Gesundheits- und Krankheitsmodelle

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15
Gesundheitsund Krankheitsmodelle
H. Faller, H. Lang
2.1
Verhaltensmodelle – 16
H. Faller
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.1.4
Lerntheoretische und kognitions­theoretische Grundlagen – 16
Verhaltensanalytisches G
­ enesemodell – 20
Verhaltensmedizinische Ansätze – 21
Verhaltensgenetik – 22
2.2
Psychobiologische Modelle – 24
H. Faller
2.2.1 Emotion, Stress und Krankheit – 25
2.2.2 Schmerz – 28
2.3
Psychodynamische Modelle – 32
H. Faller, H. Lang
2.3.1
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.3.5
2.3.6
2.3.7
Psychoanalytische E­ ntwicklungspsychologie – 32
Traditionelle Stadien der p
­ sychosexuellen Entwicklung – 34
Drei-Instanzen-Modell, ­Triebmodell – 36
Trieb-, Ich-, Selbst- und Objekt-psychologische Modelle – 37
Abwehrmechanismen – 37
Primärer und sekundärer K
­ rankheitsgewinn – 40
Struktur und Konflikt – 40
2.4
Sozialpsychologische Modelle – 41
H. Faller
2.4.1 Psychosoziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit – 41
2.4.2 Psychische Risiko- und Schutzfaktoren – 42
2.4.3 Soziale Unterstützung – 44
2.5
Soziologische Modelle – 46
H. Faller
2.5.1 Einflüsse der gesellschaftlichen Opportunitätsstruktur – 46
2.5.2 Einflüsse ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren – 47
H. Faller, H. Lang, Medizinische Psychologie und Soziologie,
DOI 10.1007/978-3-662-46615-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
2
16
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche
­theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit
vorgestellt: Verhaltensmodelle, psychobiologische
Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsychologische Modelle und soziologische Modelle. Diese
Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergangenheit und zum Teil auch heute noch vorherrschende Zersplitterung der Wissenschaft. Sie ist aber nur
noch aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen.
­Gesundheit und Krankheit sind so komplexe Phänomene, dass es nicht angemessen ist, sie nur unter
dem Blickwinkel eines einzelnen Modells zu be­
trachten. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspektiven werden heutzutage in zunehmendem Maße
miteinander verknüpft. In Studien, die sich auf dem
aktu­ellen Stand der Wissenschaft befinden, werden
biologische und psychologische Einflüsse gleich­
zeitig analysiert. Dies geschieht z. B. in verhaltens­
genetischen Untersuchungen, in denen sowohl die
Gene als auch elterliches Verhalten erfasst werden,
um das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt
bei der Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären.
2.1
Verhaltensmodelle
H. Faller
Lernziele
Der Leser soll
55 das respondente, operante und kognitive
­Lernmodell beschreiben können,
55 das SORKC-Modell der Verhaltensanalyse
­beschreiben können,
55 Gen-Umwelt-Interaktion und Gen-UmweltKorrelation unterscheiden können.
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige
­Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von
Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich
auf die menschliche Gesundheit auswirken, werden
Gesundheitsverhalten genannt. Ein Beispiel für
ein günstiges Gesundheitsverhalten ist körperliche
Aktivität. Sie schützt vor der Entstehung von Herz­
erkrankungen und Krebs. Beispiele für ungünstiges,
riskantes Gesundheitsverhalten sind Zigaretten­
rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungs­
mangel. Diese Verhaltensweisen sind Risikofakto­
ren für die Entstehung von Herzkrankheiten und
Krebs. Das Verhalten eines Menschen, der schon an
einer Krankheit leidet, wird als Krankheitsver­
halten bezeichnet. Ein Beispiel für ein günstiges
Krankheitsverhalten ist die Mitarbeit bei der medi­
zinischen Therapie, z. B. regelmäßige Medikamen­
teneinnahme (Compliance, 7 Abschn. 5.5.2). Aus
den Verhaltensmodellen, die im Folgenden vor­
gestellt werden, lassen sich Strategien ableiten, wie
man das Gesundheits- und Krankheitsverhalten in
eine günstige Richtung lenken kann.
2.1.1
Lerntheoretische und kognitions­
theoretische Grundlagen
Verhaltensmodelle basieren auf der Lerntheorie.
Zunächst dominierte hier der Behaviorismus, der
nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand der
Psychologie akzeptierte und die Betrachtung von
inneren Prozessen (Introspektion) als unwissen­
schaftlich ablehnte. Die menschliche Psyche wurde
als »Black Box« betrachtet, in die man nicht hinein­
sehen kann. Verhalten wurde allein durch Umwelt­
bedingungen zu erklären versucht. Während diese
radikale Perspektive damals einen Fortschritt ge­
genüber einer rein spekulativen Psychologie dar­
stellte und viele (tier-)experimentelle Untersu­
chungen anregte, schoss sie doch über das Ziel
­hinaus und schränkte die Erkenntnismöglichkeiten
der Psychologie unnötig ein. In der 2. Hälfte des
20. 
Jahrhunderts hat deshalb die »kognitive
­Wende« stattgefunden. Kognitionen, d. h. Gedan­
ken, Bewertungen, Erwartungen, Ziele etc., werden
heute als wichtige verhaltenssteuernde Faktoren
angesehen. Die Lerntheorie hat gerade den weiteren
Schritt vollzogen, auch unbewusste Lernprozesse
anzuerkennen, so dass möglicherweise in nicht all­
zu ferner Zukunft lerntheoretische und psychody­
namische Modelle miteinander kombiniert werden
können.
In diesem Abschnitt werden die Lerntheorien
kurz im Überblick dargestellt. Ergänzungen folgen
in 7 Abschn. 4.2.
17
2.1 · Verhaltensmodelle
>> Die Lerntheorien werden unterschieden in
55respondentes Modell (klassische Kondi­
tionierung),
55operantes Modell (operante Kondi­
tionierung),
55kognitives Modell (Lernen durch Eigen­
steuerung, Lernen durch Einsicht).
Respondentes Modell Das respondente Modell
­ etrifft Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst
b
wird: Das Verhalten stellt die Antwort (response) auf
den Reiz dar, daher der Name respondent. Synonym
ist der Begriff klassische Konditionierung. Be­
gründer dieses Modells ist der russische Physiologe
Iwan Pawlow. Im Rahmen seiner Experimente zum
Speichelfluss bei Hunden stellte er eher beiläufig
fest, dass bei den Versuchstieren schon dann Spei­
chelfluss auftrat, wenn sie den Raum betraten, in
dem sie üblicherweise gefüttert wurden, oder den
Tierpfleger sahen, der ihnen das Futter brachte,
oder ihn auch nur kommen hörten. Der Klang sei­
ner Schritte war zu einem Signal dafür geworden,
dass es bald Futter gab. Pawlow führte eine Serie
von Experimenten durch, in denen als Signalreiz
beispielsweise ein Glockenton verwandt wurde: Re­
gelmäßig kurz vor der Fütterung wurde eine Glocke
geläutet. Nach einigen Versuchsdurchgängen löste
alleine der Glockenton Speichelfluss aus.
Grundlage der klassischen Konditionierung ist
ein angeborener Reflex. Dieser besteht aus einem
unkonditionierten Reiz (unconditioned stimulus,
UCS) und einer unkonditionierten Reaktion (UCR):
Futter (UCS) löst Speichel (UCR) aus. Nimmt
man nun einen neutralen Reiz wie einen Glockenton
(der zunächst nur eine Orientierungsreaktion, z. B.
ein neugieriges Ohrenaufstellen, provoziert) und
setzt ihn mehrfach kurz vor der Futtergabe ein
(­Koppelung mit dem UCS), so wird der neutrale
Reiz zum konditionierten Reiz (CS). Er wirkt wie
ein Signal für den darauf folgenden UCS und ist
schließlich auch alleine in der Lage, Speichelfluss
auszulösen, selbst wenn danach gar kein Futter ge­
geben wird. Eine konditionierte Reaktion (CR) ist
entstanden.
>> Bei der klassischen Konditionierung werden
2 Reize miteinander verknüpft, ein unkondi­
tionierter Reiz (UCS, z. B. Futter) und ein kondi­
2
tionierter Reiz (CS, z. B. Glocke). Nach mehr­
facher Präsentation des CS kurz vor dem UCS
ist auch der CS in der Lage, eine Reaktion (kon­
ditionierte Reaktion, z. B. Speichel) auszulösen.
Evolutionärer Sinn Bei der klassischen Konditio­
nierung wird eine Assoziation zwischen UCS und
CS gelernt. Das Individuum entwickelt die Erwar­
tung, dass nach dem CS der UCS eintreten wird.
