5 Prozent 10 Prozent 15 Prozent 20 Prozent 95 Prozent 16 WISSENSCHAFT UND PRAXIS Rheinischer Merkur · Nr. 33 / 2008 NATURSCHUTZ Floridas Milliardenprojekt zur Artefakte des Denkens Renaturierung seiner Sümpfe ist umstritten HIRNFORSCHUNG Kernspintomografen liefern faszinierende Einblicke in die Vorgänge im Gehirn. Rettung für die Everglades Doch viele Forscher gehen bei der Interpretation der Daten zu weit Von Jonas Spitra Für Umweltschützer war es ein Festtag, als Charlie Christ, Gouverneur des US-Staates Florida, Ende Juni ein bahnbrechendes Programm zur Rettung der Everglades verkündete. Für 1,75 Milliarden Dollar will Florida 800 Quadratkilometer Ackerland vom Zuckerproduzenten US Sugar erwerben. Die Stilllegung der Produktion soll die Renaturierung des weltberühmten Sumpfgebietes ermöglichen. Derzeit schneiden die Zuckerrohrplantagen das Wildgebiet noch von seiner natürlichen Wasserversorgung aus dem nördlich gelegenen Okeechobeesee ab. Zudem gefährdet der stete Eintrag von phosphorhaltigen Düngemitteln aus der Landwirtschaft und Abwässern aus den Städten das empfindliche Ökosystem. Schon Ende des 19. Jahrhunderts legten Land- und Immobilienspekulanten große Teile der vermeintlich wertlosen Sümpfe trocken. Der natürliche Wasserkreislauf wurde unterbrochen und den Everglades damit ihre Lebensader entzogen. Seither haben immer mehr fremde Pflanzen und Tiere die heimischen Arten verdrängt. Der Florida-Panther ist vom Aussterben bedroht, 90 Prozent der heimischen Vögel sind verschwunden. Dennoch lockt die verbliebene Wildnis noch immer jährlich Millionen von Touristen an. Die Rettung der Everglades gilt seit Jahren als so prestigeträchtiges wie umkämpftes Projekt des amerikanischen Naturschutzes. Vor diesem Hintergrund nannte Gouverneur Christ die Übereinkunft mit US Sugar „so monumental wie die Schaffung des ersten Naturparks der Nation – Yellowstone“. Umweltschützer teilen diese Begeiste- rung. Zugleich fürchten sie ein mögliches Scheitern, sollten dem Landkauf nicht weitere notwendige Maßnahmen folgen. Die Verschmutzung der Natur durch die Landwirtschaft ist noch nicht gebannt. US Sugar wird weitere sechs Jahre lang Zuckerrohr anbauen und erst dann seine Anlagen stilllegen. Wissenschaftler sagen voraus, dass weitere Milliarden Dollar an Investitionen nötig sein werden, um das überdüngte Farmland zu säubern. Nur so könne sichergestellt werden, dass auf den Brachen die vertraute Flora und Fauna und nicht fremde Pflanzenarten florieren. Woher die Finanzmittel stammen sollen, ist unklar. Der US-Kongress erklärte sich bereit, 3,9 Milliarden Dollar für die Everglades zur Verfügung zu stellen, hat aber bisher nur einen Bruchteil der Summe überwiesen. Zudem regt sich Widerstand aus der Bevölkerung. Der Anwalt Dexter Lehtinen, der jahrelang Indianerstämme der Everglades vertrat, hat Klage gegen den Deal mit US Sugar eingereicht, weil seiner Ansicht nach die staatlichen Entscheidungsträger bewusst die öffentliche Debatte um den Landkauf vermieden hätten. Offen ist auch, ob andere Farmer der Region das Projekt unterstützen. Um eine durchgängige Wasserversorgung zu ermöglichen, müssten sie Teile ihrer Anbaugebiete mit Flächen von US Sugar tauschen. Weil der Naturschutz ihre Handlungsmöglichkeiten einschränkt, hatten sie sich bisher stets gegen die Renaturierung ausgesprochen. Viele Experte halten es daher für fraglich, ob das Ziel, die Everglades bis 2020 in ihren alten Naturzustand zurückzuversetzen, überhaupt jemals erreicht werden kann. Touristenattraktion: Alligator im Sumpfland Floridas. FOTO: RONALD WITTEK/DPA IM FOKUS Schwarze Flächen bleiben kühl Impfung senkt den Blutdruck Wer in der prallen Sonne parkt, kennt das Problem: Das schwarze Armaturenbrett oder die dunklen Sitzbezüge heizen sich extrem stark auf. Denn dunkle Oberflächen