AS aktuell - Alpmann Schmidt

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August 2005
Für unsere Hörer
M
und RÜ-Bezieher
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AS aktuell
Zivilrecht
Die mündliche Prüfung im
ersten Staatsexamen
Allgemeine Bemerkungen zum Prüfungsgespräch im Examen und beispielhafte
Darstellung einiger zivilrechtlicher Problemfelder
Rechtsanwalt Tekin Polat
Es ist schon erstaunlich, dass die juristische Ausbildungsliteratur einen der wichtigsten Bereiche des
Staatsexamens, die mündliche Prüfung, sehr lückenhaft behandelt. Denn gerade dieser letzte Teil des Examens wird von vielen Prüflingen mit einer vehementen Angst und Nervosität verbunden. Diese kann sich
beispielsweise in Schlaflosigkeit vor der Prüfung und
in Unkonzentriertheit und Unsicherheit während der
Prüfung ausdrücken. Auch an den Universitäten gibt es
keine bzw. kaum Angebote, die den Prüfling auf diese
ungewohnte Prüfungssituation vorbereiten. Allerdings
mag dieses auch damit zusammenhängen, dass eine
allgemeingültige und repräsentative Darstellung der
typischen mündlichen Prüfung kaum gelingen kann.
Der Ablauf und der Schwierigkeitsgrad der jeweiligen
Prüfung hängt nämlich ganz erheblich von dem jeweiligen Prüfer ab. Und von denen gibt es einige.
Realistischerweise ist der einzig effektive Weg sich auf
die eigene, individuelle Prüfung vorzubereiten, das
genaue Studium von bekanten Protokollen über die
früheren Prüfungen der einzelnen Prüfer, deren Namen dem Prüfling mindestens 14 Tage vor dem Prüfungstermin mitgeteilt werden. Aber auch dieser Weg
ist nicht immer ein sicherer. Prüfer können kurzfristig
ausgetauscht werden, weil sie erkrankt sind, sodass der
Prüfling über die inhaltlichen Vorlieben und die Person des „Ersatzprüfers“ keinerlei Informationen hat.
Außerdem ist nicht jeder Prüfer „protokollfest“, sodass
eine intensive Vorbereitung auf ein bestimmtes Themengebiet nicht ausreichend sein könnte. Es ist nicht
ungewöhnlich, dass ein Prüfer heute Schuldrecht und
morgen Erbrecht prüft, obwohl in den bisherigen Protokollen das Familienrecht als sein bevorzugtes Thema
dargestellt wird. Folglich ist das einzig Sichere an einer
mündlichen Prüfung im Staatsexamen die Unvorhersehbarkeit und Unkalkulierbarkeit. Die bei den einzelnen Anbietern ausleihbaren Protokolle können also
lediglich zur Minimierung dieser Ungewissheiten führen, können diese aber nicht mit 100%iger Sicherheit
ausschließen.
Die vorliegende Bearbeitung will zunächst ganz allgemeine Handlungsanweisungen geben, die der Prüfling
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in jedem Fall, d.h. vor jeder Prüfung und gegenüber
jedem Prüfer, beachten sollte. Anschließend werden
einige Prüfungsgespräche in Ausschnitten dargestellt,
die die immer wiederkehrenden klassischen Problemfelder aus dem Zivilrecht behandeln und dementsprechend auch relativ häufig abgefragt werden. Aufgrund
der Auswertung mehrerer hundert Protokolle kann
dem interessierten Leser auf diese Weise ein realistischer Ausblick auf eine mündliche Prüfung im ersten
Staatsexamen gegeben werden.
Allgemeines zur mündlichen Prüfung
Die Aufregung fängt spätestens 14 Tage vor der mündlichen Prüfung an. Der Tag, an dem die Ergebnisse der
schriftlichen Arbeiten den Prüflingen bekannt gegeben
werden. Nun weiß der jeweilige Kandidat, wie viele
Vorpunkte er hat (Gesamtpunktzahl der schriftlichen
Arbeiten multipliziert mit 0,8). Viel Zeit zum Freuen
oder Ärgern bleibt aber nicht, denn in dem selben
Schreiben wird man zur mündlichen Prüfung eingeladen. Die notwendigen Informationen, wann und wo
diese genau stattfindet, kann man dem Schreiben entnehmen. Die für den Studenten wichtigste Information
ist hierbei, von wem er oder sie in diesem mündlichen
Gespräch geprüft werden wird. Nach dem man nun
eine Zeit lang gebraucht hat, um das Ergebnis der
schriftlichen Arbeiten richtig einzuordnen, stellt sich
aber schon die nächste Frage. Was nun? Wie bereite
ich mich auf meine mündliche Prüfung in den verbliebenen Tagen am effektivsten vor? Und wir erinnern
uns – der einzig effektive Weg, sich auf die eigene
mündliche Prüfung vorzubereiten, ist das konzentrierte Studium von bekannten Protokollen über die früheren Prüfungen der einzelnen Prüfer. Woher man diese
bekommen kann? Einfach den Repetitor vor Ort fragen oder sich bei der Fachschaft der jeweiligen Fakultät erkundigen.
Wichtig ist nun das zeitliche Management. Der Prüfling, der nach Durchsicht der Protokolle abschätzen
kann, in welche Richtung die jeweilige Prüfung in den
einzelnen Fachgebieten gehen könnte, wird sich genau
auf diese konzentrieren müssen. 14 Tage können sehr
kurz sein. Wenn der Prüfer im Zivilrecht noch nie
Handelsrecht geprüft hat, so ist dem Prüfling dringend
davon abzuraten, den Schwerpunkt seiner Vorbereitung im Zivilrecht auf das Handelsrecht zu fokussieren. Die verbleibende Zeit sollte in allen Gebieten
darauf verwendet werden, dass man sich die absoluten
Basics noch einmal genauestens vergegenwärtigt. Vergessen wir nicht, dass die mündliche Prüfung grds. nur
zur oberflächlichen Abfrage des Systemverständnisses
des Prüflings dienen kann. Für eine vertiefte Problemdiskussion in allen Gebieten wird die jeweilige Prüfungszeit (11 bis 12 Minuten je Kandidat) schon gar
nicht ausreichen. Die Standardprobleme und die gesetzliche Systematik müssen aber in jeden Fall be-
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herrscht werden. Denn die kurze Prüfungszeit bedeutet auch, dass ein grober Fehler (Bsp.: Verkennen des
Abstraktionsprinzips) kaum noch in der verbliebenen
Zeit ausgebügelt werden kann. Abgesehen vom jeweiligen Wahlfach des Prüflings kann also nur dazu geraten werden, sich nicht mit jeder Mindermeinung zu
jedem Problemkreis auseinander zu setzen.