Klassische Konditionierung ermöglicht dem Orga­
nismus eine sinnvolle Repräsentation seiner Um­
welt. Er bildet stabile Erwartungen aus, z. B. da­
rüber, an welcher Stelle (CS) Nahrung (UCS) zu
finden ist oder aber ein Feind lauert (UCS), dem er
besser nicht begegnet. Wenn auf Dauer der UCS
nicht mehr auf den CS folgt, also diese Erwartung
nicht mehr gerechtfertigt ist, wird die kondi­
tionierte Reaktion wieder gelöscht (Extinktion).
Dabei verschwindet die Verbindung von UCS
und CS aber nicht völlig, sondern wird lediglich
­gehemmt. Löschung bedeutet also das Lernen
einer Hemmung. Gelöschte Reaktionen können
nämlich später wieder erneut auftreten (spontane
Erholung).
Entstehung einer Phobie Berühmt geworden ist
ein (aus heutiger Sicht ethisch fragwürdiges)
­Experiment des amerikanischen Begründers des
Behaviorismus John B. Watson aus dem Jahr 1920:
Einem kleinen Jungen (»der kleine Albert«) wurde
eine Ratte gezeigt. Immer wenn er seine Hand nach
ihr ausstreckte, schlugen die Experimentatoren
­hinter seinem Rücken auf eine Eisenstange und er­
zeugten dadurch lauten Lärm. Albert zuckte zurück
und weinte. Nach 5 Durchgängen genügte schon
der Anblick der Ratte, Angst auszulösen, ohne dass
erneut Lärm gemacht werden musste. Lärm ist für
Kinder ein unkonditionierter Angstreiz. Durch die
Koppelung mit der Ratte wurde eine konditionierte
Angstreaktion auf die Ratte erzeugt: Eine Ratten­
phobie war entstanden. Um die Reaktion wieder
zu löschen, hätte der kleine Albert mit der Ratte
konfrontiert werden müssen, ohne Lärm erschallen
zu lassen, so dass er die Erfahrung hätte machen
können, dass beim Anblick der Ratte nichts Schlim­
mes passiert.
Versuche anderer Forscher, in den folgenden
Jahren diese Studie zu wiederholen, schlugen aller­
18
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
dings fehl. Heute wird die klassische Konditio­
nierung eines zuvor neutralen Reizes deshalb von
manchen Forschern nicht mehr als notwendige Ent­
stehungsbedingung einer Phobie betrachtet. Die
meisten Menschen, die eine Phobie entwickeln,
­haben keine traumatischen Erfahrungen mit dem
Objekt ihrer Furcht gemacht. Was als Furchtobjekt
ausgewählt wird, hängt vielmehr von einer biolo­
gischen Bereitschaft des Reizes ab (preparedness).
Dadurch erklärt sich, dass es zwar viele Menschen
mit Schlangenphobie, aber nur wenige mit Steck­
dosenphobie gibt: Vor Schlangen Angst zu entwi­
ckeln, erhöhte während der Evolution die Über­
lebenschancen. Steckdosen, von denen in unserer
Umgebung für Kinder viel größere Gefahr ausgeht,
gibt es noch nicht lange genug, als dass sie evolu­
tionäre Folgen hinterlassen konnten. Watson hat in
seinem Experiment mit dem kleinen Albert un­
absichtlich einen biologisch vorbereiteten Reiz als
CS gewählt (ein kleines behaartes Tier). Möglicher­
weise sind die Replikationsversuche deshalb fehl­
geschlagen, weil die Forscher andere, biologisch
sinnlose Reize als CS auswählten.
Immunkonditionierung Zytostatika beeinträch­
tigen die Immunabwehr (deshalb werden sie auch
bei Transplantationen eingesetzt, um Abstoßungs­
reaktionen zu verhindern). Ganz analog zur kon­
ditionierten Übelkeit (7 Klinikbox) hat man bei
Chemotherapiepatienten auch eine konditionierte
Abschwächung der Immunabwehr festgestellt.
­Immunkonditionierung wurde experimentell in
Tierversuchen ausführlich untersucht: Ratten, die
zunächst ein Zytostatikum gemeinsam mit einer
Zuckerlösung zugeführt bekamen, zeigten nach
mehrfacher Koppelung schließlich auch allein auf
die Gabe der Zuckerlösung eine Verminderung
von Immunzellen. In einem Experiment mit Men­
schen hat man die klassische Konditionierung
­genutzt, um die Immunabwehr zu stärken. Die
Versuchsper­sonen erhielten Adrenalin, das einen
kurzfristigen Anstieg der Immunabwehr bewirkt,
gemeinsam mit einem Brausebonbon. Nach mehr­
maliger gekoppelter Gabe war auch das Brause­
bonbon für sich genommen in der Lage, den Effekt
auszulösen. Allerdings war der Effekt nicht sehr
groß und nur ­kurzfristig vorhanden, so dass unklar
bleibt, ob er klinisch von Bedeutung ist. Denkbar,
wenn auch bisher nur im Tierexperiment unter­
sucht, ist auch Konditionierung einzusetzen, um
die Abstoßungsreaktion gegenüber Transplantaten
abzuschwächen oder Autoimmunerkrankungen
wie die rheuma­toide Arthritis günstig zu beein­
flussen.
Klinik: Konditionierung bei Chemotherapie
Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes
Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten.
­Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab.
Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren
eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben,
sondern auch als zusätzliche (adjuvante) Maßnahme,
z. B. nach einer Operation bei Brustkrebs, um die
­Gefahr eines Rezidivs zu verringern. Meist erfolgt die
Chemotherapie in mehreren Zyklen, zwischen denen
die Patienten nach Hause entlassen werden. Viele
­gebräuchliche Zytostatika haben als Nebenwirkung
starke Übelkeit, die direkt im Gehirn ausgelöst wird.
Chemotherapeutisch behandelte Patienten ent­
wickeln diese Übelkeit im Laufe der Zeit manchmal
schon beim Anblick der Klinik oder dem Geruch der
Station, wenn sie zu einem erneuten Zyklus auf­
genommen werden. Selbst die Farbe der Zytostatika­
lösung oder die Erwartung (Antizipation), am
­nächsten Tag wieder in die Klinik gehen zu müssen,
können Übelkeit auslösen. Diese antizipatorische
Übelkeit lässt sich mit der klassischen Konditionierung erklären: All diejenigen Bedingungen, die während der Chemotherapie zugegen waren, können
zum konditionierten Stimulus werden. Mittels Entspannungsverfahren (7 Abschn. 8.2.5) lässt sich die
konditionierte Übelkeit abmildern.
Operantes Modell Das Modell der operanten
­Konditionierung wurde von dem amerikanischen
Psychologen Burrhus F. Skinner begründet. Er un­
tersuchte die Konsequenzen, die auf ein Verhalten
folgen, also von diesem bewirkt werden (daher der
Name: operantes Verhalten), und stellte fest, dass
die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt (Ver­
stärkung), wenn auf das Verhalten eine angenehme
Konsequenz folgt. Tauben, Skinners Versuchstiere,
pickten auf eine Scheibe, oder Ratten drückten
­einen Hebel, wenn sie danach eine Futterpille er­
hielten. Sie lernten aber auch, einem unangeneh­
men Elektroschock zu entgehen, indem sie einen
19
2.1 · Verhaltensmodelle
Hebel drückten oder den Käfig wechselten. Die
Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt also
nicht nur, wenn es durch eine angenehme Konse­
quenz belohnt wird (positive Verstärkung), son­
dern auch dann, wenn dadurch etwas Unange­
nehmes beseitigt wird (negative Verstärkung).
Negative Verstärkung muss von Bestrafung unter­
schieden werden. Bestrafung verringert die Wahr­
scheinlichkeit eines Verhaltens, negative Verstär­
kung erhöht sie.
Im Modell der operanten Konditionierung
steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens,
wenn diesem eine angenehme Konsequenz folgt
(positive Verstärkung) oder wenn durch das Ver­
halten eine unangenehme Konsequenz vermieden
wird (negative Verstärkung).
Vermeidungsverhalten Negative Verstärkung spielt
bei der Aufrechterhaltung einer Phobie eine wich­
tige Rolle. Eine Person, die an einer Agora­phobie
(Angst vor öffentlichen Plätzen) leidet, befürchtet
z. B., dass sie auf der Straße ohnmächtig werden
könnte. Sie verlässt deshalb ihr Haus nicht mehr
ohne Begleitung. Dieses Vermeidungsverhalten
führt dazu, dass sie die Angst nicht mehr spürt
(eine unangenehme Konsequenz bleibt aus), und
wird dadurch aufrechterhalten (negative Ver­
stärkung). Der Preis, den sie dafür zahlt, ist aber
eine starke Einengung ihres Bewegungsspielraums.
