Sonntag 1.1.2017, 17 Uhr Tafelhalle Neujahrskonzert Werke von Johann Sebastian Bach, Conlon Nancarrow Mauricio Kagel und Mats Gustafsson Leitung Jonathan Stockhammer Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Tafelhalle. Das ensemble KONTRASTE wird gefördert durch die Stadt Nürnberg, den Bezirk Mittelfranken und den Freistaat Bayern. Conlon Nancarrow (1912-1997) Piece Nr. 1 for Small Orchestra (1943) Johann Sebastian Bach (1685–1750) Suite Nr. 3 D-Dur BWV 1068 Ouvertüre Air Gavotte I und II Bourree Gigue Mauricio Kagel (1931–2008) aus Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen Conlon Nancarrow Piece Nr. 2 for Small Orchestra (1986) Mats Gustafsson (*1964) Symphonie Nr. 1 Minnet (2014) Mats Gustafsson Saxophon Dieb13 (Dieter Kovačič) Turntables Leitung Jonathan Stockhammer Nancarrow – Bach – Kagel – Gustafsson Fast schon eine Tradition: Das ensemble Kontraste startet mit einem außergewöhnlichen Programm ins neue Jahr – eine Herausforderung für Musiker und Publikum. Denn: Wer am 1. Januar um 17 Uhr fähig ist, in der Tafelhalle aufzutauchen, der ist wach und neugierig – oder will den Silvesterkater mit musikalischen Reizen bekämpfen: In jedem Fall wird man auf seine Kosten kommen, denn wie schon im Vorjahr agiert der gefragte, innovativ-tem­ peramentvolle Jonathan Stockhammer am Dirigentenpult mit einem Pro­ gramm, das es in sich hat. Kennen Sie den Amerikaner Conlon Nancarrow, der überwiegend für me­ chanische Klaviere, sozusagen für Automaten, komponierte? Auf vertrau­ ten Pfaden glaubt man sich beim „alten“ Johann Sebastian Bach, doch der ist bekanntlich nie veraltet oder gar harmlos – und er bekommt diesmal einen außergewöhnlichen „Kontrapunkt“. Mauricio Kagel ist zwar irgendwie als Name gegenwärtig, doch wie viele kennen Werke von ihm? Schließlich Mats Gustafsson – Jazz-Fans werden von dem renommierten Saxophonisten gehört haben. Er agiert aber heute nicht nur als Solist, sondern auch als Komponist seiner ersten Symphonie. Dort ist der zweite Solist ein Turntable-Künstler. Was das ist? Sie werden es am Schluss wissen! Übrigens: Johann Sebastian Bach hatte das Glück, in einer vergleichswei­ se friedlichen Zeit zu leben, vielleicht hat er deshalb auch keinen Militärmarsch komponiert. Ganz anders Mauricio Kagel im 20. Jahrhun­ dert ... Conlon Nancarrow – Meister des mechanischen Klaviers „American Mavericks“, amerikanische Einzelgänger, werden die USamerikanischen Avantgarde-Komponisten des 20. Jahrhunderts gerne ge­ nannt, Komponisten wie John Cage, Charles Ives, Morton Feldmann und Conlon Nancarrow. „Dies was ich tue, geschieht in meiner eigenen kleinen Nische. Es ist eine be­ grenzte Ecke, aber ich denke, ich habe sie gut erforscht." Conlon Nancarrow Diese Nische war das Komponieren für Player Pianos, dem Conlon Nancarrow nahezu sein ganzes Musiker-Leben widmete. Player Pianos, um 1900 auch unter dem Markennamen Pianola bekannt geworden, sind Klaviere mit einer Selbstspielapparatur. Geboren wurde Nancarrow 1912 in Arkansas, er bekam früh Klavierunter­ richt und, prägend für dein späteres Leben: Im Haus seiner Eltern stand eines der damals beliebten Player Pianos. Während seines Musikstudiums lernte er Trompete und spielte Jazz, danach studierte er in Boston Dirigie­ ren und Komposition. In seinem kompositorischen Schaffen gelangte Nancarrow zu höchst diffi­ zilen, radikalen Tempo-, Rhythmus- und Klangvorstellungen, wie Überla­ gerung unterschiedlichster Taktarten, Gleichzeitigkeit verschiedener Me­ tren und Tempi. Das Problem dabei: Kein Pianist hätte diese Kompositio­ nen spielen können – und elektronische Realisierungen gab es noch nicht! Also machte er sich von den Interpreten unabhängig und wählte zur Reali ­ sierung seiner komplexen Musik ein archaisches Medium, das Player Piano: „Seit ich Musik schreibe, träume ich davon, die Interpreten loszuwerden.