Die verbliebene Zeit darf aber auch nicht dazu genutzt
werden, sich seelisch und körperlich selbst zu quälen,
indem man nichts anderes mehr macht als zu lernen.
Natürlich wird die Vorbereitung auf diese wichtige
Prüfung den Tag des Kandidaten prägen und eine
Menge Zeit in Anspruch nehmen. Nur sollte es nicht
so weit kommen, dass der Tagesrhythmus des Prüflings
nun vollkommen durcheinander gerät. Gesunde Ernährung und ausreichender Schlaf können bei der
Vorbereitung mindestens genau so wichtig sein, wie
die Bearbeitung eines ganz wichtigen Themengebiets.
Leider wird dies immer wieder stark unterschätzt. Die
Prüfung selbst ist körperlich sehr anstrengend. Sie
kann sich über mehrere Stunden hinziehen. Nur der,
der auch körperlich fit ist, wird auch gegen Ende der
Prüfung eine angemessene Leistung erbringen können.
Also dann, wenn die Prüfer sich noch einmal ein letztes Bild von den jeweiligen Kandidaten machen. In
seinem eigenen Interesse sollte der Prüfling also sorgfältig mit sich und seiner Gesundheit umgehen.
Tipp: Wenn man sich schon vor der Bekanntgabe der
schriftlichen Noten mit den Basics der einzelnen Fachgebiete beschäftigt, wird man innerhalb der letzten 14
Tage auch genug Zeit haben, sich mit anderen Problemfeldern tiefer auseinander zu setzen. Das Zeitmanagement beginnt also nicht erst mit der konkreten
Einladung zur mündlichen Prüfung, sondern schon
vorher. Die ständige Wiederholung des Stoffs, den man
zu den schriftlichen Klausuren parat hatte, kann also
nur wärmstens empfohlen werden.
In der mündlichen Prüfung kann sich sehr viel entscheiden. Da auch die Prüfer nur Menschen sind und
bei ihrer Notenvergabe natürlich auch subjektive Empfindungen eine Rolle spielen werden, kann den jeweiligen Kandidaten nur geraten werden, sich an gewisse
Höflichkeitsregeln zu halten und sich angemessen zu
kleiden. Es geht um eine Staatsprüfung. Insbesondere
ältere Prüfer legen sehr großen Wert darauf, dass der
jeweilige Kandidat sich entsprechend seiner angestrebten Stellung in der Gesellschaft kleiden und benehmen
kann. Den männlichen Kandidaten wird also dringend
empfohlen, mit einem Anzug bei der Prüfung zu erscheinen und eine Krawatte zu tragen. Und je klassischer desto besser. Mit einem orangefarbenen Anzug,
einem grünem Hemd und gelben Schuhen wird der
Kandidat also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
unbedingt den seriösesten Eindruck hinterlassen.
Die Damen sollten darauf achten, dass sie nicht „zu
weiblich“ auftreten. Der extrem kurze Rock, zieht
zwar eventuell Blicke auf sich, aber vielleicht doch
nicht die nötigen Punkte nach sich. Sie sollten weiterhin nicht vergessen, dass es bei der Prüfung nicht um
einen Modewettbewerb geht. Das dezente und damen-
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hafte kommt also immer noch am Besten an. Mit einem
Hosenanzug beispielsweise in klassischen Farben kann
eine Kandidatin grundsätzlich nichts falsch machen.
1. Das Vorgespräch
Nun ist es so weit. Der Tag der Entscheidung ist gekommen. Heute Abend ist alles endgültig vorbei. Aber
bis dahin gilt es, noch einmal alles zu geben und einen
so guten Eindruck wie möglich zu hinterlassen. Man
ist aufgeregt, nervös und doch froh, dass es bald endlich vorbei ist. Das monatelange Lernen, die nervösen
Nächte, obwohl man sich vorgenommen hatte, ganz
ruhig zu bleiben. Das starke Frühstück hat ganz gut
getan und beruhigt auch die Nerven, weil man weiß,
dass es die beste Vorbereitung auf diesen stressigen
Tag ist. Nun steht man da auf dem Gang vor dem
Prüfungszimmer und wartet darauf, dass es losgeht.
Die Mitprüflinge sind auch schon da. Man hat sich
herzlich begrüßt und wünscht sich gegenseitig viel
Glück und Erfolg. Den einen oder anderen kennt man
aus der Uni oder vom Rep. Und dann geht die Tür auf.
Der Vorsitzende der Prüfungskommission kommt kurz
heraus und ruft einen der Kandidaten hinein. Wieso
nur einen und dann die nächsten einzeln? Handelt es
sich etwa um eine Einzelprüfung? Nein!! Die Prüfung
selbst findet in der geschlossenen Gruppe statt. Aha!
Die mündliche Prüfungstag beginnt aber mit dem sogenannten „Vorgespräch“, das allein der Vorsitzende
der Prüfungskommission mit dem jeweiligen Prüfling
führt. Die Länge dieses Gesprächs kann je nach Prüfer
und Prüfling variieren zwischen 5 und 15 Minuten.
Der Sinn dieses Gesprächs besteht vorrangig darin,
den jeweiligen Kandidaten kennen zu lernen und ihn
bzw. sie gegebenenfalls zu beruhigen. Die meisten
Prüfungsvorsitzenden nutzen hierbei die Gelegenheit,
dem Kandidaten seine bisherigen Studienleistungen
und die Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten in Erinnerung zu rufen. Hierzu kann man sich dann als Kandidat äußern und beispielsweise besonders gute bzw.
besonders schlechte Leistungen kommentieren.
