Artefakte des Denkens

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16 WISSENSCHAFT UND PRAXIS
Rheinischer Merkur · Nr. 33 / 2008
NATURSCHUTZ Floridas Milliardenprojekt zur
Artefakte des Denkens
Renaturierung seiner Sümpfe ist umstritten
HIRNFORSCHUNG Kernspintomografen liefern faszinierende Einblicke in die Vorgänge im Gehirn.
Rettung für die Everglades
Doch viele Forscher gehen bei der Interpretation der Daten zu weit
Von Jonas Spitra
Für Umweltschützer war es ein Festtag, als Charlie Christ, Gouverneur des
US-Staates Florida, Ende Juni ein bahnbrechendes Programm zur Rettung der
Everglades verkündete. Für 1,75 Milliarden Dollar will Florida 800 Quadratkilometer Ackerland vom Zuckerproduzenten US Sugar erwerben. Die Stilllegung der Produktion soll die Renaturierung des weltberühmten Sumpfgebietes ermöglichen.
Derzeit schneiden die Zuckerrohrplantagen das Wildgebiet noch von seiner natürlichen Wasserversorgung aus
dem nördlich gelegenen Okeechobeesee ab. Zudem gefährdet der stete Eintrag von phosphorhaltigen Düngemitteln aus der Landwirtschaft und Abwässern aus den Städten das empfindliche Ökosystem.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts
legten Land- und Immobilienspekulanten große Teile der vermeintlich wertlosen Sümpfe trocken. Der natürliche
Wasserkreislauf wurde unterbrochen
und den Everglades damit ihre Lebensader entzogen. Seither haben immer
mehr fremde Pflanzen und Tiere die
heimischen Arten verdrängt. Der Florida-Panther ist vom Aussterben bedroht, 90 Prozent der heimischen Vögel sind verschwunden. Dennoch lockt
die verbliebene Wildnis noch immer
jährlich Millionen von Touristen an.
Die Rettung der Everglades gilt seit
Jahren als so prestigeträchtiges wie umkämpftes Projekt des amerikanischen
Naturschutzes. Vor diesem Hintergrund nannte Gouverneur Christ die
Übereinkunft mit US Sugar „so monumental wie die Schaffung des ersten
Naturparks der Nation – Yellowstone“.
Umweltschützer teilen diese Begeiste-
rung. Zugleich fürchten sie ein mögliches Scheitern, sollten dem Landkauf
nicht weitere notwendige Maßnahmen
folgen.
Die Verschmutzung der Natur
durch die Landwirtschaft ist noch nicht
gebannt. US Sugar wird weitere sechs
Jahre lang Zuckerrohr anbauen und
erst dann seine Anlagen stilllegen. Wissenschaftler sagen voraus, dass weitere
Milliarden Dollar an Investitionen nötig
sein werden, um das überdüngte Farmland zu säubern. Nur so könne sichergestellt werden, dass auf den Brachen
die vertraute Flora und Fauna und
nicht fremde Pflanzenarten florieren.
Woher die Finanzmittel stammen
sollen, ist unklar. Der US-Kongress erklärte sich bereit, 3,9 Milliarden Dollar
für die Everglades zur Verfügung zu
stellen, hat aber bisher nur einen
Bruchteil der Summe überwiesen. Zudem regt sich Widerstand aus der Bevölkerung. Der Anwalt Dexter Lehtinen, der jahrelang Indianerstämme der
Everglades vertrat, hat Klage gegen
den Deal mit US Sugar eingereicht,
weil seiner Ansicht nach die staatlichen
Entscheidungsträger bewusst die öffentliche Debatte um den Landkauf
vermieden hätten.
Offen ist auch, ob andere Farmer
der Region das Projekt unterstützen.
Um eine durchgängige Wasserversorgung zu ermöglichen, müssten sie Teile ihrer Anbaugebiete mit Flächen von
US Sugar tauschen. Weil der Naturschutz ihre Handlungsmöglichkeiten
einschränkt, hatten sie sich bisher stets
gegen die Renaturierung ausgesprochen. Viele Experte halten es daher für
fraglich, ob das Ziel, die Everglades bis
2020 in ihren alten Naturzustand zurückzuversetzen, überhaupt jemals erreicht werden kann.
Touristenattraktion: Alligator im Sumpfland Floridas.
FOTO: RONALD WITTEK/DPA
IM FOKUS
Schwarze Flächen
bleiben kühl
Impfung senkt
den Blutdruck
Wer in der prallen Sonne parkt, kennt
das Problem: Das schwarze Armaturenbrett oder die dunklen Sitzbezüge
heizen sich extrem stark auf. Denn
dunkle Oberflächen absorbieren einen
Großteil des auftreffenden Sonnenlichts und wandeln es in Wärme um.
