Das Individuum bleibt auf der Strecke

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Evidenzbasierte Medizin
Feraydoon Niroomand
Das Individuum bleibt
auf der Strecke
Bei aller Euphorie über die evidenzbasierte Medizin
sollten deren inhärente Beschränkungen und
Fallstricke möglichst allen Ärzten geläufig sein.
G
Foto: Peter Wirtz
roße, prospektive, randomisierte dizin. Bei aller Euphorie über die nen. Mit einem ähnlichen Problem der
und kontrollierte Studien bilden Errungenschaft einer weitgehend ob- Unvereinbarkeit in der Kenntnisgewindas Rückgrat der modernen Evi- jektiven Methode sollten deren in- nung sind klinische Studien behaftet. Es
denzbasierten Medizin (EbM). Sie er- härente Beschränkungen und Fall- ist prinzipiell nicht möglich, gleichzeitig
lauben eine objektive Beurteilung und stricke nach Möglichkeit allen geläufig Ergebnisse zur Wirkung eines Meeine Quantifizierung des Nutzens von sein, die an der Umsetzung ihrer Ergeb- dikaments bei der Behandlung eines
diagnostischen und therapeutischen nisse mitwirken. Die Beschränkungen Krankheitsbildes und zur Behandlung
Maßnahmen bei bestimmten Krank- der EbM sind vielschichtig. Sie beste- individueller Patienten zu erzielen.
heitsbildern. Der große Fortschritt, den hen in erkenntnistheoretischen, formal Das Problem liegt in der Definition
die Medizin mit dieser Meder Einschlusskriterien. Sind
thode gemacht hat, steht
diese offen und weit gefasst,
außer Frage, und es ist gewie beispielsweise in der
genwärtig eher ein Problem,
ALLHAT-Studie (nomen est
dass Erkenntnisse aus den
omen: ein Hut für alle) zur
Studiendaten nur ungenüarteriellen Hypertonie (3),
genden Eingang in die mediso kann man zwar ermitteln,
zinische Versorgung finden.
welches Präparat statistisch
Dieser Artikel richtet sich
am besten abschneidet, hat
deswegen keinesfalls gegen
aber für den einzelnen PatiEbM.Wie jede wissenschaftenten kaum mehr als eine
liche Methode hat aber auch
seichte Hilfestellung. Andie EbM ihre inhärenten
schaulicher gesagt: Ein RadBeschränkungen. Man kann
fahrer kann die Tour de
mit einem noch so guten TeFrance gewinnen, ohne bei
leskop nichts hören, und Es besteht die Gefahr, dass man vor lauter „Evidenz“ die Wünsche des einer einzigen Etappe (eiman kann mit einem Maß- Patienten nicht nur übersieht, sondern gar nicht erst aufkommen lässt. nem einzigen Patienten) Erband nichts wiegen. Die
ster (das beste Präparat) geKenntnis der methodischen Beschrän- logischen, ethischen, statistischen und wesen zu sein. In den großen Studien
kungen ist jedoch gerade für die Umset- technischen Unzulänglichkeiten. Diese versucht man, diesem Problem mit Subzung von entscheidender Bedeutung. sollen an Beispielen aus der kardiovas- gruppen-Analysen zu begegnen, was in
Außerdem fördert sie die Suche nach kulären Medizin erläutert werden.
wenigen, besonders ausführlich unterweiteren wissenschaftlichen Ansätzen
suchten Fällen eine Annäherung an das
zur Verbesserung.