Um die Angst zu löschen, wäre es erforderlich,
dass ­sie sich der angstauslösenden Situation aus­
setzt (Reizkonfrontation, Exposition), so dass sie
die Er­fahrung machen kann, dass das befürchtete
Ereignis, ohnmächtig zu werden, gar nicht eintritt
(7 Abschn. 8.2.2). Auch beim Schmerzverhalten
spielt negative Verstärkung eine Rolle: Schmerz­
kranke nehmen Medikamente oder schonen sich,
weil dann der Schmerz nachlässt.
>> Vermeidungsverhalten wird durch negative
Verstärkung aufrechterhalten.
Kognitives Modell Das kognitive Modell schreibt
Kognitionen (Gedanken, d. h. Bewertungen, Inter­
pretationen, Erwartungen, Ziele etc.) eine große
Bedeutung für die Erklärung des Verhaltens zu.
­Kognitionen spielen bei der Depression eine wich­
tige Rolle.
2
Typische Symptome einer Depression
55Niedergeschlagene Stimmung
55Verlust von Antrieb und Energie
55Verlust von Lebensfreude und Interessen
55Körperliche Beschwerden: Konzentrationsstörung, motorische Hemmung, Müdigkeit,
Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Schmerzen unterschiedlicher
­Lokalisation
55Kognitive Symptome: negatives Bild
von sich selbst, der Welt und der Zukunft
(kognitive Triade), Pessimismus, Sinn­
losigkeitsgefühle, Schuldgefühle, Selbstmordgedanken (Suizidalität)
Welche davon finden Sie im Fallbeispiel in der Kli­
nikbox?
Klinik: Depression
Ein 20-jähriger Student kommt in die Sprechstunde.
Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Stuhl, den Blick
zum Boden gerichtet, und spricht mit leiser, mono­
toner Stimme: »Ich bin völlig niedergeschlagen und
ohne Energie. Nichts macht mir mehr Freude. Sogar
mich mit meinen Freunden zu treffen, habe ich keine
Lust mehr. Morgens ist es am Schlimmsten: Der Tag
kommt mir dann wie ein riesiger Berg vor, den ich
nicht bewältigen kann. Schon der Gedanke, aufzu­
stehen und mich anzuziehen, ist mir zu viel. Am
­liebsten würde ich im Bett bleiben. Ich fühle mich als
völliger Versager. Manchmal hatte ich auch schon
den Gedanken, gar nicht mehr auf der Welt sein
zu wollen. Alles ist grau in grau, und nichts wird sich
jemals daran ändern.«
Kognitive Verhaltenstherapie Das kognitive Modell
nimmt an, dass irrationale, automatisch ablaufende
Gedanken die depressive Stimmung aufrechterhal­
ten. Daraus folgt, dass man in der Psychotherapie
diese Gedanken verändern muss.
20
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Komponenten der kognitiven
Verhaltenstherapie einer Depression
(7 Abschn. 8.2.2)
55Infragestellung verzerrter, irrationaler
­Kognitionen (z.  B. »Ich werde es nie
­schaffen, eine Freundin zu finden.«) im
­Dialog zwischen Patient und Therapeut
(­sokratischer Dialog).
55Schrittweiser Aufbau angenehmer Akti­
vitäten, um den Verstärkerverlust zu
­kompensieren (z. B. Anregung, wieder einmal auszugehen).
55Training sozialer Kompetenzen im Rollenspiel (z. B. Wie spreche ich jemanden an, der
mir gefällt?).
2.1.2
Verhaltensanalytisches
­Genesemodell
am besten, man zieht sich zurück. Hilfe kann man
sowieso keine erwarten.«). Wenn eine derartige
Prädisposition besteht, ist das Risiko erhöht, unter
belastenden Lebensbedingungen mit einer Depres­
sion zu reagieren. Diese Hintergrundbedingungen
werden in der vertikalen Verhaltensanalyse er­
fasst, in Ergänzung zur horizontalen Verhaltens­
analyse, die die aktuell wirksamen aufrechterhal­
tenden Bedingungen beschreibt.
SORKC-Modell Für die horizontale Verhaltens­
analyse benutzt man das SORKC-Modell (Verhal­
tensgleichung). Das Wort SORKC setzt sich aus den
Anfangsbuchstaben von Stimulus (S), Organismus
(O), Reaktion (R), Kontingenz (K) und Konsequenz
(C) zusammen. Auf diesen 5 Ebenen werden das
problematische Verhalten und die Bedingungen, die
es steuern, beschrieben. Als Beispiel soll ein Patient
mit chronischen Rückenschmerzen dienen:
SORKC-Modell der Verhaltensanalyse
Entstehung und Aufrechterhaltung In einer Ver­
haltensanalyse werden diejenigen Bedingungen be­
schrieben, die für die Entstehung und Aufrecht­
erhaltung eines Verhaltens verantwortlich sind.
Psychische Probleme wie z. B. eine Depression wer­
den dabei als depressives Verhalten aufgefasst.
Rückzug von anderen Menschen ist ein Beispiel für
ein bei depressiven Menschen häufig auftretendes
Verhalten. Diejenigen Faktoren, die bei der Ent­
stehung des depressiven Verhaltens eine Rolle
­spielten, müssen nun nicht unbedingt dieselben
sein wie ­diejenigen, die aktuell dafür sorgen, dass
das Verhalten aufrechterhalten wird. Für die Ent­
stehung kann beispielsweise ein Verlusterlebnis wie
die Trennung vom Beziehungspartner verantwort­
lich sein. Für die gegenwärtige Aufrechterhaltung
­spielen aber möglicherweise rückzugsförderliche
­Kognitionen (»Es wird mir sowieso keine Freude
machen, neue Kontakte aufzunehmen.«) eine Rolle.
Zusätzlich können noch Bedingungen unter­
schieden werden, die dazu beitragen, dass ein Indi­
viduum besonders anfällig dafür ist, eine Depres­
sion zu entwickeln, wie genetische Faktoren oder
die individuelle Lerngeschichte, die sich in be­
stimmten Einstellungen und Wertvorstellungen
niederschlägt (»Wenn es einem schlecht geht, ist es
55Stimulus (S): Die Schmerzen treten immer
dann auf, wenn der Patient eine Aus­
einandersetzung mit einem Arbeitskollegen
hat (auslösender Reiz). Besonders stark
­werden die Schmerzen erlebt, wenn seine
Ehefrau anwesend ist (diskriminativer
Reiz, SD).
55Organismus (O): Die Rückenschmerzen
­treten vor allem dann auf, wenn der Patient
schon vorher innerlich angespannt ist,
was sich auch in einer Muskelverspannung
äußert. Die Schmerzen werden durch
­katastrophisierende Gedanken gefördert
(»Meine Beschwerden werden immer
schlimmer! Gegen meinen Kollegen komme
ich niemals an! Schlussendlich verliere ich
noch meinen Arbeitsplatz!«). Nicht nur
­körperliche, sondern auch kognitive Einflüsse werden zu den Organismusvariablen gerechnet.
55Reaktion (R): Unter Reaktion wird die
Schmerzsymptomatik selbst beschrieben,
und zwar auf sensorischer, vegetativer,
emotionaler, kognitiver und motorischer
Ebene (7 Abschn. 2.2.2).
21
2.1 · Verhaltensmodelle
55Kontingenz (K): Unter Kontingenz versteht
man das Koppelungsverhältnis von Reak­
tion und Konsequenz. Die Ehefrau tröstet
den Patienten jedes Mal, wenn er seine
Schmerzen äußert (kontinuierliche Verstär­
kung). Der Hausarzt schreibt ihn jedoch
nicht immer krank (intermittierende Ver­
stärkung).
55Konsequenz (C): Wenn der Patient seine
Schmerzen seiner Frau gegenüber zum
Ausdruck bringt, tröstet sie ihn (positive
Konsequenz). Sein Arzt schreibt ihn krank,
so dass er nicht zur Arbeit gehen muss und
dadurch auch nicht mit dem schwierigen
Kollegen konfrontiert wird (Wegfall einer
negativen Konsequenz). Kurzfristig hat der
Schmerz für den Patienten also angenehme
Konsequenzen. Langfristig aber führt die
körperliche Schonung zu einem Verlust
an Fitness, die ihn schmerzanfälliger macht.
Das SORKC-Modell ist ein einfaches Schema, das
der ersten Orientierung dienen kann. In der moder­
nen Verhaltenstherapie bezieht man auch komple­
xere Wechselwirkungen und Rückkopplungen ein,
die über das lineare SORKC-Modell hinausgehen.