“ Bekannt wurden seine 51 Studien für die Selbstspielapparatur des Kla­ viers. Nancarrow stanzte seine Kompositionen hierfür direkt in Notenrol­ len, mit selbst gebauten Werkzeugen und Stanzmaschinen. Ein sehr zeit­ aufwendiges Verfahren: Für fünf Minuten Musik brauchte er mitunter Mo­ nate. „Das Player-Piano ist ein rückständiges, aus der Mode gekommenes Ding. Ich habe mich einfach daran festgehalten. Nein wirklich, die Zukunft gehört der Elektronik.“ Nancarrow blieb lange Zeit weitgehend unbekannt, selbst in der Szene der Neuen Musik. Das änderte sich erst in den achtziger Jahren. György Ligeti, von Nancarrows Kompositionen überzeugt, wurde sein großer Fürspre­ cher und förderte, neben anderen Bewunderern, die Verbreitung von Nan­ carrows Werk. Pieces Nr. 1 & 2 for Small Orchestra Die in den dreißiger und vierziger Jahren für „normale“ Interpreten geschriebenen Werke, zu ihnen gehört auch das Piece Nr. 1 for Small Orchestra von 1943, wurden von Nancarrow später als „prähistorische Stücke“ abgetan. Diese frühen Stücke, und vor allem das überschäumende Piece Nr. 1 widerspiegeln den Background des Jazztrompeters, sie zeigen aber auch schon die komplizierten polyrhythmischen und polyphonen Strukturen, die er dann in seinen Studies for Player Piano perfektionierte. Als Nancarrow in den achtziger Jahren bekannt wurde, wünschte man von ihm neue Stücke. Er ließ sich jedoch nur zu wenigen Instrumental-Werken überreden. Dazu gehört das Piece Nr. 2 for Small Orchestra, das 1986 vom Continuum Ensemble im New Yorker Lincoln Center uraufgeführt wurde. Im CD-Booklet des Ensembles Continuum heißt es: „Es war die erste groß angelegte Komposition seit den Studien für PlayerPiano, die die Essenz der Studies aufgreift und die Tür aufstößt zu neuen Möglichkeiten der Aufführung von Musik. Nancarrow vereint hier im Rahmen tempobestimmter Kanons eine unglaubliche Fülle an Stimmungen und Gesten und führt damit Techniken weiter, die er in seinen Studien entwickelt hatte.“ Bachs Orchestersuite Nr. 3 D-Dur Mendelssohn, der entscheidend zur Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs beitrug, reiste 1830 nach Weimar, um seinen verehrten Mentor Goethe zu besuchen. Er berichtet in einem Brief: „Oft habe ich des Vormittags dem Goethe vorspielen müssen; er wollte einen Begriff davon haben, wie die Musik sich fortgebildet habe, und verlangte des­ halb von den verschiedenen Componisten, wie sie einander folgten, etwas zu hören ... Uber die Ouvertüre von Seb. Bach aus D-Dur mit den Trompeten, die ich ihm auf dem Clavier spielte, so gut ich konnte und wußte, hatte er eine große Freude; ›im Anfange gehe es so pompös und vornehm zu, man sehe or­ dentlich die Reihe geputzter Leute, die von einer großen Treppe herunterstie­ gen.