Grundproblem bringen kann. In der
Das Bedürfnis der Ärzte und ihrer Erkenntnistheorie
Regel reicht aber die statistische AussaPatienten nach gesicherter optimaler
gefähigkeit („power“) nicht aus, um
Diagnostik und Therapie fordert ein Im Jahr 1927 zeigte der Physiker Wer- selbst große Unterschiede bei den Subnormiertes Handeln. Infolge der Kom- ner Heisenberg in der nach ihm be- gruppen zu diskriminieren. Da sich
plexität der Materie besteht die Gefahr nannten Unschärferelation, dass zwei dann die Ergebnisse für die Subgrupeiner übertriebenen Vereinfachung und kanonische Messgrößen, deren Produkt pen nicht signifikant vom GesamterDogmatisierung. Was bis vor kurzem die Wirkung ist, zum Beispiel der Ort gebnis unterscheiden (können), wird
die bereitwillige Annahme von Lehr- und der Impuls eines Elementarteil- impliziert, dass dieses auch für sie zumeinungen war, ist heute der Glaube an chens, nicht gleichzeitig mit beliebiger trifft. Durchaus legitim ist die Annahdie Allmacht der Evidenzbasierten Me- Messgenauigkeit erfasst werden kön- me, dass der Nutzen innerhalb einer Po-
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pulation nach vernünftigem Ermessen
auch auf einzelne Patienten übertragen
werden kann. Das vernünftige Ermessen leitet sich aus persönlicher und
kommunizierter Erfahrung sowie dem
physiologisch/pathophysiologischen Verständnis ab, von dem man manchmal
den Eindruck gewinnt, es sei der Todfeind der EbM-Apologeten.
Das andere Extrem bilden Studien
mit engen Einschlusskriterien. Ein Beispiel hierfür ist die erste MADIT-Studie zur Verhütung des plötzlichen Herztodes mit implantierbarem Defibrillator (9). Eingeschlossen wurden ausschließlich Patienten nach Herzinfarkt,
mit einer deutlich verminderten Pumpfunktion des Herzens (linksventrikuläre Auswurffraktion unter 35 Prozent), einer komplexen ventrikulären
Extrasystolie im Langzeit-EKG, Auslösbarkeit einer anhaltenden Kammertachykardie unter programmierter
elektrischer Stimulation des Herzens
und fehlendem Ansprechen der auszulösenden Tachykardie auf Medikamente. Hier sind die Patienten, die
von der Behandlung profitieren, zwar
relativ gut definiert, sie machen jedoch
nur einen sehr kleinen Prozentsatz,
etwa ein Prozent, der Postinfarktpatienten aus. Um die Analogie aus der Tour
de France nochmals zu bemühen: Ein
Fahrer kann zwar eine Etappe gewinnen, im Gesamtklassement (der weiter
gefassten Patientenpopulation) aber
auf den letzten Platz landen. Diese
Beschränkung ist kein Problem des
guten oder schlechten Studiendesigns,
sondern eine unausweichliche Folge der
Methode.
Im Allgemeinen ist der Patient in
Herz-Kreislauf-Studien männlich, Kaukasier und zwischen 55 und 75 Jahren alt.
Dagegen existieren überhaupt keine,
wenige oder lediglich ignorierte Daten
zu Frauen (circa 50 Prozent der Erdbevölkerung), Nicht-Kaukasiern (circa 90
Prozent der Weltbevölkerung), Alten
(circa ein Drittel der Patienten in einer
internistischen Klinik in Deutschland)
und jungen Patienten (< 55 Jahre), die
in der kardiovaskulären Medizin zwar
relativ selten anzutreffen sind, die aber
am längsten von der Behandlung profitieren könnten.
Die Einhaltung der EbM erfordert
bei der Behandlung eines Patienten mit
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koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz eine Therapie mit Acetylsalizylsäure, einem Betablocker, einem
ACE-Hemmer, einem Aldosteronantagonisten und einem Statin. Bereits dieses
„Minimalprogramm“ lässt sich nicht in
allen möglichen Kombinationen durchuntersuchen. Die vermeintliche Evidenz, dass diese Medikamente auch in
Kombination ihren günstigen Effekt
haben, basiert auf ihrer (teilweise) unterschiedlichen biologischen Wirkung
und der zufälligen Abfolge der Studien.