Je nach Vorpunktezahl fragt sich der Student, ob er
den Vorsitzenden während des Gesprächs von seinem
Notenziel unterrichten soll oder nicht. Ob dies als
kämpferische und besonders lobenswerte Einstellung
eingestuft wird oder der Prüfungsvorsitzende dies als
unrealistisches Ziel und damit als negativen Aspekt
abspeichert (der Student könne seine eigene Leistungsfähigkeit nicht realistisch einschätzen), hängt zum
einen vom Vorsitzenden selbst und natürlich von den
Vorpunkten ab. Ratsam ist diese Vorgehensweise also
nur dann, wenn die bisherigen Protokolle über diesen
Prüfungsvorsitzenden nichts negatives diesbezüglich
berichten oder diese Frage vom Prüfer selbst ausdrücklich gestellt wird. Der Vorsitzende wird gegen Ende
des Vorgesprächs auf die Reihenfolge der einzelnen
Prüfungsfächer eingehen und dem Kandidaten mitteilen, wann die jeweiligen Pausen eingelegt werden.
Abschließend erfolgt die Frage, ob man selbst noch
etwas wissen möchte und der Hinweis, dass die Prüfung halb so schlimm sei und man noch einmal alles
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geben solle. Nach dem auch der letzte Kandidat sein
Vorgespräch hinter sich gebracht, werden alle Prüflinge in den Prüfungssaal gebeten und die eigentliche
Prüfung kann beginnen.
2. Tipps für das eigentliche Prüfungsgespräch
Die Prüfung wird meist mit vier bis fünf Prüflingen
durchgeführt. Die Kandidaten sitzen grundsätzlich
nebeneinander. Die Sitzordnung wird von dem Vorsitzenden vorgegeben. Diese kann sich nach alphabetischer Reihenfolge der jeweiligen Nachnamen richten
oder aber auch nach den Vorpunkten. Schreibpapier
und Bleistifte werden vom Prüfungsamt gestellt, wobei
jedem Prüfling nur geraten werden kann, sein eigenes
Schreibgerät mitzubringen. Denn das gestellte Umweltpapier hält es nicht immer aus, wenn hastige Kandidaten mit den spitzen Bleistiften sich Notizen machen. Auch die während der Prüfung benötigten Gesetzestexte werden vom Prüfungsamt zur Verfügung
gestellt. Die Prüfer sitzen den Kandidaten gegenüber,
wobei es sich der Vorsitzende der Kommission nicht
nehmen lässt, sich mittig zu platzieren.
Die Reihenfolge der geprüften Fächer richtet sich auch
nach den jeweiligen Prüfern, wird aber schon im Vorgespräch vom Prüfungsvorsitzenden mitgeteilt. Der
Prüfungsvorsitzende legt meist Wert darauf, als letzter
zu prüfen. Meist wird nach den ersten beiden Prüfungsabschnitten eine Pause von bis zu einer Stunde
eingelegt, die die Prüfer schon zu ersten Notenbesprechungen nutzen, damit die noch frischen Eindrücke
von den einzelnen Prüflingen nicht verwischt werden
und die abschließende Besprechung am Ende der
gesamten Prüfung nicht zu lange dauert. Währenddessen nutzen die Studenten diese Zeit zur Erholung und
zur Stärkung. Danach geht es mit dem dritten Fach
weiter und die Prüfung schließt mit dem vierten und
letzten Prüfungsfach.
Die Prüfung beginnt meist mit der Präsentation eines
kleinen Sachverhalts durch den jeweiligen Fachprüfer.
Hierbei sollten sich die Prüflinge so viele Informationen wie möglich notieren. Oft wird nämlich die Prüfung nicht mit einer juristischen Fachfrage begonnen,
sondern der Prüfer verlangt von einem der Kandidaten
eine ausführliche Wiederholung des Sachverhalts.
Dieses Vorgehen ermöglicht es allen Kandidaten, den
Sachverhalt sich noch einmal zu vergegenwärtigen,
damit später möglichst keine Details mehr zweifelhaft
bleiben. Diese Phase der Prüfung darf nicht unterschätzt werden. Denn nur der, der den Sachverhalt
richtig und vollständig erfasst, hat eine Chance an der
Prüfung mit Erfolg teilzunehmen. Wenn später im Prüfungsverlauf klar wird, dass ein Kandidat nicht einmal
den Sachverhalt richtig erfasst hat, macht das nicht
unbedingt einen positiven Eindruck bei der gesamten
Kommission. Also lieber am Anfang noch einmal nachfragen, wenn etwas unklar ist. Oft ist es einer der
schwächeren Kandidaten, die den Sachverhalt wiederholen sollen. Der jeweilige Prüfer kann so einem Kandidaten, der schlecht vorbenotet ist, die Gelegenheit
geben, sich am Prüfungsgespräch ohne Angst beteili-
gen zu können und ihm eine gewisse Sicherheit geben.
Die Besonderheit der mündlichen Prüfung besteht nun
darin, dass nicht zwingend nach der Reihe die Kandidaten geprüft werden. Es ist nicht so, dass zunächst ein
Kandidat abgeprüft wird und mit Beendigung dieses
Abschnitts der Nächste dran ist. Vielmehr entwickelt
sich mit der Zeit ein immer intensiveres Prüfungsgespräch mit allen Kandidaten gleichermaßen und gleichzeitig. Oft beginnt die Prüfung von links nach rechts
oder umgekehrt. Allerdings wird meist diese eingeschlagene Reihenfolge nicht eingehalten, weil der Prüfer beabsichtigt, die einfacheren Fragen den schwächeren Kandidaten zu stellen, damit diese die Möglichkeit
haben, sich positiv zu präsentieren, um ihr Ziel zu
erreichen. Die etwas kniffligeren Fragen mit mehr Detailwissen werden dann eher den stärkeren Kandidaten
präsentiert, die so die Chance haben sollen zu zeigen,
dass die guten Noten in den schriftlichen Klausuren
gerechtfertigt sind. Die Tatsache, dass keine klare Reihenfolge vorgegeben ist, führt dazu, dass alle Kandidaten über die gesamte Prüfung hinweg absolut konzentriert sein müssen. Denn es besteht jederzeit die Möglichkeit, dass der Prüfer zwei Kandidaten überspringt
und genau den fragt, der eben schon einmal dran war.
Kleinere Pausen, während andere geprüft werden,
sollte man also in keinem Fall einlegen.
