit sie den Entwicklungen des wissenschaftlich technischen Fortschritts
gewachsen ist. Diese Frage ist nicht damit beantwortet, dass man immer dann, wenn
die skandalösen Folgen einer falschen Praxis aufgedeckt werden, mit verschärften Kontrollen und präzisierten Gesetzen antwortet. Solche institutionellen Reaktionen sind
zwar wichtig, doch sie können keine grundlegende Änderung bewirken, solange die
handelnden Personen nur aus Angst vor Strafe, nicht aber aus eigener Überzeugung
auf bestimmte Handlungsweisen verzichten. Eine neue Praxis setzt ein neues Denken
voraus, bei Produzenten wie Konsumenten, also quer durch die gesamte Öffentlichkeit. Gesetze und Sanktionen können nur dann wirksam werden, wenn die Mehrheit
der Bevölkerung sie bejaht, und dies ist eine Sache der persönlichen Urteilsbildung.
1
A.Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben (Kulturphilosophie III), Bd. 1 (WA 1)
München 1999, S. 463.
102
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
Das Bemerkenswerte am Ethiker Schweitzer ist die Tatsache, dass er seine Richtlinie
der Verantwortung für alles Lebendige entwickelt hat, als man von einer ökologischen
Krise noch nichts ahnte und der damit verbundene Boom von Umweltschutz, Umweltethik und Umwelterziehung in keiner Weise abzusehen war. Die Strahlkraft seiner
Ethik geht wohl nicht zuletzt darauf zurück, dass sie keine schnelle Antwort auf akute
Nöte ist, sondern dem Problemdruck des ausgehenden 20. Jahrhunderts weit vorausliegt. Harald Steffahn schreibt dazu:
„Es gibt uneigennützige Ethik und erzwungene. Die erste hat Seltenheitswert, die andere bildet die Norm. Zuweilen bringen nicht nur Personen, sondern ganze Gruppen,
Gesellschaften es fertig, sich bequemer Vorteile zu begeben, um Unrecht abzuschaffen.
Eher noch erfreut die Menschheit sich an großen einzelnen, die ihr Leben gänzlich
ungenötigt, ohne Aussicht auf Lohn und Dank, ja unter Opfern in den Dienst der Humanitas stellen. Im allgemeinen aber erfolgen moralische Fortschritte nur dann, wenn
Schaden dadurch vermieden oder verringert wird, wenn eine Notlage zum Umdenken
zwingt.„2
Dass in den letzten 30 Jahren die Verantwortung für die Natur und die Appelle zu
einem nachhaltigen Umgang mit ihr zunehmend an öffentlichem Gewicht gewonnen haben, verdanken wir ohne Zweifel der gewachsenen Einsicht in die ökologische
Notlage. Demgegenüber ist Schweitzers Ausgangshorizont ein völlig anderer: Er will
Kulturphilosophie betreiben, zu einer Kultur beitragen, in der die Stimme der Ethik
in neuer Weise ernst genommen wird und gelangt just auf diesem Weg schon 1920 zu
einem Ethikentwurf, der in frappierender Weise Antworten auf Fragen vorwegnimmt,
die erst im Zeichen des ökologischen Krisenbewusstseins am Ende des 20. Jahrhunderts allgemeine Aufmerksamkeit finden. Als Zeitdiagnostiker sieht er die Ethik zu
Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem durch zwei Faktoren herausgefordert: den Individualismus und den Neoprimitivismus. Anders gesagt: Sein Denkentwurf ist der
Versuch, den Alltagsmenschen individualethisch für die Freude an einer ernsthaften
Orientierung zu gewinnen, eben damit dem Neoprimitivismus entgegenzuwirken und
über die individualethische Selbstverständigung den Blick für die Pflicht zur Solidarität zu öffnen.
2
H. Steffahn: Menschlichkeit beginnt beim Tier. Stuttgart 1987, S. 139.
103
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Der Neoprimitivismus als Kulturrisiko
Als neoprimitiv kennzeichnet Schweitzer 1944 einen Menschentyp, „der von der Kultur das Geistige verwirft und das durch das Geistige geschaffene Materielle beibehält
und also in primitiver Mentalität, als verstünde sich dies von selbst, über die von den
Kulturmenschen erworbene Übermenschenmacht verfügen will.„3
Damit ist die bis heute präsente Gefahr beschrieben, dass die Handlungsmacht des
Menschen seiner geistig sittlichen Verantwortung davonläuft, die materielle Moderne
nicht von einer intellektuellen Moderne relativiert wird und demzufolge unreflektierte
Natur und Körperhaftigkeitsideale die humanen Maßstäbe verdrängen. So ist denn
für Schweitzer der Neoprimitive „der wieder naturhaft gewordene Mensch, der Stärke
höher schätzt als Geistigkeit, sich über Mitempfinden, Liebe, Humanitätsgesinnung
und anderes Wesentliche des Ethischen als über die Naturhaftigkeit behindernde Sentimentalitäten hinwegsetzt.„4
Auch wenn solche Aussagen unmittelbar von der grausamen Realität des Zweiten
Weltkriegs geprägt sind, reichen sie doch weit darüber hinaus ins Grundsätzliche, denn
beide Weltkriege sind für Schweitzer Folgen einer fehlgelaufenen Kultur, und deren
zentrales Defizit liegt wiederum im Siegeszug pseudobiologischer Parolen zu Lasten
der Humanität. So hält er denn, wie seine Appelle zur Abschaffung der Atomwaffen
zeigen, das Risiko des Neoprimitivismus mit Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs
für gebannt und würde heute ebenso beherzt vor einer neoprimitiven Nutzung der Bio
und Medizintechnik warnen. Programmatisch erklärt er:
„Die Höherzüchtung des Menschen hat ihre Grenzen. Man züchtet Kühe, die einige
Liter Milch mehr geben und dafür tuberkulös sind.
Gegen die problematischen Ideale der Lebenssteigerung! Das können wir nicht! Das
besorgt die Natur. Wir können nur veredeln und vertiefen.
Der Mensch kann nicht handeln wie die Natur. Sobald er dies versucht und sich Lebenssteigerung zum Ziel setzt, verliert er die Orientierung.„5
Schweitzer hält also nichts von den Idealen einer künstlich arrangierten Lebenssteigerung, würde aus demselben Grund auch die „Bodykultur“ unserer Tage verwerfen
3
A. Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben (Kulturphilosophie III), Bd. 2 (WA 2).
München 2000, S. 298.
4
Ebd. S. 299.
5
Ebd. S. 432.
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N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
und verweist statt dessen auf die menschliche Fähigkeit zum Veredeln und Vertiefen,
also auf das ethische Denken. Dieses verbindet er mit zwei Leitmotiven, von denen
her ich seinen Ethikentwurf nunmehr skizzieren möchte. Das erste lautet: „Lebendige
Wahrheit ist nur die, die im Denken entsteht.„6 Das ist Schweitzers Kampfansage an
die organisierte Gedankenlosigkeit, mit der die Gesellschaft den Einzelnen vom selbstbestimmten Denken abhalte.7 Dem entspricht das zweite Leitmotiv, das die Ethik
von allen kollektiven Standards freihalten und allein im persönlichen Nachdenken
verwurzeln will: „Die Abstraktion ist der Tod der Ethik, denn Ethik ist lebendige Beziehung zu lebendigem Leben.„8 Schweitzer baut ethisch also ganz und gar auf das
denkende Ich in seinen Alltagsbezügen, sieht alle abstrakten Normentwürfe, die von
außen vorgegeben werden, zur praktischen Wirkungslosigkeit verurteilt und traut es
der persönlichen Vernunft zu, einen eigenständig erarbeiteten, individuellen Kompass
für die sittliche Lebensgestaltung zu entwickeln. Menschen mit einem solchen Kompass wären gegen den Sog des Neoprimitivismus, gegen die „Begeisterungsfähigkeit
für das Sinnlose„9 gefeit.
Der moderne Individualismus als ethische Chance
Dieser Ansatz soll das überkommene ethische Erbe keineswegs ausklammern oder der
individuellen Beliebigkeit ausliefern, sondern zielt ganz im Gegenteil darauf ab, die
traditionellen Orientierungen zu revitalisieren, sie vom viel beklagten Makel der praktischen Wirkungslosigkeit zu befreien und ihnen einen neuen Weg zur Verbindlichkeit
zu eröffnen. Vor allem das christliche Liebesgebot und die philosophische Idee der
Humanität sollen eine ethische Form erhalten, die sie den konkreten Entscheidungen des Lebensalltags nahe bringt. Um dies zu ermöglichen, nimmt Schweitzer den
Individualismus der Moderne vollauf ernst, spricht jedem Menschen die Fähigkeit
zum elementaren Denken zu und versteht dieses als den Schlüssel zu einer ethischen
Selbstverständigung, die aus der Alltagserfahrung heraus erwächst und diese deshalb
mit ihren Einsichten auch zu prägen vermag.
Im Unterschied zum fachmethodischen Erkennen der Wissenschaften ist das elementare Denken keine Sache der Gelehrsamkeit, sondern jedem Menschen auf jeder
6
A. Schweitzer: Gesammelte Werke in fünf Bänden (GW). München 1974, Bd. 1, S. 232.
Vgl. ebd. S. 43.
8
GW 2, 372.
9
Ebd. S. 51.
7
105
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Altersstufe und jedem Bildungsniveau zugänglich, weil es die Fragen aufgreift, die
das Alltagsbewusstsein unmittelbar herausfordern. Wenn es um Recht oder Unrecht,
Glück oder Unglück geht, kann sich niemand solchen Themen entziehen, und wer
sich hier auf ein elementares Nachdenken einlässt, gelangt in der Regel zu Einsichten, in deren Licht „der gesunde Menschenverstand„ als „ein abgestumpfter Menschenverstand„ erscheint.10 Kurzum, das elementare Denken ist nicht wissenschaftlich,
aber doch „allgemein verständlich und zugleich tief„11, vor allem aber ist es keine rein
kognitive Tätigkeit, sondern ein fundamentales Begreifen, an dem die ganze Person
beteiligt ist:
„Wir sind nicht einfach Seiendes in dem unendlichen Sein der Welt, sondern lebendige
Individuen. Unser Ich, diese geheimnisvolle Einheit von Wollen, Fühlen und Erkennen,
sucht sich in dem geheimnisvollen Sein der Welt, in das es hineingestellt ist, zu begreifen. Nicht irgendein logisches Vermögen übt in uns, als eine Art Gedankenmathematik,
das Denken aus. In unserem Denken setzt sich unser lebendiges Ich mit der Welt auseinander. Denken ist eine elementare Funktion unseres lebendigen Seins.„12
Praktischer Wirkungslosigkeit verfällt die Ethik für Schweitzer immer dann, wenn
sie als Gedankenmathematik auftritt, also mit plausiblen Normbegründungen zwar
den Kopf erreicht, nicht aber das lebendige Ich in seinen Alltagsbezügen. Noch so
überzeugend entwickelte Sollensansprüche können in dieser Weise das selbstverantwortliche Subjekt in einer individualisierten Gesellschaft nicht dauerhaft prägen, weil
dieses sich mit seiner eigenen Biografie hier nur selten berücksichtigt findet. Deshalb
hält Schweitzer eine radikale Individualisierung der Ethik für notwendig, will den
Weg zur Einsicht in verbindliche Orientierungen gleichsam von unten her, von der
empirischen Vielfalt des Lebensalltags aus anregen und ist fest davon überzeugt, dass
das elementare Denken das Individuum schrittweise zu eben jenen überindividuellen
Ansprüchen hinführt, die es als von oben vorgegebene niemals akzeptieren würde.
Mit anderen Worten: Das ethische Erbe bleibt in Kraft, doch es muss auf unzähligen
individuellen Lebensbahnen neu entdeckt werden, eben als eine Ethik der lebendigen
Beziehung, die als lebendige Wahrheit aus dem je eigenen Denken entsteht. Alle diese
Bahnen münden für Schweitzer in die Richtlinie der „Hingebung an Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben„13, und diese stellt für ihn die elementare Synthese der christlichen Liebesethik mit der normativen Leitidee der Humanität dar.
10
WA 1, S. 60.
106
11
GW 1, S. 234.
12
WA 1, S. 284.
13
GW 2, S. 374.