So wurden Betablocker in Herzinsuffizienzstudien an Patienten untersucht, die bereits mit einem ACE-Hemmer behandelt waren; die Betablocker
konnten dabei eine weitere Abnahme
der Sterblichkeit dieser Patienten bewirken. Es ist damit aber nicht gesagt,
dass Patienten, die einen Betablocker
erhalten, auch von einem ACE-Hemmer profitieren. Für die genannte Medikamentenkombination, geschweige
denn irgendeine Dosierung, gibt es keine Evidenz. Es ist eine stark vereinfachende und in Anbetracht der wenigen
Untersuchungen zu diesem Thema
zweifelhafte Annahme, dass die günstigen Wirkungen der einzelnen Therapien beliebig additiv sind.
Ethik
Andererseits ist es ethisch kaum zu vertreten, dass einem Patienten eine „erwiesenermaßen“ lebensverlängernde
Therapie vorenthalten wird. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist noch nicht
in Sicht. Inzwischen sind selbst Dreifachkombinationen mit gleichem Angriffspunkt, zum Beispiel Hemmstoffe
des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems mit ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorantagonisten und Aldosteron-Antagonisten, zur Behandlung der Herzinsuffizienz in Erprobung. Es ist nach
den neuesten Untersuchungen nicht unwahrscheinlich, dass auf Grundlage der
Evidenzbasierten Medizin das „Minimalprogramm“ für Patienten mit koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz demnächst aus Betablocker, Statin,
ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorblocker,
Aldosteronantagonisten, Aspirin, Clopidogrel und/oder oralem Thrombin-Inhibitor bestehen wird.
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Eine Studie hat eine umso größere
Chance, mit relativ wenigen Patienten
in relativ kurzer Zeit zu einem positiven
Ergebnis zu führen, je häufiger der
Endpunkt, im „Idealfall“ das Sterben
des Patienten, eintritt. Eine Analyse
aller Studien zur Sekundärprävention
des plötzlichen Herztodes mittels implantierbarem Defibrillator hat gezeigt,
dass ausschließlich Patienten mit einer
hochgradig eingeschränkten Pumpfunktion des Herzens, insbesondere im
hohen Lebensalter und bei hochgradiger Einschränkung ihrer körperlichen
Belastbarkeit, von der Implantation des
Defibrillators profitieren (8). Die keinesfalls übertriebene Schlussfolgerung
der EbM hieraus müsste lauten, dass
man alte Menschen, die bereits bei der
Verrichtung ihrer einfachen täglichen
Bedürfnisse Atemnot verspüren, mit
dieser sehr kosten- und ressourcenintensiven Therapie versorgen soll, diese
andererseits einem jungen, weitgehend
gesunden Menschen, der ein substanzielles Risiko hat, am nächsten Morgen
plötzlich tot umzufallen, aber vorenthalten darf (und vielleicht bald muss).
Eine Behandlung schwerstkranker
Patienten, die sich aus vielen Studien
nach EbM ableiten lässt, hat neben der
manchmal unmenschlichen auch eine
unterschätzte finanzielle Seite. Bei der
Berechnung der Kosten je gewonnenem Überlebenszeitraum werden lediglich die unmittelbar aus der untersuchten Behandlung resultierenden Kosten
gewertet. Dies müsste hinterfragt werden, denn bei der Berechnung sollten
sämtliche Behandlungskosten dieser
Patienten für den gewonnenen Lebenszeitraum zugrunde gelegt werden. Die
Implantation eines Defibrillators nach
den Kriterien der EbM verhindert vielleicht den plötzlichen Herztod durch
eine Herzrhythmusstörung zugunsten
eines Siechtums auf einer kardiologischen Intensivstation. Angesichts der
Tatsache, dass mehr als die Hälfte der
Ausgaben für die medizinische Versorgung auf die beiden letzten Lebensjahre entfallen, sollte es ein Anliegen sein,
bei den Kostenberechnungen die real
anfallenden Gesamtkosten zu ermitteln
und eine Betrachtung der Lebensqualität in den gewonnenen Lebenszeitraum mit einzubeziehen. Dies darf nicht
dahingehend fehlinterpretiert werden,
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wurde bislang das ethische Problem,
wie vielen Menschen man eine Medikation zumuten darf, die ihnen gar nichts
nützt, um einem aus dieser Gruppe zu
helfen.