Entstehung einer Panikstörung Eine Panikstörung
ist durch plötzliche, auf den ersten Blick ohne
­äußeren Anlass auftretende Angstanfälle (Panik­
attacke) gekennzeichnet. Die Anfälle gehen mit
sehr intensiv erlebten körperlichen Beschwerden
einher: Herzklopfen oder Herzrasen, Schwindel
oder Benommenheit, Atemnot, aber auch Schweiß­
ausbrüche, Brustschmerzen, Übelkeit, Zittern, Hit­
ze- und Kältegefühl, Taubheitsgefühle u. a. Die
­Betroffenen befürchten, ohnmächtig oder hilflos
zu werden oder gar zu sterben. Auch zwischen den
Anfällen sind sie ständig in Sorge vor neuen An­
fällen (»Angst vor der Angst«) und deren Folgen.
Sie befürchten z. B. infolge der Angst einen Herz­
infarkt zu erleiden. Wenn die Anfälle schon einmal
in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, versuchen sie,
diese Orte zu vermeiden. Dann liegt zusätzlich zur
Panikstörung eine Agoraphobie (Angst vor öffent­
lichen Plätzen) vor.
2
..Abb. 2.1 Teufelskreis der Angst
Panikpatienten nehmen ihre Körperempfindun­
gen besonders stark war, »bemerken« z. B. ­einen
starken Pulsanstieg, auch wenn der Puls objektiv
nur wenig schneller ist, und interpretieren die Emp­
findung in übertriebener Weise als bedrohlich. Es
kommt dann zu einem Teufelskreis, in dem sich
kognitive Faktoren (Interpretation von Körper­
empfindungen als bedrohlich) und physiologische
Faktoren (Herzklopfen als körperliche Begleit­
erscheinung der Angst) gegenseitig aufschaukeln
(. Abb. 2.1). Die physiologische Erregung nennt
man Aktivierung (7 Abschn. 4.1.7).
2.1.3
Verhaltensmedizinische Ansätze
Verhaltensmedizin ist die Anwendung der Verhal­
tenstherapie in der Medizin. Verhaltenstherapie ist
diejenige Psychotherapieform, die auf den Lern­
theorien beruht (7 Abschn. 8.2.2). Sie analysiert die
funktionellen Zusammenhänge eines Verhaltens
mit den unmittelbar vorausgehenden und nachfol­
genden Bedingungen, also den auslösenden Reizen
und den Konsequenzen (SORKC-Modell). Die ko­
gnitive Verhaltenstherapie der Depression wurde
oben beschrieben.
22
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
2.1.4
2
Komponenten der kognitiven
­Verhaltenstherapie bei Panikstörung
55Informationsvermittlung: Gemeinsam
mit dem Patienten wird herausgearbeitet,
welche Rolle seine Wahrnehmungen und
Kognitionen beim Angstanfall spielen.
Das Teufelskreismodell von . Abb. 2.1 wird
auf diese Weise individuell auf den Patien­
ten zugeschnitten.
55Kognitive Therapie: Der Patient lernt im
­Dialog mit dem Therapeuten, seine Fehl­
interpretationen körperlicher Empfindungen als Anzeichen einer bedrohlichen
Krankheit infrage zu stellen und aufzu­
geben.
55Konfrontation mit angstauslösenden
­Reizen: Durch »Verhaltensexperimente«,
wie z. B. schnelles Treppensteigen oder absichtliches Hyperventilieren, setzen sich
die Patienten den körperlichen Symptomen
(Herzklopfen, Atemnot) aus und machen
damit die Erfahrung, dass nichts Schlimmes
dabei passiert.
Stressmanagement Kognitive Faktoren spielen
auch bei der Stressbewältigung eine wichtige Rolle.
In Programmen zum Stressmanagement lernen die
Patienten, dysfunktionale automatische Gedanken,
die die Belastung noch vergrößern (»Niemals werde
ich das schaffen!«), infrage zu stellen und durch för­
derliche Selbstinstruktionen zu ersetzen (kognitive
Umstrukturierung). Anstatt zu denken »Die Er­
eignisse überschwemmen mich!«, sagen sie zu sich
selbst: »Immer mit der Ruhe! Eins nach dem ande­
ren!« Wenn man die Situation als Herausforderung
betrachtet, die man Schritt für Schritt bewältigen
kann, sind Überforderungsgefühle weniger wahr­
scheinlich. Die Patienten werden zudem angeleitet,
Strategien der systematischen Problemlösung ein­
zusetzen, Handlungsalternativen abzuwägen, die
beste Lösung auszuwählen und ihre Wirksamkeit zu
überprüfen.
Weitere verhaltensmedizinische Einsatzgebie­
te sind Schmerzbewältigung (z. B. Biofeedback,
7 Abschn. 2.2.2) und Patientenschulungen (7 Abschn. 8.1.3).
Verhaltensgenetik
Die Verhaltensgenetik untersucht genetische Ein­
flüsse auf das Verhalten. Dabei benutzt sie Korrela­
tionen zwischen Personen unterschiedlichen Ver­
wandtschaftsgrads und damit unterschiedlicher
­genetischer Ähnlichkeit (z. B. sind eineiige Zwillinge
100 % genetisch ähnlich, zweieiige Zwillinge/Ge­
schwister 50 %, Adoptivgeschwister 0 %). Eine Zwil­
lingsstudie erlaubt es, aus der größeren psychischen
Ähnlichkeit eineiiger im Vergleich zu zwei­eiigen
Zwillingen die Erblichkeit zu schätzen. Besonders
interessant sind auch Korrelationen zwischen ge­
trennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, deren
Ähnlichkeit nicht auf gemeinsame Umwelterfah­
rungen zurückgehen kann. Getrennt aufgewachsene
Zwillinge korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen
genauso hoch miteinander wie gemeinsam aufge­
wachsene, was für eine geringe Bedeutung der ge­
meinsamen Umwelt spricht.
In einer Adoptionsstudie vergleicht man die
Ähnlichkeit von leiblichen und Adoptivgeschwis­
tern, die in derselben Umwelt aufgewachsen, gene­
tisch einander aber nicht ähnlich sind. Adoptivge­
schwister korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen
nicht miteinander, wohl aber mit ihren biologischen
Eltern, was ebenfalls für die geringe Bedeutung der
gemeinsamen Umwelt spricht.
Die besten Schätzungen der einzelnen Anteile
von Anlage und Umwelt erbringen Kombinations­
studien, in denen Menschen unterschiedlicher ge­
netischer Ähnlichkeit und unterschiedlicher Um­
welt gemeinsam analysiert werden.
Einflussfaktoren in der Verhaltensgenetik
55Genetische Faktoren
55Gemeinsame (geteilte) Umwelteinflüsse
55Individuelle (nichtgeteilte) Umwelteinflüsse
Während die gemeinsame Umwelt zu einer größe­
ren Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern einer
Familie beiträgt, bewirken individuelle, nichtgeteil­
te Umwelteinflüsse, dass die Mitglieder einer Fa­
milie einander unähnlich werden. Nichtgeteilte
Umwelteinflüsse kommen auch dadurch zustande,
dass ein und dasselbe Ereignis (z. B. die Scheidung
der Eltern) von den Mitgliedern einer Familie un­
23
2.1 · Verhaltensmodelle
terschiedlich verarbeitet wird. Unter nichtgeteilter
Umwelt werden nicht nur psychosoziale Einflüsse
gefasst, sondern auch Einflüsse der physikalischen
Umwelt (z. B. während der Schwangerschaft) und
des Messfehlers (Abweichungen durch ungenaue
Messungen des psychischen Merkmals).
Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher unter­
suchten psychischen Merkmale mehr oder minder
starke genetische Einflüsse gefunden.
>> Genetischer Einfluss bei psychischen
­Störungen:
55starker Einfluss bei Autismus, Schizophre­
nie, bipolarer affektiver Störung (manischdepressiver Erkrankung) und Aufmerk­
samkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung,
55mittelgroßer Einfluss bei Depression,
Angststörungen und Substanzmissbrauch/
-abhängigkeit.
Gene wirken aber nicht nur bei psychischen Störun­
gen, sondern auch bei normalen Persönlichkeits­
merkmalen (7 Abschn. 4.6).
Vom Gen zum Verhalten ist es ein weiter Weg.