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
Pädagogischer Exkurs: Der Schulgarten als Lernort
Bevor ich auf dieses Leitprinzip der Schweitzerschen Ethik näher eingehe, möchte
ich einen knappen Exkurs zur pädagogischen Fruchtbarkeit des elementaren Denkens einfügen und hier einige Beobachtungen beschreiben, die wir im Rahmen eines
umwelterzieherischen Projekts an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe gewinnen
konnten. Von 1989 bis 1998 haben sich Vertreter von neun verschiedenen Fachdisziplinen zusammengefunden, um mit Grundschulkindern (3. und 4. Schuljahr) zu
erproben, inwieweit das handelnde Lernen im Garten zur Umwelterziehung beitragen
kann. Lernort war der vom Fach Biologie konzipierte und von Studierenden betreute Hochschulgarten, ein ökologischer Lehrgarten mit 1700 m² Fläche, in dem ein
Bereich von 50 m² für die Arbeit mit Schulklassen reserviert ist. Die Grundschüler
kamen jeweils vom Spätherbst eines Jahres bis zum Frühherbst des folgenden Jahres
einmal pro Woche in den Garten, um dort ihre Beete anzulegen, zu betreuen und
nicht zuletzt die Ernte zu genießen, darüber hinaus aber auch die anderen Bereiche des
Gartens mitsamt den Teichanlagen kennen zu lernen. In diesem Rahmen fanden sich
fünf Jahre lang Gruppen von 12 bis 14 Schulkindern zur wöchentlichen Gartenarbeit
ein, wobei jeweils zwei bis drei Kinder ein ihnen zugeteiltes Beet zu gestalten und zu
pflegen hatten. Das Besondere an dieser Arbeit im Schulgarten war nun, dass neben der
Biologie auch andere Fächer ihre Gesichtspunkte in die Arbeit einbringen konnten, so
etwa Philosophie und Religion, Deutsch und Kunst, Hauswirtschaft, Technik, Physik
und nicht zuletzt die Psychologie mit einer Lehrerbefragung zum Thema Schulgarten.
Das Resultat war so interessant, dass es 1999 als Handbuch für die Schulgartenarbeit
publiziert werden konnte.14
Leitgestalt in ethisch erzieherischer Hinsicht war Albert Schweitzer, und es galt nun
zu herauszufinden, ob sein Vertrauen auf das elementare Denken von der Schulgartenarbeit bestätigt wird und seine Richtlinie der Verantwortung für alles Lebendige
hier Bedeutung gewinnen kann.15 Dass Kinder keine kleinen Ethiker sind und schon
gar nicht moralisch überfrachtet werden dürfen, ist auch in der Umwelterziehung zu
beachten, doch andererseits stellt die Schulgartenarbeit sie immer wieder vor echte Entscheidungssituationen, spricht sie in ihrem Erkennen, Fühlen und Wollen unmittelbar
an und bietet deshalb pädagogisch die Chance, Handlungswege im ruhigen Gedankenaustausch zu begründen, anstatt naiv dem gesunden Menschenverstand zu folgen.
14
H. Birkenbeil (Hrsg.): Schulgärten - planen und anlegen, erleben und erkunden, fächerverbindend nutzen. Stuttgart 1999.
15
Siehe hierzu ebd. S. 214-255.
107
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Dazu nur ein Beispiel:
Die Grundschüler wollten insgesamt einen schönen und bunten Garten haben, dachten bei dem ihnen anvertrauten Beet aber vor allem an Erdbeeren, Radieschen, Tomaten, Gurken, Salat usw., also an Nutzpflanzen, und bekundeten damit die Normalität
des individuellen Eigeninteresses. Schöne Blumen wie Maiglöckchen, Narzissen oder
Tulpen fanden sofort ihren Zuspruch, denn der Garten sollte ja bunt und schön werden. Als aber der Gedanke ins Gespräch kam, Wildkräuter auszusäen, um Bienen und
Schmetterlinge anzulocken, wollten einige Gruppen dafür auf keinen Fall ihr eigenes
Beet zur Verfügung stellen, aus Platzgründen nicht und auch nicht, um sich das Risiko
des Gestochenwerdens vom Leibe zu halten.16
Aus Schweitzers Sicht ist damit eine Situation gegeben, die sehr persönliche Interessen
betrifft, daher durch allgemeine Moralappelle nicht überzeugend gelöst werden kann,
wohl aber einen Impuls zur Entbindung des elementaren Denkens freisetzt. In unserem Fall ergab die gemeinsame Prüfung im Kreisgespräch, dass man die bestäubenden
Bienen um der Früchte willen brauche und ein schöner Garten ohne Schmetterlinge,
also auch ohne Wildkräuter nicht zustande kommen könne. Das ruhige Nachdenken
ließ einsichtig werden, dass das gemeinsame Ziel verfehlt werden müsse, wenn jeder nur seinen eigenen Vorteil anstrebe. Damit war der Schritt vom bloß subjektiven
Nutzen zu höherrangigen Leitprinzipien getan, also ein erster kleiner Schritt von der
vormoralischen Ebene in die Moral vollzogen: Die Kinder begriffen, dass man für ein
gemeinsames Projekt Abstriche an individuellen Vorlieben vornehmen müsse, dass der
Garten als ganzer der Hege und Pflege bedürfe, und gewöhnten sich daran, nicht nur
die Pflanzen des eigenen Beets, sondern auch die der Nachbarbeete mit zu begießen,
weil „diese ja auch Durst hätten.„ Aus „meinen Pflanzenkindern„ wurden Lebewesen,
die Verantwortung einfordern, ganz gleich, ob sie auf dem eigenen Beet wachsen oder
auf einem fremden. Der Gemeinsinn wie auch das Gespür für den Eigenanspruch von
Lebewesen relativierten erstaunlich schnell die ursprüngliche Dominanz des puren
Eigeninteresses.
Handlungsbeispiele wie dieses beanspruchen keineswegs, Kinder mit dem komplexen
Rüstzeug des ethischen Argumentierens auszustatten, aber sie sind dazu geeignet, persönliche Einstellungen zu fördern, die dem ethischen Nachdenken in späteren Jahren
eine stabile Grundlage bieten. Wer es in jungen Jahren gelernt hat, den eigenen Vorteil
langfristig abzuwägen, Pflichten im Dienst des gemeinsamen Nutzens zu übernehmen und die Lebewesen seiner Umgebung als Mitgeschöpfe mit eigenem Anspruch zu
16
Siehe ebd. S. 217 f.
108
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
respektieren, der hat, auch wenn sein Gesichtskreis noch eng ist, Entscheidendes für
die ethische Gestaltung seines Erwachsenenlebens gewonnen. Schweitzer meint genau
diesen Weg von echten Entscheidungssituationen zur eigenen Urteilsbildung, wenn
er für die Verwurzelung der Ethik im elementaren Nachdenken über selbsterfahrene
Probleme plädiert und eine Ethik der lebendigen Beziehung zu lebendigem Leben an
die Stelle abstrakter Normentwürfe, Wertrangordnungen oder Regelbildungen setzen
will. Wie er dieser Überzeugung in seinem eigenen Ethikentwurf eine systematische
Form verleiht, möchte ich zum Abschluss erörtern.
Vom Individualismus zu allgemeingültigen Richtlinien
Gemäß seinem Respekt vor der persönlichen Sittlichkeit verzichtet Schweitzer auf jederlei Appelle an die soziale Verantwortung, entwickelt statt dessen – unter Berufung
auf Kant – eine „Ethik der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst„ und ist davon überzeugt,
dass diese unmerklich in eine Ethik der „Hingebung an andere„ übergehe.17 Die soziale Verantwortung ist also keine unmittelbar einsichtige Forderung und kann daher
auch nicht direkt abgerufen werden, sondern bedarf der individualethischen Fundierung, setzt bei jedem Menschen die elementare Auseinandersetzung mit der Frage
voraus, was er mit seinem Leben anfangen wolle. Nur unter dieser Voraussetzung hält
Schweitzer die Ethik als „Betätigung der Solidarität aus freier Überlegung„18 für praktikabel und kennzeichnet den Weg dorthin als den einer rationalen Mystik, die vom
Ethos der Wahrhaftigkeit genötigt wird, nicht bei der mystischen Innenerfahrung zu
verharren, sondern von dieser her zur praktischen Verantwortung in der realen Welt
draußen aufzubrechen.
Unter rationaler Mystik versteht er den Versuch des elementaren Denkens, von existentiellen Erfahrungen her nach den tragenden Grundlagen der eigenen Lebenspraxis
zu fragen. Jeder Mensch kann diesen Weg gehen, tut dies in Krisensituationen auch,
sollte aber weniger bedrohliche Lebensfragen ebenso dazu nutzen. Wer so verfährt,
gelangt nach Schweitzers Überzeugung zu der Einsicht, dass es der eigene Lebenswille
ist, der allen seinen Zielen und Aktivitäten zugrunde liegt, und entdeckt zugleich, dass
dieser Lebenswille eingebettet ist in den Kreis des Lebendigen: „Ich bin Leben, das
leben will, inmitten von Leben, das leben will.„19 Das Bewusstwerden des eigenen Lebenswillens geht also Hand in Hand mit dem Gespür für die Zusammengehörigkeit,
17
GW 2, S. 384.
18
Ebd. S. 281.
19
Ebd. S. 377.
109
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
die Verbundenheit mit fremdem Lebenswillen und weckt insofern Ehrfurcht vor dem
Leben. Damit aus dieser praktische ethische Verantwortung wird, bedarf es der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, denn diese nötigt denjenigen, der seines eigenen Lebenswillens gewiss geworden ist, in analoger Weise auch anderen Lebewesen zuzusprechen,
worauf er selbst Wert legt:
„Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der
geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst
vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben,
die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er
sich mir gegenüber äußern kann oder ob er stumm bleibt.
Ethik besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die
gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das
denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben: Gut ist, Leben erhalten und
Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.„20
Schweitzer selbst wusste, dass eine solche Ethik der Verantwortung für alles Lebendige
unlösbare Konflikte aufwerfen würde, und nicht ohne Grund betont er, dass die Ethik
„nicht ein Park mit planvoll angelegten und gut erhaltenen Wegen„ sei, „sondern eine
Wildnis, in der jeder sich seinen Pfad suchen und bahnen muss.„21 Mit anderen Worten: Niemand kann leben, ohne fremdes Leben zu schädigen oder zu töten, doch jeder
sollte erkennen, dass es sich dabei nicht um ein selbstverständliches Recht handelt,
sondern um begründungspflichtige Ausnahmen.
Der Planet Erde als Sache des Menschheitsdenkens
Rationale Mystik und Wahrhaftigkeitsethos führen also das elementare Denken
von höchst individuellen Ausgangsfragen zwingend zu einer allgemeinverbindlichen
Grundsatzorientierung, eben zur allgemeingültigen Richtlinie der „Hingebung an
Leben aus Ehrfurcht vor dem Leben„.22 Damit überwinden sie die Kurzsichtigkeit
des gesunden Menschenverstandes und wecken die Empfänglichkeit für das ethische
Menschheitserbe. Es liegt Schweitzer sehr daran, die Leitidee der Humanität nicht als
eine rein europäische Errungenschaft misszuverstehen, sondern auch die asiatischen
und orientalischen Lebensdeutungen zu berücksichtigen, die an ihr mitgewirkt haben. Wer auf europäischem Boden aus seinem Lebenshorizont heraus zum Prinzip der
20
Ebd. S. 378.
110
21
WA 1, S. 246.
22
GW 2, S. 374.
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
Ehrfurchtsethik vorgedrungen ist, der wird sich – davon ist Schweitzer überzeugt –
gegen Denkimpulse aus anderen Kulturen nicht sperren, sondern diese eher zur Kritik
an Einseitigkeiten in der eigenen Kultur nutzen. In diesem Sinne geht es für ihn im
20. Jahrhundert um „Weltphilosophie“23, denn Menschheitsfragen lassen sich nur auf
der Ebene des Menschheitsdenkens lösen und nicht in voneinander isolierten Kontinentalkulturen. Dieses Vertrauen in das Menschheitsdenken fasst er 1932 in das Bild:
„Wie in einem unendlichen Wirbel kehren im Denken der Menschheit immer dieselben
Probleme und dieselben Gedanken wieder. Aber der Wirbel bewegt sich nicht auf der
Stelle, sondern kreist in einer Strömung, die ihn mit sich fortführt.
Der Fortschritt auf die Wahrheit zu besteht darin, dass sich die Probleme in immer
umfassenderer und tieferer Weise stellen.„24
Das enorme Tempo, das die Problemverschärfung in den letzten drei Jahrzehnten angenommen hat, wird niemand bezweifeln, und Schweitzer würde heute wiederholen,
was er im Hinblick auf die Frage nach dem Weltfrieden immer wieder betont hat:
Wenn die Menschheit die Erde als „ein unendlich Kleines in dem unendlich Großen
der Welt„, als „ein vorübergehend im All umhergewirbeltes Stäubchen„ zu begreifen
lernt25, dann wird sie sich ihrer Hege und Pflegeverantwortung für den gefährdeten
und so überaus kostbaren Planeten, auf dem sie lebt, quer durch alle Kulturen bewusst
werden. Das wäre ein wichtiger Schritt zur Steigerung der Vernünftigkeit, die für den
Umgang mit dem wissenschaftlich technischen Fortschritt vonnöten ist.