Mit zunehmender Zeit wird das Niveau der Prüfung
grundsätzlich steigen, sodass es häufiger vorkommen
wird, dass mal ein Kandidat keine Antwort auf die ihm
gestellte Frage hat. Dann wird die Frage von dem Prüfer frei gegeben. Nun hat jeder Prüfling die Möglichkeit, auf diese Frage zu antworten und die Punkte für
sich zu verbuchen. Allerdings darf letztlich nur der
antworten, den der Prüfer auch bestimmt. Hier gilt es
eine der wichtigsten Regeln in der Prüfung zu beachten. Eine auffällige Art auf sich aufmerksam zu machen, indem man beispielsweise den Arm hebt oder
irgendwelche Laute von sich gibt, ist absolut unangebracht. So eine Art wird von der Kommission sofort
mit einer Missbilligung sanktioniert. Die einzig korrekte und anerkannte Art dem Prüfer zu zeigen, dass man
diese Frage gerne beantworten würde, ist das Aufnehmen von intensivem Blickkontakt. Nur so wird der
Prüfer sich beeinflussen lassen, wen er auswählen soll.
Genau in diesem Bereich haben dann auch wieder die
Kandidaten mit den schlechteren Vorpunkten die
Möglichkeit, positiv auf sich aufmerksam zu machen
und dem Prüfer zu zeigen, dass man eigentlich viel
stärker ist, als es die Vornoten vermuten lassen. So gibt
es immer wieder Kandidaten mit schwachen Vorpunkten, die nach einer grandiosen Leistung in der mündlichen Prüfung, noch den Notensprung nach oben
schaffen. Auch sollte es tunlichst vermieden werden,
einen Mitprüfling zu verbessern oder auf einen Fehler
des Vorredners hinzuweisen, ohne dazu vom Prüfer
aufgefordert zu werden. „So etwas gehört sich unter
Juristen nicht“.
(Beitrag wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt; dort
werden dann auch repräsentative Auszüge aus Prüfungsgesprächen dargestellt.)
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Strafrecht
Allgemeiner Teil
„Der Lösegeldbote“ – Täter- oder Opfergehilfe bei der Erpressung?
Rönnau JuS 2006, 481
Im Zusammenhang mit Erpressungen und Geiselnahmen werden auf Veranlassung der Täter oder des Opfers häufig Dritte als Vermittler beispielsweise zur
Überbringung von Lösegeld eingeschaltet. Wie in diesen Fällen strafloses von als Beihilfe strafbarem Unterstützungsverhalten abzugrenzen ist, ist umstritten.
In der Literatur wird die Lösung der Frage zum Teil
auf Tatbestandsebene nach bekannten Grundsätzen
der Teilnahmelehre gesucht. Z.T. (SK-Rudolphi vor
§ 22 Rdnr. 9) wird als Hilfeleistung i.S.d. § 27 StGB
lediglich die Förderung der tatbestandsmäßigen Handlung des Täters angesehen. Danach kann die bloße
Vermittlung einer Lösegeldzahlung nach Abschluss der
Nötigungshandlung nicht tatbestandsmäßig sein. Dies
wird überwiegend abgelehnt, da nach dem Strafgrund
der Beihilfe jede Mitverursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges – hier des Vermögensschadens – tatbestandsmäßig ist. Andere versuchen die Frage nach den
Grundsätzen über die notwendige Teilnahme zu lösen.
Davon spricht man, wenn ein Straftatbestand (z.B.
Wucher) notwendig die Beteiligung mehrerer Personen erfordert. Dabei besteht Konsens darüber, dass das
durch den Tatbestand geschützte Opfer sich wegen
einer Tatbeteiligung nicht strafbar macht. Insoweit
käme in Betracht, auch Handlungen Dritter als straflose Teilnahmeakte einzustufen. Wird der Lösegeldbote
auf Opferseite eingeschaltet und sieht man die Kettenteilnahme als Teilnahme zur Teilnahme an, so folgt aus
der Straflosigkeit des Handelns des Opfers auch die
Straflosigkeit des Lösegeldboten. Dagegen spricht jedoch, dass nach h.M. in der Kettenteilnahme eine Teilnahme an der Haupttat zu sehen ist und der Lösegeldbote selbst regelmäßig weder Opfer noch sonst notwendig Beteiligter einer Erpressung ist. Andere (Roxin
AT II § 26 Rdnr. 56) wollen nach einer Art „Lagertheorie“ eine bloße Unterstützung des Opfers und seiner
Interessen nicht als tatbestandsmäßige Hilfeleistung
ansehen. Die nur mittelbare Förderung der Tat könne
nach dem Sinn des § 253 StGB nicht als Beihilfe zur
Erpressung strafbar sein. Gegen diese Lösungen sprechen die Unbestimmtheit und Vagheit der Kriterien,
nach denen eine Zuordnung des Unterstützers zum
Lager des Täters oder des Opfers vorgenommen wird.
Zudem bleibt unklar, wie neutrale Vermittler zu behandeln sind, die sich nicht einem der beiden Lager
zuordnen lassen, sondern sich aus eigenem Interesse
beteiligen. Hiernach sieht Rönnau auf der Basis der
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Teilnahmedogmatik keine überzeugende Grundlinie
zur Behandlung der problematischen Fälle.
Erfüllt der Vermittler oder Lösegeldbote danach den
Tatbestand der Beihilfe, so könnte man an eine Rechtfertigung aus Notwehr oder Notstand denken. Eine
Notwehr scheidet jedoch aus, da es sich bei der Beteiligung an der Tat nicht um eine Verteidigungshandlung handelt. Gegen die Anwendung von Notstandsregeln spricht, dass diesen die Regeln über Einwilligung
und mutmaßliche Einwilligung vorgehen und im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung nicht immer eindeutig das geschützte, das beeinträchtigte Interesse überwiegen wird.
Rönnau plädiert deshalb für eine Lösung des Problems
nach den Regeln über Einwilligung und mutmaßliche
Einwilligung. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie
sich die Zwangslage des Erpressungsopfers für die
Wirksamkeit der von ihm erteilten oder als mutmaßlich zu unterstellenden Einwilligung auswirkt. Z.T.
wird in der Literatur die in einer Zwangslage i.S.d.