absorbieren einen Großteil des auftreffenden Sonnenlichts und wandeln es in Wärme um. Forscher der Chemiefirma BASF haben neuartige Farbpigmente entwickelt, die einen geringeren Heizeffekt haben. Im Vergleich zu üblichen Rußpigmenten schlucken sie rund ein Viertel weniger Strahlungsenergie, um sich aufheizen. Dank ihrer chemischen Struktur absorbieren die kühlen Schwarz-Pigmente zwar das sichtbare Licht fast komplett, weshalb sie auch dunkel erscheinen. Dafür reflektieren sie mehr Strahlung aus dem unsichtbaren Infrarotbereich. Schwarze Oberflächen können so bis zu 20 Grad Celsius kühler bleiben. An der Medizinischen Hochschule Hannover wird derzeit ein Impfstoff gegen Bluthochdruck getestet. Sollten die Versuche erfolgreich verlaufen, werden Patienten mit hohem Blutdruck künftig weniger Medikamente schlucken müssen Der Wirkstoff besteht aus Virusfragmenten, an die Moleküle des Hormons Angiotensin-2 geheftet sind. Nach der Injektion entwickelt das Immunsystem Antikörper, die sich dann auch gegen das körpereigene Angiotensin-2 richten. Durch die verringerte Hormonkonzentration geht der Blutdruck runter. Noch befindet sich der Impfstoff in einer frühen Testphase. Ende 2009 sollen Ergebnisse vorliegen. Die Forscher rechnen damit, dass die Impfung keinen lebenslangen Schutz bietet, sondern alle zwei bis vier Jahre aufgefrischt werden muss. luh CYAN MAGENTA DAS ATMEN DER NEURONEN Von Isabelle Bareither I st das der Hort der Liebe – hinter bunten Tupfern auf dem Abbild eines menschlichen Gehirns? Von oben, von hinten und von der Seite sind Innenaufnahmen des Kopfes eines Probanden zu sehen. Mehrere Bereiche sind farblich markiert. In diesen Zonen zeigt das Hirn angeblich eine besondere Aktivität, wenn Testpersonen Fotos eines geliebten Partners betrachten. Die Hirnforscher Andreas Bartels und Semir Zeki, die 2004 mit diesen Erkenntnissen für Aufsehen sorgten, sehen darin gar die Hirnstrukturen der „romantischen Liebe“. Das Experiment ist kein Einzelfall. Das „Neuroimaging“, der Einblick in Hirnprozesse mithilfe von bildgebenden Verfahren wie Computer- und Kernspintomografie, hat in den vergangenen Jahren die Hirnforschung revolutioniert und ihr zu einer ungeahnten Popularität verholfen. Täglich werden neue Studien präsentiert, die auf den Bildern neuronaler Aktivitätsmuster basieren. Forscher behaupten, anhand solcher Analysen den Sitz der Spiritualität im Hirn meditierender Mönche entdeckt zu haben. Andere glauben, anhand von Hirnscans homosexuell orientierte Menschen von Heterosexuellen unterscheiden zu können. Hirnforscher stellen mit ihren Studien den freien Willen infrage. Manche sagen voraus, dass man in Zukunft mit dieser Technik sogar Gedanken werde lesen können. Die Ergebnisse beeinflussen Politik und Wirtschaft genauso wie Erziehung und Religion. Aber kann man den Bildern trauen? Offenbaren sie wirklich die Hirnaktivitäten der Liebe oder doch nur den Blutfluss in Verbindung mit sexueller Erregung? Erlaubt das Neuroimaging überhaupt solche weitreichenden Schlussfolgerungen? Neuerdings mehren sich zweifelnde Stimmen. Renommierte Hirnforscher mahnen ihre Kollegen, nicht vor lauter Faszination die Deutungsgrenzen der eingesetzten Methoden zu übersehen. Mit Computer- und Kernspintomografen kann ein Gehirn durchleuchtet und seine Struktur bildlich dargestellt werden – vergleichbar mit einer klassischen Röntgenaufnahme. Ein abgewandeltes Verfahren ist die funktionelle Kernspintomografie. Mit ihr lässt sich die Aktivität im Gehirn messen – allerdings nur indirekt. Denn die Methode greift nicht auf die elektrischen Impulse der Neuronen zurück. Vielmehr macht sie sich die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften von sauerstoffreichem und sauerstoffarmen Blut zunutze. Mithilfe von starken Magneten und Radiofrequenzimpulsen