Von der Umwelterziehung in der Grundschule bis zu solchen globalen Perspektiven
ist es zugegebenermaßen ein weiter Weg, aber immerhin gilt der Gartengedanke mit
der ihm innewohnenden Verpflichtung auf das Ganze letztlich auch im Hinblick auf
den Planeten Erde, und Schweitzer ist fest davon überzeugt, dass es im Kleinen zu
erkennen und zu erproben gilt, was im Großen das Handeln leiten soll. Für ihn kann
es zuverlässige Lösungen der Menschheitsfragen nur geben, wenn immer mehr denkende Ichs zu grundsätzlich neuen Orientierungen gelangen und damit auch auf ihre
jeweiligen Regierungen einwirken, d. h. er hofft auf eine Reform der Kultur von unten
her. Dieses Konzept stellt institutionelle Regelungen keineswegs in Frage, d. h. Gesetze
und Sanktionen, wie sie im Kontext des technischen Umweltschutzes (Abfallbeseitigung, Strahlenschutz, Lärmschutz etc.) üblich sind, bleiben nötig, doch sie reichen als
Handlungsperspektive für eine lebensfreundliche Zukunft nicht aus. Erst wenn immer
23
Ebd. S. 129.
24
WA 1, S. 166.
25
Ebd. S. 311.
111
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
mehr Menschen es lernen, sich von der Anthropozentrik des Umweltbegriffs zu lösen
und die Natur als eine vom Menschen unabhängige Instanz mit eigenem Anspruch
wahrzunehmen, kann es für Schweitzer zu einer neuen Vernünftigkeit kommen, die
das Ja oder Nein zu wissenschaftlich technischen Innovationen vom Respekt vor dem
menschlichen wie nicht menschlichen Leben abhängig macht. In diesem Sinne misstraut er der Wissenschaft und moniert:
„Denken ist nicht etwas Gelehrtes, das man mit der Wissenschaft lernt, sondern etwas,
auf das man achthaben muss, damit man es bei der Wissenschaft nicht verlernt und
verliert.„26
Demgegenüber bekennt er sich selbst zu der Losung: „Nachdenklich machen ist die
tiefste Art zu begeistern„27, und dies scheint mir im Dienst einer humanen Zukunft
die langfristig tragfähigste Leitorientierung für die Umwelterziehung zu sein, darüber
hinaus aber auch für das pädagogische Handeln in Elternhaus und Schule überhaupt.
(Vortrag Schweisfurth Stiftung München am 15. März 2004)
PROF. DR. CLAUS GÜNZLER ist em. Professor für Philosophie und Mitherausgeber der Nachlasswerke
Albert Schweitzers im Beck-Verlag. Dazu ist er Vorstandsmitglied der Stiftung „Deutsches Albert Schweitzer
Zentrum„.
26
27
A. Schweitzer: Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze. München 2003, S. 264.
WA 2, S. 379.
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...sich mit der Natur verbunden fühlen!
Ein Gespräch mit Miriam Kunde (19), Schülerin des Droste-Hülshoff-Gymnasiums in Berlin
P.M.: Spätestens seit dem Weltgipfel für
nachhaltige Entwicklung in Johannesburg ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ in
aller Munde. Nicht nur Umweltschutzgruppen plädieren für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur. Auch Regierungen, Konzerne, Banken verpflichten
sich in ihren Programmen im Sinne einer
nachhaltigen Entwicklung. Nun kennst
Du ohne Zweifel den Begriff. Was fällt
Dir dazu ein?
Miriam Kunde: Wir haben in der Schule darüber gesprochen. Er war wohl auch
das „Wort des Jahres 2003“. „Nachhaltigkeit“ ist: etwas zu schaffen, zu kreiieren, was nicht nur der jetzigen Generationen dient, sondern was auch für eine
weitere Generationen eine Wegeführung
bedeutet. Sie ist in allen Lebensbereichen
wichtig. Denn der einzige Weg, irgendetwas überhaupt noch zu ändern, ist eine
nachhaltige Entwicklung.
P.M.: Und das wird auch in der Schule
so bewusst reflektiert?
Miriam Kunde: Bewusst wird das nur,
wenn entsprechende Themen behandelt
werden, z.B. in „Erdkunde“, wo man sich
mit Entwicklungsländern beschäftigt. Da
114
taucht der Begriff unweigerlich auf. Man
diskutiert dann auch über die Bedeutung des Begriffs: z.B. als Förderung des
Bildungssystems. Das heißt dann, den
nachfolgenden Generationen Bildung
zu ermöglichen, um über Bildung etwas
zu ändern. Ohne Bildung geht es nicht.
P.M.: Nun geht es bei der „Nachhaltigkeit“ ja nicht nur darum, sich ein theoretisches Wissen anzueigenen, das gelehrt,
gelernt und gut abgeprüft werden kann.
Der praktische Effekt, die Umsetzung ins
Leben ist doch das Entscheidende. Wie
schätzt Du das in der Schule bzw. in Deiner Generation ein. Bleibt die „Nachhaltigkeit“ im Kopf stecken?
Miriam Kunde: Vielleicht setzt sich das
irgendwann praktisch um. Ich glaube
nicht, dass es derzeit bedeutend wichtig
ist. Auch wenn man sagen muss, dass wir
wohl schon globaler denken als die Generationen vor uns. Aber trotzdem wird
sich nichts großartig ändern, weil doch
jeder mit sich selbst beschäftigt ist und für
sich selbst sein Bestes versuchen möchte.
Die Nachhaltigkeit ist besonders in Entwicklungsländern von Bedeutung. Unser
Bildungssystem ist zwar auch nicht das
beste (siehe „Pisa“), aber wir haben ein
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Bildungssystem. In Entwicklungsländern
haben die Kinder oft überhaupt nicht die
Möglichkeit, schreiben und lesen zu lernen. Da muss man ansetzten. Wir müssen erst ein einheitliches Level schaffen.
P.M.: Nun ist „Nachhaltigkeit“ nicht nur
ein Problem der Entwicklungsländer.
Schaut man auf unseren riesigen Energieverbrauch und die entsprechenden
Folgen oder z.B. auf unseren Fleischkonsum, der eine entspechende industriellen
Massentierhaltung fordert. Wie sieht es
bei uns mit der Nachhaltigkeit aus?
Miriam Kunde: Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird zwar oft genannt, aber nicht
wirklich umgesetzt. Ich sehe keine Ansätze für nachhaltige Entwicklung. Ein Ansatz war ja das „Kyoto-Protokoll“. Aber
an den Industrienationen wie z.B. den
USA scheitern solche Protokolle. Gerade
die, die am schlimmsten verschmutzen,
müssten solche Protokolle unterschreiben. Sonst ist das alles null und nichtig.
Ich glaube schon, dass es möglich ist, mit
neuen Technologien weniger umweltschädlich zu handeln. Das Problem ist
nur, dass natur- und umweltfreundliche
Produkte erst auf den Markt kommen,
wenn sie wirtschaftlich rentabel sind. Das
heißt, es muss sich rechnen. Neue Technologien sind einfach teurer. Das Brennstoffzell-Auto kann sich keiner leisten.
P.M.: Albert Schweitzer kannte den
Begriff „Nachhaltigkeit“ noch nicht.
Trotzdem ist seine Ethik der „Ehrfurcht
vor dem Leben“ als eine nachhaltige zukunftsorientierte Lebensperspektive anzusprechen. Allerdings ruft er deutlich
den Einzelnen in die Pflicht. Was er tun
oder lassen soll, ist ihm in seiner Individualethik Thema.
Miriam Kunde: Ich denke, dass man
erst Individuen ansprechen muss, um
bei ihnen eine Veränderung zu bewirken.
Viele fühlen sich nicht angesprochen bei
gewissen Problemen. Der Europäer weiß
zwar um die Problematik z.B. der Abholzung der Regenwälder bescheid. Aber im
Grunde kratzt es ihn nicht weiter. Was er
nicht sieht, berührt ihn nicht. Er kauft
nach wie vor Mahagoni als Gartenstuhl
oder irgendwelche Tropenhölzer als Klopapier. Das muss man ihm immer wieder vor Augen halten, damit er es nicht
vergisst.
P.M.: Wäre da nicht ein Bildungsauftrag?
Ist das nicht ein Inhalt für die Schulen?
Miriam Kunde: Das sind sehr wichtige
Inhalte für die Schule. Dennoch werden
diese Inhalte nicht ausreichend vermittelt. Es sei denn in Fächern wie „Ethik“
oder „Erdkunde“, wo das überhaupt
mal thematisiert wird. „Erdkunde“ ist
zwar ein Pflichtfach; aber „Ethik“ ist
wie „Religion“ meistens nur für die, die
es wirklich interessiert. Es spricht nicht
115
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
gerade für unser Bildungssystem, dass
in unserer Religionsgruppe gerade mal
sechs ‚Figürchen‘ sitzen aus der ganzen
Schule.
P.M.: Also für diese Inhalte fehlt schlechtweg auch das Fach?
Mriam Kunde: Das Fach und auch das
Interesse.
P.M.: Seitens der Lehrer oder der Schüler?
Mriam Kunde: Vermutlich eher seitens
der Schüler. Ich will nicht allen Schülern absprechen, dass sie umweltbewusst
denken. Das Problem ist einfach für
Stadtkinder, sich mit der Natur auch verbunden zu fühlen.Wenn man ihnen die
Möglichkeit nicht gibt, Natur zu erleben,
dann werden die auch keinen Sinn darin
sehen, diese zu schützen. Das Interesse
wird, wenn es nicht erzwungen wird,
abflauen oder erst gar nicht auflodern.
Hier müsste man ein entsprechendes
Schulfach, vielleicht gar als Pflichtfach,
einrichten, damit sich alle damit beschäftigen, ob sie wollen oder nicht. Man
kann die Augen vor den Tatsachen nicht
verschließen
P.M.: Da geht es dann auch um unser
Verhältnis zu den Tieren, die Dir ja seit
frühester Kindheit besonders am Herzen
liegen. In der Stadt gibt es kaum Mög-
116
lichkeiten, Tiere zu erleben. Nun gibt es
dem gegenüber Millionen von Haustieren.
Miriam Kunde: Das heißt dann aber
noch nicht, dass die Besitzer tierfreundlich mit diesen umgehen. Das heißt,
wenn ich mir ein Tier anschaffe und dieses liebe bzw. Tiere allgemein liebe, dann
versuche ich, es möglichst artgerecht zu
halten. Ich versuche alles, um das Leben
des Tieres so angenehm wie möglich zu
gestalten. Es gibt eine Fülle von Haushalten, wo das definitiv nicht der Fall ist.
Dass Tiere gehalten werden, wie es für
ihre Art nicht typisch ist. Das ist keine
Tierliebe mehr.
P.M.: Gibt es auch hier wieder ein Bildungsdefizit, weil Menschen sich aus
Unkenntnis ein Tier anschaffen? Oder
kein Interesse vorhanden ist, sich mit artgerechter Tierhaltung zu beschäftigen?
Miriam Kunde: Da hört bei mir die Toleranz auf. Denn die Möglichkeit, sich
das entsprechende Wissen anzueignen,
ist ja gegeben. Man kann sich Bücher
ausleihen, Leute fragen ... Das ist nicht
zwangsweise so, dass man sich ein Tier
holen muss und nichts darüber weiß.
P.M.: Albert Schweitzer hat den Menschen oft vorgehalten, dass sie zu sehr aus
Gedankenlosigkeit handeln oder zu wenig Mitempfinden bzw. Mitleid haben.
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
Wie erlebst Du das in Deinem Umfeld?
Miriam Kunde: In meinem Bekanntenkreis erlebe ich schon Menschen, die
sich Tiere halten und auch sich Gedanken machen, wie sie die Tiere möglichst
artgerecht halten können. Das Mitleid
kommt dann fast automatisch, wenn
man sich mit dem Tier ein Stück weit
identifiziert, wenn man feststellen
muss, dass Tiere keine Maschinen sind,
sondern auch Charaktereigenschaften
besitzen. Dann entsteht auch Zuneigung und damit auch Mitleid.
P.M.: Dann bist Du für Haustiere?
Miriam Kunde: Durchaus. Um die Beziehung Mensch-Tier zu stärken. Jedoch,
sobald man ein Tier ins Haus holt, kann
man es nicht artgerecht halten. Aber man
kann es versuchen.
P.M.: Also auch Kinder sollten Tiere haben, da sie dadurch den Umgang mit Lebewesen lernen?
Miriam Kunde: Für Kinder ist es gerade
wichtig, sie in die Praxis zu holen. Mit
Kindern kann man theoretisch nichts
erreichen. Man kann ihnen nicht theoretisch etwas über Hamster- oder Hundehaltung erzählen. Sie müssen das am Tier
lernen. Aber sie müssen begleitet werden.
Man muss es ihnen beibringen. Das Wissen ist nicht automatisch gegeben. Da ist
oft das Problem, weil häufig die Eltern,
die ja verantwortlich dafür sind, ob ein
Tier ins Haus kommt oder nicht und wie
es zu halten ist, das zu sehr auf die leichte
Schulter nehmen und nicht wissen, welche Verantwortung mit der Tierpflege
verbunden ist.
Der Mensch ist auch nichts weiter als
ein Tier!