Aufgrund des geringen Risikos im
Gesamtkollektiv zeigen diese Studien
in der Regel keine Reduktion für
schwerwiegende Endpunkte durch das
untersuchte Medikament. Deshalb werden kombinierte Endpunkte gewählt,
die so unterschiedliche Ereignisse wie
Mortalität und Zahl der Krankenhausaufnahmen vermischen, womit dann
suggeriert wird, dass ein Präparat auch
die Mortalität im untersuchten Kollektiv günstig beeinflusst. Um bei einer
ökonomischen Betrachtung etwaigen
Illusionen vorzubeugen: Es gibt kaum
etwas Teureres im Gesundheitswesen
als die mit einer medizinischen Maßnahme verbundene Primärprävention
bei nur leicht Erkrankten oder gar Gesunden, und auch für diesen Bereich
wird die EbM nach Kräften missbraucht.
Statistik
In den von John Canton postum veröffentlichten Schriften des englischen
Pastors und Mathematikers Thomas
Bayes wird erstmals dargelegt, dass die
Wahrscheinlichkeit für die richtige Vorhersage eines statistischen Tests von der
Foto: BilderBox
dass man Alten und Schwerkranken
keine optimale Behandlung zukommen
lassen soll. Es zeigt stattdessen, dass viele therapierelevante Faktoren vorliegen
können, die in die Ergebnisse der EbM
nicht einfließen und die deshalb leider
immer häufiger ignoriert werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass man vor
lauter „Evidenz“ die Wünsche des Patienten nicht nur übersieht, sondern gar
nicht erst aufkommen lässt.
Das zweite Problem mit der Ethik
zielt in die entgegengesetzte Richtung.
Es besteht darin, dass die Kunst differenzierten ärztlichen Handelns zunehmend durch gleichgeschaltete Behandlungsmethoden an immer größeren und
heterogeneren Patientenpopulationen
ersetzt wird. Ist die Zahl der Untersuchten groß genug und die Behandlung mit
einem relativ geringen Risiko verbunden, so kann das Ergebnis für das gesamte Kollektiv „signifikant“ positiv
ausfallen, obwohl nur ein geringer Anteil der Behandelten tatsächlich profitiert. Das Ausmaß des präventiven Nutzens wird dabei beschönigend dargestellt, indem die eigentlich irrelevante,
aber zahlenmäßig beeindruckendere
relative Risikoreduktion in den Vordergrund gerückt wird. Für die eigentlich
relevante Zahl der erforderlichen Behandlungen, um ein Ereignis zu verhindern („number needed to treat“), gelten derzeit Größenordnungen von 100
bis 200 noch als seriös. Kaum diskutiert
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Kaum diskutiert wurde bislang das ethische Problem, wie vielen Menschen man eine Medikation zumuten darf, die ihnen gar nichts nützt, um einem aus dieser Gruppe zu helfen.
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A-priori-Wahrscheinlichkeit der Testvorhersage abhängig ist (4). Beispiel:
Ein 65-jähriger Patient mit langjährigem schwerem Nikotinabusus, Diabetes mellitus, arterieller Hypertonie und
einer Hypercholesterinämie zeigt im
Belastungs-EKG
horizontale
STStreckensenkungen in zwei konsekutiven Brustwandableitungen. Am gleichen Tag zeigt das Belastungs-EKG einer 35-jährigen Frau mit atypischen
pektanginösen Beschwerden und einer
positiven Familienanamnese, sonst aber
fehlenden Risikofaktoren, die gleichen
Veränderungen wie ihr männlicher Kollege zuvor. Obwohl der gleiche Test in
diesem Fall ein identisches Ergebnis liefert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass im
ersten Fall tatsächlich eine koronare Herzerkrankung vorliegt, ungleich
größer. Dieser grundlegende Tatbestand wird bei der Beurteilung von Studienergebnissen gänzlich ignoriert. Ein
Grund hierfür besteht vor allem darin,
dass die A-priori-Wahrscheinlichkeit
(pretest probability) für die Studienhypothese kaum zu ermitteln ist. Sie kann
allenfalls grob abgeschätzt werden.
