22 WOZ DIE WOCHENZEITUNG NR. 41 8. OKTOBER 2009 KULTUR AGENDA IMMER UND EWIG Die Wand Ein bisschen Robinson, ein bisschen Arche Noah, vor allem aber eine Geschichte übers Leben und Überleben in der Allgegenwart von Tod, Verlust und dem ständigen Bewusstsein, dass alle Anstrengung sinnlos ist: Marlen Haushofer publizierte «Die Wand» 1963, unverständlicherweise mit bescheidenem Erfolg. Auch wenn sie posthum entdeckt und gewürdigt wurde, steht ihre Einreihung in die «Galerie der Klassiker», wie es Klaus Antes im Nachwort fordert, noch aus. Die Erzählung beginnt mit einem surrealen Ereignis, das einen beklemmenden Thriller einzuleiten scheint. Eine Frau findet sich über Nacht in einem abgelegenen Tal in den Alpen eingesperrt, vom Rest der Welt durch eine unsichtbare Wand abgeschnitten. Was als kurzer Erholungsurlaub gedacht war, wird zur existenziellen Bewährungsprobe, deren Ende mit dem Tod der Protagonistin abzusehen ist. Doch obwohl der Wahnsinn «vielleicht die einzig normale Reak- BUCH «Origineller Abweichler der Gegenwart»: Altsaxofonist Rudresh Mahanthappa spielt in Zürich und in Eschen FL. KONZERT Rudresh Mahanthappa Der in New York lebende Altsaxofonist Rudresh Mahanthappa ist in den vergangenen Jahren durch legendäre Konzerte mit dem Pianisten Vijay Iyer aufgefallen. Gemeinsam sind sie seit 1995 unterwegs. Mit der CD «Raw Materials» haben sie ein eindrückliches Duowerk vorgelegt. Nach ihrem Konzert im Zürcher Moods im Mai 2008 schrieb Ueli Bernays in der NZZ: «Das furiose Zusammenspiel der beiden indischstämmigen Amerikaner lässt sich nur schwer vergleichen mit Bekanntem.» In der aktuellen KritikerInnenumfrage des US-Jazzmagazins «Down Beat» wurden sie auf ihren jeweiligen Instrumenten Erstplazierte der Kategorie «Rising Star». Mahanthappa erreichte auch Rang 1 als «Jazz Artist, Rising Star»; seine CD «Kinsmen» stand auf Rang 5 in der Kategorie «Jazz Album». Mit dem Samdhi-Projekt ist Mahanthappa erstmals unterwegs. Er bringt mit dem Gitarristen David Gilmore, dem E-Bassisten Rich Brown und dem Schlagzeuger Damion Reid drei junge afroamerikanische Musiker mit. ibo Roman: Der Pfarrer, der ins Fuchsfell schlüpft und sich das Herz der Füchsin einverleibt; die weibliche Figur Abba, in Weys Worten ein «enfant sauvage». aw «Schattenfuchs» in BASEL: Theater Roxy, Birsfelden, Mi, 14. Oktober, 20 Uhr (Premiere); sowie 15. bis 17. und 21. bis 24. Oktober, 20 Uhr. www.theater-roxy.ch AUSSTELLUNG Kollaborationen Jean Tinguely (1925–1991) kommt im Januar 1960 erstmals nach New York. Er richtet eine Einzelausstellung ein und wird vom Museum of Modern Art eingeladen, eine «Hommage to New York» zu inszenieren. Er konstruiert eine Maschine, die sich in dreissig Minuten wieder zerstört. Seine Performance, zu der Robert Rauschenberg (1925–2008) einen Silberdollars schleudernden «Toaster» (vgl. Bild) beisteuert, begeistert die Kunstwelt. Die Zusammenarbeit zieht weitere Kollaborationen nach sich. Ethnografische Filme THEATER Seit 25 Jahren beschäftigt sich die Basler Schauspielerin Serena Wey unter dem Label theater etc. mit Erzähltheater. Im Zentrum der Projekte steht oft eine Frauenfigur. Nun wagt sich Wey an den kurzen Roman «Schattenfuchs» des isländischen Kultautors Sigurjón Birgir Sigursson. «Schattenfuchs» spielt im Winter 1883 auf Island, erzählt von der tödlichen Begegnung des Pfarrers Baldur Skuggason mit einer erdschwarzen Füchsin und deckt dabei ein ungeheuerliches Verbrechen des Geistlichen auf. «Schattenfuchs», so Wey, handle «von all dem, was den Grundboden des Lebens ausmacht»: Liebe, Grausamkeit und «die Sehnsucht nach der Befreiung aus der Gefangenschaft». Sie bezieht sich auf das Motiv Mensch und Tier im «Herr Lehmann oder A Swiss Man in Berlin» in: BERN Schlachthaus Theater, Mi, 14. Oktober, 20.30 Uhr, Uraufführung; sowie Do bis So, 15. bis 18. Oktober, 20.30 Uhr. www.schlachthaus.ch FILM Rudresh Mahanthappa in: ZÜRICH Rote Fabrik, Mi, 14. Oktober, 20.30 Uhr. ESCHEN FL Tangente, Sa, 