SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Aula Soziologie Der Studienkompass (9/11) Von Cornelia Koppetsch Sendung: Sonntag, 19. Juni 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Aula sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 Ansage: Mit dem Thema "Der Studienkompass 9: Soziologie". Wir bringen in der SWR2 Aula eine Reihe, gedacht für Schülerinnen und Schüler, die das Abitur hinter sich haben und die sich nun fragen: Was kommt jetzt? Was soll ich, wenn es auf die Universität geht, studieren? Wir wollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Elf AULA-Autorinnen und -Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann, wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer, um Chemie, Medienwissenschaft, Mathematik, Germanistik oder um Philosophie. Alle Vorträge sind seit Ende April auch online erhältlich. Infos dazu finden Sie der Internetseite www.swr2.de/studienkompass. Heute also geht es um die Soziologie, Autorin ist die Soziologin Professor Cornelia Koppetsch von der Technischen Universität Darmstadt. Cornelia Koppetsch: Der eine oder andere wird sich schon einmal gefragt haben, was Soziologie eigentlich ist. Wenn Sie sich im Bekanntenkreis umhören, dann hören Sie vielleicht: "Soziologie ist doch klar, das ist etwas Soziales." Das ist ein ziemlich verbreitetes Missverständnis, denn Soziologie ist nicht mit "etwas Soziales" zu verwechseln. Soziologie befasst sich als Grundlagenwissenschaft mit grundsätzlichen, basalen Logiken des sozialen Zusammenlebens, das heißt Fragestellungen, die in die Tiefe gehen. Hier möchte ich gleich ein weiteres verbreitetes Missverständnis anschließen, dass Soziologie sich in erster Linie mit sozialen Problemen wie z. B. Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft, soziale Abweichung, Delinquenz etc. befasse. Es ist richtig, dass Soziologie auch beansprucht, einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten, sie geht aber darin nicht auf, denn sie möchte im Unterschied zu den sozialpädagogischen oder problemorientierten Perspektiven eine ganz andere Sichtweise einbringen. Über die Entstehung dieser Probleme hinaus interessiert sich die Soziologie zuerst für die Frage, wie es eigentlich kommt, dass die Gesellschaft überwiegend gewaltfrei funktioniert und die meisten Menschen die sozialen Normen befolgen und davon eben nicht abweichen. Welche Macht oder gesellschaftliche Kräfte wirken darauf hin, diese Normeinhaltung zu gewährleisten? Warum halten sich die Mitglieder der Gesellschaft an soziale Normen? Wie ist soziale Ordnung möglich und was ist die soziale Wirklichkeit? Es sind also tiefergehende Fragen, die sich nicht so sehr mit den Problemen befassen, sondern eher mit dem Zusammenleben an sich, wie es normalerweise funktioniert. Warum ist die Soziologie für die Gesellschaft überhaupt wichtig? Ich möchte Ihnen drei Anwendungsgebiete vorstellen, in denen die Soziologie Kernkompetenzen aufweist. Dazu gehört erstens die soziologische Aufklärung. Das ist sogar ein genuines Anwendungsgebiet der Soziologie, das auch mit den 2 Grundlagenorientierungen des Faches zusammenhängt. Die Soziologie möchte das Gewebe der sozialen Wirklichkeit entschlüsseln und dabei auch z. B. auf die Entnaturalisierung des Sozialen hinweisen, also das, was uns so natürlich erscheint an der sozialen Ordnung, in ihrer historischen Gewordenheit aufzeigen. Sie möchte Gesellschaftskritik und emanzipatorisches Wissen vermitteln. Auch das ist ein Teil soziologischer Aufklärung, d. h. die