Aber nur dann lässt sich überhaupt aussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit
eine neue Behandlung im Falle eines
positiven Studienergebnisses besser ist.
Wenn man beispielsweise eine A-prioriWahrscheinlichkeit von zehn Prozent
veranschlagt, liegt die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Überlegenheit
eines positiv getesteten Präparats aus
einer Studie mit einer „power“ von 80
Prozent und einem Signifikanzniveau
von fünf Prozent (den heute üblichen
Standards für ein signifikantes Studienergebnis), lediglich bei 78 Prozent
und nicht, wie man meinen könnte, bei
95 Prozent. Bei 50 Prozent hätte man
auch würfeln können (5).
Der Goldstandard der EbM ist die
prospektive, randomisierte und kontrollierte Studie mit großer statistischer
Sicherheit (hohe „power“, niedriges
Signifikanzniveau) bei ausreichend langer Nachverfolgung der Patienten. Um
dem gerecht zu werden, braucht man
vor allem Zeit. Zeit um eine ausreichend große Zahl an Patienten lange
genug untersuchen zu können. „Multicenter-Studien“ lösen dieses Zeitproblem nur partiell und sind mit eigenen
Schwächen behaftet. Studien, die einen
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Überlebensvorteil für die koronare Bypass-Operation bei bestimmten Patienten (natürlich die schwerstkranken) mit
koronarer Herzkrankheit belegen, sind
– gemessen an den rasanten Fortschritten in der Medizin – sehr alt. Sie stammen vom Anfang der 80er-Jahre des
letzten Jahrhunderts.
Seither haben sich die bereits erwähnten medikamentösen Behandlungen (Aspirin, Betablocker, ACE-Hemmer,Aldosteron-Antagonisten und Statine) etabliert, die im Schnitt die Mortalität jeweils um etwa 20 Prozent reduzieren. In Kombination ergibt sich daraus eine theoretische Senkung der
Sterblichkeit um etwa 67 Prozent .Würde man diese prognostisch relevanten
medikamentösen Wirkungen mit der
historischen Kontrolle von BypassOperationen vergleichen (eine allerdings unseriöse Vorgehensweise), ergäbe sich eine gewaltige prognostische
Überlegenheit der medikamentösen
Therapie. Neuere Studien vergleichen
die koronare Bypass-Operation mit der
alternativen Ballonangioplastie (PTCA)
der Koronararterien. Wann immer eine
dieser Studien abgeschlossen wurde,
war die Behandlung mit PTCA (und in
gewissem Umfang auch die der BypassOperationen) in einem wesentlichen
Punkt weiterentwickelt worden. Zunächst waren es die implantierten Gefäßstützen (Stents), dann die verbesserten medikamentösen Maßnahmen zur
Hemmung der Blutplättchen (ADPAntagonisten, GPIIb/IIIa-Antagonisten)
und zuletzt die mit Medikamenten
beschichteten Stents, nicht zu vergessen die verbesserte adjuvante medikamentöse Therapie. So kann heute der
einzige verbliebene „EbM-Vorteil“
der Bypass-Operationen, die geringere Häufigkeit von später notwendig
werdenden Revaskularisationsmaßnahmen, bei optimaler konservativer Therapie und der Verwendung beschichteter Stents, in Zweifel gezogen werden.
Anders ausgedrückt: Wann immer der
Hase meint, das Ziel als Erster durchlaufen zu haben, steht ein neuer Igel
bereits da.