P.M.: Lässt sich aus dem Erleben des Tieres auf eine Wesensverwandtschaft zwischen Tier und Mensch schließen?
Miriam Kunde: Das ist schwer zu sagen.
Man kann ja in das Tier nicht hineingucken. Man neigt dazu, irgendwelche Wesenseigenschaften zu erkennen. Und man
meint auch immer, der anthropomorphe
Einfluss, dem die Tiere ausgesetzt sind,
würde „kleine Menschen“ im Pelz oder
in Federn schaffen. Ich glaube, man muss
den Tieren schon eine gewisse Eigenständigkeit zusprechen. Aber selbst mit größter Anstrengung gelingt es häufig nicht,
bestimmte Aktionen der Tiere uninterpretiert zu lassen. Man zieht automatisch
Rückschlüsse auf das eigene Verhalten.
P.M.: Nun wird in der Tierforschung
u.a. das soziale Verhalten der Tiere beobachtet, das durchaus Rückschlüsse zulässt
auf das soziale Miteinander der Menschen. Wie steht es nun um die Wesensverwandtschaft? Ist das mehr zufällig?
117
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Miriam Kunde: Ich seh‘ das überhaupt
nicht nur zufällig. Der Mensch ist auch
nichts weiter als ein Tier. Er stellt sich
nur über Tiere, weil er meint, er hat die
Sprache, die Kultur. Er muss sich nur
mit den anderen Tieren beschäftigen, um
festzustellen, dass diese auch Sprache und
stellenweise „Kultur“ haben.
Miriam Kunde: Ich denke schon, dass
der Begriff „Ehrfurcht“ auf Verständnis
stößt. Aber das Problem besteht zwischen
Theorie und Praxis. Es werden viele Jugendliche dem zustimmen, es aber trotzdem nicht machen.
P.M.: So wäre Fleisch essen fast eine
Form des Kannibalismus?
Miriam Kunde: Es mag sein, dass sie es
nicht anders gelernt haben. Viele leben
einfach ihren Eltern nach. Deshalb muss
man gucken, wie weit ist das Verständnis schon bei den Eltern gegeben. Und
haben sie überhaupt die Möglichkeit, das
umzusetzen. Um der „Ehrfurcht vor dem
Leben“ folgen zu können, muss man mit
möglichst viel Leben umgeben sein. Ich
sehe wirklich ein Problem darin, dass die
Hauptbevölkerung in der Stadt wohnt.
Dort ist - außer Menschen, Hunden,
Katzen - wenig Leben sichtbar.
Miriam Kunde: Da ist man zu streng.
Man kann Fleischessern nicht vorwerfen,
sie wären kannibalistisch. Das gehört
einfach zur Natur.
P.M.: Der russische Schriftsteller Lev Tolstoi meinte einmal: Solange es Schlachthäuser gibt, gibt es auch Schlachtfelder.
Miriam Kunde: Da wäre ich vorsichtig.
Diese Parallelen kann man nicht ziehen.
Ich denke, dass die Schlachtfelder beständiger sind als die Schlachthäuser.
Es gibt immer mehr Menschen, die
vegetarisch essen. Aber ich sehe nicht,
dass dadurch die Kriege weniger werden.
P.M: Kannst Du etwas mit Schweitzers
Formulierung „Ehrfurcht vor dem Leben“ anfangen? Wird ein Begriff wie
„Ehrfurcht“ von den jungen Leuten noch
verstanden? Oder ist das zu verstiegen,
zu „altmodisch“?
118
P.M.: Warum nicht?
P.M.: Das heißt also Erfahrungen sammeln mit Natur und Tieren ist notwendig?
Miriam Kunde: Ja, denn die entsprechenden Erfahrungen prägen einen.
P.M.: Das „Predigen“ von oben, das
Moralisieren im schlimmsten Falle, das
Empfehlen im besten Falle, hat wenig
Auswirkungen?
Miriam Kunde: Es wäre zu einfach zu
sagen: „Macht das nicht!“ oder „Überleg‘
dir das noch mal!“... etc. Viele wollen das
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
auch nicht mehr hören. Man muss immer wieder für irgendetwas Sündenbock
sein. So hören viele gerade dann weg.
Zwangsweise müsste man ihnen dann
die Gelegenheit verschaffen, eigene Erfahrungen zu sammeln.
P.M.: Also einer Schulklasse die „ErdCharta“ in die Hand zu drücken, würde
nicht reichen?
Miriam Kunde: Nein. Das hätte bei mir
auch nicht gereicht.
Ich denke, dass die „Erd-Charta“ zu
viel verlangt.
P.M.: Nun versucht man seit Jahrzehnten mit solchen Papieren, den Menschen
Orientierungspunkte anzubieten. Man
appelliert damit an die Vernunft des
Menschen. Welche Chancen gibst Du
dem?
Miriam Kunde: Wenig. Ich habe die
„Erd-Charta“ gelesen. Dem Inhalt stimme ich voll zu. Aber dann reicht auch
ein allgemeiner Satz wie „Ich bin für
den Weltfrieden. Tut alles dafür, dass er
erreicht wird!“. Es gibt durchaus viele,
die sich den Weltfrieden wünschen. Aber
das ist ein alter Wunsch. Ich sehe nicht,
dass der in Erfüllung geht, weil es viel zu
viele Brennpunkte gibt, weswegen Kriege entstehen. Mögen sie begründet oder
unbegründet sein. Das spielt dabei über-
haupt keine Rolle. Kriege werden einfach
geführt. Oft hat das schon Tradition. Die
Kriegführenden wissen oft gar nicht
mehr, warum sie eigentlich Krieg führen. Ich denke, dass die „Erd-Charta“ zu
viel verlangt. Das muss ich ganz ehrlich
sagen. Das sind aufgelistete Wünsche,
aber ich sehe nicht, dass sie umsetzbar
sind. Ich seh‘ das wirklich nicht. Da hätte
ich auch irgendeinen Bibeltext nehmen
können. Oder ich sage einfach: „Wir sind
alle Buddhisten und lehnen das Streben
nach Besitz ab“ - das würde auch nicht
funktionieren. Denn diejenigen, die Besitztümer haben, fühlen sich wohl damit. Die werden nicht ihren Besitz mit
anderen teilen. Das tun nur ganz besonders menschenfreundliche Menschen,
die auch was Spirituelles haben ... Aber
wer etwas hat, der wird es nicht mehr
hergeben. Ich glaube, dass ist ganz natürlich. Ganz nach Darwins „survival of
the fittest“ oder „der Stärkste überlebt“.
Nur geht es jetzt nicht mehr darum, das
fetteste Rind zu erlegen, sondern eine
gewisse Macht zu haben. Diese Macht
kommt häufig mit materiellen Dingen.
Und solche Menschen definieren sich
über das Materielle. Deshalb werden sie
das nicht aufgeben wollen. Viele geben
sich allerdings damit selber auf, weil sie
nichts anderes finden.
P.M.: Nun klingt das sehr fatalistisch.
Wir können nichts gegen den Krieg oder
den Materialismus tun, weil die An-
119
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
triebe dazu uns genetisch „eingebrannt“
sind. Albert Schweitzer war der Überzeugung, dass wir nur im Vertrauen darauf,
dass wir auch Dinge erreichen, die bisher
unmöglich erschienen, aktiv sein können. Erfolgschancen dürfe man nicht ins
Kalkül ziehen. Kann man also nicht doch
ein wenig gegensteuern? So wie ich Dich
bisher verstanden habe, ist die Erfahrung
des Einzelnen, sich anders zu erleben,
doch ein Weg?
ben gar keinen Bezug zu diesen Dingen.
Sie sitzen in irgendwelchen Büros und
sagen nur: „Wir bombardieren das und
machen dies ...“ Die spüren das nicht.
Man müsste sie selber raus ins Feld schicken, so wie früher: Mann gegen Mann.
Wobei die Oberhäupter auch nicht im
Feld standen. Aber die Kriege werden
immer anonymer. Deshalb wird das Leid
gar nicht übermittelt.
P.M.: Das Fernsehen schafft das nicht?
Miriam Kunde: Da bin ich mir sicher.
Gegen Krieg kann man erst dann etwas bewirken, wenn man mit Menschen zusammen kommt, die selber
einen Krieg erlebt haben. Dann ist es
möglich, sich mit den Betroffenen zu
identifizieren. Dann kann man sagen:
„Es muss furchtbar sein“ -auch wenn
man das selber nicht erlebt hat. Dann
gibt es aber auch welche, die sehen, dass
sich ein Krieg in einem anderen Erdteil
abspielt, und sagen „Das betrifft mich
überhaupt nicht!“ Das wird erst kritisch,
wenn‘s dann wirklich an ihn selber geht.
Wenn es beispielsweise einen Ölboykott
gibt und er kein Öl mehr bekommt und
nicht mehr Auto fahren kann.
P.M.: Also es muss körperlich spürbar
sein?
Miriam Kunde: Ja. So dass er sehen
kann: so weit sind die Länder gar nicht
auseinander. Das ist immer ein Wechselspiel. Aber die den Krieg anzetteln, ha-
120
Miriam Kunde: Da bin ich ein bischen
misstrauisch. Man sieht häufig immer
nur eine Seite des Krieges. Es wird gefärbt und gefiltert. Man muss mit den
Medienberichten vorsichtig sein. Man
kriegt nie die ganze Wahrheit mit. Ein
wirkliches Bild bekommt man nur, wenn
man in die Krisengebiete fährt. Aber wer
traut sich das schon?!...
MIRIAM KUNDE macht dieses Jahr ihr Abitur
am Droste-Hülshoff-Gymnasium in Berlin. Seit
frühester Kindheit interessiert sie sich lebhaft für
Tiere. Mittlerweile studiert sie auf vielfältige und
auch wissenschaftliche Weise die Biologie und das
Verhalten der Tiere. Sie wird entweder Veterinärmedizin oder Tierpsychologie studieren, um später
u.a. in der Verhaltensforschung tätig zu sein.
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
„Die Seele des Menschen verroht, wenn
er die Seele der Tiere leugnet. Alles was
wächst, ist beseelt - wie sollte es sonst
wachsen? Das gilt für jedes Tier und
jede Pflanze.“
FRANZ ALT
(Vgl. Rundbrief Nr.93, S.63)
121
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH..., WENN WIR
ANDERS LEBEN.
von Gerhard Breidenstein
Die Initiative „Aufbruch – anders besser leben“ als eine Konkretion der Ehrfurcht vor dem Leben
Unsere Zukunftsunfähigkeit
Seit der Erdgipfelkonferenz 1992 in Rio de Janeiro ist viel von Nachhaltigkeit die
Rede: nachhaltige Politik, nachhaltige Wirtschaft und – neuerdings – nachhaltiger
Konsum werden gefordert, obwohl dieser Begriff nur Experten etwas besagt. Das zugrundeliegende Wort ‚sustainability‘ meint die Fähigkeit eines Systems, sein Gleichgewicht und damit seinen Bestand über lange Zeit aufrecht zu erhalten. Dies wird
besser wiedergegeben mit der Übersetzung ‚Zukunftsfähigkeit‘. In diesem Sinne ist
unsere heutige Lebensweise in den hoch industrialisierten Ländern nicht zukunftsfähig. Denn sie betreibt Raubbau an Rohstoffen, besonders an den nicht-erneuerbaren
Energieträgern Kohle, Erdöl, Erdgas; sie produziert zunehmende Mengen an Müll,
Sondermüll und Atommüll, die sie nicht wirklich „entsorgen“ kann; sie verdirbt Gewässer, Böden und sogar Atemluft; sie verändert sehr rasch das Klima und zersetzt
die lebenswichtige Ozonschicht; sie holzt riesige Flächen tropischer Regenwälder ab;
rottet zahllose Tier- und Pflanzenarten unwiederbringlich aus und setzt mit genmanipulierten Pflanzen unabschätzbare Risiken frei; sie ist kriegstreiberisch, weil sie die
Kontrolle über Rohstoffquellen, Billiglohnländer, Absatz- und Kapitalmärkte braucht;
und schließlich ist unsere Lebensweise nicht zukunftsfähig, weil sie exponentielles
Wachstum, d.h. ins Unendliche strebendes Wachstum betreibt (vgl. die parabelähnliche Kurve der Zinseszins-Rechnung), was in den begrenzten Systemen der endlichen
Erde mathematisch-logisch und erst recht praktisch-ökonomisch auf Dauer unmöglich ist. Schon 1972 und erneut 1992 haben uns systemtheoretische Fachleute mit
komplexen Computer-Simulationen vorgerechnet, dass das forcierte Überschreiten
der „Grenzen des Wachstums“ eines Systems zum verzögerbaren, aber unaufhaltsamen
122
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
Zusammenbruch dieses Systems führt.
All das ist informierten Menschen in unserem Lande bekannt, auch wenn wir dies bedrückende Wissen immer wieder verdrängen – verständlicherweise. Deshalb beginnt
der Aufruf der Initiative
„Aufbruch – anders besser leben“ mit einem Teil „Erinnerung“ an das, was wir eigentlich wissen.