Herrschaftskritik, die Vielen vielleicht aus dem Sachkundeunterricht in der Schule geläufig ist, wobei Herrschaftskritik nicht alles ist an der soziologischen Aufklärung. Es gibt soziologische Aufklärung auch im Hinblick auf die Frage, wie sich eigentlich soziale Ordnung stabilisiert, wie ist sie in ihrer Normalität begreifbar, was ist Normalität und wie unterscheiden sich Gesellschaften hinsichtlich der Frage, wie sich Normalität und Abweichung jeweils konstruieren. Diese Grenze ist eben nicht naturgegeben, sondern selbst geschichtliches Produkt der Entwicklung und unterscheidet sich von Gesellschaft zu Gesellschaft. In manchen Gesellschaften ist es z. B. ein Teil delinquenten Verhaltens, wenn Frauen Auto fahren oder sich auf eine bestimmte Weise verhalten – und in unserer Gesellschaft ist das nicht der Fall. Genauso gelten in unserer Gesellschaft Dinge als delinquent, die in anderen Gesellschaften ganz anders gesehen werden. Der zweite Bereich, in dem Soziologie eine Kernkompetenz hat, ist die sogenannte Sozialberichterstattung. Dazu gehören z. B. Familienberichte, Armut- und Reichtumberichte, Jugendberichte, Berichte über das Alter, die demographische Entwicklung, all das, wo die Gesellschaft ihre Mitglieder informiert, wie es mit dem Aufbau der Gesellschaft, ihrer Bevölkerung bestellt ist und wie die einzelnen Lebensphasen jeweils ausgestaltet werden in dieser Gesellschaft. In statistischen Instituten arbeiten sehr viele Soziologen und bemühen sich, ein möglichst vielschichtiges Bild der Gesellschaft zu erstellen. Ein dritter Anwendungsbereich ist das, was ich die Erarbeitung und Anwendung von Sozialtechnologie nennen möchte. Das sind Techniken, wie man auf Menschen einwirken kann, wie man sie zu etwas bringen kann oder wie man ihnen zu etwas verhelfen kann, um sich besser im sozialen Zusammenleben zu behaupten. Dazu gehört z. B. Public Relation auf dem Gebiet der Beeinflussung des Publikums. Coaching im Sinne der Beratung, wie man gute Netzwerke bildet, oder auch Mediation im Fall von Konflikten innerhalb der Familie oder Scheidungskonflikten gehören dazu. Unternehmensberatung, Werbung und Marktforschung sind weitere Anwendungsgebiete der Soziologie. Das sind die wesentlichen Bereiche, in denen soziologisches Wissen in der Gesellschaft nachgefragt wird und wo die Soziologie in der Lage ist, der Gesellschaft zu helfen, indem sie ihr einen Spiegel vorhält. Ich komme jetzt zu der Frage, welche Teilgebiete in den meisten Volluniversitäten gelehrt werden, also welche grundsätzlichen Fachrichtungen man innerhalb des Faches studieren kann. Die meisten Studiengänge innerhalb der Soziologie sind anhand bestimmter Bereiche aufgebaut wie soziologische Theorie, Mikrosoziologie, Makrosoziologie, gesellschaftliche Institutionen, Kultursoziologie, aber auch Methodenlehre. Ich möchte zu den einzelnen Bereichen ein paar Stichworte nennen. Die soziologische Theorie befasst sich mit den sogenannten soziologischen Klassikern. Ihnen dürften die Namen Karl Marx oder Max Weber vertraut sein, Georg Simmel, Norbert Elias, Anthony Giddens oder Niklas Luhmann sind weitere 3 Persönlichkeiten, die als Klassiker der Soziologie in jedes Soziologie-Studium hineingehören. Manche der Klassiker sind schon über 100 Jahre alt, bilden aber nach wie vor das grundlegende Wissen, um soziale Ordnungen zu entschlüsseln und basale Logiken zu erfassen. Zu nennen sind hier z. B. soziale Klassen bei Marx, das Verhältnis von Kapital und Arbeit oder die Frage nach der religiösen Entstehung des