‹“ Hundert Jahre nach Bach waren offensichtlich die Vorstellungen vom Ba­ rock bereits historisch geprägt, und auch heute ersteht vor uns beim Er­ klingen von Bachs Orchestersuite Nr. 3 das Zeitalter des Barocks mit Trom­ petenglanz, Hofbällen, Wasserspielen und Feuerwerk! Bach und der „vermischte Geschmack“ Bach komponierte seine dritte Orchestersuite vermutlich im Jahr 1718, zu­ nächst für kleine Besetzung mit Streichern und Continuo, für die „Cam­ mermusici“ der Hofkapelle von Köthen. Sein damaliger Dienstherr, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, hatte eine Leidenschaft für französische und für italienische Musik – der „vermischte Geschmack“ war in Deutschland weit verbreitet – , und auch Hofkapellmeister Bach folgte diesem Ideal. Er schrieb nach französischem Muster eine Reihe von stilisierten Tanzsät­ zen – eine energische Gavotte im lebhaften alla-breve-Rhythmus, eine Bourrée von ähnlichem Charakter, und eine festlich-kraftvolle Gigue. Den Tänzen voran geht die Ouvertüre, wie sie Jean-Baptiste Lully, der einfluss­ reiche Komponist am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV, kreiert hatte: Ein pompöser Rahmenteil im markant-punktierten Rhythmus – er mar­ kierte gewissermaßen den Eintritt des Königs in seine Loge – umschließt einen raschen fugierten Mittelteil. In der berühmten Air liegt der beson­ dere Reiz in der Spannung zwischen der ruhig voranschreitenden Basslinie und den ausdrucksstarken Oberstimmen – hier orientiert sich Bach an den Triosonaten des Italieners Corelli. Fürst Leopold wird die „Vermischung“ goutiert haben. Bekanntlich blieb Bach nicht in Köthen, er wechselte vielmehr 1723 als Kantor nach Leipzig, ins Kirchenmusikleben. Vielleicht als weltlichen Ge­ genpol übernahm er 1729 die Leitung des studentischen Ensembles Colle­ gium Musicum. Zu den wöchentlichen öffentlichen Konzerten im „Zim­ mermannischen Caffe-Hauß“ kam ein aufstrebendes bürgerliches Publi­ kum. Für diese Konzerte wurden jede Menge Kompositionen gebraucht, neue, alte, bearbeitete. In dieser Zeit jedenfalls verlieh Bach seiner Suite von 1718 neuen Glanz durch die Hinzunahme von Trompeten, Oboen und Pauken. Mauricio Kagel – ein „multimedialer“ Komponist Der argentinisch-deutsche Komponist war eine der interessantesten und wichtigsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik – wobei der Be­ griff „Musik“ sehr weit zu fassen ist. Denn Kagel beschränkte sich keines­ wegs auf das Komponieren im herkömmlichen Sinne, er schuf vielmehr ein Oeuvre, das in verzweigter und multiperspektivischer Weise die Pole Mu­ sik – Theater – Film – Hörspiel – Literatur verbindet, verschiedengestaltig mischt, in ihren sozialen und historischen Bezügen hinterfragt. Sein Mu­ sikbegriff ist universal, überkommene Dichotomien wie weltlich-geistlich, auditiv-visuell, vokal-instrumental sind assoziativ aufgehoben, parodiert, reflektiert oder phantasievoll neu montiert. Ein Kernbegriff seines Werks heißt „Instrumentales Theater“, Musizieren unter Einbeziehung aller denkbaren und undenkbaren Begleiterscheinun­ gen desselben. Eine Idee davon mag seine Komposition Match für zwei Celli und Schlagzeuger geben: Musik wird zum sportlichen Wettkampf, die Cellisten sitzen sich gegenüber und „bekämpfen“ sich musikalisch und gestisch, der Schlagzeuger fungiert als Schiedsrichter, der in kritischen Si­ tuationen eingreift. Das Beispiel zeigt zwei für Kagel wichtige Elemente: Eine subversive Hal­ tung gegen bierernste Avantgarde, und eine fantasievolle Vergnüglichkeit. „Er brachte den Humor in die Ernste Musik“, schrieb „Die Zeit“ anlässlich seines Todes und bezeichnete sein umfangreiches Schaffen als „schillernd und vielseitig“. Die britische Zeitung „The Guardian“ nannte ihn gar den „großen absurden Spaßmacher des Musiktheaters“. Und eine große Mu­ sikenzyklopädie stellt angesichts der Vielseitigkeit und Komplexität des Kagel´schen