Denn „es gibt seltsame Widersprüche zwischen unserem Wissen, unseren Idealen und
unserer Lebensweise.“ (Dies und alle folgenden Zitate stammen aus dem Aufruf-Text.)
Wir wissen von den Fakten und den Ursachen der weltweiten Ungerechtigkeiten und
lebensbedrohenden Armut – „und zugleich glüht noch immer in uns die Vision einer
friedlichen, gerechten und armutsfreien Weltgemeinschaft.“ Wir wissen von den oben
erwähnten ökologischen Krisen und erleben bereits ihre Folgen; wir wissen, dass infolge unserer Lebensweise Tiere millionenfach gequält und ausgerottet werden – „andererseits lebt in uns der Traum, mit unserer Mitwelt im Einklang zu leben.“ Wir wissen,
wie ungesund und schadstoffbelastet unsere Lebensmittel sind; dass Allergien, Krebs
und andere System-Erkrankungen zunehmen, weil unser Immunsystem von immer
mehr Umweltbelastungen geschwächt wird; dass zunehmender Arbeits-, Lärm- und
Zeitstress sowie das Überangebot an Unterhaltung und Information unsere Psyche
krank machen. – „Unsere Sehnsucht nach einem guten und sinnerfüllten Leben wird
so nicht gestillt.“ Wir wissen, dass die Rohstoff-Reserven der Erde begrenzt sind wie
auch die Fähigkeit des globalen Ökosystems, Schadstoffe aufzunehmen. – „Doch zugleich haben wir den Wunsch, unsere Zukunft nicht zu verbauen und unseren Kindern, Enkeln und allen zukünftigen Lebenwesen nicht zu schaden.“
„Wenn das so ist“, resümmiert der „Aufbruch“-Text den Teil ‚Erinnerung‘, „dann wollen wir endlich tun, was wir wissen, wahrnehmen, was wir empfinden, und umsetzen,
was wir erträumen. Wir wollen uns entschließen, anders besser zu leben: tatsächlich
zukunftsfähig – mit Körper, Geist und Seele!“
Eine zukunftsfähige Lebensweise
Der ‚Erinnerung‘ folgt der Teil ‚Entschließung‘ , der in drei Abschnitten eine Fülle
von konkreten Handlungsmöglichkeiten aufzählt, die auch Privatpersonen innerhalb
unserer heutigen gesellschaftlichen Bedingungen realisieren können. Unter dem Titel
„Vom viel Haben zum gut Leben – für ein nachhaltiges Konsumverhalten“ geht es
um Alternativen beim Einkaufen, bei Energie-Gebrauch, Mobilität, Bauen und Re-
123
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
novieren sowie im Gesundheitswesen. Der zweite Abschnitt nennt unter dem Titel
„Von Konkurrenz zu Solidarität – für ein zukunftsfähiges Sozialverhalten“ Formen des
Engagements gegen Armut und Unterdrückung bei uns und weltweit wie auch nichtkommerziellen Umgang mit Gütern, Dienstleistungen und Geld (wie Car-Sharing,
Tauschringe oder ethisches Investment). Der dritte Abschnitt stellt eine der Besonderheiten des „Aufbruch“-Textes im Vergleich mit ähnlichen, früheren Appellen dar:
„Von materiellen Werten zu spirituellen Werten – für eine ganzheitliche Geisteshaltung“. Hier geht es um alltägliche Übungen, die Körper,Geist und Seele gut tun; um
eine Verhaltensorientierung an Werten wie der Ehrfurcht vor dem Leben, an Gewaltfreiheit, Mitgefühl oder Toleranz; es geht um mehr Aufmerksamkeit für unsere Beziehungen zu anderen; um ein nicht-materielles Verständnis von Glück und Lebenssinn;
um eine Überwindung des extremen Individualismus durch ein neues, ganzheitliches,
systemisches Welt- und Menschenbild; und schließlich sogar um Rückbesinnung auf
Religion, insbesondere auf mystische Spiritualität. (Auf diesen letzten Aspekt komme
ich am Ende dieses Beitrages zurück.)
Die Initiative „Aufbruch – anders besser leben“
Sie ging hervor aus einem ökumenisch-christlichen Netzwerk von Basisgruppen und
Organisationen, bezog aber von Anfang an auch nicht-christliche Personen und Verbände mit ein. Sie will keine neue, konkurrierende Organisation sein, sondern ein
loses Netzwerk vor allem fü all jene verstreuten Einzelnen, die eigentlich ‚anders‘ leben
wollen, auch dies und das in ihrer Lebensweise schon verändert haben, aber irgendwann in Gewohnheit, Resignation oder Aktionismus-nach-außen stecken blieben. So
haben seit der Veröffentlichung des „Aufbruch“-Textes Mitte 2002 über eintausend
Menschen die ‚Entschließung‘ unterschrieben und meist auch sich für Vernetzung bereit erklärt. Daraus entstanden bisher etwa 15 örtliche und kleinregionale „Aufbruch“Gruppen, in denen sich die Teilnehmenden in monatlichen Treffen gegenseitig informieren und vor allem ermutigen zur Umgestaltung ihrer persönlichen bzw. familiären
Lebensweise in Richtung Zukunftsfähigkeit. Diese ‚Privatisierung‘ der Nachhaltigkeit
soll keine Alternative zu den politisch arbeitenden Nicht-Regierungs-Organisationen
sein, sondern deren Ergänzung. Denn: „Wer politische Forderungen stellt, ohne sein
eigenes Leben zu verändern, wird zum Heuchler; wer nur sein eigenes Leben verändert,
ohne politische Forderungen zu stellen, bleibt ein Träumer.“ Oder anders ausgedrückt:
die dringend notwendige Agrarwende, eine Energiewende, eine Verkehrswende, eine
124
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
gerechtere Gestaltung des Welthandels brauchten Weichenstellungen auf nationalen
und internationalen Politik-Ebenen, aber ebenso bewusste KonsumentInnen, flexible VerkehrsteilnehmerInnen, aufgeklärte Energie-VerbraucherInnen und global denkende WählerInnen. Insofern will die Initiative „anders besser leben“ langfristig eine
möglichst breite Basis-Bewegung entwickeln, damit es zu einem gesellschaftlichen
Aufbruch in eine zukunftsfähige Lebensweise kommen kann.
Weltweiter Aufbruch
„Wir brauchen nicht bei null anzufangen. Vieles bewegt sich und manches könnte
sich bündeln, damit wir eine ‚kritische Masse‘ werden.“ So beginnt der letzte Teil des
„Aufbruch“-Textes, der ‚Ermutigung‘ überschrieben ist. Hier wird auf all jene Bewegungen und internationale Institutionen hingewiesen, die in den letzten Jahrzehnten
entstanden und einen weltweiten Aufbruch in eine „andere Welt“ in Gang gesetzt haben: von Amnesty International bis attac, vom Naturschutz bis zu Greenpeace, durch
immer neue Friedensinitiativen, durch Entwicklungshilfe und Transfair-Handel, mit
der Erd-Charta, mit Welt-Ethos oder der Lokalen Agenda 21. All das ergibt eine Globalisierung von unten, eine nicht zu unterschätzende Gegenbewegung zur neoliberalen Globalisierung von oben.
Und die ‚Ermutigung‘ verweist auf den kulturellen Umbruch, der auch schon seit
Jahrzehnten im Gange ist. „In mehr und mehr Wissenschaftsbereichen finden sich
Ansätze zu einem systemischen, ganzheitlichen Denken. Es trägt zu einem neuen Verständnis des Menschen bei. Die Natur wird nicht mehr als ein zu beherrschendes Gegenüber verstanden, sondern wir Menschen als ihr integraler Teil, als Zellen in einem
erdumspannenden Lebensnetz.“
Über ethische Appelle hinaus
In diesen letzten Sätzen des „Aufbruch“-Textes ist etwas angedeutet, das hier im Albert-Schweitzer-Rundbrief deutlicher ausgeführt werden soll. An früherer Stelle des
Aufrufes heißt es:“Uns geht es nicht um Verzicht, sondern um Befreiung aus einem
überholten Kulturmuster.“ Denn ein Ausgangspunkt der Initiative war und ist die
Wahrnehmung, dass der konsumistische Lebensstil unserer Gesellschaft suchtartige Formen angenommen hat, und zwar nicht nur bei einigen psychisch Gestörten,
125
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
sondern mehr oder weniger bei uns allen (die wir zumindest ‚Co-Abhängige‘ sind).
Ein unangenehmer Test dafür ist die Frage nach den Urlaubszielen: müssen wir sie
wirklich so weit wählen, dass man nur mit dem extrem umweltbelastenden Flugzeug
hinkommt? Welche Bedürfnisse, welche Gewohnheiten oder gar Abhängigkeiten sind
‚im Spiel‘, wenn wir im ganzen Feld der Mobilität immer wieder gegen unser Wissen
und Gewissen handeln?
Aus der Suchttherapie wissen wir, dass bei wirklich Abhängigen Appelle an Vernunft
oder Moral nichts fruchten. Vermutlich ist das einer der Gründe, warum umweltethische Aufforderugen und ökologische und Ge- oder Verbote bisher so wenig Wirkung
hatten. Ob es einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, wenn sie an den Einkaufskorb
rührt, nicht genauso geht? Sie ist – wie alle ethischen Prinzipien, also auch das christliche Liebesgebot oder die Forderung der Zukunftsfähigkeit – unvermeidlich abstrakt,
und es braucht eine Menge Information und Reflexion, bis ich erkenne, welches Verkehrsmittel ich wählen soll, welchen Kaffee, welches Gemüse ich kaufen will, von
welchem Stromlieferanten ich meine Elektrizität beziehe.
Ein anderer Ansatz als der einer ethischen Forderung deutet sich in dem berühmten
Satz von A.Schweitzer an: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das
leben will.“ Das ist kein Sollens-Satz, sondern eine Seins-Aussage. Implizit enthält
sie natürlich die Aufforderung, sich entsprechend zu verhalten. Die Begründung ist
aber nicht ein ‚kategorischer Imperativ‘, ein nicht-hinterfragbares Postulat, sondern
die Wahrnehmung einer unbestreitbaren Realität. Es ist geradezu ein mystischer Satz!
Denn die zentrale Erfahrung aller Mystikerinnen und Mystiker – in allen großen Religionen und zu allen Zeiten bis in die Moderne – ist die Erfahrung der Allverbundenheit, die All-Eins-Schau. Sie wird in verblüffender Weise durch die Einsichten der
Naturwissenschaftler von der atomaren Ebene über ökologische Zusammenhänge bis
zur Kosmologie bestätigt. Mein einzigartiger Körper besteht ausschließlich aus Allerwelts-Atomen und über Luft, Wasser, Nahrung, Erdanziehung und Sonneneinstrahlung bin ich auf Gedeih‘ und Verderb‘ mit dem ganzen Universum verbunden. Darauf
weisen auch die vielfachen Erkenntnisse der modernen Systemtheorie hin, die nach
und nach in allen Wissensbereichen Anwendung finden.
Diese veränderte Wahrnehmung meiner selbst und aller Wirklichkeit kann erhebliche
Auswirkungen auf mein Handeln haben. Solange ich mich ego-zentrisch als isoliertes
Individuum verstehe, das für sein Eigeninteresse kämpfen muss – notfalls gegen alle
anderen, werde ich die Situation weit entfernter Kaffee- oder Tee-Pflückerinnen, die
Ausrottung unbekannter Tiere oder die Veränderung des globalen Klimas in meinen
alltäglichen Konsumentscheidungen nicht berücksichtigen. Umgekehrt: wenn ich
126
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
mich als Zelle in einem globalen Organismus verstehe (wie es z.B. die naturwissenschaftlich begründete Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulis nahelegt), dann ist mir die Situation anderer Zellen in diesem Körper und der Zustand
des ganzen Lebensnetzes ebenso wichtig, vielleicht sogar wichtiger als mein eigenes
kleines Leben. Hätten unsere Körperzellen ein Bewusstsein vom Ganzen des Körpers,
würden sie niemals zu Krebszellen entarten. Wir Menschen aber haben Bewusstsein,
und dessen Horizont weitet sich in unserer Zeit durch ökologische Forschung, durch
Medien und Internet sprunghaft zu globaler Dimension und weit in die Zukunft hinein. Noch verhalten wir uns wie Krebszellen, die ihren eigenen Wirt zerstören. Aber
die Bewusstseins-Erweiterung ist im Gange.
Wir stehen – davon bin ich überzeugt – mitten in einem epochalen Umbruch unseres
Weltbildes und unseres Selbstverständnisses als Menschen, einem so tiefgreifenden
Paradigmenwechsel, wie er sich zuletzt in der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit
vollzog. Mit einem solchen Bewusstsein vom Ganzen des Lebens brauchen wir keine fordernden ethischen Appelle mehr. Schon irgendeine kleine Information, die wir
aufnehmen und weiterleiten wie eine Nervenzelle, wird genügen, unser Verhalten zu
ändern. Mit einem globalen Bewusstsein wollen wir ganz selbst-verständich anders
leben als bisher: solidarisch, ökologisch, gesund und nachhaltig, also zukunftsfähig.