lässt sich erkennen, in welchen Regionen das Gehirn gerade besonders stark durchblutet wird. Da die erhöhte Sauerstoffversorgung in der Regel durch eine stärkere Aktivität der Neuronen verursacht wird, nutzen die Forscher die Bilder als Hinweis darauf, wo im Gehirn gerade intensive neuronale Prozesse ablaufen. luh aber ausgeschlossen, weil in der Studie am Ende nur solche Hirnareale berücksichtigt wurden, die bei allen Versuchspersonen aktiv waren. Der Psychologe William Uttal von der Universität Michigan bezweifelt, dass sich komplexe psychische Prozesse wie die Liebe auf wenige Areale im Gehirn reduzieren lassen. „Ein psychischer Prozess löst stets in vielen Hirnregionen Aktivitäten aus“, sagt er. Je komplizierter der psychische Prozess, desto unübersichtlicher sollte das Ergebnis sein: Gerade bei der Wahrnehmung eines Liebespartners fänden Tausende Dinge gleichzeitig statt. Die auf den Hirnscans basierte Suche nach bestimmten Handlungszentren im Gehirn erinnert Uttal an die altmodisch erscheinende Lehre der Phrenologie. Diese Theorie aus dem 19. Jahrhundert besagt, dass verschiedene geistige Zustände auf abgrenzbare Hirnregionen bezogen werden können. Franz Josef Gall, der Begründer der Phrenologie, glaubte sogar, den Charakter eines Menschen aus seiner Kopfform ableiten zu können. Absurde Neuromythen Vor zwei Jahren veröffentlichte das Schweizer Zentrum für Technikfolgenabschätzung eine erste kritische Studie. Die Autoren um Bärbel Hüsing vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung erklären darin: „Aufgrund der Erkenntnisse der Hirnforschung – anschaulich präsentiert durch farbige Hirnbilder – werden spektakuläre Möglichkeiten in Aussicht gestellt, die kaum realisierbar sind.“ Das Neuroimaging werde häufig als objektive und „harte Wissenschaft“ dargestellt. Das aber sei falsch. Ihre Aussage gründen die Verfasser vor allem auf die Analysemethoden der bildgebenden Verfahren wie Computer- oder Kernspintomografie. Die Geräte würden stets eine große Anzahl von Daten messen, aus denen sich erst durch aufwendiges Filtern und Umrechnen die anschaulichen Bilder konstruieren lassen. Gedankenlesen oder ähnlich absurde „Neuromythen“ seien definitiv jenseits der Möglichkeiten bildgebender Verfahren. Im vergangenen Jahr warnte auch Adina Roskies, Neurowissenschaftlerin am Dartmouth College in New Hampshire, dass die Ergebnisse häufig überinterpretiert würden, gerade in populärwissenschaftlichen Kreisen. Roskies bemerkte, dass viele Menschen beim Anblick der Bilder dem Eindruck erliegen, man könne dem Gehirn beim Denken zuschauen. „Sie glauben, das neuronale Feuern komme Lichtblitzen gleich, die aktive Gehirnareale aufleuchten lassen“, so Roskies. Die Hirnscans seien aber keineswegs Fotografien des Geistes, sondern komplizierte, abgeleitete Konstrukte. John Cacioppo, Neurowissenschaftler an der Universität von Chicago, kritisiert in einem Artikel des „Journal of Personality and Social Psychology“ fehlgeleitete Interpretationen von Forscherkollegen. Viele Studien würden zu wenig berücksichtigen, dass gerade die bei Hirnscans meistgenutzte Methode, die funktionelle Kernspintomografie, nur eine indirekte Messform darstellt (siehe Kasten). Sie erfasse nicht die Gehirnaktivitäten selbst, sondern nur deren Folgen. Um per Kernspintomografie die Vorgänge im Kopf sichtbar zu machen, muss sich die Versuchsperson in den Scanner legen – eine enge, dunkle und laute Röhre. Während des Experiments, das mehrere Stunden dauern kann, muss sie reglos bleiben, um Bild- Kein Gedankenleser Durchleuchtete Psyche: Forscher lokalisierten die neuronale Aktivität der Liebe in verschiedenen Hirnbereichen wie Kleinhirn (cer), Cingulärer Gyrus (ci), Insula (i), FOTO: ANDREAS BARTELS Hippocampus (hi), Caudate Nucleus (cn) und Putamen (p). störungen zu