Werks leicht resignierend fest, dass eine stilgeschichtliche Einordnung gegenwärtig nicht möglich erscheint. Dies hat auch damit zu tun, dass Mauricio Kagel von Jugend an aus unter­ schiedlichsten kulturellen Traditionen schöpfen konnte. Er wurde als Sohn russisch-jüdischer Emigranten in Buenos Aires geboren, der südamerika­ nische Kulturkreis blieb stets ein wesentliches Element seiner künstleri­ schen Existenz. Musik und Literatur bestimmten seine Jugend, nach dem Abitur nahm er ein geisteswissenschaftliches Studium auf. Der berühmte Jorge Luis Borges war sein wichtigster Lehrer, dessen enzyklopädisches Denken beeinflusste sicherlich Kagels spätere Vielseitigkeit. Kagel wurde Korrepetitor am Teatro Colón und Dirigent an der dortigen Kammeroper, arbeitete aber auch in den Studios einer Filmgesellschaft und als Filmkritiker. 1957 ging er mit seiner Frau nach Deutschland, aus Interesse an der deutschen Musik, wie er einmal sagte. Hier war er bald ein wichtiger Vertreter der Avantgarde, vielfach ausgezeichnet, aber auch umstritten: Sein Stück Staatstheater musste aufgrund von Drohbriefen un­ ter Polizeischutz aufgeführt werden, und ein Kritiker sah mit Kagel gar den „Endpunkt europäischer Musikkultur“ erreicht! Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen Die Idee, durch eine parodistische oder dysfunktionale Kompositionswei­ se eine Sache zu karikieren und zu kritisieren, reicht weit in die Musikge­ schichte. Schon Joseph Haydn verstand es, das starre barocke Menuett so zu komponieren, dass Jean Paul ihm „etwas der Keckheit des vernichten­ den Humors Ähnliches“ bescheinigte. Im 19. und vor allem im kriegeri­ schen 20. Jahrhundert war es, aus Aversion gegen das Martialische, der Marsch, der die Komponisten zu komischer Verzerrung herausforderte – Satie und Hindemith etwa lieferten humorvoll-entlarvende Beispiele, ge­ mäß der Devise des Komponisten Helmut Lachenmann: „Musik soll nicht hörig machen, sondern hellhörig.“ Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen komponierte Mauricio Kagel 1979 für Blasorchester, als Zwischenspiele des Hörspiels „Der Tribun“: Ein Dik­ tator probt seine Größenwahn-Reden auf dem Balkon seiner Residenz und stimuliert sich dabei mit Beifall vom Tonband – und mit Marschmusik. Die ist allerdings von Kagel´scher Art. „Die Zeit“ schrieb: „Die Märsche führen musikalisch vor, wie leicht geradtaktige Gewissheiten aus dem Tritt gera­ ten können. Durch falsche Betonungen und Rückungen stellt sich die Mu­ sik immer wieder selbst ein Bein, oder das ganze Blasorchester fällt in ei­ nem Anfall bleierner Müdigkeit auseinander, oder den Trompeten kommt der Schneid abhanden, oder das tiefe Blech stapft allein mit seiner plum­ pen Melodie ins Leere.“ Im heutigen Konzert erklingen einige der Märsche in ungewöhnlicher Um­ gebung, doch man wird sie schnell erkennen ... Mats Gustafsson – Saxophonist, Allroundkünstler, Komponist „Mats Gustafsson (* 29. Oktober 1964 in Umeå) ist ein schwedischer Sa­ xophonist, der alle Arten von Saxophonen spielt und als der herausragen­ de Vertreter des schwedischen Free Jazz gilt.“ Mit dieser Feststellung be­ ginnt der Eintrag über Gustafsson in einem bekannten Internetlexikon. Man erfährt, dass der Künstler in einer ganz erstaunlichen Zahl unter­ schiedlicher Ensembles gespielt hat, viele von ihm selbst gegründet, dass er extrem experimentierfreudig ist, weltweit sehr erfolgreich, durchaus über die Grenzen reinen Musizierens hinausgehend, denn: „Gustafsson arbeitet zusammen mit Künstlern aus dem Bereich des Theaters und Tanztheaters, sowie Schriftstellern und Malern. Seit 1988 hat er mehr als 80 Tonträger veröffentlicht. 