(Nähere Informationen zur Aufbruch – Initiative siehe Anhang.)
DR. GERHARD BREIDENSTEIN ist evangelischer Theologe im Ruhestand. Er regte die Initiative „Aufbruch – anders besser leben“ mit an.
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Was wir tun können
Die Erd-Charta - mehr als nur Papier!
Hermann Garritzman im Gespräch
P.M.: Ein wesentliches Anliegen der
Ökumenischen Initiative eine Welt
(ÖIEW) und der Erd-Charta-Initiative,
für die sich auch der BUND engagiert,
ist es, die Menschen dazu zu bringen,
sich aus eigener Entscheidung selbst zu
verpflichten, einen nachhaltigen Lebensstil zu realisieren. Mittlerweile gibt es
aber kaum mehr eine Organisation, seien
es Unternehmen, Banken, Parteien oder
die Kirchen, die nicht die Nachhaltigkeit
auf ihre Fahne geschrieben hat. Dem
steht aber nun ein großes Handlungsdefizit gegenüber. Man tut nicht, was man
verspricht. Woran liegt das?
Garritzmann: Diesen Eindruck kann
ich zunächst teilen. Wenn man einfach
so hinguckt, was alles an Nachhaltigkeitsberichten der Firmen erscheint über
Selbstverpflichtungen bis zum global
compact der Firmen mit den Vereinten
Nationen und solchen Dingen. Aber
mein Eindruck ist, dass das, was eigentlich mit „Nachhaltigkeit“ und „nachhaltiger Entwicklung“ gemeint war, also
auch ( internationale ) „Gerechtigkeit“
und „Solidarität“, wenn man also an die
Werte denkt, die darunter liegen, dann
ist ‚Nachhaltigkeit’ heute weitgehend zu
128
einem politischen Plastikwort verkommen, das man beliebig anwenden kann.
Es steht für alles und jedes. Selbst ein
Wort wie „nachhaltige Geldanlagen“
kann man inzwischen doppeldeutig verwenden, also Nachhaltigkeit im Sinne
von „Kriterien der Nachhaltigkeit“, also
„gerechte“ Geldanlagen, oder Geldanlagen, die nachhaltig auf viele Jahre hin
gute Zinsen bringen sollen. An diesem
Beispiel merkt man schon, wie schief das
sein kann. Deswegen muss man aufpassen, dass man das die Inhalte nicht gegeneinander ausspielt.
Ich glaube, Vorstellungen von nachhaltiger Entwicklung und eine entsprechende
Praxis sind zunächst mal zwei verschiedene Paar Schuhe. Mein Eindruck ist:
Die Erd-Charta ist ja nach der Konferenz
von Rio ( 1992 ) entstanden und will im
Grunde etwas nachbessern, was dort mit
der ‚Rio-Deklaration’ auf einem vielleicht
zu niedrigen gemeinsamen Nenner vereinbart worden ist. Aber die Erd-Charta
will kein Handlungsprogramm sein. Das
ist eher die Agenda 21. Da stehen auf
ein paar hundert Seiten Handlungsfelder
und Themen drin, die abgearbeitet werden müssen zu den unterschiedlichsten
Bereichen von Konsumfragen über Ar-
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mutsbekämpfung und Erhaltung der biologischen Vielfalt bis hin zur Stärkung
der Rolle wichtiger Gruppen wie Frauen,
Kinder und Jugendliche usw.
lich erst nach und nach umsetzen lassen.
Aber mit dem Programm der Schule hat
man vorab eine Vision formuliert, etwas,
was den Geist der Schule ausmacht.
Der Erd-Charta geht es um etwas anderes. Es geht darum, eine inspirierende
Vision grundlegender ethischer Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung
aufzuzeigen und sie auch spirituell ins
Bewusstsein der Menschen zu bringen.
Dahinter steht auch ein neues ganzheitliches Verständnis von Mensch und Natur
und der Verbindung zwischen beiden.
Ich versuche das einmal an einem Beispiel
klar zu machen: Wenn sich das Kollegium einer Schule um ein neues Schulprogramm bemüht, also um das Profil einer
Schule, dann werden auch in diesem
Programm sicher ganz hehre Worte vorkommen. Gleichzeitig müssen aber diese
Programmlinien, die formuliert werden,
im Schulalltag auch sichtbar und erlebbar werden. Einige werden das sofort,
wenn man vielleicht überlegt, wie kommen wir zur Schule, also wie gehen wir
mit Mobilität um, wie gehen wir in der
Schule mit Energie um und welche Produkte werden am Schulkiosk zum Kauf
angeboten? Gibt es so etwas wie „Fairen
Handel“ an der Schule? Gebrauchen wir
Recyclingpapier und solche Dinge? Haben wir Kontakt zu Partnerschulen in
anderen Ländern? Gibt es einen Schulgarten? Andere Programmlinien sind viel
komplizierter und werden sich allmäh-
Ein zweites Beispiel: Ich habe vor meiner
Arbeit für die Erd-Charta-Initiative drei
Jahre lang ein Agenda 21 – Büro geleitet:
während dieser Zeit habe ich viele Leute
erlebt, die sich in den unterschiedlichsten
Aufgabenfeldern engagiert haben. Aber
sie haben nur sehr selten miteinander
darüber gesprochen, warum sie das tun,
sie haben also kaum über ihre Motivation
gesprochen. Und auf dieser Ebene liegt
aber eigentlich die Erd-Charta. Dieser
Text könnte solche Gespräche anzetteln
helfen . Und die Beteiligten würden im
Gespräch wahrscheinlich viel Verbindendes in diesem Dokument entdecken.
P.M: Wie ist es aber nun möglich, dass
aus einer „Vision“, wie sie die Erd-Charta darstellt, Tun und Praxis folgen? Gerade für Kinder und Jugendliche reicht es
ja nicht, einen wenn auch noch so gut
durchdachten Text zu lesen und zu verstehen.
Garritzmann: Als deutsche Koordinierungsstelle der Erd-Charta-Initiative planen wir gerade - und haben dafür auch
Fördermittel beantragt - , die Erd-Charta,
eben weil sie als „Papier“ auch sprachlich
viel zu schwierig ist, in einem längeren
Prozess von zwei Jahren in die Sprache
129
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
und Lebenswelt von jungen Menschen
zu übersetzen. Dabei ist nicht nur an ein
„Papier“ gedacht. Viel mehr wollen wir
mit jungen Leuten zwischen 13 und 18
Jahren nach Maßstäben einer nachhaltigen Weltgesellschaft suchen, und diese
auch gemeinsam in Workshops erarbeiten. Das kann durch Sprache passieren
oder Musik oder in anderen kreativen
Formen. Dieser längere Prozess sollte
auf jeden Fall einen solchen WorkshopCharakter haben. Daher möchten wir bei
diesem Projekt auch keinen wissenschaftlichen Beirat haben, sondern denken an
eine “Begleitung“ durch junge Erwachsene im Alter von 20 bis 25 Jahren, die
von Alter und Sprache her noch nahe
genug bei Jugendlichen sind, die aber
auch Möglichkeiten bekommen sollen,
den Prozess mitzusteuern. Ich weiß noch
nicht, was dabei herauskommt oder herauskommen kann. Ich möchte jedenfalls
mehr haben als nur Papier!
Wenn man an die Erd-Charta denkt und
mal ein bisschen von dem Text absieht,
dann könnte man ja eigentlich an den
Rand eines jeden formulierten ethischen
Prinzips eine NGO [Nichtregierungsorganisation] oder eine Initiative schreiben,
die sich heute schon genau um dieses (
dort formulierte ) Prinzip sorgt. Entweder dafür, dass es wach gehalten wird,
oder so, wie z.B. Amnesty international
aufzeigt, wo dieses Prinzip verletzt wird.
Und ich glaube, bei jungen Menschen
130
muss man diese Möglichkeit, sich einzusetzen und sich zu engagieren, zu handeln, und zwar lokal genauso wie - zum
Beispiel per Internet - global, sehr viel
transparenter machen. Bei Erwachsenen
haben wir das eigentlich bei diesem Dokument vorausgesetzt. Insofern stecken
in der Erd-Charta auch schon Handlungselemente drin, aber sie stehen noch
‚unsichtbar’ am Rand. Das muss man
mit übersetzen und auch an einigen Beispielen entweder im schulischen Bereich
oder in einer Jugendgruppe Zugänge ermöglichen.
Es gibt gute Beispiele solchen Umsetzens
in Ländern Afrikas oder Lateinamerikas,
die so keine organisierte Jugendarbeit haben wie wir. Es gibt ein schönes Beispiel
aus Sierra Leone, wo ehemalige Kindersoldaten quasi im Geiste der Erd-Charta
neue Aufgaben gefunden haben, und so
wieder in die Gesellschaft zurückgeholt
wurden. Das klingt unvorstellbar. Aber
es gibt Berichte darüber. Oder dass auf
den Philippinen eine Jugendgruppe sich
mit der Erd-Charta beschäftigt hat und
dann losgeht und Müll sammelt. Also
wo man ganz handfeste Dinge tut. Und
das machen wir hier eigentlich getrennt
voneinander. Ein Naturverband sammelt
Müll, aber er beschäftigt sich vielleicht
nicht mit den ethischen Grundlagen.
Hier müssen wir Wege finden, das wieder
zusammen zu bringen. Dass man nicht
nur über „Ethik“ redet oder über „Spiri-
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
tualität“, aber auch nicht gleich wieder in
Aktionismus verfällt.
P.M.: Nun erleben wir oft in unserem
Leben eine merkwürdige Diskrepanz:
wir wissen und wollen viel, scheitern aber
immer wieder im Alltag an scheinbaren
Kleinigkeiten. Statt gesundheitlich und
ökologisch orientiert die Treppen zu steigen, nehmen wir den Aufzug. Wie kann
man den Willen in Richtung mehr Konsequenz stärken?
Garritzmann: Meine Wahrnehmung ist,
dass wir uns als Einzelne aber auch weltweit in einer Art „Patchwork-Muster“
verhalten. Jeder kennt solche Beispiele:
da bemüht sich jemand, sich gesund zu
ernähren und entsprechend Lebensmittel
einzukaufen. Mit einem kranken Kind
fährt er aber 30 Kilometer mit einem
Auto zum Arzt, weil dieser einen anthroposophischen Hintergrund hat. Dann,
auf der Rückfahrt, raucht er vor lauter
Stresse im Auto, obwohl das Kind hinten
auf dem Rücksitz sitzt usw. Ich glaube,
dass wir uns in einigen Bereichen sehr
bewusst nachhaltig verhalten, in anderen
Bereichen, im Alltag, beim Konsum, aber
auch sehr schluderig sein können. Das ist
so eine Ungleichzeitigkeit, obwohl mir
das im Kopf eigentlich klar ist. Ich glaube, einen nachhaltigen Lebensstil und
einen nachhaltigen Konsum bekommt
niemand in Reinkultur hin.
Manchmal versuche ich mir das bildhaft
klar zu machen: Eigentlich kämpfen in
mir die gleichen Leitbilder/ Paradigmen
gegeneinander wie auf Weltebene. An
einem Ort treffen sich die Regierenden,
um über nachhaltige Entwicklung zu reden, zum Beispiel in Rio oder Johannesburg; und ein paar Monate später sind sie
unter einem anderen Kürzel, wie WTO
[Welthandelsorganisation] oder Weltbank oder Internationaler Währungsfond beieinander, und fast die gleiche
Regierung redet mit einer ganz anderen
Sprache und einer ganz anderen inhaltlichen Ausrichtung.
P.M.: Nun ist es ja so, dass man Jugendlichen heute meistens nicht mehr mit
moralischen Imperativen kommen kann:
„Du sollst!“ und „Du musst aber ...!“
Die „Pflicht“ oder schon die Verantwortung greift viele schon sehr hart an. Wie
kommt man da weiter? Mit Spaß allein
lässt sich die Erd-Charta ja nicht verwirklichen.
Garritzmann: Mir ist eine Vorbemerkung wichtig: Ich bin 1948 geboren,
gehöre also zu einer Generation, die
aus dem Mangel nach und nach in die
Fülle gekommen ist. Wir haben es jetzt
mit einer Generation zu tun, die wahrscheinlich aus der Fülle in den Mangel
kommt. Sie sind gerade noch Jugendliche und müssen sich schon Gedanken
über ihre Rente machen. Das mussten
wir so nicht. Und niemand weiß, wel-
131
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
che Folgen das hat. Ob junge Leute
nicht über dieses Umschwenken von der
Fülle in den Mangel plötzlich in solche
Fragestellungen wieder gezwungen werden. Weil plötzlich Schluss ist mit dem
„Spaß“ im Leben. Ein kleines Beispiel
sind ja die reizvollen Dinge, die man mit
dem Handy machen kann, und dabei
aber gleichzeitig sich als junger Mensch
immens verschulden kann und mit diesen Schulden umgehen lernen muss. Von
daher glaube ich auch nicht, dass das mit
„Moral“ geht. Sie müssen schon selbst
beteiligt und involviert sein.