Kapitalismus bei Weber; die Frage, warum das Geld wie bei Simmel nicht nur eine wirtschaftliche Bedeutung, sondern auch eine philosophische Bedeutung besitzt. Oder Norbert Elias, der sich mit zivilisatorischen Fragen befasst. All das sind grundsätzliche Fragen, die bis heute Gültigkeit haben. Das Gebiet der Mikrosoziologie, das beispielsweise auch ich an der TU Darmstadt vertrete, interessiert sich für Fragen der Biographie, Persönlichkeitsstruktur und der Lebensführung, was – so denkt man zunächst – sehr psychologisch wirkende Fragen sind. Der Unterschied zwischen einem gesellschaftstheoretischen Zugriff auf Biographie und Lebensführung und einer psychologischen Sichtweise ist z. B., dass die Soziologie sich regelmäßig mit historischen Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur oder der historischen Wandelbarkeit von Lebenslaufmustern und der Biografie befasst oder auch mit der Frage, wie der psychische Apparat, den wir heute kennen, den Freud beispielsweise analysiert hat mit seiner Aufteilung von Ich, Es, Über-Ich, historisch entstanden. Dazu gehört auch die Feststellung von Norbert Elias, der gezeigt hat, dass der Mensch des Mittelalters ein komplett anderes Wesen war als wir heute. Denn er verfügte viel weniger über eine Über-Ich-Funktion, sondern er war deutlich durch seine Triebe gesteuert. Er hat sehr viel weniger diesen komplexen Abdruck der Gesellschaft in sich aufgegriffen, der im Über-Ich als Internalisierung von Werten und Normen zum Ausdruck kommt. In der Makrosoziologie zeigen sich im Wesentlichen zwei Teilbereiche. Das ist der Bereich der Theorien funktionaler Differenzierungen. Er hat gezeigt, dass Gesellschaften in verschiedene horizontale Subsysteme aufgeteilt sind, die gleichrangig nebeneinander stehen, beispielsweise das Wirtschaftssystem, das politische System, Gesundheitssystem, Wissenschaftssystem, Erziehung und Bildung. Das sind Funktionen, die bestimmte gesellschaftliche Aufgaben erfüllen für die Gesellschaft im Ganzen, die aber in Teilbereichen organisiert sind. Die Sozialstrukturanalyse beschäftigt sich dagegen eher mit der Frage, wie Gesellschaften in Klassenschichten und Milieus aufgeteilt sind. Die Kultursoziologie befasst sich mit den Themen, die ich anfangs erwähnt habe, also: Wie ist soziale Wirklichkeit, aus welchen kulturellen Grundüberzeugungen besteht sie und wie ist die Relativität dieser Grundüberzeugungen. Die Kultursoziologie befasst sich auch mit anthropologischen Fragen, z. B. mit der Frage was ist der Mensch im Unterschied zum Tier. Ein zentraler Anthropologe ist Arnold Gehlen. Er hat behauptet, der Mensch sei ein fundamental gesellschaftliches Wesen, weil er ein Mängelwesen ist und aufgrund einer Unterausstattung an Instinkten notwendigerweise auf gesellschaftliche Institutionen angewiesen ist, die die mangelnde Triebausstattung kompensieren. Einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass andere Tiere, evolutionstheoretisch betrachtet, in ihrem Verhalten eher über Instinkte gesteuert werden, während der Mensch über diese Instinkte nicht in gleicher Weise verfügt, an deren Stelle treten gesellschaftliche Institutionen, die den Menschen von Grund auf in seinem Verhalten steuern. Der Mensch ohne Vergesellschaftung ist also nicht denkbar. 