Forscher der Chemiefirma BASF haben
neuartige Farbpigmente entwickelt, die
einen geringeren Heizeffekt haben. Im
Vergleich zu üblichen Rußpigmenten
schlucken sie rund ein Viertel weniger
Strahlungsenergie, um sich aufheizen.
Dank ihrer chemischen Struktur absorbieren die kühlen Schwarz-Pigmente
zwar das sichtbare Licht fast komplett,
weshalb sie auch dunkel erscheinen.
Dafür reflektieren sie mehr Strahlung
aus dem unsichtbaren Infrarotbereich.
Schwarze Oberflächen können so bis
zu 20 Grad Celsius kühler bleiben.
An der Medizinischen Hochschule
Hannover wird derzeit ein Impfstoff
gegen Bluthochdruck getestet. Sollten
die Versuche erfolgreich verlaufen,
werden Patienten mit hohem Blutdruck künftig weniger Medikamente
schlucken müssen Der Wirkstoff besteht aus Virusfragmenten, an die Moleküle des Hormons Angiotensin-2 geheftet sind. Nach der Injektion entwickelt das Immunsystem Antikörper,
die sich dann auch gegen das körpereigene Angiotensin-2 richten. Durch
die verringerte Hormonkonzentration
geht der Blutdruck runter. Noch befindet sich der Impfstoff in einer frühen
Testphase. Ende 2009 sollen Ergebnisse
vorliegen. Die Forscher rechnen damit,
dass die Impfung keinen lebenslangen
Schutz bietet, sondern alle zwei bis vier
Jahre aufgefrischt werden muss.
luh
CYAN
MAGENTA
DAS ATMEN DER NEURONEN
Von Isabelle Bareither
I
st das der Hort der Liebe – hinter
bunten Tupfern auf dem Abbild
eines menschlichen Gehirns? Von
oben, von hinten und von der Seite sind Innenaufnahmen des Kopfes eines Probanden zu sehen. Mehrere Bereiche sind farblich markiert. In diesen
Zonen zeigt das Hirn angeblich eine
besondere Aktivität, wenn Testpersonen Fotos eines geliebten Partners
betrachten. Die Hirnforscher Andreas
Bartels und Semir Zeki, die 2004 mit
diesen Erkenntnissen für Aufsehen
sorgten, sehen darin gar die Hirnstrukturen der „romantischen Liebe“.
Das Experiment ist kein Einzelfall.
Das „Neuroimaging“, der Einblick in
Hirnprozesse mithilfe von bildgebenden Verfahren wie Computer- und
Kernspintomografie, hat in den vergangenen Jahren die Hirnforschung revolutioniert und ihr zu einer ungeahnten Popularität verholfen. Täglich werden neue Studien präsentiert, die auf
den Bildern neuronaler Aktivitätsmuster basieren.
Forscher behaupten, anhand solcher
Analysen den Sitz der Spiritualität im
Hirn meditierender Mönche entdeckt
zu haben. Andere glauben, anhand von
Hirnscans homosexuell orientierte
Menschen von Heterosexuellen unterscheiden zu können. Hirnforscher stellen mit ihren Studien den freien Willen
infrage. Manche sagen voraus, dass
man in Zukunft mit dieser Technik sogar Gedanken werde lesen können. Die
Ergebnisse beeinflussen Politik und
Wirtschaft genauso wie Erziehung und
Religion.
Aber kann man den Bildern trauen?
Offenbaren sie wirklich die Hirnaktivitäten der Liebe oder doch nur den Blutfluss in Verbindung mit sexueller Erregung? Erlaubt das Neuroimaging überhaupt solche weitreichenden Schlussfolgerungen? Neuerdings mehren sich
zweifelnde Stimmen. Renommierte
Hirnforscher mahnen ihre Kollegen,
nicht vor lauter Faszination die Deutungsgrenzen der eingesetzten Methoden zu übersehen.
Mit Computer- und Kernspintomografen
kann ein Gehirn durchleuchtet und seine
Struktur bildlich dargestellt werden – vergleichbar mit einer klassischen Röntgenaufnahme. Ein abgewandeltes Verfahren
ist die funktionelle Kernspintomografie.
Mit ihr lässt sich die Aktivität im Gehirn
messen – allerdings nur indirekt. Denn
die Methode greift nicht auf die elektrischen Impulse der Neuronen zurück.