Zum Beispiel bildet man an Schulen immer mehr junge Leute dazu aus, selber
mit Gleichaltrigen Konflikte zu lösen.
Und zwar gewaltfrei. Das heißt: man
geht bewusst von dieser autoritären Rolle des Lehrers weg und versucht, neue
Vereinbarungen und Regeln miteinander auszuhandeln einzuüben; aber auch
Leute fit dafür zu machen, dass sie Gespräche in diesem Sinne führen können.
Quasi als Mediatoren. Vielleicht wäre das
ein Weg.
schen anknüpfen? Wenn beispielsweise
in der Jugendwelt bestimmt Getränke
und Dosen „in“ sind, dann kann ich
nicht kommen und sagen, ihr müsst eure
Flaschen da und da hintragen. Dann ist
es einfach cool, sich so zu verhalten; und
wenn ich dazu gehören will, werde ich
das auch so praktizieren. Da habe ich
dann von außen gar keinen Ansatzpunkt.
Außerdem zeigen inzwischen viele Untersuchungen zum nachhaltigen Konsum,
dass es sehr viel differenziertere Zielgruppen gibt. Ich kann in einem bürgerlichländlichen Raum sicherlich Menschen
nahe bringen, regional einzukaufen und
saisonal zu kochen. Aber ich werde kaum
in dem gleichen Umfeld mit älteren
Menschen darüber reden können, dass
sie auf ihr Auto verzichten oder sich ein
Auto mieten sollen usw. Ich muss immer
die richtigen Punkte für eine Anschlussfähigkeit suchen. Wenn ich die falschen
erwische, habe ich gar keine Chance zur
Ver-Änderung des Lebensstils.
P.M.: Also müsste neben dem Reden
über die Erd-Charta eine bestimmte „Erfahrungsschiene“ aktiviert werden?
P.M.: Kommen wir noch einmal auf die
Schulen zu sprechen. Was gäbe es dort für
Möglichkeiten? Es kann ja nicht reichen,
in Fächern wie „Ethik“ oder „Religion“
über die Erd-Charta zu diskutieren!?
Garritzmann: Es hat sicher etwas mit
‚Anschlussfähigkeit’ zu tun. Wo kann ich
mit den Vorstellungen einer Ethik oder
einer nachhaltigen Entwicklung an der
Lebenswelt und Erfahrung junger Men-
Garritzmann: Zunächst denke ich, dass
zurzeit in Religion, Ethik oder Praktischer
Philosophie oder auch in Sozialkunde
diese aktuellen ethischen Fragestellungen
viel zu wenig vorkommen. Meine Frau
132
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
hat gerade noch eine zweijährige Ausbildung zur Ethik-Lehrerin gemacht. Diese
Themen, die mich beschäftigen, kamen
in ihrer Weiterbildung überhaupt nicht
in Ansätzen vor. Und es wäre von daher
doch schon spannend, in diesen Unterrichtsfächern mitzubekommen, wie
aktuelle Fragen einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur diskutiert, sondern
darum heute auch politisch gerungen
wird. Beim Weltgipfel für Nachhaltige
Entwicklung in Johannesburg ( 2002 )
haben die Regierungen z.B. miteinander
einen 10jahres-Aktionsplan zur Veränderung nicht nachhaltiger Konsumgewohnheiten und Produktionsweise vereinbart. Die Bundesregierung hat gerade
Anfang des Jahres mit einer Auftaktveranstaltung in Berlin damit angefangen,
einen solchen Plan für Deutschland umzusetzen. So etwas kommt im Unterricht
nicht oder nur selten vor. Das finde ich
schon schade.
Aber noch ein anderes Beispiel. Ich wohne in Nordrhein-Westfalen und wir haben dort ein Programm, das heißt: „Gestaltung von Schulen und Öffnung von
Schulen nach außen“ (GÖS). Man kann
also andere Lehrende in das schulische
Umfeld holen. Man kann aber auch mit
der Schule sich aktiv an dem Umfeld beteiligen: etwa an der lokalen Agenda 21
einer Stadt oder einer Gemeinde oder
an bestimmten Themenfeldern, die von
bürgerschaftlichem Engagement getragen werden usw. Da sind auch Orte, wo
ich das einbringen kann.
Ein Religionslehrer hat vor kurzem mit
einer achten Klasse die Erd-Charta zunächst diskutiert. Und dann hat er mit
der Klasse ganz konkret gefragt: wo wird
denn das, was da gefordert wird, an unserer Schule schon umgesetzt und wo
könnten wir weitermachen? Ich selbst
habe einmal mit einer anderen Klasse
über die Agenda 21 diskutiert und gefragt, was das für sie in der Schule bedeutet. Wir haben das an einem Beispiel
diskutiert: Was darf oder was kann dann
noch am Kiosk der Schule verkauft werden in den Pausen, wenn ich die Kriterien
der Nachhaltigkeit wirklich ernst nehme:
also regionale Produkte, „Fairer Handel“
und ähnliches. Dann fiele das meiste womöglich weg. Es gäbe sicher ein Riesentheater. Aber auch viel Gesprächsstoff.
Oder: Wie sieht die Gestaltung eines
Schulhofs aus. Müssten da nicht auch die
Grenzen zu den Nachbarbezirken wegfallen, damit Schule auch als ein Teil von
Gemeinde erlebbar wird. Da kommen
noch ganz neue und andere Überlegungen mit hinein.
Oder ein anderes Beispiel, das man mir
erzählt hat. Da haben Schulen entlang eines Flusses im Biologieunterricht miteinander Kontakt aufgenommen z.B. per EMail oder Video-Konferenzen. Sie haben
mit Untersuchungen an den Stellen des
Flusses angefangen, wo sich ihre Schule
befindet. Dann haben sie gemerkt, im
Flussverlauf wird er immer schmutziger.
133
N A C H H A LT I G K E I T MACHT SCHULE
Sie haben ihre Ergebnisse ausgetauscht
und gemerkt: wir sind alle an diesem
Fluss entlang miteinander beteiligt. Und
wenn der Fluss immer schmutziger wird
und also das Wasser auch immer ungenießbarer, dann sind wir auch mit unserer Art zu leben, zu konsumieren, zu
wirtschaften daran beteiligt. Ähnliches
gibt es auch bei internationalen Projekten. Da merken Menschen: Hier vor Ort
verursachen wir bestimmte Schäden, die
Auswirkungen haben in Lateinamerika
oder in einem afrikanischen Ort oder
in Asien. Solche Erfahrungen auszutauschen – und so mit konkreten Personen
zu verbinden - ist eine gute Möglichkeit,
die durch die elektronische Kommunikation ermöglicht wird. Das sollten wir
mehr nutzen.
HERMANN GARRITZMANN ist der deutsche
Projekt-Koordinator der internationalen Erd-Charta-Initiative - bei der Ökumenischen Initiative
Eine Welt in Diemelstadt-Wethen.
134
N A C H H A LTI G KEI T MA C H T SCH U LE
135
AUSKLANG
Stille, tüchtige, gütige Menschen werden
Ein Brief an Rolf Steinwascher, Jugendleiter in Stuttgart
Lambarene, 17.3.1959
Lieber Herr Steinwascher,
Sie haben sicher die Erwartung schon aufgegeben, jemals eine Antwort auf Ihren so
herzlichen Brief vom 8.6.58 zu erhalten. Aber es ist mir ein Bedürfnis, zu antworten.
Aus diesem Miterleben mit der heutigen Jugend, insbesondere mit der, die es besonders schwer hat, mache ich mir Sorgen, dass ihr der Glaube an die Menschen bewahrt
bleibt. Darum wage ich auch zu sagen: Haltet ihn fest. Die Menschen können das
menschliche Empfinden nicht ablegen. Kommt ihnen in schlichtem Vertrauen entgegen, wo Ihr mit ihnen zu tun habt. Dann werden sie anders, als sie scheinen. Wir
müssen das Menschliche in denen, mit denen wir zu tun haben, wecken. Das ist meine
Erfahrung. Dadurch wird vieles umgestaltet ... Urteilt nicht über andere. Sondern
nehmt Euch vor, ein rechter, natürlicher Mensch zu sein, unter welchen Verhältnissen
es auch sei.
In unserer so dunklen und in vieler Hinsicht so trostlosen Zeit muss es in uns licht
sein, dass wieder Helligkeit und Wärme aufkommt. Zu dieser Natürlichkeit gehört,
dass Ihr alle Empfindlichkeit fahren lasst. Nicht mit den Menschen rechten, nicht ihr
Verhalten in vorgefasster Meinung beanstanden, sondern sie ertragen und warten, dass
Freundlichkeit und Herzlichkeit irgendwie aufkommen.
Wenn die Menschheit nach allem Furchtbaren, dass sie begangen und durchgemacht
hat, nicht zugrunde gehen soll, muss ein neuer Geist aufkommen. Und der kommt
nicht mit Brausen, sondern in stillem Wehen, nicht in großen Maßnahmen und Worten, sondern in unmerklicher Veränderung der Atmosphäre, an der jeder von uns beteiligt ist und die jeder als stille Wohltat empfindet. Haltet Euch an, stille, tüchtige,
gütige Menschen zu werden. Das ist unser aller Berufung in dieser Zeit. Sich nicht mit
den Ungerechtigkeiten und Torheiten unserer Zeit und der Vergangenheit fort und
fort auseinandersetzen, sondern innerlich einer anderen, besseren, geistigeren Welt
angehören, nach der innerlichen Frömmigkeit strebend, zu der uns Jesus in seinen
Worten den Weg weist.
Ich schreibe Ihren Jünglingen dies tief in der Nacht, nach einem schweren Tag. Wenn
ich es ungeschickt angefangen habe, möge man meiner Müdigkeit verzeihen. Aber
meine Überlegung ist, dass in unserer verhetzten und verfahrenen Zeit das Rechte ist,
136
AU SKLAN G
ihr nur noch äußerlich, nicht mehr innerlich anzugehören, sondern in einer anderen
zu denken und zu leben.
Mit lieben Gedanken an Sie und Ihre Jünglinge
Ihr ergebener Albert Schweitzer
(Gekürzt in: Albert Schweitzer. Leben, Werk und Denken mitgeteilt in seinen Briefen. Lambert Schneider,
Heidelberg 1987, S. 278f.)
137
ANHANG
ANHANG
Es ist vielleicht ganz sinnvoll und nützlich, auf einige Publikationen hinzuweisen, die
zum großen Teil nicht explizit zur „Schweitzer-Literatur“ gehören. Sie sind aber gerade auf Grund ihrer Zeitnähe und Aktualität sehr wichtig. Was wird heute im Geiste
Schweitzers diskutiert und getan? Wo gibt es Informationen von fachkundigen Leuten
über konkrete Projekte, Maßnahmen, Aktionen, Perspektiven usw.? Wo finde ich fundierte Analysen zu den Themen Ökologie, Nachhaltigkeit usw.
Wo kann ich selber aktiv werden?
Es ist dabei zu bedenken, dass es mittlerweile eine unüberschaubare Flut an Publikationen zu diesen Themen gibt.
Unzählige Initiativen - lokal bis global - arbeiten daran, die Grundsätze der Erd-Charta in die Tat umzusetzen. Insofern gibt es viele „Lambarene‘s“, sprich: humanitäre
Initiativen zu beachten, die sich für Arme, Kranke, Verfolgte, Gefolterte, Entrechtete,
Ausgebeutete einsetzen. Und überall kann man Menschen und Initiativen im Einsatz
für die Erhaltung der Natur finden. Da auch große Organisationen vom Engagement
Einzelner leben, ist für viele das „Nebenamt“ eine Selbstverständlichkeit geworden.
Es muss nicht immer Albert Schweitzer Pate gestanden haben. Worauf nachfolgend
hingewiesen wird, ist demnach nur ein kleiner Ausschnitt. Zunächst seien einige bekannte Organisationen genannt, die immer bereitwillig und kostenlos Informationen
verschicken:
amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
53108 Bonn
E-mail: [email protected]
www.amnesty.de
Jeden Monat erscheint das ai JOURNAL - Das Magazin für Menschenrechte,
zu beziehen beim Materialversand von ai.
138
ANHANG
GREENPEACE
Greenpeace Deutschland
22745 Hamburg
E-mail: [email protected]
www.greanpeace.de
Alle zwei Monate kommt ein Magazin heraus, in dem zu Politik, Wirtschaft und Umwelt Stellung bezogen wird. Man kann dieses sehr gut gestaltete Magazin auch in größeren Zeitschriftenläden finden. Oder bei: GREENPEACE MAGAZIN, Leser-Service. Postfach 10 32 45. 20022 Hamburg. Alle Förderinnen und Förderer bekommen
dazu die „Greenpeace - Nachrichten“ alle zwei Monate.