4 Es gibt also diese grundlegenden Bereiche der Soziologie, von denen ich gerade gesprochen habe. Aber die meisten Studiengänge in Deutschland bieten auch Spezialisierungen an, die man in fortgeschrittenen Semestern belegen kann. Das sind z. B. Organisations-, Wirtschafts-, Techniksoziologie, Stadtsoziologie, Familienund Geschlechterverhältnisse oder Bildungssoziologie. All das sind Schwerpunktthemen, die man nutzen kann, um sich auf bestimmte Berufe hin zu qualifizieren und die dann dem Einzelnen auch anheimgestellt werden als seine persönlichen Schwerpunkte. Dazu komme ich später noch einmal. Gründe oder Anlässe, Soziologie zu studieren, gibt es viele. Ich persönlich kam zur Soziologie durch eine Pubertätskrise, als sich in mir ein ganz grundsätzlicher Wertekonflikt auftat. Ich bin in einem traditionellen Milieu in einer deutschen Kleinstadt aufgewachsen, in dem einerseits klassische Werte wie Disziplin, Leistung, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit vermittelt worden sind, in dem aber andererseits auch traditionelle Hierarchien wie etwa zwischen Männern und Frauen, Chefs und Untergebenen, Eltern und Kindern unhinterfragbare Geltung beanspruchten. Ich durfte aufs Gymnasium gehen, obwohl oder vielleicht auch gerade weil ich ein Mädchen war. Dort lernte ich völlig andere kulturelle Selbstverständlichkeiten und Werte kennen wie z. B. eine vollkommen andere Form des Umgangs mit Normen oder der Begründungsbedürftigkeit von Normen. Es wurde argumentiert, es wurde mir eine Diskurswahl beigebracht, die ich ganz stolz zuhause üben wollte, indem ich meine Eltern fragte, wenn sie mir Anweisungen gaben, wie sie denn das begründen. Das fanden sie natürlich nicht besonders lustig, sondern sie haben sich darauf verständigt, dass das Gymnasium uns Flausen in den Kopf setzen würde, weil meine Nachfragen aus ihrer Sicht einfach Widerworte waren. Wenn man Normen in Frage gestellt hat und fragte, warum man immer um 18.30 Uhr zum Abendessen kommen müsse, dann wurde das nicht als Aufforderung verstanden, das zu begründen, sondern das war ein Widerstand gegen die elterliche Autorität. Ich erzähle dieses Beispiel, weil es charakteristisch ist für eine bestimmte Grunderfahrung des Soziologisierens, nämlich einen Bruch zu erleben mit selbstverständlichen Werten und Ordnungen, in die man hineingewachsen ist. Analoge Erfahrungen machen auch Schüler, die durch einen längeren Auslandsaufenthalt ein fremdes Land kennengelernt haben, und zwar nicht als Tourist, sondern mit der Aufgabe, sich dort zurechtzufinden, sich dort einzuleben. Sie können dort einen Kulturschock erleiden und feststellen, dass das, was sie für selbstverständlich halten, die Art und Weise, wie man sich zuhause benimmt, die Etikette, die Art und Weise, Kontakte zu schließen und mit anderen Menschen umzugehen, in diesem Land so keine Gültigkeit mehr hat, vielleicht sogar auf Unverständnis oder Ablehnung stößt, und dass es ganz andere Regeln sind, die dort herrschen, die man erst mühsam erlernen muss. So ging es mir auch, als ich merkte, dass ich jetzt zwar mit dem intellektuellen Rüstzeug ausgestattet war, das Herkunftsmilieu zu verlassen und in eine neue Ordnung vorzustoßen, dass es aber noch keineswegs gesagt ist, dass ich diese Welt auch praktisch beherrsche und mich darin bewegen kann. Ich musste die eine oder andere schmerzliche Erfahrung machen, dass ich zwar in der Lage war, mich von meinem Herkunftsmilieu zu lösen, weswegen ich aber noch nicht in dem Milieu angekommen bin, in das ich hineinwollte, nämlich in das universitäre wissenschaftliche Milieu, in dem es bestimmte Regeln der Reputation und 5 Selbstdarstellung gibt, die man beherrschen muss und die ich erst entwickeln musste. In diesen Momenten wurde mir Gesellschaft ganz hautnah