2011 wurde der Saxophonist mit dem Musik­ preis des Nordischen Rates ausgezeichnet.“ Übrigens: Wie farbig und vielfältig die Musikwelt Mats Gustafssons ist, das erfährt man bei einem Besuch seiner Website, akustisch, optisch und textlich. Da erfährt man auch, dass Gustafsson ein Fan der guten alten Vi­ nyl-Schallplatte ist, er nennt sich selbst „Discaholic“ und scherzt: „A piece of vinyl per day keeps the doctor away“. Free Jazz „Free Jazz“ wurde seit den 1960er-Jahren Sammelbegriff für viele Musikrichtungen, die aber eines gemeinsam haben: die Befreiung von tradierten Begrenzungen harmonischer, rhythmischer oder spieltechnischer Art. Doch „Free Jazz“ oder „Free Form“ wurde auch ein Paradigma, das soziale und politische Implikationen einschließt: Freiheit um jeden Preis, Offenheit, Abbau von Hierarchien, Experimentierfreude und Improvisation, Interaktion mit Anderen – auch hier drängen sich Ideen aus der „Klassik-Welt“ auf, man denke etwa an John Cage. Die Musikwelt widersetzt sich eben der Einteilung in säuberlich getrennte Areale, und so ist es nicht verwunderlich, dass ein Jazz-Saxophonist eine Symphonie komponiert, die im heutigen Konzert zur Aufführung kommt. Dieb13 und der Turntablism Turntable, das ist zunächst einfach das englische Wort für den Plattentel­ ler eines Schallplattenspielers, doch, wie wir hören werden, hat es damit mehr auf sich. Schon John Cage hatte ja mit dem „Plattenspie­ ler als Instrument“ experimentiert, und im Umfeld des Hip-Hop entwickelten sich diverse Techniken der Ma­ nipulation von einer oder mehreren Schallplatten – ausgeführt durch einen DJ –, zur Erzeugung neuer Klangbilder. Doch auch in die experimen­ telle Musik hat diese zunächst irritierende Technik Einzug gehalten, man spricht geradezu von „Turntablism“. Der 1973 in Graz geborene Dieter Kovačič, Künstlername Dieb13, ist ein herausragender Vertreter des Genres, er experimentiert mit Abspielgeräten für Audiokassetten, Schallplatten, CDs und Harddiscs sowie deren Tonträgern. Mit dem experimentierfreudigen Mats Gustafsson verbindet den Turnta­ ble-Virtuosen eine lange Zusammenarbeit, in der heutigen Symphonie Gustafssons ist er neben dem Saxophon-spielenden Komponisten an seinen Turntables der zweite Solist. Minnet – eine Symphonie der Erinnerung Wissen Sie, was ein Joik ist? Wir bemühen wieder das Lexikon: „Der Joik ist ein mit dem Jodler verwandter, eintönig-gutturaler Gesang der Samen, bei dem die Musik wichtiger ist als die Worte. Die Samen (Ureinwohner Lapplands) besingen damit Menschen, Tiere und Naturphänomene.“ Der Joik war sowohl profaner Gesang der Samen als auch rituelle trommelbe­ gleitete Musik ihrer Schamanen. Und natürlich ist er heutzutage in höchstem Maße vom Aussterben be­ droht – womit wir bei Gustafssons Symphonie Minnet (Erinnerung) sind: „Der wesentliche Fokus liegt auf der Kultur der Samen und der Tradition des Joik. Der Joik ist eine Art, sich zu erinnern – an eine Person, einen Platz, ein Ereignis, ein bestimmtes Wetter, eine bestimmte Zeit ... Minnet will diese kollektive Erinnerung ins Zentrum stellen, in einer hörbaren poetischen Form und Struktur. Minnet ist eine Art modernen (und histori­ schen) Recyclingssystems. Eine Wiederverwendung – ein Gedenken – eine Erinnerung.