Gene determinieren nicht einzelne Verhaltenswei­
sen. Sie beeinflussen jedoch die Entwicklung neuro­
naler Schaltkreise, welche wiederum in Wechsel­
wirkung mit der Umwelt das Verhalten beeinflus­
sen. Genwirkungen lassen sich deshalb in der Funk­
tion neuronaler Schaltkreise viel leichter nachweisen
als im Verhalten selbst. Beispiel: Ängstliche oder
ärgerliche Gesichter lösen eine Amygdala-Akti­
vierung aus. Diese Aktivierung fällt bei Trägern des
kurzen Allels (s-Allel) des SerotonintransporterGens, welches einen Risikofaktor für Angst und
Depression darstellt, höher aus. Wie kommt dies
zustande? Das s-Allel des SerotonintransporterGens scheint sich, bedingt durch einen weniger ak­
tiven Serotonintransporter, ungünstig auf die Ent­
wicklung eines Schaltkreises zwischen Amygdala
und anteriorem zingulärem Kortex auszuwirken,
der für die Regulation von Angst von Bedeutung ist.
Dieser Schaltkreis ist bei Trägern des kurzen Allels
anatomisch weniger gut ausgebildet und funktio­
nal weniger aktiv, wie Bildgebungsstudien zeigen.
Die verminderte Aktivität steht wiederum mit
Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal in Zu­
sammenhang. Träger des s-Allels weisen auch eine
geringere Bindungskapazität eines Serotoninrezep­
2
tors auf, gemessen mit radioaktiven Liganden im
PET (7 Abschn. 3.6.3). Auch dadurch ist die Sero­
toninwirkung vermindert.
>> Von Gen-Umwelt-Interaktion spricht man,
wenn die Wirkung eines Gens davon ab­
hängt, ob eine spezifische Umweltbedingung
vorliegt oder nicht. Oder umgekehrt, wenn
eine bestimmte (z. B. schädliche) Umweltbe­
dingung nur dann wirksam wird, wenn auch
eine genetische Disposition (Vulnerabilität)
besteht.
Beispiele: Adoptionsstudien zeigten, dass die Häu­
figkeit antisozialen Verhaltens bei nach der Geburt
von ihren Müttern getrennten und in Adoptivfa­
milien aufgenommenen Kindern nur dann erhöht
war, wenn sowohl ein biologisches Risiko (antiso­
ziales Verhalten der leiblichen Mutter) als auch ein
Umweltrisiko (Probleme in der Adoptivfamilie)
bestanden, nicht aber, wenn nur einer der beiden
Risikofaktoren vorlag.
Eine molekulargenetische Untersuchung k­ onnte
demonstrieren, dass das Risiko antisozialen Ver­
haltens im Erwachsenenalter bei Menschen, die in
ihrer Kindheit misshandelt worden waren, dann
stark erhöht war, wenn sie eine wenig effi­ziente
Form des Monoaminoxidase-A-Gens trugen. Die
Aufgabe des vom MAOA-Gens kodierten Enzyms
besteht darin, Neurotransmitter wie Noradrenalin,
Serotonin und Dopamin zu metaboli­sieren und
­deren Funktion zu regulieren. Ein voll funktions­
fähiges Gen stellte einen Schutzfaktor gegenüber
der Entwicklung antisozialen Verhaltens dar.
In einer ähnlichen Studie zeigte sich, dass der
Einfluss belastender Lebensereignisse auf die Entste­
hung einer Depression vom SerotonintransporterGen abhing (7 Abschn. 4.1.6). Menschen, die 1 oder
2 kurze Allele dieses Gens (mit geringerer Tran­
skriptionseffizienz) trugen, hatten nach be­lastenden
Lebensereignissen mehr depressive Symp­
tome,
­waren stärker suizidgefährdet und entwickelten häu­
figer eine ausgeprägte Depression als Menschen mit
2 langen Allelen. Letztere waren vor den negativen
Auswirkungen der Lebensereignisse geschützt. Die­
ser Zusammenhang konnte in meh­reren anderen,
wenn auch nicht in allen Studien bestätigt werden.
Träger der beiden kurzen Allele reagieren aber nicht
nur verstärkt auf negative Einflüsse der Umgebung
24
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
(belastende Lebensereignisse, ungünstige Familien­
umwelt), sondern auch auf positive: Wenn sie in
­einer freundlichen, versorgenden Familie aufwach­
sen, haben sie weniger depressive Symptome als
­Träger des langen Allels, und sie profitieren auch im
Erwachsenenalter von emotionaler Unterstützung.
Das kurze Allel scheint also Menschen generell emp­
findlicher für den Einfluss der sozialen Umgebung
zu machen, im Guten wie im Schlechten.
Eine vergleichbare Interaktion fand sich in einer
Studie, in der eine Risikoerhöhung für das Auf­
treten einer Depression nach einem belastenden
Lebensereignis nur bei den Trägern eines bestimm­
ten Allels des Dopamin-Rezeptors D2 auftrat, nicht
aber bei denjenigen Personen, die dieses Allel nicht
trugen.
>> Gene und Umwelterfahrungen wirken
bei der Entstehung psychischer Störungen
zusammen.
Gen-Umwelt-Korrelation Gen-Umwelt-Korrelation
bedeutet gemeinsames Auftreten bestimmter Gene
und bestimmter Umweltfaktoren.
Entstehung einer Gen-Umwelt-Korrelation
55Aktiv, d. h. selbst hergestellt oder ausgewählt. Menschen suchen sich ihre Umwelt
aus, gestalten und verändern sie. Sie
tun dies auch auf der Basis genetisch ver­
ankerter Persönlichkeitsmerkmale und
­Vorlieben. Beispiel: Ein Kind sucht sich die
Spielgefährten, die zu seinem Temperament passen. Dies führt zu einer Stabilisierung der P
­ ersönlichkeitsentwicklung im
Laufe des Lebens.
55Evokativ oder reaktiv, d. h. vom Kind ausgelöst. Die Umwelt reagiert auf genetisch
beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale. Beispiel: Das Verhalten des Kindes löst ein
komplementäres elterliches Verhalten aus:
Liebenswürdige Kinder erfahren mehr
­Wärme und Zuwendung, schwierige Kinder
mehr negative Reaktionen.
55Passiv, d. h. von außen bewirkt. Eine passive Korrelation kommt ohne Zutun des
­ enträgers und ohne Reaktion der Umwelt
G
zustande, sondern einfach deshalb, weil
­Eltern und ihre Kinder zum Teil dieselben
Gene haben. Beispiel: Intelligente Eltern
schaffen für ihre Kinder eine anregende
Lernumwelt und haben zugleich eher
(­genetisch vermittelt) intelligente Kinder.
Deshalb korreliert die Zahl der Bücher in
­einem Haushalt auch dann mit der Intelligenz der Kinder, wenn diese Bücher überhaupt nicht gelesen werden.
Aus einer Korrelation zwischen Umweltfaktoren
und Verhaltensweisen darf deshalb nicht vorschnell
auf einen kausalen Einfluss der Umwelt geschlossen
werden, wie es in der Entwicklungspsychologie und
Sozialisationsforschung früher häufig getan wurde.
Vielmehr kann diese Korrelation genetisch vermit­
telt sein.
iiVertiefen
Lefrancois G (2014) Psychologie des Lernens.
5. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch)
Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch
der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin
(hervorragende, praxisorientierte Darstellung)
Plomin R, DeFries JC, Knopik VS, Neiderhiser JM
(2013) Behavioral Genetics. 6th ed. Basing­
stoke, Worth Publihers, New York (didaktisch
gut aufgebautes Lehrbuch)
2.2
Psychobiologische Modelle
H. Faller
Lernziele
Der Leser soll
55 das allgemeine Adaptationssyndrom beschreiben können,
55 die zwei Pfade der Stressreaktion beschreiben
können,
55 akuten und chronischen Schmerz unterscheiden
können,
55 Risikofaktoren der Schmerzchronifizierung
­nennen können.
25
2.2 · Psychobiologische Modelle
2.2.1
Emotion, Stress und Krankheit
>> Stress ist die Reaktion eines Individuums auf
eine belastende Situation. Der Belastungs­
faktor, der diese Stressreaktion auslöst, wird
Stressor genannt. Stress tritt auf, wenn
die Anforderungen der Umwelt die Bewälti­
gungsmöglichkeiten des Individuums über­
steigen.
Unter Stress geht das harmonische Gleichgewicht
zwischen Individuum und Umwelt (Homöostase)
verloren. Der Begriff Homöostase geht auf Walter
Cannon zurück, der Begriff Stress auf Hans Selye.