Nötigungstatbestandes erteilte Einwilligung immer für
absolut unwirksam gehalten. Andere gehen von der
Unwirksamkeit der einem Dritten erteilten Einwilligung zumindest dann aus, wenn der Dritte selbst
Kenntnis von der Zwangslage des Einwilligenden hatte. Hiernach wäre das Handeln eines Lösegeldboten
nicht durch eine Einwilligung zu legitimieren. Dies
hält Rönnau weder für im Grundsatz noch für im Ergebnis überzeugend. Der Mangel der genannten Ansichten liege darin, dass sie der Ursache der Zwangslage keinerlei Beachtung schenkten. Dabei stehe außer
Frage, dass reine Sachzwänge die Wirksamkeit einer
Einwilligung unberührt lassen. Anderenfalls gebe es
keine Einwilligung in medizinisch indizierte Operationen. Die Zwangslage des Erpressungsopfers sei aber
im Verhältnis zum Dritten, der für die Zwangslage
nicht verantwortlich sei, ein reiner Sachzwang. Auch
in dieser Zwangslage verblieben dem Dritten Handlungsspielräume, die er in seinem Sinne nutzen könne.
Die Einschaltung eines Dritten als verlängerter Arm
des Opfers bedeute für dieses eine Entlastung und
stelle keine Chancenverschlechterung seiner Rechtsgüter dar. Schließt danach die Zwangslage des Opfers die
Wirksamkeit seiner Einwilligung nicht aus, so verbleibt
die Anschlussfrage, wie weit diese reicht. Der dem Vermittler oder Lösegeldboten eröffnete Handlungsrahmen lasse sich durch Auslegung der Einwilligung hinreichend sicher bestimmen. Die Opferinteressen seien
durch eine Koppelung der Einwilligung an Bedingungen absicherbar. Danach komme es weder darauf an,
in wessen Lager der Gehilfe stehe oder mit welcher
Motivation er handele, noch sei in subjektiver Hinsicht
ein Handeln im Interesse des Einwilligenden oder
aufgrund der Einwilligung zu fordern, da ein derartiges
Kriterium allenfalls zu einer unzulässigen Gesinnungsstrafbarkeit führen könne.
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Ist danach eine Vermittler- oder Botentätigkeit im
Rahmen der Einwilligungsregeln zulässig, so ließe sich
das Verbot einer Mitwirkung dieser Art allenfalls auf
den Schutz überindividueller Interessen stützen, etwa
auf den Schutz künftiger potentieller Erpressungsoder Entführungsopfer. Ein derartiges Verbot besteht
nicht generell, was jedoch nicht ausschließt, dass zum
Schutz von allgemeinen Interessen im Einzelfall durch
polizeirechtliche Verfügung die Erfüllung von Lösegeldforderungen verboten werden könnte. Wegen der
sich daraus gegebenenfalls ergebenden objektiven Einwilligungsschranke würde sich der Vermittler oder Lösegeldbote in einem solchen Fall wegen Beihilfe strafbar machen.
Ergänzung zu: AS-Skript StrafR AT 2 (2004), S. 64 ff.
Die Abstiftung
Kudlich JuS 2005, 592
Der Begriff der Abstiftung wird in der Literatur bisweilen für den Fall der Anstiftung zum Unterlassungsdelikt verwendet. Im vorliegenden Beitrag geht es dagegen um Fälle, in denen der Teilnehmer den Täter veranlasst, eine weniger schwerwiegende Tat zu begehen
im Vergleich zu derjenigen, die der Täter ohnehin
geplant hatte.
Der Begriff des „Bestimmens“ in § 26 StGB setzt nach
allgemeiner Ansicht das Hervorrufen des deliktischen
Tatentschlusses beim Täter voraus. § 26 StGB geht
danach davon aus, dass der Täter vor der Einflussnahme durch den Teilnehmer noch nicht zur Begehung der Tat entschlossen (omnimodo facturus) ist.
Zweifelhaft bleibt danach die rechtliche Behandlung
der Fälle der „Umstiftung“. Darum handelt es sich,
wenn der Täter durch die Beeinflussung seitens des
Teilnehmers lediglich zu einer anderen Art der Ausführung der geplanten Tat veranlasst wird. Im Hinblick
auf die Teilnahmehaftung ist insoweit danach zu unterscheiden, ob der Täter zu einer rechtlich gleichwertigen, qualifizierten oder einer weniger schwerwiegenden Begehungsweise veranlasst wird, beispielsweise
zur Verwirklichung lediglich des Grundtatbestandes
an Stelle der ursprünglich geplanten Qualifikation.
In dem zuletzt genannten Fall besteht Einigkeit darüber, dass eine Anstiftung ausscheidet. Denn der ursprüngliche Entschluss, das qualifizierte Delikt zu begehen, umfasst auch die Begehung des Grunddelikts,
sodass der Täter zur Begehung der Tat bereits entschlossen war. In Betracht kommt jedoch eine Strafbarkeit des Teilnehmers wegen psychischer Beihilfe
gem. § 27 StGB. Deren Strafbarkeit wird zwar bisweilen prinzipiell infrage gestellt, von der h.M. jedoch
wegen des weitgehenden Wortlauts des § 27 StGB und
des Strafgrundes der Teilnahme (Förderungstheorie)
bejaht. Über die Reichweite der Gehilfenhaftung im
vorliegenden Zusammenhang der Abstiftung gehen die
Ansichten aber auseinander. Zum Teil wird sie für den
Regelfall bejaht. Nach anderer Ansicht soll unter dem
Gesichtspunkt der Risikoverringerung die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen sein, es sei denn, dass die
Abstiftung von der Verwirklichung qualifizierender
Umstände auf Kosten einer Bestärkung des Tatentschlusses an sich erreicht wird. In diesen Fällen soll
eine Rechtfertigung wegen Notstandes gem. § 34 StGB
in Betracht kommen, wenn die Gefahr der Begehung
der schwerwiegenderen Variante auf andere Art und
Weise nicht abzuwenden war.
Kudlich plädiert demgegenüber für eine weitergehende
Berücksichtigung des Risikoverringerungsgedankens,
indem er weitergehend differenziert. In denjenigen
Fällen der Einflussnahme, in denen es zu einer psychischen Bestärkung des Tatentschlusses nicht kommt,
fehle es bereits jenseits der Anforderungen der objektiven Zurechnung an jeder Form des „Hilfeleistens“
i.S.d. § 27 StGB, sodass eine Beihilfe in jedem Fall
ausscheiden müsse. Der Begriff des Hilfeleistens setze
nach der Förderungstheorie bereits eine Gefahrsteigerung voraus, an der es in derartigen Fällen fehle. Rät
danach der Beteiligte dem Täter von der Verwirklichung straferschwerender Umstände ab, ohne ihn in
seinem Tatentschluss zu bestärken, entfällt bereits der
Tatbestand.