“ Der Komponist benützt eine große Zahl überlieferter Joiks, sie dienen dem Solisten am Altsaxophon als eine Art Leitmotiv oder roter Faden. Doch werden sie auch als Orchester-Cluster eingesetzt, wenn es um die Ge­ meinschaft geht – und die spielte, wie in allen archaischen Kulturen, auch bei den Samen eine zentrale Rolle. Das Werk liegt in einer graphischen Notation vor, die nach Ansicht des Komponisten in diesem Fall geeigneter ist – was aber bedeutet, dass es innerhalb vorgegebener Grenzen ein weites Feld für individuelle Interpre­ tation gibt. Dabei kommt dem Dirigenten eine zentrale Rolle zu, denn er bestimmt sozusagen den Ablauf und die Details des Musikwerks. Die Perkussion ist wichtig, denn sie assoziiert das rituelle Schlagwerk des Schamanen; gleich wichtig aber auch die Glissandi, ein Element des tra­ dierten Joik-Gesangs. Und am Turntable wird beispielsweise, unter Ver­ wendung einer 1996 bei minus 35°C produzierten Aufnahme, das Gehen in sehr kaltem und trockenem Schnee imaginiert. Die Uraufführung der Symphonie erfolgte 2014 in Umeå, der Heimatstadt Gustafssons im Norden Schwedens. Das Konzert wurde vom schwedi­ schen Rundfunk direkt übertragen. Der Dirigent damals wie heute: Jona­ than Stockhammer. Auch die Akteure an Saxophon und Turntable sind dieselben wie damals. M. und R. Felscher Jonathan Stockhammer stieg innerhalb weniger Jahre zu einem weltweit gefragten Dirigenten auf. In seiner Heimatstadt Los Angeles studierte er zunächst Chinesisch und Politologie, später Komposition und Dirigieren. Noch während des Studiums sprang er für eine Reihe von Konzerten beim Los Angeles Philharmonic ein. In der Folge wurde er eingeladen, dem Chefdirigenten Esa-Pekka Salonen zu assistieren. Mit Abschluss seiner Studien zog er nach Deutschland um und entwickelte enge künstlerische Beziehungen zu bekannten europäischen Ensembles wie Ensemble Modern, MusikFabrik und Ensemble Resonanz. Inzwischen hat er sich sowohl in der Welt der Oper, als auch der klassischen Symphonik und der zeitgenössischen Musik einen Namen gemacht. Als ein hervorragender Kommunikator bringt er sowohl ein besonderes Talent für die Moderation von Konzerten mit als auch dafür, mit den verschiedensten Mitwirkenden auf Augenhöhe zu arbeiten – ob mit jugendlichen Musikern, jungen Rappern oder Stars wie Bully Herbig und den Pet Shop Boys. Die Oper spielt eine zentrale Rolle in Jonathan Stockhammers musikali­ schen Aktivitäten. Die Liste seiner Operndirigate, darunter Die Dreigro­ schenoper, Zemlinskys Eine florentinische Tragödie, Sciarrinos Luci mie tradi­ trici und Monkey. Journey to the West von Damon Albarn weist ihn als Diri­ genten aus, der komplexe Partituren und spartenübergreifende Produktio­ nen als willkommene Herausforderung begreift und meistert. Regelmäßig zu Gast war er seit 1998 an der Opera de Lyon, wo er unter anderem die französische Erstaufführung von Dusapins Faustus, The Last Night leitete. 2009 führte er mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart zwei Werke Wolfgang Rihms auf, Proserpina (Uraufführung) und Deus Passus. Im Pari­ ser Theâtre du Châtelet begeisterte er 2010 in Sondheims A Little Night Music mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France. Im Februar 2013 gab er sein Debüt an der New York City Opera in Thomas Adès´ Powder her Face. Die von Publikum und Kritik gefeierte Produktion wurde sofort für weitere Aufführungen beim Festival d’opera de Quebec im August 2013 eingeladen. Im symphonischen Bereich hat Jonathan Stockhammer bereits zahlreiche renommierte Klangkörper geleitet. Dazu zählen das Oslo Philharmonic