BUND - Freunde der Erde
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.
Für Mitglieder gibt es viermal im Jahr das BUNDmagazin.
Am Köllnischen Park 1
10179 Berlin
Tel.: 030-275 86-40
E-mail: [email protected]
www.bund.net
INITIATIVE AUFBRUCH - ANDERS BESSER LEBEN
Zu dieser Initiative vergleiche den Aufsatz von Gerhard Breidenstein in diesem Rundbrief. Der vollständige Text des Aufrufes oder ein kurzes Flugblatt zum Verteilen, eine
Info-Mappe mit vielen praktischen Tipps sowie das Handbuch „Genuss und Nachhaltigkeit“ sind zu beziehen bei:
Aufbruch-Projektbüro c/o Ökumenische Initiative Eine Welt
Mittelstr. 4, 34474 Diemelstandt-Wethen
Tel.: 05694-1417
E-mail: [email protected]
Informationen über „Aufbruch“-Gruppen in ihrer Nähe sowie Veranstaltungen u.a.:
www.anders-besser-leben.de
139
ANHANG
ÖKUMENISCHE INITIATIVE EINE WELT (ÖIEW)
Die ÖIEW fungiert u.a. auch als Koordinierungsstelle
für den Erd-Charta-Prozess in Deutschland
Regelmäßig gibt es einen Rundbrief.
Mittelstr. 4
34474 Diemelstadt-Wethen
Tel.: 05694-1417
E-mail: [email protected] und [email protected]
www.oeiew.de und www.erdcharta.de
PRO ASYL
Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624
60069 Frankfurt/M.
Tel.: 069-230688
E-mail: [email protected]
www.proasyl.de
STIFTUNG WELTETHOS TÜBINGEN
Waldhäuser Straße 23
72076 Tübingen
Tel.: 07071-62646
Büro Berlin Dr. Bauschke: 030/22336677
[email protected]
E-mail: offi[email protected]
www.weltethos.org
140
ANHANG
BÜCHERTIPS
Michael Beyer, Hermann-Adolf Stempel (Hg.)
Welt, Umwelt, Ökologie
Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung 3
Beltz Athenäum Verlag, Weinheim 1995
(u.a. im Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt erhältlich)
Aus dem Inhalt: Umweltkrise: Naturgesetzliche und politische Auswirkungen. Probleme einer ökologischen Ethik. Gibt es eine imtergenerationelle Verantwortung. Arzt im
ökologischen Kontext. Anfragen aus der Ökologie-Debatte an Albert Schweitzer u.a.
Beiträge von: Heinloth, Baumgartner, Funke, Ecker, Günzler, Altner, Lenk, Funda,
Drunkenmölle, Papaderos, Gräßer, Stempel.
Richard Brüllmann, Harald Schützeichel (Hg.)
Leben in der Kultur
Beiträge zur Albert-Schweitzer-Forschung 4
Beltz Athenäum Verlag, Weinheim 1995
(u.a. im Albert-Schweitzer-Zentrum Frankfurt erhältlich)
Aus dem Inhalt: Religiöse Ethik als Impuls kultureller Erneuerung. Der Verlust der
Humanität in der technologischen Zivilisation. Die Natur als „schmerzvolles Rätsel“.
Die Ethik Albert Schweitzers als globale Umwelttherapie. Albert Schweitzer als Pionier
des interreligiösen Dialogs u.a.
Beiträge von: Kreß, Werner, Müller, Günzler, Daecke, Gallusser, Jenssen, Luther, Balsiger.
Werner Zager (Hg.)
Ethik in den Weltreligionen - Judentum, Christentum, Islam
Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002
Beiträge von Richard Brüllmann, Harald Faber, Andreas Rössler, Werner Zager
Inhalt: Weltethos und Globalisierung, Grundzüge jüdischer Ethik, Ethik im Islam,
„Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben“ - Einführung in den dritten
Band der Kulturphilosophie von Albert Schweitzer.
141
ANHANG
Jahrbuch Ökologie 2004
Hrg.: Günter Altner, Heike Leitschuh-Fecht, Gerd Michelsen, Udo E. Simonis und
Ernst U. von Weizsäcker
In diesem reichhaltigen und aktuellen Überblick über alle die Ökologie und deren
Poltik betreffenden Fragen wird, neben Rachel Carson und Ivan Illich, Albert Schweitzer als „Vor-Denker“ vorgestellt. Als „Vor-Reiter“ wird auf Karl Ludwig Schweisfurth
verwiesen, der sich in seinem Denken und Handeln auf Albert Schweitzer beruft und,
wie in der Einleitung erwähnt, in seinen Stiftungsräumen in München eine Vorlesungsreihe zur ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ durchgeführt hat. Erwähnt sei in diesem
Zusammenhang das ihn betreffende Büchlein:
Abt Odilo Lechner
Karl Ludwig Schweisfurth
Sieben Geheimnisse für ein gutes Leben
Mit Fotografien von Hans-Günther Kaufmann
Heyne-Verlag, München 2003
Wegweiser für ein zukunftsfähiges Deutschland
Hg.: BUND und MISEREOR
Mit 57 Beiträgen von ExpertenInnen aus den unterschiedlichsten Tätigkeitsgebieten wird ein umfassender, fundierter und gut lesbarer Einblick in alles gegeben, was
Nachhaltigkeit betrifft. Wer bisher wenig darüber wusste, kann sich mit diesem Buch
einen guten Einblick verschaffen. U.a. diente der „Wegweiser“ als Arbeitrsbuch zur
Vorbereitung des Weltgipfels in Johannesburg.
Riemann-Verlag One Earth Spirit, München 2002
Brücken in die Zukunft
Ein Manifest für den Dialog der Kulturen
Eine Initiative von Kofi Annan
Hg.: Stiftung Entwicklung und Frieden
Geleitwort: Joschka Fischer
Auf Initiative des UN-Generalsekretärs und Friedensnobelpreisträgers Kofi Annan
wurden zwanzig bedeutende Persönlichkeiten beauftragt, ein zukünftiges Modell des
142
ANHANG
Miteinanders der Kulturen und Religionen zu entwerfen. Gemeinsam haben sie ein
einmaliges Dokument verfasst, das Aufruf und Vorbild zugleich ist, den Dialog der
Kulturen entschlossen aufzunehmen.
Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 2001
Udo Ernst Simonis führt in seinem Buch
Globale Umweltpolitik. Ansätze und Perspektiven
äußerst lesenswert und gut verständlich in das Feld globaler Umweltpolitik ein. Nach
einem Überblickskapitel zum Gegenstand globaler Umweltprobleme werden in den
fünf folgenden Kapiteln die großen Aufgaben- und Herausforderungsbereiche „Klima“, „Biodiversität“, „Böden“, „Meeresschutzpolitik“ und „Süßwasser“ genauer diskutiert, bevor abschließend Lösungsstrategien (z.B. der internationalen Kooperation
bzw. Umweltzertifikate) vorgestellt werden. (erschienen bei Meyers Forum 40, BI-Taschenbuchverlag, Mannheim 1996.)
Maude Barlow und Tony Clarke widmen sich in ihrem kenntnis- und einflussreichen
sowie provokativen Buch
Blaues Gold. Das globale Geschäft mit dem Wasser
einem der aktuellsten und drängendsten Probleme globaler Umweltpolitik - dem Süßwasser. Nach einer höchst alarmierenden Situationsanalyse wenden sie sich einem/dem
nach ihrer Meinung Hauptproblem (globaler) Wasserpolitik zu: der Privatisierung von
Wasserressourcen und die Einstufung von Wasser als wirtschaftliches Gut. Ihr Gegenentwurf legt den Schwerpunkt auf eine prinzipiengetragene, breite zivilgesellschaftliche „Vertragsinitiative zum gemeinsamen Gebrauch und zum Schutz des globalen Gemeinschaftsguts Wasser“. (erschienen im Verlag Antje Kunstmann, München 2003.)
Der Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen hat in seinem Buch
Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der
Marktwirtschaft“
einen ambitionierten Entwurf vorgelegt, wirtschaftliche Vernunft, politischen Realismus und soziale Verantwortung miteinander zu verbinden. Ziel ist es, die (ökonomische) Globalisierung für die Menschen zu gestalten, was für ihn insbesondere heißt,
die von der Entwicklung und damit von tatsächlicher Freiheit Ausgeschlossenen (4/5
143
ANHANG
der Weltbevölkerung) in eine globale und gerechte Wirtschaft einzubeziehen. Mit
dieser Zielsetzung legt Sen auch eine Grundlage für eine wirklich nachhaltige Wirtschaftsweise. (erschienen im Hanser Verlag, München 2000)
Die von der Stiftung Entwicklung und Frieden herausgegebene Reihe
EINE WELT
befasst sich in ihren jeweiligen Bänden schwerpunktmäßig mit einem Thema aus
Weltwirtschaft, Umwelt, Sicherheit, sozialer Gerechtigkeit und Fragen des friedlichen
und menschenwürdigen Zusammenlebens, insbesondere auch mit Blick auf NordSüd-Beziehungen. In dieser aus Sammelbänden angelegten Reihe kommen verschiedene Experten zu Wort, die kurz und (meist) verständlich in einen Teilaspekt des
Schwerpunktthemas einführen. Der aktuelle Band beschäftigt sich beispielsweise mit
Fragen der „Verrechtlichung - Baustein für Global Governance?“ (erscheint bei Dietz,
Bonn, mehrmals jährlich)
Ebenfalls von der Stiftung Entwicklung und Frieden wird die zweijährlich erscheinende Reihe
Globale Trends. Fakten. Analysen. Prognosen
herausgegeben. In dieser wird die „Essenz des Wissens“ zu wichtigen Entwicklungstrends in einzelnen Kapiteln wiedergegeben, wobei hier neben der Problemanalyse
gleichfalls Orientierungswissen vermittelt wird und Handlungsempfehlungen für Politik und Bürger gegeben werden. Unterpunkte dieses Sammelbandes sind: „Weltgesellschaft“, Weltwirtschaft, „Weltökologie“ sowie „Weltpolitik und Weltfrieden“. (erscheint im Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt)
Im von Daniel Dettling u.a. herausgegebenen Band
Lust auf Zukunft - Kommunikation für eine nachhaltige Globalisierung
werfen überwiegend junge Autoren einen Blick auf Möglichkeiten, Globalisierung
gerechter/nachhaltiger zu gestalten. Sie widmen sich den Themenbereichen „Globale
Strukurpolitik“ (Global Governance), „Unternehmensverantwortung“ und Wegen,
den Verbrauchern einen „nachhaltigen Konsum“ besser zu vermitteln. Zentraler Ansatzpunkt dieses Bandes ist die Kommunikation sowie, so auch der Titel, eine „zukunftsbejahende“ Grundhaltung. (erschienen bei Books on Demand, Norderstedt
2004)
144
ANHANG
Eine nicht hoch genug zu schätzende Quelle für gute, äußerst günstige und oftmals
didaktisch aufbereitete Literatur ist auch die Bundeszentrale für politische Bildung,
die sowohl in ihrer „Schriftenreihe“ als auch in „Einzelpublikationen“ einschlägige
Werke verlegt.
So z.B. den informativen und schönen Band „Umwelt. Bedrohung und Bewahrung“
von Dietrich Jörn Weder (2003), der sich konkreten Umweltproblemen und Lösungsansätzen widmet und eindrucksvoll illustriert ist. Im Themenzusammenhang mit diesem Rundbrief sei zumindest noch auf das Buch „Globalisierung“ von Klaus Müller
(2002) und auf „Die Vereinten Nationen“ von Sven Gareis und Johannes Varwick
(2003) verwiesen, deren „Klassiker“ knapp und doch hinreichend tief in das System
der VN einführt. (Kontakt: www.bpb.de oder aber Tel.: +49 (0)1888 - 515 0)
Eine renommierte Internetquelle für wissenschaftliche Literatur zu Fragen globaler
Umweltveränderungen stellt die Web-Site des „Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ dar. In seinen (frei herunterladbaren)
Haupt- und Sondergutachten sowie Politikpapieren äußerst sich der exzellente Beirat
zu Themen wie „Energiewende“, „Institutionen“, „Biosphäre“, „Risiken“, „Böden“
usw. (abrufbar unter: www.wbgu.de)
Falk Schmidt, Berlin
145
ANHANG
Hingewiesen sei zum Schluss auf eine Tagung in BerlinPankow, die sich mit den Themen dieses Rundbriefs beschäftigt.
Hat die Welt ein Gewissen?
Erd Charta und Weltethos
Hauptveranstalter ist die Evangelische Akademie Berlin
in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos und den
Erd-Charta - Initiativen (ÖIEW).
U.a. wird auch Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht
vor dem Leben auf dieser Tagung diskutiert.
Veranstaltungsort:
Diakonische Akademie Berlin - Pankow
Datum:
11. - 13. Februar 2005
Infos unter:
www.eaberlin.de
[email protected]
146
ANHANG
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