Er beschrieb Stress als unspezifische Antwort des
Organismus auf eine Störung der Homöostase (all­
gemeines Adaptationssyndrom), die in 3 Phasen
verläuft:
>> Das allgemeine Adaptationssyndrom
­besteht aus 3 Phasen:
55Alarmphase: Stimulierung des sympathi­
schen Nervensystems. Mobilisierung
von adrenokortikotropem Hormon (ACTH)
in der Hypophyse
55Widerstandsphase: Kortisolausschüttung
als Folge der ACTH-Ausschüttung
55Erschöpfungsphase: Dekompensation
der Stressreaktion bei chronischem Stress
Spezifische Reaktionen Allerdings müssen nach
heutigem Kenntnisstand unterschiedliche Stresso­
ren keineswegs immer zu den gleichen Reaktionen
führen. Im Stressmodell von Henry werden spezi­
fische Reaktionen je nach Stresssituation beschrie­
ben: Furcht (Flucht) geht mit Adrenalinanstieg,
Ärger (Kampf) mit Noradrenalin- und Testosteron­
anstieg, Depression (Kontrollverlust, Unterord­
nung) mit Kortisolanstieg und Testosteronabfall
einher (stimulusspezifische Reaktion). Umgekehrt
besitzt ungefähr ein Drittel der Menschen die Nei­
gung, auf unterschiedliche Stressoren immer auf
die gleiche Art und Weise zu reagieren (individual­
spezifische Reaktion). Beispiel: Der eine bekommt
bei Aufregung immer kalte Hände und Herzklop­
fen, der andere muss auf die Toilette.
2
Allostase Im Unterschied zu homöostatischen Sys­
temen des inneren Milieus (z. B. ph-Wert des Bluts),
die einen festen Sollwert haben und in engen
­Grenzen reguliert werden, erlauben allostatische
Systeme eine Sollwertverschiebung, d. h. eine
­Re­gulation innerhalb eines breiteren Korridors,
und ­dadurch eine bessere Umweltanpassung un­
ter Stress (Homöostase-Allostase-Modell). Reak­
tionen, die ursprünglich zur Bewältigung von Stress
dienten, können jedoch überschießen oder chro­
nisch werden. Dann ist es nicht der Stress selbst,
sondern der gegenregulatorische Mechanismus,
der eine Schä­digung bewirkt (allostatische Be­
lastung). Akuter Stress ist nicht generell schädlich.
Er versetzt den Organismus in die Lage, einen Stres­
sor zu bewäl­tigen. Schädlich ist erst eine Stress­
reaktion, die zu lange oder zu häufig auftritt (wie bei
chronischen Stressoren) oder für die keine physio­
logische Notwendigkeit besteht (wie bei psycho­
sozialen Stressoren, die nicht durch Kampf oder
Flucht bewältigt werden können). Es kann dann
zu einer Fehlregulation allostatischer Systeme
­kommen (z. B. chro­nische Überproduktion von
Stressbotenstoffen wie Kortisol und Noradrenalin
und Herunterregula­tion ihrer Rezeptoren), die zu
Krankheiten führen können (z. B. Bluthochdruck
als Risikofaktor für koronare Herzkrankheit und
Schlaganfall).
Subjektive Bewertung und Disposition Ob eine
S­ ituation zum Stressor wird, hängt maßgeblich von
der subjektiven Bewertung und den Bewältigungs­
möglichkeiten des Individuums ab. Ein und die­
selbe Situation kann von dem einen Menschen als
Herausforderung, die er sich zu bewältigen zutraut,
von einem anderen hingegen als Bedrohung, der
er hilflos ausgeliefert ist, interpretiert werden. Nur
im 2. Fall entsteht Stress. Ob Stress schließlich zu
Krankheit führt, hängt darüber hinaus von der Dis­
position des Individuums ab (Stress-Vulnerabili­
täts-Modell; syn. Stress-Diathese-Modell. Beispiel:
Zusammenwirken von belastenden Lebensereignis­
sen und der genetischen Anlage bei der Entstehung
einer Depression, 7 Abschn. 2.1.4).
Physiologische Pfade Die Stressreaktion stellt eine
ehemals evolutionär sinnvolle Reaktion auf Be­
drohung dar, indem sie die physiologischen Voraus­
26
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
setzungen für Kampf oder Flucht schafft. Dies ge­
schieht über 2 Wege:
44das Hypothalamus-Sympathikus-Nebennieren­
mark-System,
44die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren­
rinden-Achse.
Hypothalamus-Sympathikus-NebennierenmarkSystem Der Sympathikus ist eines der beiden Haupt­
bestandteile des vegetativen Nervensystems. Er steu­
ert diejenigen Prozesse, die eine Aktivierung (7 Abschn. 4.1.7) des Organismus bewirken. (Der andere
Hauptbestandteil ist der Parasympathikus, der Erho­
lungsprozesse steuert.) Aktivierung be­deutet psycho­
physische Erregung und Bereitstellung von Energie.
Die Wirkungen des Sympathikus auf den Organismus
werden durch Adrenalin und Noradrenalin (Kate­
cholamine) vermittelt, die im Nebennierenmark ge­
bildet werden: Herzfrequenz und Blutdruck steigen
an, die Muskeldurchblutung wird gefördert, als Ener­
giequelle wird Glukose bereitgestellt. Diese Reaktion
geschieht sehr schnell (innerhalb von Sekunden), die
weiter unten dargestellte zweite Achse braucht länger
(mehrere Minuten) bis zur Aktivierung.
Klinik: Sympathikusaktivierung
und Herz-Kreislauf-Risiko
Körperlich gesunde Menschen, die an einer Depres­
sion leiden, haben im Vergleich zu Nichtdepressiven
ein 2-mal so hohes Risiko für die Entwicklung einer
koronaren Herzkrankheit. Bei Menschen, die schon
einen Herzinfarkt erlitten haben, besteht bei Vor­
liegen einer Depression ebenso ein ca. doppelt so
hohes Risiko, an einem erneuten Infarkt zu versterben. Wenngleich es noch nicht völlig geklärt ist,
ob Depression einen kausalen Risikofaktor darstellt
oder lediglich einen Risikoindikator, der zwar das
­Eintreffen eines Krankheitsereignisses voraussagen
lässt, es aber nicht ursächlich beeinflusst, so sind
doch mehrere biologische Mechanismen plausibel,
die den Einfluss einer Depression auf die koronare
Herzkrankheit vermitteln könnten:
44 Sympathikusaktivierung: Bei einer Depression
ist das sympathoadrenerge System überaktiv,
mit Zunahme von Herzfrequenz, Blutdruck und
Kontraktilität (erhöhte kardiovaskuläre Reak­
tivität), was wiederum Endothelschädigungen
und Atherosklerose (Arteriosklerose) begünstigt.
44 Aktivierung der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse: Depression und
Stress gehen mit einer erhöhten Sekretion von
Kortisol einher. Kortisol ist wiederum ein Risikofaktor für Hypertonus, Hyperlipidämie und
­Atherosklerose.
44 Verminderte Herzfrequenzvariabilität: Diese ist
Ausdruck des erhöhten sympathischen und des
reduzierten parasympathischen Tonus und stellt
einen Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen
und den plötzlichen Herztod dar.
44 Stressbedingte Ischämie: Stress kann durch die
Steigerung von Herzfrequenz und Kontraktilität
unmittelbar einen Sauerstoffmangel (Ischämie)
im Herzmuskel bewirken. Dieser Mechanismus ist
vermutlich für die erhöhte Herzinfarktrate während aufregenden Fußballspielen verantwortlich.
Während der Fußballweltmeisterschaft 2006
­traten mehr als doppelt so viele Infarkte auf wie
in den Vergleichszeiträumen der Vorjahre, und
zwar genau zu den Zeiten, wenn die deutsche
Mannschaft wichtige Spiele absolvierte.
44 Blutgerinnung und Plättchenaggregation: Stress
und Depression gehen mit einer Aktivierung
der Blutgerinnung und der Thrombozyten, die
Serotoninrezeptoren tragen, einher. Dies ­fördert
die Bildung von Thromben in verengten Herzkranzgefäßen, mit der Folge eines Herzinfarkts.
44 Immunsystem und Entzündung: Bei einer
­Depression werden entzündungsfördernde (proinflammatorische) Zytokine (Interleukine) ge­
bildet, die sowohl bei der Entstehung einer Depression als auch bei der koronaren Herzkrankheit eine Rolle spielen können. Auch das C-reaktive Protein, das eine Entzündung anzeigt, ist bei
einer Depression erhöht. Allerdings scheint der
Zusammenhang zwischen Depression und Entzündungsindikatoren großenteils genetisch vermittelt zu sein.
44 Endotheliale Dysfunktion: Die Gefäßdilatation
infolge Sauerstoffmangels ist bei Depression gestört. Dies stellt wiederum einen Risikofaktor für
die Atherosklerose dar.