bewusst, nämlich in der Form, dass ich nicht mithalten konnte und Schamgefühle hatte, weil ich die Spielregeln nicht konnte. Welche Fähigkeiten und Talente sollte man mitbringen, wenn man Soziologie studieren möchte? Ich kann Ihnen jetzt sagen, dass Sie auf jeden Fall intellektuelle Neugierde haben sollten, dass Sie analytisches Denken und eine gewisse Fähigkeit zur Abstraktion beherrschen sollten. Ganz sicher sollten Sie den Willen mitbringen, Gegebenes nicht einfach hinzunehmen, sondern hinter die Strukturen zu blicken. Das sind aber gleichzeitig Fähigkeiten, die Sie innerhalb des Studiums lernen können. Ein Ziel des Studiums ist ja analytisches Denken, die Fähigkeit zur Problemlösung und die Fähigkeit zur Abstraktion. Sie sollten aber beachten, dass auch in der Soziologie nicht nur gelesen wird, sondern harte Fächer beherrscht werden müssen. Jedes Soziologie-Studium beinhaltet die Methodenausbildung, vor allem die quantitativen Methoden der empirischen Forschung. Und das heißt Statistik, Mathematik, dazu gehören vielerlei Formen von Rechenarten, die Sie aus dem Abitur kennen. Das ist für viele Studierende eine Hürde, die sie nicht nehmen. Deswegen machen Sie sich darauf gefasst, Sie müssen mit diesen Methoden in ihrem Studium lernen und dann beherrschen. Es gibt mehrere Wege, durch das Studium der Soziologie zu gehen. Das hängt immer davon ab, welche Fähigkeiten Sie erwerben und wohin Sie später gelangen wollen. Sie können sehr stark aus der theoretischen Perspektive studieren und sich auf eine wissenschaftliche Tätigkeit vorbereiten. Dann ist das Studium sehr textorientiert, Sie lesen die theoretischen Klassiker. Sie können aber auch sagen, ich möchte nicht in die ganz tiefen Grundlagen einsteigen, sondern ich lerne, sozusagen eine Forscherpersönlichkeit auszubilden, die es schafft, Probleme zu lösen. Sie können aber auch Soziologie so studieren, dass Sie sich möglichst viele Wissensgebiete und Fachwissen über die Gesellschaft aneignen, in der Hoffnung, später eine Grundlage zu schaffen für bestimmte Berufsfelder. Beispielsweise gibt es Möglichkeiten als politischer Referent oder in der Verwaltung, in der Marktforschung, in statistischen Institutionen, als Journalist oder im Bereich von Kultur und Sozialmanagement. Die Soziologie ist kein Fach, mit dem man über ein spezialisiertes Berufsfeld exklusiv verfügt, sondern die meisten Berufsfelder, die für Sie in Frage kommen, sind nicht auf Soziologie kapriziert, d. h. Sie sind nicht die einzigen Fachanwärter, die Anspruch auf dieses Gebiet erheben, sondern wenn Sie beispielsweise Journalist werden wollen, dann konkurrieren Sie natürlich mit anderen Fachgebieten, mit Absolventen der Studiengänge Journalistik, Geschichte oder anderer Sozialwissenschaften. Es ist wichtig, sich darauf einzustellen, dass Sie mit Ausnahme der Forschung und Lehre keinen sehr spezialisierten Arbeitsmarkt vorfinden, der nur auf Sie zugeschnitten ist. Sie müssen selber sehen, wie Sie sich mit Ihrem spezialisierten Wissen ein bestimmtes Berufsfeld erobern und es dort gewinnbringend einbringen. Die Soziologie im Hauptfach zu studieren und das im Hinblick auf ein bestimmtes Berufsfeld erfordert auch eine Auswahl aus verschiedenen Nebenfächern zu treffen. In der Regel handelt es sich um Nebenfächer wie Anglistik, Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaften, Informatik und Wirtschaftswissenschaften. Es empfiehlt sich, die Wahl des Nebenfachs an den Berufsfeldern auszurichten, die Sie für sich in 6 Betracht ziehen für Ihre