Vielmehr macht sie sich die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von
sauerstoffreichem und sauerstoffarmen
Blut zunutze. Mithilfe von starken Magneten und Radiofrequenzimpulsen lässt
sich erkennen, in welchen Regionen das
Gehirn gerade besonders stark durchblutet wird. Da die erhöhte Sauerstoffversorgung in der Regel durch eine stärkere
Aktivität der Neuronen verursacht wird,
nutzen die Forscher die Bilder als Hinweis
darauf, wo im Gehirn gerade intensive
neuronale Prozesse ablaufen. luh
aber ausgeschlossen, weil in der Studie
am Ende nur solche Hirnareale berücksichtigt wurden, die bei allen Versuchspersonen aktiv waren.
Der Psychologe William Uttal von
der Universität Michigan bezweifelt,
dass sich komplexe psychische Prozesse
wie die Liebe auf wenige Areale im Gehirn reduzieren lassen. „Ein psychischer Prozess löst stets in vielen
Hirnregionen Aktivitäten aus“, sagt er.
Je komplizierter der psychische Prozess, desto unübersichtlicher sollte das
Ergebnis sein: Gerade bei der Wahrnehmung eines Liebespartners fänden
Tausende Dinge gleichzeitig statt.
Die auf den Hirnscans basierte Suche nach bestimmten Handlungszentren im Gehirn erinnert Uttal an die
altmodisch erscheinende Lehre der
Phrenologie. Diese Theorie aus dem
19. Jahrhundert besagt, dass verschiedene geistige Zustände auf abgrenzbare Hirnregionen bezogen werden
können. Franz Josef Gall, der Begründer der Phrenologie, glaubte sogar, den
Charakter eines Menschen aus seiner
Kopfform ableiten zu können.
Absurde Neuromythen
Vor zwei Jahren veröffentlichte das
Schweizer Zentrum für Technikfolgenabschätzung eine erste kritische Studie.
Die Autoren um Bärbel Hüsing vom
Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung erklären darin:
„Aufgrund der Erkenntnisse der Hirnforschung – anschaulich präsentiert
durch farbige Hirnbilder – werden
spektakuläre Möglichkeiten in Aussicht
gestellt, die kaum realisierbar sind.“
Das Neuroimaging werde häufig als
objektive und „harte Wissenschaft“
dargestellt. Das aber sei falsch.
Ihre Aussage gründen die Verfasser
vor allem auf die Analysemethoden
der bildgebenden Verfahren wie Computer- oder Kernspintomografie. Die
Geräte würden stets eine große Anzahl
von Daten messen, aus denen sich erst
durch aufwendiges Filtern und Umrechnen die anschaulichen Bilder konstruieren lassen. Gedankenlesen oder
ähnlich absurde „Neuromythen“ seien
definitiv jenseits der Möglichkeiten
bildgebender Verfahren.
Im vergangenen Jahr warnte auch
Adina Roskies, Neurowissenschaftlerin
am Dartmouth College in New Hampshire, dass die Ergebnisse häufig überinterpretiert würden, gerade in populärwissenschaftlichen Kreisen. Roskies
bemerkte, dass viele Menschen beim
Anblick der Bilder dem Eindruck erliegen, man könne dem Gehirn beim
Denken zuschauen. „Sie glauben, das
neuronale Feuern komme Lichtblitzen
gleich, die aktive Gehirnareale aufleuchten lassen“, so Roskies. Die
Hirnscans seien aber keineswegs Fotografien des Geistes, sondern komplizierte, abgeleitete Konstrukte.
John Cacioppo, Neurowissenschaftler an der Universität von Chicago, kritisiert in einem Artikel des „Journal of
Personality and Social Psychology“
fehlgeleitete Interpretationen von Forscherkollegen. Viele Studien würden
zu wenig berücksichtigen, dass gerade
die bei Hirnscans meistgenutzte Methode, die funktionelle Kernspintomografie, nur eine indirekte Messform
darstellt (siehe Kasten). Sie erfasse nicht
die Gehirnaktivitäten selbst, sondern
nur deren Folgen.
Um per Kernspintomografie die
Vorgänge im Kopf sichtbar zu machen,
muss sich die Versuchsperson in den
Scanner legen – eine enge, dunkle und
laute Röhre. Während des Experiments, das mehrere Stunden dauern
kann, muss sie reglos bleiben, um Bild-
Kein Gedankenleser
Durchleuchtete Psyche: Forscher lokalisierten die neuronale Aktivität der Liebe in
verschiedenen Hirnbereichen wie Kleinhirn (cer), Cingulärer Gyrus (ci), Insula (i),
FOTO: ANDREAS BARTELS
Hippocampus (hi), Caudate Nucleus (cn) und Putamen (p).
störungen zu vermeiden. Einige bekommen Angst in der Röhre, andere
schlafen ein. Aufregung, Stress oder
Konzentrationsschwächen
spiegeln
sich in den Ergebnissen wider.