44 Gesundheitsverhalten und Compliance: Zusätzlich zu den biologischen Mechanismen kann eine
Depression auf der Ebene des Verhaltens zur Entwicklung bzw. Verschlimmerung einer koronaren
Herzkrankheit beitragen. Depressive Menschen
27
2.2 · Psychobiologische Modelle
weisen häufiger die klassischen Risikofaktoren
­einer koronaren Herzkrankheit, wie Bewegungsmangel und Übergewicht, auf. Sie setzen Empfehlungen zum Gesundheitsverhalten, z. B. körperlich aktiver zu werden, seltener in die Tat
um und halten sich weniger an die verordnete
Medikation (geringere Compliance).
Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse Der Hypothalamus, der Eingangssignale
von der Amygdala (Angstzentrum) erhält, bewirkt
durch Abgabe von Corticotropin-Releasing-Hor­
mon (CRH) die Sekretion von adrenokortikotro­
pem Hormon (ACTH) aus der Hypophyse ins Blut,
das wiederum die Nebennierenrinde zur Bildung
von Kortisol anregt. Kortisol dient ebenfalls der Be­
reitstellung von Glukose, es hemmt die Fettsynthese
sowie, bei chronischer Sekretion, die Immunab­
wehr. Kortikoide werden bei Organtransplanta­
tionen gegeben, um eine Immunsuppression zu
bewirken und dadurch eine Abstoßung des trans­
plantierten Organs zu verhindern. Kortisol spielt
auch bei der Steuerung von Emotionen eine Rolle.
Hohe Dosen bewirken eine Depression.
Chronischer Stress und Kortisol Zur Wirkung von
chronischem Stress auf die Kortisolausschüttung
gibt es widersprüchliche Forschungsergebnisse.
Diese Widersprüche lassen sich jedoch zu einem
guten Teil auflösen, wenn man Eigenschaften des
Stressors (kontrollierbar vs. unkontrollierbar; kör­
perliche vs. psychische Gefahr) berücksichtigt.
­Generell geht chronischer Stress mit geringen Kor­
tisolkonzentrationen am Morgen, aber höheren
Konzentrationen am Nachmittag und Abend ein­
her, so dass der Tagesrhythmus abgeflacht ist. Ins­
gesamt ist die Kortisolausschüttung erhöht. Auch
der Zeitverlauf spielt eine Rolle: Unmittelbar nach
dem Eintritt des Stressors findet man erhöhte Wer­
te; je mehr Zeit vergeht, umso stärker fallen diese
wieder ab, und zwar bis unter die Normalwerte.
Psychoneuroimmunologie Dieses Forschungsge­
biet untersucht Zusammenhänge zwischen Stress
bzw. Emotionen, dem Gehirn und dem Immunsys­
tem. Das Immunsystem setzt sich aus der zellulä­
ren unspezifischen Immunabwehr (z. B. natürliche
Killerzellen) und der zellulären spezifischen
­
2
Immun­abwehr (T-Lymphozyten: T-Helfer-Zellen,
T-Suppressor-Zellen, zytotoxische T-Zellen) sowie
der unspezifischen (z. B. Komplementsystem) und
spezifischen (Antikörper) humoralen Immunab­
wehr zusammen. Die anatomischen und zellbio­
logischen Voraussetzungen der Zusammenhänge
zwischen Psyche bzw. Gehirn und Immunsystem
sind dadurch gegeben, dass lymphatische Organe
innerviert sind und Lymphozyten Rezeptoren für
Neurotransmitter tragen. Umgekehrt produzieren
Immunzellen Botenstoffe, die Zytokine (Interleu­
kine, Interferone und Tumornekrosefaktoren), die
nicht nur die Kommunikation innerhalb des
­Immunsystems bewerkstelligen, sondern auch psy­
chische Effekte haben.
Eine Aktivierung des Immunsystems macht
sich in Veränderungen des Befindens deutlich, die
sich als Krankheitsverhalten wie z. B. bei einem
grippalen Infekt äußern: reduzierte Aktivität, sozia­
ler Rückzug, vermehrte Schmerzempfindlichkeit,
Appetitlosigkeit und Depressivität.
Stress und Immunantwort
>> Akuter Stress verbessert die Immunantwort,
während chronischer Stress sie hemmt.
Der Anstieg der unspezifischen Immunantwort bei
akutem Stress ist evolutionär sinnvoll, weil dadurch
die Heilung einer Wunde, z. B. bei einem Angriff,
gefördert würde. Bei akuten, zeitlich begrenzten
­Laborstressoren, wie z. B. vor Zuhörern eine Rede
halten, steigt die Zahl der natürlichen Killerzellen
an. Prüfungsstress geht mit einer Verschiebung von
der zellulären hin zur humoralen Immunantwort
und einer verlängerten Wundheilung einher. Ver­
lusterlebnisse wie der Verlust des Partners führen
zu einer verminderten Zahl von natürlichen Killer­
zellen.
>> Chronische Stressoren, die als unkontrollier­
bar erlebt werden, wie die Betreuung eines
an Morbus Alzheimer erkrankten Angehöri­
gen, sind mit einer globalen Immunsuppres­
sion verbunden.
Die schädliche Wirkung von chronischen Stresso­
ren auf das Immunsystem wird wahrscheinlich über
eine zu lange anhaltende Sekretion von Kortisol
vermittelt, die zu einer Herunterregulation von
28
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
z­ ellulären Kortisolrezeptoren führt. Dadurch wird
die Fähigkeit der Zelle eingeschränkt, auf entzün­
dungsfördernde Zytokine (z. B. Interleukin 6) zu
reagieren. In Tiermodellen konnte gezeigt werden,
dass chronischer Stress negative Auswirkungen auf
Immunparameter hat und die Tumorentstehung
und -progression fördert. Alte Menschen und
­Kranke sind anfälliger für die Wirkungen von Stress
auf das Immunsystem. Umgekehrt können Opti­
mismus, eine gute Bewältigungsfähigkeit und emo­
tionale Unterstützung durch andere Menschen die
schädliche Wirkung abschwächen. Die stressmin­
dernde Wirkung von sozialer Unterstützung wird
durch Oxytozin vermittelt (7 Abschn. 4.4.5).
Klinik: Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung
Lang dauernde Kortisolüberproduktion führt zu einer
Atrophie des Hippocampus, einer für die Gedächtnisbildung wichtigen Hirnstruktur im limbischen System.
Dies ließ sich im Tierexperiment zeigen. Der Befund
fand sich auch bei Depressiven und bei Vietnamveteranen, die an einer posttraumatischen Belastungs­
störung (post-traumatic stress disorder, PTSD) litten.
Bei der PTSD gelingt die Stressbewältigung nicht. Es
drängen sich noch lange nach einem traumatischen
Erlebnis intensive Bilder der traumatischen Situation
auf (flashbacks), obwohl (oder wahrscheinlich: gerade
weil) die Patienten versuchen, alle Gedanken oder
­Situationen zu vermeiden, die sie an die erlebte Situation erinnern. Die Betroffenen fühlen sich einerseits
emotional abgestumpft, andererseits leiden sie an
physiologischen Stresssymptomen.
Nach neueren Untersuchungen ist es allerdings
­unklar, ob das verminderte Hippocampusvolumen
tatsächlich eine Folge der posttraumatischen Be­
lastungsstörung ist. Vergleicht man traumatisierte
­Vietnamveteranen mit ihren eineiigen Zwillingen,
die zu Hause geblieben waren und nicht traumatisiert wurden, so zeigen diese ebenfalls einen kleineren Hippocampus. Dies spricht dafür, dass die Verkleinerung schon vorher bestand und lediglich das
Risiko erhöht, eine PTSD zu entwickeln.
2.2.2
Schmerz
Neurobiologie Die neuronale Grundlage des
Schmerzerlebens stellt das Schmerznetzwerk dar.
Dabei kann man ein laterales Schmerzsystem und
ein mediales Schmerzsystem unterscheiden. Das
laterale Schmerzsystem besteht aus lateralen Kern­
gruppen des Thalamus sowie dem primären und
sekundären sensorischen Kortex. Es ist für die sen­
sorisch-diskriminative Komponente zuständig. Das
mediale Schmerzsystem, das aus medialen thala­
mischen Strukturen, dem zingulären Kortex, dem
präfrontalen Kortex, dem Nucleus accumbens und
der Amygdala besteht, repräsentiert die affektivmotivationale Komponente. Ein äußerer Schmerz­
reiz oder ein im Gehirn generierter Schmerz gehen
mit einer Aktivierung derselben Hirnregionen ein­
her. Das Gefühl »Schmerz« kann also auch rein
­zerebral entstehen.