Anders seien die Fälle zu behandeln, in denen durch
die Abstiftung das Begehungsrisiko als solches erhöht
worden ist. Gehe das Abraten von der Verwirklichung
qualifizierender Umstände auf Kosten einer Bestärkung des grundsätzlichen Handlungsentschlusses, so
werde die Tat hierdurch psychisch gefördert und damit
Beihilfe geleistet. Dennoch sei auch in diesen Fällen
die objektive Zurechnung wegen des Gedankens der
Risikoverringerung zu verneinen. Diese Lösung habe
den Vorteil, dass es auf eine Rechtfertigung gem. § 34
und die dort vorausgesetzte fehlende anderweitige
Abwendungsmöglichkeit nicht ankommt. Allerdings
beschränkt sich die Anwendung des Risikoverringerungsgedankens auf Fälle der Verletzung desselben
Rechtsguts bzw. auf die Herabstufung von einem qualifizierten Delikt auf den Grundtatbestand.
Danach verbleiben solche Fälle, in denen der Täter
durch die Einflussnahme zu weniger schwerwiegendem Unrecht veranlasst wird, das allerdings einen
anderen als den ursprünglich geplanten Tatbestand
erfüllt. Da hier für den Risikoverringerungsgedanken
als Zurechnungskriterium kein Raum bleibt, kommt in
derartigen Fällen lediglich eine Rechtfertigung wegen
Notstandes gem. § 34 StGB in Betracht. Wenn also
der zum Raubmord entschlossene Täter durch die
Einflussnahme des Teilnehmers dazu veranlasst wird,
das Opfer stattdessen zu fesseln und zu berauben, so
könnte die Anstiftung zur Freiheitsberaubung gem.
§§ 239, 26 StGB allenfalls gem. § 34 StGB gerechtfertigt sein, falls das Risiko der Begehung des Raubmordes anderweitig nicht abwendbar war.
Ergänzung zu: AS-Skript StrafR AT 2 (2004), S. 62
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Öffentliches Recht
Verfassungsrecht
Vorzeitige Auflösung des Bundestages
Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Vertrauensabstimmung im Bundestag
Die Ankündigung des Bundeskanzlers Schröder am
Abend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vom
22. Mai 2005, „darauf hinzuwirken, dass der Herr
Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich (...) Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen“, kam für die meisten politischen Beobachter
überraschend. Der nachfolgende Beitrag skizziert die
verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages.
I. Verfassungsrechtliche Instrumente zur vorzeitigen Beendigung einer Wahlperiode
Das GG erhebt hohe Hürden an eine vorzeitige Auflösung des Bundestages, da dieser gem. Art. 39 Abs. 1
GG grds. auf vier Jahre gewählt wird. Um diese sowohl
als Höchst- wie Mindestdauer konzipierte Wahlperiode sicherzustellen, kommt nur in zwei besonderen
Sachlagen eine vorzeitige Auflösung des Bundestages
in Betracht:
(1) wenn zu Beginn der Wahlperiode oder nach Rücktritt des Bundeskanzlers während der Wahlperiode
kein Kanzlerkandidat die absolute Mehrheit erhält
(Art. 63 Abs. 4 GG) oder
(2) wenn der Bundeskanzler den Antrag stellt, ihm das
Vertrauen auszusprechen, dieser jedoch nicht die
Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält und daraufhin der Bundeskanzler
den Bundespräsidenten ersucht, den Bundestag
aufzulösen (Art. 68 Abs. 1 GG).
II. Die Anforderungen an das Verfahren gemäß
Art. 68 GG im Einzelnen
1. Geschichtlicher Hintergrund der Vorschrift
Die hohen Anforderungen an die Vertrauensfrage gem.
Art. 68 GG werden oft vor dem geschichtlichen Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung begründet.
Wesentlich für diese war die Verknüpfung des parlamentarischen Systems einerseits mit Ausprägungen des
Präsidialsystems andererseits (Maurer DÖV 1982,
1001, 1003 m.w.N.). Nach dem Modell der WRV existierten zwei Verfassungsorgane mit unmittelbarer demokratischer Legitimation: Reichstag und Reichspräsident. Letzterer ernannte und entließ Reichskanzler
und Reichsminister; gleichzeitig bedurften sie jedoch
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auch des Vertauens des Reichstages und mussten zurücktreten, wenn ihnen das Misstrauen ausgesprochen
wurde (Art. 53, 54 WRV). Theoretisch sollte dieses
Modell eine Machtbalance zwischen Reichstag einerseits und Reichspräsident andererseits sicherstellen. Im
Konfliktfall konnte jedoch der Reichspräsident gem.
Art. 25 WRV den Reichstag auflösen. Begrenzt war
dessen Kompetenz lediglich insoweit, als die Auflösung „nur einmal aus dem gleichen Anlass“ erfolgen
durfte (Art. 25 Abs. 1, 2. Halbs. WRV). Andererseits
konnte auch der Reichstag gegen den Reichspräsidenten vorgehen und gem. Art. 43 WRV dessen Absetzung
durch Volksentscheid beantragen. Dieses System, das
zudem starke plebiszitäre Elemente aufwies, führte
dazu, dass stabile politische Verhältnisse kaum möglich waren. Wegen dieser Erfahrungen sollte eine vorzeitige Auflösung des Bundestages im GG nur unter
strengen Maßstäben möglich sein.
2. Voraussetzungen an das Verfahren gem. Art. 68 GG
Das Verfahren einer Auflösung des Parlaments nach
verlorener Vertrauensfrage setzt sich aus verschiedenen Stufen zusammen: Der Vertauensfrage des Bundeskanzlers, der Abstimmung im Bundestag, dem Antrag des Bundeskanzlers auf Parlamentsauflösung und
der nachfolgenden Entscheidung des Bundespräsidenten.
a. Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und ihre
Anforderungen
Die Befugnis, die Vertrauensfrage zu stellen, steht ausschließlich dem Bundeskanzler zu. Weitgehend unproblematisch ist eine solche in den Fällen, in denen die
Vertrauensfrage darauf abzielt, die politische Stabilität
des Bundeskanzlers zu sichern. Verfassungsrechtlich
außerordentlich problematisch ist demgegenüber die
Frage, ob auch eine „negative Vertrauensfrage“ zulässig ist. Eine solche liegt vor, wenn der Bundeskanzler
im Bundestag eine Vertrauensfrage gerade mit dem
Ziel stellt, ihm nicht das Vertrauen auszusprechen und
über diesen Weg die Auflösung des Bundestages anstrebt.