vermeiden. Einige bekommen Angst in der Röhre, andere schlafen ein. Aufregung, Stress oder Konzentrationsschwächen spiegeln sich in den Ergebnissen wider. Ist es Liebe oder Angst? Um solche Störfaktoren auszufiltern, werden die Rohdaten mathematisch korrigiert, zum Beispiel mit der sogenannten Subtraktionsmethode. Dafür werden Signale, die während einer Ruhephase gemessen werden, einfach von jenen abgezogen, die das Hirn beim Lösen einer bestimmten Aufgabe liefert. Der Theorie nach sollen auf den derart abgeglichenen Bildern nur noch jene Aktivitätsmuster sichtbar bleiben, die mit der spezifischen Aufgabe zusammenhängen. Auch beim Liebesexperiment nutzten Bartels und Zeki diese Methode: Sie untersuchten die Gehirne von Testpersonen, die einmal Bilder ihrer Lie- Nummer: 33, Seite: 16 bespartner betrachten durften, dann wieder die Fotografien platonischer Freunde gezeigt bekamen. Wenn nun die Hirnaktivitäten mit Blick auf die Freundschaftsbilder von denen der Partnerbilder abgezogen werden, sollten am Ende nur die für die romantische Liebe zuständigen Hirnbereiche sichtbar bleiben. John Cacioppo ist da skeptisch: Könnte es nicht auch sein, dass die Versuchsteilnehmer „mehr Wissen über, Interesse in, sexuelles Verlangen nach, Verantwortung für, Bindung mit, zweifelhafte Gefühle oder Angst gegenüber“ ihrem Partner haben? Was von alldem wurde tatsächlich gemessen? „Natürlich kann es auch sein, dass wir Bindung oder sexuelle Erregung gemessen haben, beides sind ja schließlich Komponenten der Liebe“, sagt Bartels, der heute am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen arbeitet. Gefühle wie Zweifel oder Angst gegenüber dem Partner seien YELLOW Jüngst meldete sich in dieser Diskussion mit Nikos Logothetis ein in der Methodenforschung führender Neurowissenschaftler zu Wort. Logothetis selbst hatte vor Jahren mit einer Studie den Boom beim Einsatz der funktionellen Kernspintomografie in der Hirnforschung ausgelöst. 2001 war ihm der Nachweis gelungen, dass sich mit dieser Methode die neuronale Aktivität des Hirn sichtbar machen lässt. Doch im Juni schrieb der Direktor der Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik im Magazin „Nature Review“: Die funktionelle Kernspintomografie sei zwar „das beste Werkzeug, das wir derzeit haben, um Einblick in die Hirnfunktionen zu erhalten“. Doch die Methode diene weder dem Gedankenlesen noch unnützer Neophrenologie. Die ernsthaften Grenzen des Verfahrens sollten nicht ignoriert werden. Das Hauptproblem sieht Logothetis darin, dass die Bilder nur Massenwirkungen darstellen. Jeder Bildpunkt, Voxel genannt, bezieht sich auf winzige, millimetergroße Stellen im Hirn. Doch darin sind rund fünf Millionen Nervenzellen, mehr als 20 Milliarden Synapsen und über 200 Kilometer Nervenfasern enthalten. Jedes Voxel erfasse jeweils die Gesamtmenge an Aktivierung oder Deaktivierung innerhalb dieser Gruppen. Einzelne Nervenzellen seien aber tausendfach vernetzt, kommunizierten rückwärts wie vorwärts, stimulierten oder hemmten ihre Nachbarzellen. Die Messergebnisse würden solche feinen Zusammenhänge nicht widerspiegeln, was die Interpretationsmöglichkeiten erheblich einschränke, so Logothetis. Künftig sollten Hirnforscher verstärkt interdisziplinär arbeiten, empfiehlt er. Die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren müssten mit Studien verglichen werden, die über Elektroden die Aktivitäten einzelner Nervenzellen erfassen – was freilich einen viel größeren Aufwand erfordert. John Cacioppo kommt angesichts der Komplexität der Methoden zu dem Schluss, dass die Bilder des menschlichen Gehirns keinesfalls unreflektiert betrachtet werden sollten. Sein eingängiges Fazit lautet: „Nur weil man gerade ein Gehirn betrachtet, muss man nicht gleich den Kopf abschalten.“ SIEHE AUCH KULTUR SEITE 17 BLACK