spätere Berufstätigkeit. Z. B. kann es sinnvoll sein, Informatik und Soziologie zu kombinieren, wenn Sie vorhaben, im Bereich Kulturmanagement oder Online-Journalismus tätig zu werden. Es kann sinnvoll sein, Geschichte oder Philosophie mit der Soziologie zu verbinden, wenn Sie im Bereich Forschung und Lehre verbleiben wollen, weil historisches Wissen in der Soziologie unabdingbar ist. Wirtschaftswissenschaften mit Soziologie zu kombinieren, so dass Sie über ökonomische Fähigkeiten verfügen, ist für die Bereiche Kultur- und Sozialmanagement von Vorteil. Die TU Darmstadt bietet beispielsweise an, stadtbauliche oder infrastrukturelle Nebenfächer zu kombinieren, wenn Sie sich auf Stadtsoziologie spezialisieren und im Bereich Städtemarketing, in der Stadtverwaltung oder in der Stadtplanung tätig werden wollen. Die Soziologie hat einen schlechten Ruf im Hinblick auf Arbeitsmarktchancen. Es kursieren Gerüchte, Soziologie-Studierende würden zu Taxifahrern ausgebildet werden. Das stimmt so natürlich nicht. Die Aussichten der Soziologie-Absolventen sind besser als ihr Ruf, die meisten haben eine Arbeit gefunden, die Arbeitslosenzahl ist relativ gering. Im Jahr 2005 lag sie bei 7 %, heute ist sie niedriger, allerdings – das muss man auch sagen – ist sie immer noch höher als die anderer Akademiker. Natürlich haben Sie mit einem Studium der Ingenieurwissenschaft oder der Informatik klarere Berufsperspektiven. Gleichwohl kommen Soziologie-Absolventen besser unter als die nicht-universitär ausgebildete Bevölkerung. Ihre Arbeitsmarktchancen sind also sehr gut. Nicht zuletzt hängt es auch von Ihren Nebenqualifikationen, die Sie während Ihres Studiums erworben haben, ab, ob sich der Übergang in den Beruf glatt gestaltet. Wichtige Schlüsselqualifikationen sind z. B. die Wahl eines Praktikums, das Sie befähigt, schon während des Studiums in dem Berufsfeld, das Ihnen vorschwebt, Kontakte zu knüpfen. Sie müssen Ihr Studium ernst nehmen und sich auf die gestellten Fragen einlassen, Sie müssen die methodische Ausbildung ernst nehmen, weil hier beispielsweise innerhalb der Forschung oder innerhalb der statistischen Grundkompetenzen sehr viel anschlussfähige Berufsfelder sind. Die methodische Ausbildung ist z. B. wichtig für eine Berufstätigkeit in den Statistischen Bundesämtern oder bei der Sozialberichterstattung. Qualitative Methoden sind wichtig, um qualitative Interviews zu führen. Damit könnten Sie sehr gut in die Marktforschung oder in die Zukunftsforschung gehen. Das alles sind Qualifikationen, die Sie später nutzen können, die direkt anschlussfähig sind an Ihre Berufsfelder. Sie fragen sich sicher auch, wie ein typischer Übergang in den Beruf ist. Typisch ist tatsächlich eine Zeit der Berufssuch-Arbeitslosigkeit, meistens dauert sie zwischen zwei und zwölf Monaten. Nur 40 % schaffen den direkten Berufseinstieg. In den letzten zehn bis 15 Jahren gab es eine enorme Zunahme von Teilzeitstellen und befristeten Arbeitsverhältnissen, die am Anfang der beruflichen Laufbahn stehen und dafür sorgen, so dass Sie einen, wie wir sagen, ausgefransten Übergang in den Beruf durchstehen müssen, wo Sie sich eine Weile von Praktikumsplätzen hin zu befristeten Arbeitsverhältnissen hangeln, bis Sie – in der Regel nach zwei Jahren – ein festes Arbeitsverhältnis antreten können. Wie finde ich meinen ersten Job? Über 60 % der Absolventen finden ihre erste Stelle über Netzwerke und Kontakte, die sie während des Studiums geknüpft haben, oder über Bekannte, Familienangehörige usw., 33 % über Bewerbungen