a. Einerseits wird aus dem Wortlaut des Art. 68 GG
(„Vertrauen“) der Schluss gezogen, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nur mit dem Ziel stellen
dürfe, ihm das Vertrauen auch tatsächlich auszusprechen (z.B. Delbrück/Wolfrum JuS 1983, 758, 761;
Schultz MDR 1972, 926, 927). Damit dürfe der Bundeskanzler mit Hilfe der Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages nicht anstreben. Besonders plastisch wurde diese Position in dem Sondervotum von
Rinck formuliert (BVerfGE 62, 70, 71 f.): „Schon der
Wortlaut des Art. 68 GG schließt es aus, dass ein
Bundeskanzler, der ersichtlich das Vertrauen der
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages hat, nach
dieser Norm die Auflösung des Bundestages anstrebt,
einleitet und erreicht.“
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b. Neben diesem engen Textverständnis wird auch eine
weniger strenge Auslegung des Art. 68 GG befürwortet. Danach soll eine Vertrauensfrage mit dem Ziel der
Auflösung des Bundestages ausnahmsweise auch dann
zulässig sein, wenn diese von einem Minderheitskanzler gestellt wird und eine parlamentarische Krise anders nicht behoben werden kann. Diese Position wird
insbesondere auf historische und systematische Argumente gestützt. So ergebe sich aus der Gesamtschau
der Art. 63, 67 und 81 GG das Ziel des Verfassungsgebers, Parlament und Regierung möglichst lange in
Funktion zu halten. Hieraus folge, dass die Auflösung
des Bundestages lediglich als ultima ratio zulässig sei.
Eine solche Interpretation dränge sich auch deswegen
auf, da andernfalls Art. 68 GG die Funktion eines
Selbstauflösungsrechts erhalte, was vom Verfassungsgeber aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik gerade nicht gewollt war (zuletzt in diesem
Sinne Schenke NJW 2005, 1844, 1845).
c. Eine „offene“ Interpretation des Art. 68 GG hat
jedoch bereits die Senatsmehrheit des BVerfG in der
Leitentscheidung vom 16.02.1983 (BVerfGE 62, 1 ff.)
befürwortet. Der Begriff des „Vertrauens“ im Sinne
von Art. 68 GG sei nicht etwa in einer moralischen
Kategorie zu verstehen und folglich nicht final auf eine
positive Bestätigung des Vertrauens ausgerichtet. Vertrauen im Sinne des Art. 68 GG bedeute „gemäß der
deutschen verfassungsgerichtlichen Tradition [vielmehr] die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu
Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers“
(BVerfGE 62, 1, 2 – Ls. 5). Zudem stellt das BVerfG
ausdrücklich klar, dass der Bundeskanzler die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG
anstreben kann (BVerfGE 62, 1, 2 – Ls. 6). Er soll
dieses Verfahren jedoch nur anwenden dürfen, wenn
es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit
den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen
weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse, so
das BVerfG, müssen die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers so beeinträchtigen oder lähmen, dass er
eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene
Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist
ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des
Art. 68 Abs. 1 GG, welches der Bundeskanzler bereits
bei der Entscheidung über die Stellung der Vertrauensfrage zu prüfen hat. Insoweit steht dem Bundeskanzler
jedoch ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum
zu (BVerfGE 62, 1, 50).
Damit stellt sich die Frage, ob Bundeskanzler Schröder im Rahmen einer gerichtlich nur begrenzt überprüfbaren Prognoseentscheidung tatsächlich von einer
solchen Sachlage ausgehen durfte. Diese Frage dürfte
Anlass zu sehr unterschiedlichen Bewertungen bieten.
Wir möchten Ihnen an dieser Stelle nur die wesentli-
chen Eckpunkte darlegen, ohne einer abschließenden
Entscheidung vorgreifen zu wollen.
aa. Angekündigt wurde das Vorgehen noch am Wahlabend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am
22.05.2005. Bundeskanzler Schröder wörtlich, dass
„mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei die
politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit
in Frage gestellt sei.“ Diese Argumentation allein dürfte die Annahme einer materiellen Auflösungslage kaum
rechtfertigen, da der Verlust einer Landtagswahl zunächst keinerlei Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse im Bundestag hat. Zudem ist zu berücksichtigen,
dass divergierende politische Kräfteverhältnisse zwischen Landtagen einerseits und dem Bundestag andererseits in förderalistischen Systemen wie dem der Bundesrepublik Deutschland schon von Verfassungs wegen typisch sind. Unabhängig von diesen Überlegungen wird die Frage zu beantworten sein, ob Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass die politische Handlungsfähigkeit der Regierung wegen veränderter Kräfteverhältnisse im Bundestag in absehbarer Zeit in Frage
gestellt war.
Schenke (NJW 2005, 1844, 1846) ist der Ansicht, dass
der Verlust der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
die Aufgabe des Regierens für die Bundesregierung
jedenfalls nicht erschwert habe. Die potenzielle Möglichkeit einer Blockade wichtiger Gesetze im Bundesrat bestand nämlich auch schon vorher, sodass dieser
Umstand keine hinreichende Legitimation für die
Stellung der Vertrauensfrage bilde. Zudem würde eine
mögliche vorgezogene Bundestagswahl auch an den
dortigen Mehrheitsverhältnissen nichts ändern.
b. Die Abstimmung im Bundestag
Die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers ist verneint,
wenn er nicht die in Art. 121 GG definierte absolute
Mehrheit der Stimmen erlangt.
c. Anschließender Antrag des Bundeskanzlers
Falls der Bundeskanzler das Vertrauen der Bundestages nicht erlangt, stehen ihm drei Möglichkeiten offen:
Er kann dem Bundespräsidenten die Auflösung des
Bundestages vorschlagen, er kann seinen Rücktritt erklären oder schließlich beides unterlassen und als Minderheitskanzler weiterregieren. Welche Handlungsalternative der Bundeskanzler tatsächlich wählt, hängt allein von seinem Ermessen ab (Herzog in Maunz/Dürig,
GG, Stand Februar 2005, Art. 68 Rdnr. 42).
d. Die Entscheidung des Bundespräsidenten
Nachdem Bundeskanzler Schröder den Bundespräsidenten ersucht hat, den Bundestag aufzulösen, stellt
sich die Frage nach dessen Entscheidungskompetenz.