Sehr genau genommen mit der EbM
haben es die Londoner Mediziner
Nicolas Wald und Malcom Law. Sie
griffen zum „höchsten Gut“ der EbM,
der Metaanalyse von Studien mit ho-
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her Bonität, und zeigen, was man alles
damit machen kann (10). Aus den Daten dieser Studien berechneten sie den
prognostischen Nutzen einer Polypille,
bestehend aus der Kombination eines
Statins, Azetylsalicylsäure, einem Thiazid-Diuretikum, einem ACE-Hemmer,
einem Betablocker sowie Folsäure.
Nach der Auswertung ihrer Studie sollte diese Polypille von jedem ab dem 56.
Lebensjahr eingenommen werden. Die
Lebenserwartung der so Behandelten
würde im Durchschnitt um elf Jahre
steigen, in Deutschland also von derzeit durchschnittlich 81 Jahren auf 92
Jahre. Das bedeutete die Einnahme
von (mindestens) sechs verschiedenen
Pharmaka über einen Zeitraum von 36
Jahren. Rund 45 Millionen Menschen
würden täglich dieser Behandlung bedürfen. Veranschlagt man einen Tagespreis von fünf Euro, so entstünden für
diese rein präventive Maßnahme jährliche Behandlungskosten von mehr als
82 Milliarden Euro. Mit diesem „Einjahresbetrag“ ließe sich die gesamte
Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Medizin über einen
Zeitraum von 330 Jahren bezahlen.
Haben wir wirklich ein so schlechtes
Zutrauen in unsere Forschung und unsere Medizin, dass wir auch nur erwägen, unsere Ressourcen in dieser Weise
zu verteilen?
Polypille für alle
Da die Empfehlung für die Polypille auf
Evidenzbasierter Medizin beruht, wurde sie nicht nur in einer der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften
publiziert, sondern ihre Schlussfolgerungen werden durchaus ernst genommen. Dabei werden geradezu exemplarisch alle hier erhobenen Einwände ignoriert. Nachfolgend seien einige der zugrunde gelegten Primärpräventions-Studien, besonders die an
Probanden mit einem niedrigen kardiovaskulären Risiko, näher beleuchtet.
Aspirin wurde bereits von 27 359 gesunden Probanden (BMD-, PHS-, TPT-,
HOT- und PPP-Studie) zur Primärprävention im Durchschnitt fünf Jahre
lang eingenommen. Ein Einfluss auf die
Gesamtsterblichkeit ließ sich nicht nachweisen. Es konnten 1,47 vaskuläre Ereig-
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nisse pro tausend behandelter Patienten
pro Jahr verhindert werden (7). Auch für
Betablocker gibt es keine Daten, die bei
der Primärprävention eine Mortalitätsreduktion zeigen. Für ACE-Hemmer
zeigt eine Studie (1) an Hochrisikopatienten (manifeste Atherosklerose oder
Diabetes mellitus plus einem weiteren
Risikofaktor) eine geringe Reduktion
der Mortalität. Dabei mussten allerdings
54 Patienten fünf Jahre lang mit einer
hohen Dosis (zehn Milligramm) Ramipril behandelt werden, um einen Todesfall zu verhindern. Bei 3 304 gesunden
Probanden, die über im Mittel fünf Jahre
mit dem Cholesterinsenker Lovastatin
behandelt wurden, traten innerhalb des
Studienzeitraums 17 kardiovaskuläre
Todesfälle auf, verglichen mit 25 bei den
3 301 Kontrollpatienten (6).
Die angeführten Beispiele zeigen,
dass Ärzte auch in Zukunft nicht durch
mit Studiendaten gefütterte Computerprogramme ersetzt werden können. Bei
aller Euphorie über EbM sollte das kritische Nachdenken über ärztliches
Handeln nicht auf der Strecke bleiben.