Orchestra, NDR Sinfonieorchester Hamburg, Sydney Symphony Orchestra und die Tschechische Philharmonie. Er war auf Festivals wie den Salzbur­ ger Festspielen, dem Lucerne Festival, den Donaueschinger Musiktagen, der Biennale in Venedig und Wien Modern zu Gast. Für Produktionen, die sich den gängigen Kategorisierungen entziehen, hat Jonathan Stockhammer eine besondere Vorliebe. Dazu gehören Greggery Peccary & Other Persuasions, eine CD mit Werken von Frank Zappa mit dem Ensemble Modern (RCA, 2003), die mit einem ECHO Klassik ausgezeich­ net wurde, sowie Konzerte und eine Einspielung des neuen Soundtracks zu Sergei Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin von und mit den Pet Shop Boys. Die von ihm dirigierte Liveaufnahme The New Crystal Silence mit Chick Corea, Gary Burton und dem Sydney Symphony Orchestra er­ hielt 2009 einen Grammy. Sehr erfolgreich war auch seine Zusammenar­ beit mit dem Rapper Saul Williams für Said the Shotgun to the Head, eine Komposition von Thomas Kessler, die Jonathan Stockhammer mit dem WDR Sinfonieorchester Köln, dem RSO Stuttgart und Oslo Philharmonic zur Aufführung brachte. In der Saison 2015/2016 war er erstmalig für eine Neuproduktion von Pe­ ter Eötvös´ Tri Sestri (Drei Schwestern) an der Wiener Staatsoper zu Gast und hat bei den Schwetzinger Festspielen Georg Friedrich Haas´ neue Oper Koma aus der Taufe gehoben. Seit der Jubiläumssaison des Collegium Novum Zürich 2013/14 ist Jonathan Stockhammer Conductor in Residence des renommierten Schweizer Ensembles. Musikkontraste in Nürnberg – ensemble KONTRASTE für Nürnberg Die Musikszene der Metropolregion ist so vielschichtig wie ihre Bevölkerung, sie lebt von der Vielfalt des Angebots. In dieser lebendigen Musikszene hat sich seit einem Vierteljahrhundert das ensemble KONTRASTE (eK) als „dritte Kraft“ neben der Staatsphilharmonie und den Nürnberger Symphonikern etabliert – als wichtiger Impulsgeber mit eigenem Profil: unkonventionell, spartenübergreifend, mit kontrastreichen Programmen. Jonathan Stockhammer & ensemble KONTRASTE © Uwe Dlouhy 2016 KONTRASTE – Klassik in der Tafelhalle Die Magie des Orts, der „genius loci“, die spezielle Atmosphäre ist wichtig für jeden Künstler – unser Ort ist die Tafelhalle: Zeugnis des Untergangs der einstmals großen Nürnberger Schwerindustrie, von der Stadt wieder­ belebt als Spielort der freien Kulturszene Nürnbergs, heute im Kulturle­ ben der Stadt fest verankert. Und doch: Die Aura industrieller Geschichte, der Charme des Improvisierten blieb. Kein klassischer Musentempel, aber auch kein alternativer Schuppen. Die Assoziation „jung und frisch“ stellt sich ein, die Nähe (wörtlich, in Metern) zwischen Künstlern und Publikum ist ein unschätzbares Plus. Nur Äußerlichkeiten? Keineswegs. Kultur ist nicht nur das „Was“, sondern auch das „Wo“, das Ambiente, die schwer greifbare Stimmung unter „Gleichgesonnenen“ zu weilen: Das Publikum ist bunt gemischt, keiner Schicht und Altersgruppe zuordenbar, nur durch eines geeint: Offenheit für Unerwartetes und Neues, für alles, was nicht nur „Entertainment“ ist, was den geheimnisvollen „Mehrwert“ hat, der Kultur unverzichtbar macht. Mit konzeptionellen Konzerten, Puppenspiel, Stummfilm, Dichtercafe, durch die Zusammenarbeit mit kreativen Kultur-Schaffenden nimmt die eK-Reihe KONTRASTE – Klassik in der Tafelhalle eine herausragende Po­ sition im Angebot dieses Spielorts ein. Künstlerisches Niveau ist zwin­ gend, aber etwas ist absolut verboten: gepflegte Kultur-Langeweile!