17. Oktober, 20.15 Uhr. Das Tier im Mensch Bierzapfen in einer Westberliner Kneipe verbringt, spielt 1989. Zum 20-JahrJubiläum des Falls der Berliner Mauer kommt es im Schlachthaus Theater zur Uraufführung des Musicals «Herr Lehmann oder A Swiss Man in Berlin». Entwickelt nach dem Kultroman «Herr Lehmann» von Sven Regener, dem Sänger und Songwriter von Element of Crime, wurde das Stück von der Berner Gruppe Mammagena Theaterproduktion. Als Sänger steht Trummer auf der Bühne, ein Newcomer am weit gespannten Berner Singer- und Songwriter-Himmel. Für «Herr Lehmann» hat der 29-Jährige nicht nur die Musik arrangiert und komponiert, er steht unter der Regie von Rolf Johannsmeier auch als Titelfigur auf der Bühne. Man darf gespannt sein, wie die traurigen Lieder Regeners auf Berndeutsch klingen. adr FOTO: ROBERT RAUSCHENBERG © PRO LITTERIS Die Ausstellung in Basel dokumentiert diese Projekte aus den frühen sechziger Jahren ausführlich mit Fotos, Filmen und diversen Leihgaben. Parallel dazu ist Rauschenbergs Werkgruppe «Gluts» (Überangebot) aus den achtziger und neunziger Jahren zu sehen. ibo «Robert Rauschenberg – Jean Tinguely. Collaborations» in: BASEL Museum Tinguely, Di, 13. Oktober, 18.30 Uhr, Eröffnung. Di bis So, 11 bis 19 Uhr. Bis 17. Januar. www.tinguely.ch Herr Lehmann Die Geschichte des Herrn Lehmann, der kurz vor dem dreissigsten Geburtstag steht und sein Leben mit nächtlichem Zu den ersten Filmenden überhaupt gehörten EthnologInnen, die ab 1900 mit Kameras ausgestattet ins Feld gingen und für ihre Forschung die Menschen auf Celluloid festhielten. Die ersten ethnografischen Filme zeigen die gefilmten Menschen als exotische Wilde, Fremde, die seltsame Rituale vollziehen. Einer der wichtigsten Vertreter des ethnografischen Films ist der Franzose Jean Rouch (1917–2004), der lange in Westafrika lebte und mehrere Filme realisierte. Das 6. Forum d’anthropologie visuelle im Musée d’ethnographie in Genf das im Rahmen der Ausstellung «Medusa en Afrique – La sculpture de l’enchantement» stattfindet, zeigt in seinem vielfältigen Programm mit «Le Dama d’Ambara: enchanter la mort» (1974) ein Werk des grossen Filmemachers. Daneben gibt es weitere ethnografische Filme zu Afrika zu sehen, aber auch Spiel-, Animations- und Experimentalfilme, die sich mit dem afrikanischen Kontinent auseinandersetzen. süs 6. Forum d’anthropologie visuelle in: GENF Musée d’ethnographie, Do, 8., bis Sa, 10. Oktober. www.ville-ge.ch/meg tion» auf diese ausweglose Situation wäre, beginnt sich die Städterin in der Natur zurechtzufinden. Eine Handvoll Bohnen, ein paar Kartoffeln, eine Flinte und ein Wald voller Wild, vor allem aber die Sorge um ihre Tiere – Hund, Katze und Kuh, die mit ihr eingesperrt sind – wecken in ihr Fähigkeiten, die das Ende immer weiter hinauszögern. Statt einer Chronik übers Sterben hinterlässt sie mit ihrem minuziösen Bericht ein Zeugnis von der unvernünftigen, aber unbezwingbaren Liebe zum Lebendigen: «Es gibt Stunden, in denen ich mich freue auf eine Zeit, in der es nichts mehr geben wird, woran ich mein Herz hängen könnte. Ich bin müde davon, dass mir doch alles wieder genommen wird. Es gibt keinen Ausweg, denn solange es im Wald ein Geschöpf gibt, das ich lieben könnte, werde ich es tun.» Die Wand, die zu Beginn als bedrohliches Mysterium im Mittelpunkt steht, tritt immer mehr in den Hintergrund. Sie ist nur Mittel zum Zweck: Mit ihr schafft Haushofer eine ganz und gar künstliche Versuchsanordnung, in der sie die Beziehung des Menschen zum Tier, zur Natur, zu sich selbst und zur Literatur erkunden kann. Martina Süess MARLEN HAUSHOFER: «Die Wand». Ullstein Taschenbuchverlag. Berlin 2009. 