und ein kleiner Prozentsatz von 11 % über Initiativbewerbungen. Hilfreich bei der Jobsuche sind 7 Praktika, Berufserfahrung, persönliches Marketing und Auftreten, EDV-Kenntnisse, ein zügiges Studium, Auslandsaufenthalte und ein relativ vollgepackter Lebenslauf. Wie ist es eigentlich, wenn ich an der Uni bleiben will? Das spezifische Berufsfeld ist immer die Forschung und Lehre. Dort finden Sie die beste Passung zwischen dem, was Sie im Studium gelernt haben, und dem, was Sie im Beruf machen, nämlich Soziologin bzw. Soziologe sein. Dazu müssen Sie entweder an einer Universität oder an außeruniversitären Einrichtungen zunächst arbeiten. Aber wenn Sie eine Lebensstellung anstreben, bleibt oft nur der Weg in die Professur und das bedeutet meistens eine relativ langwierige wissenschaftliche Laufbahn, eine Ochsentour. Wenn Sie also vorhaben, an der Universität zu bleiben, dann ist die erste Qualifikationsstufe nach dem Master die Promotion, die aus einer eigenständigen umfangreichen Forschungsarbeit besteht und einer sogenannten Disputation, einer mündlichen Prüfung. Diese Forschungsarbeit beinhaltet eine genuine Forschungsfragestellung und dauert ungefähr drei bis fünf Jahre. Nach der Promotion haben Sie eigentlich die letzte Möglichkeit, sich nochmal für einen anderen Berufsweg zu entscheiden. Oder Sie treten in die nächste Phase ein, die Phase der Juniorprofessur, der Habilitation, die mit einer weiteren Buchpublikation endet, die eine weitere Forschungsarbeit von drei bis fünf Jahren bedeutet. Danach ist es oftmals schwierig, dann nochmal in eine andere Berufslaufbahn einzumünden. Denn Sie sind dann schon etwas älter und oft ist es nach einer so langen Zeit der Spezialisierung auf soziologische Forschungsarbeit unbefriedigend, nochmal ein gänzlich neues Kapitel aufzuschlagen. Das heißt, es bleibt nur der Weg in die Professur. Hier fangen die Probleme für den Einzelnen oft an, denn trotz hervorragender Qualifikation und hervorragender Forschungsarbeit können Sie nicht sicher sein, die ersehnte Professur zu bekommen, weil der Wettbewerb sehr sehr hart ist. Häufig bewerben sich 80 bis 90 Personen auf eine Professur, so dass Sie einfach damit rechnen müssen, dieses Ziel nicht zu erreichen, unabhängig davon, wie gut Sie qualifiziert sind. Selbst wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass die Hochschullaufbahn nach der Promotion doch nicht das Richtige ist, gibt es sehr viele andere attraktive Möglichkeiten, als Soziologe berufstätig sein zu können. Ich habe es bis heute nicht bereut, Soziologin zu sein. ***** Cornelia Koppetsch studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie in Gießen, Hamburg und Berlin. Sie habilitierte sich im Fachbereich Sozialwissenschaften und ist seit 2009 Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt, wo sie die Professur für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung innehat. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildung und Beruf, Sozialer Wandel, Ökonomie und Lebensführung, Familie, Geschlechterverhältnisse und Sozialstruktur. Bücher (Auswahl): – Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist – Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten. (zus. mit Sarah Speck). Suhrkamp-Verlag, 2015. 8 – Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter: Beiträge zur Soziologie der Sexualität (KörperKulturen) (zus. mit Sven Lewandowski). transcript-Verlag. 2015. – Die Wiederkehr der Konformität – Streifzüge durch die gefährdete Mitte. CampusVerlag, 2013. 9