Ist es Liebe oder Angst?
Um solche Störfaktoren auszufiltern,
werden die Rohdaten mathematisch
korrigiert, zum Beispiel mit der sogenannten Subtraktionsmethode. Dafür
werden Signale, die während einer Ruhephase gemessen werden, einfach von
jenen abgezogen, die das Hirn beim
Lösen einer bestimmten Aufgabe liefert. Der Theorie nach sollen auf den
derart abgeglichenen Bildern nur noch
jene Aktivitätsmuster sichtbar bleiben,
die mit der spezifischen Aufgabe zusammenhängen.
Auch beim Liebesexperiment nutzten Bartels und Zeki diese Methode:
Sie untersuchten die Gehirne von Testpersonen, die einmal Bilder ihrer Lie-
Nummer: 33, Seite: 16
bespartner betrachten durften, dann
wieder die Fotografien platonischer
Freunde gezeigt bekamen. Wenn nun
die Hirnaktivitäten mit Blick auf die
Freundschaftsbilder von denen der
Partnerbilder abgezogen werden, sollten am Ende nur die für die romantische Liebe zuständigen Hirnbereiche
sichtbar bleiben.
John Cacioppo ist da skeptisch:
Könnte es nicht auch sein, dass die Versuchsteilnehmer „mehr Wissen über,
Interesse in, sexuelles Verlangen nach,
Verantwortung für, Bindung mit, zweifelhafte Gefühle oder Angst gegenüber“ ihrem Partner haben? Was von
alldem wurde tatsächlich gemessen?
„Natürlich kann es auch sein, dass
wir Bindung oder sexuelle Erregung
gemessen haben, beides sind ja schließlich Komponenten der Liebe“, sagt Bartels, der heute am Max-Planck-Institut
für biologische Kybernetik in Tübingen arbeitet. Gefühle wie Zweifel oder
Angst gegenüber dem Partner seien
YELLOW
Jüngst meldete sich in dieser Diskussion mit Nikos Logothetis ein in der Methodenforschung führender Neurowissenschaftler zu Wort. Logothetis selbst
hatte vor Jahren mit einer Studie den
Boom beim Einsatz der funktionellen
Kernspintomografie in der Hirnforschung ausgelöst. 2001 war ihm der
Nachweis gelungen, dass sich mit dieser Methode die neuronale Aktivität
des Hirn sichtbar machen lässt. Doch
im Juni schrieb der Direktor der Neurophysiologie am Max-Planck-Institut
für biologische Kybernetik im Magazin
„Nature Review“: Die funktionelle
Kernspintomografie sei zwar „das beste Werkzeug, das wir derzeit haben,
um Einblick in die Hirnfunktionen zu
erhalten“. Doch die Methode diene weder dem Gedankenlesen noch unnützer Neophrenologie. Die ernsthaften
Grenzen des Verfahrens sollten nicht
ignoriert werden.
Das Hauptproblem sieht Logothetis
darin, dass die Bilder nur Massenwirkungen darstellen. Jeder Bildpunkt, Voxel genannt, bezieht sich auf winzige,
millimetergroße Stellen im Hirn. Doch
darin sind rund fünf Millionen Nervenzellen, mehr als 20 Milliarden Synapsen
und über 200 Kilometer Nervenfasern
enthalten. Jedes Voxel erfasse jeweils
die Gesamtmenge an Aktivierung oder
Deaktivierung innerhalb dieser Gruppen. Einzelne Nervenzellen seien aber
tausendfach vernetzt, kommunizierten
rückwärts wie vorwärts, stimulierten
oder hemmten ihre Nachbarzellen. Die
Messergebnisse würden solche feinen
Zusammenhänge nicht widerspiegeln,
was die Interpretationsmöglichkeiten
erheblich einschränke, so Logothetis.
Künftig sollten Hirnforscher verstärkt interdisziplinär arbeiten, empfiehlt er. Die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren müssten mit Studien
verglichen werden, die über Elektroden
die Aktivitäten einzelner Nervenzellen
erfassen – was freilich einen viel größeren Aufwand erfordert.
John Cacioppo kommt angesichts
der Komplexität der Methoden zu dem
Schluss, dass die Bilder des menschlichen Gehirns keinesfalls unreflektiert
betrachtet werden sollten. Sein eingängiges Fazit lautet: „Nur weil man gerade ein Gehirn betrachtet, muss man
nicht gleich den Kopf abschalten.“
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