Dieser hat nach dem GG die Rolle einer neutralen
Entscheidungsinstanz. Bei der Ausübung dieser Funk-
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tion hat der Bundespräsident nicht nur zu prüfen, ob
das angestrengte Verfahren auf den vorangegangenen
Stufen verfassungskonform erfolgt ist, sondern im Rahmen einer für dieses Amt ungewöhnlichen echten
Ermessensentscheidung zu beurteilen, „ob die Auflösung des Bundestages und damit die Verkürzung der
laufenden Wahlperiode des Art. 39 Abs. 1 GG mit
ihren politischen Folgen sinnvoll ist und von ihm politisch vertreten werden kann“ (BVerfGE 62, 1, 49). Bei
der Ausfüllung dieses Entscheidungsrahmens hat der
Bundespräsident jedoch die Einschätzungs- und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten.
Dies hat das BVerfG in der Leitentscheidung aus dem
Jahr 1983 ausdrücklich betont. Kommt der Bundeskanzler zu der Auffassung, dass seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten bei den gegebenen politischen
Kräfteverhältnissen erschöpft sind, so kann der Bundespräsident nicht seine eigene Beurteilung der politischen Situation an die Stelle der Auffassung des Bundeskanzlers setzen (BVerfGE 62, 1, 50).
ten verletzt werde. Folglich besteht ein Streit über den
Umfang der Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten aus Art. 68 Abs. 1 GG einerseits und aus dem Abgeordnetenstatus gem. Art. 38 Abs. 1 S. 2 i.V.m. Art. 39
Abs. 1 S. 1 GG andererseits. Entsprechende Organstreitverfahren einzelner Abgeordneter dürften damit
zulässig sein.
Durch die Auflösungsentscheidung endet die Amtszeit
des Bundestages nicht unmittelbar, sondern erst mit
dem Zusammentritt eines neuen Bundestages (Art. 39
Abs. 1 S. 2 GG). Gem. Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG muss im
Fall der Auflösung die Neuwahl innerhalb von sechzig
Tagen stattfinden. Die Bestimmung des Wahltermins
selbst erfolgt auf der einfachgesetzlichen Grundlage
des § 16 S. 1 BWG und teilt als Annexentscheidung
zur Bundestagsauflösung deren rechtliches Schicksal.
a. Als Partei i.S.d. Art. 21 GG sind diese Organisationen kein Teil des Bundestages, so dass deren Beteiligtenfähigkeit nicht außer Frage steht. Allerdings sind
Parteien „am Verfassungsleben Beteiligte“ i.S.d. Art. 93
Abs. 1 Nr. 1 GG. Aus diesem Grund sind Parteien
nach h. M. auch im Rahmen eines Organstreits beteiligtenfähig.
III. Verfassungsprozessuale Instrumente etwaiger
Gegner einer vorzeitigen Bundestagsauflösung
Auch wenn über die Parteigrenzen hinweg vorgezogene Neuwahlen begrüßt werden und Vorbereitungen
hierfür bereits in vollem Gange sind, haben einzelne
Abgeordnete und Parteien angekündigt, gegen dieses
Verfahren juristisch vorzugehen.
Als mögliches verfassungsprozessuales Instrument
hierfür kommt ein Organstreitverfahren gem. Art. 93
Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG in Betracht.
1. Organstreitverfahren einzelner Abgeordneter
Im Rahmen des Organstreitverfahrens sind gem. § 63
BVerfGG u.a. Teile des Bundestages beteiligtenfähig,
die entweder im GG oder durch die GeschO des Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Hierzu
gehören auch die Abgeordneten des Bundestages. Auch
deren Antragsbefugnis zu bejahen ist. Gem. § 64 Abs. 1
BVerfGG setzt diese nämlich voraus, dass die Beteiligten geltend machen können, in einem durch das GG
verliehenen Recht verletzt oder unmittelbar gefährdet
zu sein. Nach den derzeitigen Verlautbarungen einzelner Abgeordneter machen diese geltend, vom Wähler
ein parlamentarisches Mandatsrecht bis zum Herbst
2006 erhalten zu haben, welches durch eine vorzeitige
Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsiden-
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2. Organstreitverfahren einzelner Parteien
Daneben haben auch kleinere Parteien angekündigt,
sich gegen eine vorzeitige Neuwahl des Bundestages
zur Wehr setzen zu wollen. Diese berufen sich darauf,
dass ihnen bei einer vorgezogenen Neuwahl nicht die
gleichen Erfolgschancen eingeräumt werden wie den
etablierten Parteien. In der verkürzten Frist bis zu den
geplanten Neuwahlen im September könnten sie den
notwendigen Wahlkampf nicht organisieren. Im Hinblick auf ein Organstreitverfahren ist ein Vorgehen
kleinerer Parteien jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch:
b. Darüber hinaus stellt sich die Frage der notwendigen Antragsbefugnis. Diese setzt voraus, dass der Antragsteller geltend machen kann, in einem durch das
GG verliehenen Recht verletzt zu sein. Eine mögliche
Rechtsverletzung einfachgesetzlicher Vorschriften reicht
hierzu nach einhelliger Ansicht nicht aus. Soweit sich
kleinere Parteien gegen eine Auflösungsentscheidung
des Bundestages wenden, scheidet eine Antragsbefugnis jedenfalls bei solchen Parteien aus, die
nicht im Bundestag vertreten sind. Dies sind nämlich
von einer Auflösung zunächst nicht betroffen.
Fraglich ist damit, ob die Bestimmung des (vorgezogenen) Wahltermins eine Antragsbefugnis begründen
kann. Dagegen spricht zunächst, dass diese Entscheidung ihre Grundlage in der einfachgesetzlichen Regelung des § 16 S. 1 BWG findet (s.o.). Auf der anderen
Seite begründet auch die Bestimmung des Wahltages
als Annexentscheidung zur Bundestagsauflösung ein
verfassungsrechtliches Verhältnis. Mit diesen Überlegungen dürfte somit auch die Entscheidung hinsichtlich des Wahltermins Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein können (so auch Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 Rdnr. 8). Ggf.
käme darüber hinaus jedoch auch eine Verfassungsbeschwerde der Parteien in Betracht.
Ergänzung zu AS-Skript Verfassungsrecht (2004), S. 129 ff.
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