288 Seiten. Fr. 16.90. FILM Körperwunde Giulia haut ab Der Apfelblütenstecher gehört zur Familie der Rüsselkäfer. Er pflegt seine Eier einzeln in die Blütenknospen der Apfelbäume zu legen. Die Larve ernährt sich in der folgenden Zeit vom Inneren der weissen Blumen, und leergefressen bleibt die Knospe geschlossen, wird braun. Es kann sich kein Apfel bilden. Die Episode aus der erbarmungslosen Welt der Botanik dient Wanda Schmid als Metapher für die Geschichte einer Freundin, die im Text mit ihren Initialen R. St. genannt wird. «Apfelblütenstecher – Gedichte und Fragmente» heisst das neue Buch der 1947 geborenen, in Zürich lebenden Dichterin. In einer losen Folge entblättert Schmid das Schicksal eines Mädchens, das sexuell missbraucht worden ist und diesen sie von innen auffressenden Käfer ein Leben lang nie wieder losgeworden ist. Die Frau bleibt ein gejagtes Wesen, das immer schon die Gefahr riecht, auch wenn noch nicht zur Jagd geblasen wurde. Das Leben ist ein ewiges Jagdhalali, und sie überlebt als Fluchttier, rastlos, misstrauisch, destruktiv. Nie im eigenen Körper heimisch geworden, gelingt ihr das Ankommen in der Welt nicht, und so bleibt nach quälenden Jahren nur der Ausweg in den Suizid. In lyrischen Versen wähnt man die Stimme eines Erlkönigs zu hören, verführerisches Lockmittel, das die Frau innerlich aushöhlt, korrumpiert, verwirrt und sie jegliches Gefühl für die Grenzen zwischen Ich und Du verlieren lässt. In den prosaischen Passagen sucht die Autorin in der dritten Person eine Annäherung an das Innenleben der Protagonistin. Sie lesen sich bisweilen wie der vergebliche Versuch, mögliche Interpretationen des irrationalen Verhaltens eines traumatisierten Menschen zu finden. Eine Liebeserklärung, die nicht über die Ohnmacht hinwegtäuschen mag, dass dem nicht zu helfen ist, der sich nicht selber zu helfen vermag. Der erste Teil des Buches versammelt Gedichte der letzten Jahre: Momentaufnahmen meditativer Zustände, Reflexionen über das Einbrechen der Träume, das Verlieren der Worte, die Liebessehnsucht, die Trauer, die Wut. In schlichte Worte gefasste Strategien, die Wahrnehmung als Bändigerin des kaum Aushaltbaren einzusetzen. jal Er galt als einer der Höhepunkte am diesjährigen Filmfestival Locarno, die FilmkritikerInnen übertrafen sich mit Lob und freuten sich, dass endlich mal wieder ein so gelungener Schweizer Film in die hiesigen Kinos kommt wie «Giulias Verschwinden». Angesichts der erstaunlichen Einigkeit unter den Schreibenden drängt sich die Frage auf, ob denn all jene Schweizer FilmkritikerInnen, die über den Film geschrieben haben, um die fünfzig seien und ihre Lebenssituation im Film gespiegelt sehen. Denn um das Leben ab fünfzig dreht sich Christoph Schaubs neuster Film. Giulia (Corinna Harfouch) ist unterwegs zur Feier ihres fünfzigsten Geburtstags. In einem Brillengeschäft trifft sie einen älteren, charmanten Herrn (Bruno Ganz), der sie überzeugt, mit ihm etwas trinken zu gehen. Derweil sitzen Giulias Gäste wartend im Restaurant und führen Gespräche, in denen es sich immer um dasselbe dreht: um das Altern. Da versuchen sich die Wartenden gegenseitig zu überzeugen, dass das Leben mit den Jahren immer besser wird. Doch immer wieder dringt der Frust über das Älterwerden durch, gegen das alle machtlos sind. Auch die Probleme, die das Altern mit sich bringt, wie zum Beispiel jenes der Verdauung, werden schonungslos diskutiert. Die von Martin Suter geschriebenen Dialoge sind rasant und witzig, mit der Zeit erschöpft sich das Thema jedoch etwas. Auch wenn sich die Dialoge im Kreis drehen, ist «Giulias Verschwinden» ein unterhaltsamer Film, mit originellen ProtagonistInnen, gespielt von überzeugenden SchauspielerInnen (störend ist allerdings das Hochdeutsch einiger Schweizer Schauspieler, das an Schauspielschüler erinnert). Schön ist, wie Schaub verschiedene Geschichten, die lose miteinander verbunden sind, ineinander verwebt. Das alles macht «Giulias Versprechen» nicht gleich zu einem Highlight – zumindest wenn man noch nicht fünfzig ist –, aber doch zu einem gelungenen Schweizer Film. süs WANDA SCHMID: «Apfelblütenstecher – Gedichte und Fragmente». eFeF Verlag. Bern 2008. 28 Franken. «GIULIAS VERSCHWINDEN». Regie: Christoph Schaub. Schweiz 2009. Ab 8. Oktober in Deutschschweizer Kinos.