Den Ärzten muss bewusst sein, dass mit
dieser Methode auch Manipulationen
von gewaltiger sozioökonomischer Bedeutung stattfinden; gerade deshalb
sollte eine unabhängige Unterstützung
klinischer Studien, zum Beispiel durch
Krankenkassen, private Förderinitiativen oder gar öffentliche Haushaltsmittel angeregt werden. Dringend erforderlich ist die Erfassung aller Patienten
in Registern sowie die fortlaufende wissenschaftliche Auswertung dieser Register. Surrogatparameter sind, häufig zu
Recht, für die Bewertung von Therapien in Verruf geraten. Es ist aber vorstellbar, dass eine darauf konzentrierte
Forschung in der Lage sein könnte, einfache Surrogatmarker zu identifizieren,
die gut mit dem gewünschten therapeutischen Effekt korrelieren. Dadurch
könnte die individuelle Anpassung von
Therapien drastisch vereinfacht werden. Die hier aufgeführten kritischen
Anmerkungen zeigen auch die relative
Beschränktheit der momentanen therapeutischen Möglichkeiten und implizieren damit das Primat, unsere Forschungsanstrengungen und insbesondere die Bereitstellung von Ressourcen
für die Forschung drastisch zu intensivieren, um kurative Therapieansätze zu
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entwickeln. Damit wäre ein Großteil
der genannten Probleme beseitigt.
Epidemiologische Daten zeigen, dass
bereits die Schulbildung enormen Einfluss auf die Prävalenz kardialer Risikofaktoren wie Übergewicht, Hypertonie,
Diabetes und Nikotinmissbrauch hat (2).
Vielleicht sollten gerade ambitionierte
Ärzte deshalb einen Teil ihrer Zeit – statt
mit der Durchführung einer neuen Medikamentenstudie – mit der Abhaltung
einer Stunde Schulunterricht zum Thema
Gesundheit verbringen. Neben dem
primär präventiven Nutzen würde es
vielleicht dazu führen, besser informierte
Patienten zukünftig auch besser in Therapieentscheidungsprozesse einzubinden.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2004; 101: A 1870–1874 [Heft 26]
Literatur
1. Anonymous: Effects of an angiotensin-convertingenzyme inhibitor, ramipril, on cardiovascular events
in high-risk patients. New Engl J Med 2000; 342:
145–153.
2. Anonymous: Heart disease and stroke statistics–2003
update. http://www. americanheart.org.
3. Anonymous: Major outcomes in high risk hypertensive
patients randomized to angiotensin-converting enzyme inhibitor or calcium channel blocker vs. diuretic:
the Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment
to prevent Heart Attack Trial (ALLHAT). JAMA 2002;
288: 2981–2997.
4. Bayes T: An essay towards solving a problem in the
doctrine of chances. Philosophical Transactions of the
Royal Society of London 1763, 1764; 53: 376–399;
54: 298–310.
5. Beck-Bornhold HP, Dubben HH: Der Schein der Weisen. Hamburg: rororo-science 2003.
6. Downs JR, Clearfield M, Weis S et al.: Primary prevention of acute coronary events with lovastatin in
men and women with average cholesterol levels.
JAMA 1998; 279: 1615–1622.
7. Hayden M, Pigone M, Phillips C, Murlow C:Aspirin for
the primary prevention of cardiovascular events: A
summary of the evidence for the U.S. preventive services task force.Ann Intern Med 2002; 136: 161–172.
8. Moss AJ: Implantable cardioverter defibrillator therapy. The sickest patients benefit the most. Circulation
2000; 101: 1638–1640.
9. Moss AJ, Hall WJ, Cannom DS et al.: Improved survival with an implanted defibrillator in patients with
coronary disease at high risk for ventricular arrhythmia. New Engl J Med 1996; 336: 1933–1940.
10. Wald NJ, Law MR: A strategy to reduce cardiovascular disease by more than 80 %. BMJ 2003; 326:
1419–1424.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Feraydoon Niroomand
Universität Heidelberg
Innere Medizin III
Bergheimer Straße 58
69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
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Advanced Trauma Life Support
Mit Blaulicht in die
Sackgasse?
Die Absicht, weltweit eine standardisierte Traumaversorgung
zu etablieren, muss mit Vorsicht betrachtet werden.
