Vorwort Wenn es um Sex und Logik geht, greifen Literaten gerne auf die große Theorie zurück. Das hat seit Platons Symposium Tradition und führt bis hin zu Hélène Cixous, Gisela von Wysocki, Eva Meyer oder Judith Butler immer wieder zu faszinierenden Ergebnissen und hat nicht zuletzt zu wichtigen Einsichten in das Ungenügen großer Theorien von der Psychoanalyse über die Philosophie bis zur literarischen Theorie geführt, in ein Ungenügen allerdings, das im gleichen Zuge schon wieder in neue und oft in dieselbe Theorie umgesetzt wird. Das vorliegende Buch von Sylvia Taraba weiß um diese Tradition und leistet mit Konzentration und Präzision seinen eigenen Beitrag zu ihr. Auch hier ist das Thema eindeutig genug und es kann dennoch und gerade deswegen der Bogen gar nicht weit genug gespannt werden. Man ist sich in der europäischen Denktradition so vieler Abwertungen von Sinnlichkeit, Geschlechtlichkeit und Weiblichkeit bewusst, die von der Philosophie ebenso sehr geteilt wie von den Fachwissenschaften unterstützt werden, dass das Vorspiel gar nicht lang genug hinausgezögert werden kann, um eine Sensibilität für die anstehenden Fragen zu gewinnen, die anschließend, nach dem Akt, dann sowieso immer wieder eine neue und überraschend andere Form annimmt. Im unruhigen Zentrum des vorliegenden Buches steht die Theorie des imaginären Wertes, die mit philosophischen, logischen und mathematischen Mitteln so genau erläutert wird, dass das Buch mit Fug und Recht als eine umfassende Einführung in dieses Thema gelten kann. Dabei wird nicht zuletzt deutlich, dass das eigentliche Thema des imaginären Wertes weniger das Land des Imaginären ist, das von diesem Wert aus zu erschließen wäre, als vielmehr der Blick zurück auf das Land des Eindeutigen und Entschiedenen, des entweder Wahren oder Falschen, Männlichen oder Weiblichen, Mächtigen oder Ohnmächtigen, Klugen oder Listigen, das man dank dieses Wertes für einen Moment hinter sich lassen kann, in diesem Moment jedoch auch genauer erkennt als wenn man praktisch handelnd mitten in ihm steckt. Der imaginäre Wert, wie ihn die Mathematik aus i = -1 gewinnt, ist keine Pforte in das Land der Träume, sondern ein Kulminationspunkt, der für einen Moment die Oszillation sichtbar und erfahrbar macht, aus der die Wirklichkeit gewonnen und gebaut ist, das Sowohl-als-Auch 3 und Keins-von-Beidem, das in der Geschlechtlichkeit zum Kick und zum Ereignis wird. Dieses Buch ist nur der Auftakt und doch in jeder Zeile bereits das Ganze, wenn man es denn zu lesen versteht. Vielleicht bleibt es bei diesem Auftakt, der bereits gelungen genug ist, um den Blick zu öffnen für das, was anzuschauen dann alles andere als einfach ist. Hier gilt ja noch eindringlicher als in allen anderen Fällen, dass die Beobachtung, das Hinsehen, das Sichzurechtlegen keine neutralen Akte sind, sondern den Beobachter ebenso verletzen können wie das Beobachtete. Immerhin gibt es nicht nur schlechte, sondern auch gute Gründe für das Offenlassen jenes weiten Feldes zwischen dem romantischen Diskurs der Liebe auf der einen Seite und dem Vollzug der Geschlechtlichkeit auf der anderen Seite, für jenes weite Feld zwischen Erotik und Biologie also, auf dem sich unsere sexuellen Begegnungen abspielen. Hinzuschauen und Nichthinzuschauen gehen dort immer schon Hand in Hand, so wie die stärkste Begegnung schon wieder die Abkehr voneinander vorbereitet und auch hier gerade die Oszillation zwischen beidem die größte Lust verspricht. Vielleicht jedoch ist dieses Buch tatsächlich ein Auftakt, ein weiterer Auftakt, wie man mit Blick auf die Tradition sagen muss. Dann käme es im Weiteren darauf an, sich anzuschauen, wie das Thema aus seiner Vermeidung, der Blick aus seiner Abwendung, das Wissen aus der Bescheidung in die bloße Ahnung gewonnen wird und sich zwischen Alfred C. Kinsey und Beate Uhse auf der einen Seite und Platon, Schopenhauer und Michel Foucault auf der anderen Seite das Feld eines „logischen Duells“ (Gabriel Tarde) zwischen Mann und Frau (aber vergessen wir nicht die homosexuellen Varianten) eröffnet, dessen Erschließung unsere theoretischen Mittel ebenso herausfordert wie unsere empirischen Methoden der Sozialforschung. Einstweilen jedoch geht es wieder einmal darum zu verlernen, identitätstheoretisch zu denken und zu träumen. Das lässt sich mit diesem Buch hervorragend machen. Das Drama des Sexes und das Spiel der Erotik entschlüsseln sich nur jener Philosophie, die sich traut, die Endlichkeit und die Vereinzelung zu denken, nicht jener, die immer wieder das Unendliche zitiert, um die Verschmelzung vorstellbar zu machen. Von unglaublich viel Kitsch gilt es sich hier ebenso zu befreien wie vom allzu schnellen allzu trockenen Blick. Und nicht zuletzt gibt es auch ein soziologisches Interesse an diesem Thema. Immerhin geht es darum, der Kommunikation alle jene Fragen zu erschließen, die bisher vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation des Verzichts auf Wahrnehmung verhandelt im doppelten Sinne des Wortes werden, nämlich behandelt und ausgehandelt. Wir sind Meister darin, uns mitzuteilen, dass wir gesehen, gespürt, gefühlt haben, was wir 4 uns nicht mitteilen, und somit auch Meister darin, gleichsam an der Grenze der Gesellschaft all das auf sich beruhen zu lassen, dem wir den Zugriff der Gesellschaft, das aussprechende Wort nicht wünschen. Aber auch das setzt voraus, dass wir zu sehen lernen, was wir kommunizieren und wie wir kommunizieren. Sonst hat uns die Gesellschaft, bevor wir sie haben. Dirk Baecker 5