S
tellen Sie sich vor, Sie fahren in einer
kalten Dezembernacht auf einer
dunklen Straße mit ihrem PKW
gegen einen unbeleuchteten Container.
Sie haben den Unfall bis auf ein paar
Schrammen gut überstanden, Ihr Auto
allerdings nicht. Sie rufen über Mobiltelefon die Polizei, die wenige Minuten
später an der Unglücksstelle erscheint.
Die hilfsbereiten Beamten bieten Ihnen
an, sich in ihrem Einsatzfahrzeug aufzuwärmen und dort das Protokoll aufzunehmen. Kurze Zeit darauf trifft der vorsorglich alarmierte Rettungsdienst ein.
Da Sie ein leichtes Ziehen im Nacken
verspüren, äußert eine Rettungsdienstfachkraft den Verdacht auf eine gefährliche Verletzung der Halswirbelsäule.
Um Sie „wirbelsäulengerecht“ aus dem
Polizeiauto zu befreien, stellt der Rettungsdienstmitarbeiter die Indikation
zur „technischen Rettung“, woraufhin
der Rüstzug der Feuerwehr mit Sondersignal anrückt. Ein Feuerwehrmann
nimmt hinter Ihnen Platz und hält Ihren
Kopf in Neutralposition, während der
Rettungsdienstmitarbeiter Ihnen eine
Halsmanschette anlegt.
Realität statt Glosse
Nun beginnt die Feuerwehr, mit schwerem Gerät das Polizeifahrzeug um Sie
herum in seine Einzelteile zu zerlegen.
Nachdem das Dach entfernt ist, legt
man Ihre Rückenlehne nach hinten um,
schiebt Ihnen ein zwei Meter langes
Brett ins Kreuz und zieht Sie aus dem
Wrack des Polizeifahrzeugs. Mit Gurten
fixiert man Sie dann so auf dem ungepolsterten Brett, dass Sie komplett bewegungsunfähig sind. Zu guter Letzt versorgt man Sie mit einer Sauerstoffmaske
und verfrachtet Sie in einen großen ame-
rikanischen Rettungswagen, der Sie mit
heulender Sirene ins nächste Krankenhaus bringt. 30 Minuten nach Aufnahme
stehen Sie vor dem Haupteingang des
Krankenhauses mit einer Packung Paracetamol in der Hand, warten auf Ihr
Taxi, das Sie nach Hause bringen soll,
und fragen sich,was eigentlich passiert ist.
Wer annimmt, es handle sich hierbei
um eine Glosse, täuscht sich. Der geschilderte Fall (1) ist rettungsdienstliche
Realität in Europa und stellt die konsequente Umsetzung des Versorgungsprotokolls „Advanced Trauma Life Support“ (ATLS®) dar. Anstoß hierzu gab
ein Arzt, der in den USA 1976 einen
Flugzeugabsturz erlitt. Die medizinische
Primärversorgung empfand er als so
schlecht, dass er die Universität von
Nebraska veranlasste, ein systematisches Konzept zur Versorgung von
Schwerverletzten zu erarbeiten. Dieses
Konzept wurde vom American College
of Surgeons (ACS) aufgegriffen und zu
ATLS weiterentwickelt – mit dem Ziel,
die Mortalität von Traumaopfern zu
senken und das Outcome zu verbessern.
Inzwischen ist ATLS zusammen mit
dem „Pre-Hospital-Trauma-Life-Support“-(PHTLS®-)Protokoll international zum Standard für die präklinische
und klinische Versorgung von Unfallverletzten avanciert.
Innerhalb Europas haben die Niederlande und Großbritannien diese
Protokolle eingeführt. Die Ausbildung
wird von Tochterorganisationen des
ACS und von nationalen Fachgesellschaften ausgerichtet, die im Franchising den kompletten Kursus einschließlich Zertifizierung vom ACS übernehmen. Zielgruppe des zweieinhalbtägigen Intensivkurses mit abschließender
Prüfung sind alle Berufe, die aktiv an
der Versorgung Schwerverletzter teil-
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