Akuter und chronischer Schmerz Die physiolo­
gische Grundlage des Schmerzes ist das nozizep­
tive System. Mit Nozizeption wird die Aktivität
dieses Systems beschrieben. Schmerz ist die einzige
­Sinnesempfindung, die fast immer mit einem nega­
tiven Affekt einhergeht: Schmerz wird vom Betrof­
fenen als quälend oder angsterregend erlebt.
>> Akuter Schmerz weist meist auf eine Gewebe­
schädigung durch einen noxischen Reiz hin
(Schutzfunktion des Schmerzes). Bei chronischem Schmerz gilt das nicht mehr. Hier lässt
sich oft keine Gewebeschädigung feststellen.
Chronische Schmerzen ohne organische
Krank­heit können zu einem eigenständigen
Störungsbild werden (somatoforme Schmerzstörung) und stellen ein großes Problem
in der medizinischen Versorgung dar.
Schmerzmessung In der experimentellen Schmerz­
forschung werden Schmerzschwellen bestimmt.
>> Die Wahrnehmungsschwelle ist diejenige
Reizintensität, bei der der Proband angibt,
dass ein Reiz (z. B. kaltes Wasser) schmerzhaft
sei. Die Toleranzschwelle ist diejenige Reiz­
intensität, bei der der Schmerz unerträglich
wird (und der Proband seine Hand aus dem
kalten Wasser zieht).
Die Einschätzung des Schmerzes durch den Betrof­
fenen nennt man subjektive Algesimetrie (subjek­
tive Schmerzmessung). Hierfür gibt es Fragebögen.
29
2.2 · Psychobiologische Modelle
Für die Beurteilung der Schmerzstärke wurde
­häufig eine visuelle Analogskala verwandt. Dies
ist eine 10 cm lange Linie, deren Endpunkte mit
Worten beschrieben sind: Am linken Ende steht
»kein Schmerz«, am rechten Ende »stärkster vor­
stellbarer Schmerz«. Der Betroffene soll nun sein
aktuelles Schmerzempfinden auf diesem Konti­
nuum einordnen und ein Kreuz an der entspre­
chenden Stelle machen. Die Schmerzstärke kann
dann einfach quantifiziert werden, indem man die
Strecke vom linken Ende bis zum Kreuz abmisst.
Neuerdings werden jedoch eher numerische Skalen
verwandt (Likert-Skala; 7 Abschn. 3.2.2). Eine gute
Möglichkeit, Auskunft über auslösende und auf­
recht er­haltende Faktoren des Schmerzes zu ge­
winnen, ist ein Schmerztagebuch, das vom Patien­
ten geführt wird. Der am weitesten verbreite Frage­
bogen zur Erfassung der Schmerzempfindung ist
der McGill-Schmerzfragebogen, der sowohl die
sensorisch-diskriminative als auch die affektiv-­
motivationale und die kognitiv-evaluative Dimen­
sion erfragt.
Komponenten des Schmerzes
55Sensorische Komponente: Wahrnehmung
des Schmerzes, seiner Qualität (z. B.
»stechend«, »brennend«), Lokalisation
(z. B. »oberflächlich«, »tief«) und Stärke
55Affektive Komponente: emotionale
­Färbung (»quälend«, »fürchterlich«, »unerträglich«)
55Kognitive Komponente: gedankliche Interpretation (»Das Herz kann es nicht sein,
weil…«)
55Vegetative Komponente: körperliche
­Begleiterscheinungen (z. B. Übelkeit; Herzfrequenzanstieg)
55Motorische Komponente: Gesichtsausdruck, Schonverhalten
Gate-Control-Modell Schmerz wird nicht einfach
von der Peripherie ins Gehirn geleitet, sondern zu­
gleich von absteigenden Fasern moduliert. Grund­
annahme der Gate-Control-Theorie ist, dass schon
auf der Ebene des Rückenmarks efferente Regula­
tionsmechanismen (eine Art »Türsteher«) existie­
2
ren, die darüber entscheiden, ob Schmerzsignale ins
Gehirn weitergeleitet werden oder nicht. Ein ab­
steigendes Schmerzhemmsystem kann das »Tor« im
Rückenmark öffnen oder schließen. Diese Grund­
annahme hat sich empirisch bestätigt, auch wenn
Details des Modells heute nicht mehr gültig sind.
Eine aktive Schmerzhemmung wird auch durch
­ ndogene Opiate (Endorphine) bewirkt, die an
e
Opiatrezeptoren binden, wo sie die Freisetzung von
schmerzfördernden Neurotransmittern unter­
drücken. Angst und Depression verstärken die
Schmerzwahrnehmung, Ablenkung und eine opti­
mistische Einstellung vermindern sie.
Empathie Bei einem Menschen, der beobachtet,
wie eine nahestehende Person Schmerzen erleidet,
und sich in deren Erleben einfühlt (Empathie), sind
dieselben Netzwerke aktiviert, so als würde er den
Schmerz auch selbst spüren. Interessant ist nun,
dass nicht das ganze Netzwerk aktiv ist, sondern nur
ein Teil davon, und zwar der mediale Anteil, der den
emotionalen Aspekt des Schmerzerlebens vermit­
telt. Um sich in einen anderen Menschen hineinver­
setzen zu können, ist offenbar der affektive Gehalt
des Schmerzes wichtiger als der sensorische.
Dabei fand sich sogar ein direkter Zusammen­
hang zwischen der Stärke der Aktivierung der ent­
sprechenden Hirnregionen und den interindividu­
ellen Unterschieden in der Empathie. Menschen,
die ein größeres Einfühlungsvermögen aufwiesen,
zeigten auch eine stärkere Aktivität. Empathie hat
sich also vermutlich aus einem System entwickelt,
das unsere inneren körperlichen Zustände und Ge­
fühle repräsentiert. Je besser der Zugang zu eigenen
Gefühlen, desto besser auch das Einfühlungsver­
mögen in andere (Mentalisierung; 7 Abschn. 2.3).
Ähnlich ist es auch bei der Wahrnehmung von
Gefühlen bei anderen Menschen. Wenn wir den
emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Men­
schen (z. B. Freude oder Trauer) sehen, werden die
dem jeweiligen Gefühl zugrunde liegenden Hirn­
regionen (anteriore Insel, anteriorer zingulärer
­Kortex) auch bei uns selbst aktiviert, mit den ent­
sprechenden vegetativen und körperlichen Begleit­
erscheinungen (7 Abschn. 4.4). Diese »emotionale
Ansteckung« geschieht ganz automatisch, ohne dass
eine bewusste Absicht oder Anstrengung dafür er­
forderlich wäre.
30
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Schmerzgedächtnis Schmerzerfahrungen können
2
zu »Erinnerungen« auf kortikalen und subkorti­
kalen Ebenen führen. Starke Schmerzen, die nicht
ausreichend behandelt werden, können Spuren im
Zentralnervensystem hinterlassen. Neuronale plas­
tische Veränderungen auf kortikaler und subkorti­
kaler Ebene (v. a. im Rückenmark) bewirken eine
erhöhten Schmerzsensibilität: Nozizeptive Nerven­
zellen werden empfindlicher für Schmerzreize.
Dann lösen auch harmlose, normalerweise nicht
schmerzhafte Reize Schmerzen aus. Auf diese Weise
entstehen chronische Schmerzen, die im Unter­
schied zu akuten Schmerzen kein Signal für eine
Gewebeschädigung sind. Der zugrunde liegende
Mechanismus wird Langzeitpotenzierung ge­
nannt (7 Abschn. 4.2.1). Die synaptische Übertra­
gung wird dabei verstärkt (potenziert). Die synapti­
schen Veränderungen gleichen denjenigen, die man
bei der Gedächtnisbildung im Hippocampus findet
(deshalb »Schmerzgedächtnis«). Normalerweise
beugt die körpereigene Schmerzabwehr (endogene
Opioide) der Entstehung des Schmerzgedächtnisses
vor. Bei Operationen kann man durch präven­tive
Schmerzausschaltung (Analgesie) z. B. mit Leitungs­
blockaden eine Langzeitpotenzierung verhindern.
Ein schon entstandenes Schmerzgedächtnis lässt
sich pharmakologisch nicht löschen. Was teilweise
hilft, sind Gegenstimulationsverfahren (transkutane
elektrische Nervenstimulation, TENS; Elektroaku­
punktur) und psychologische Verfahren (s. u.).
Die zentrale Sensibilisierung der Schmerz­
wahrnehmung bei Schmerzkranken lässt sich phy­
siologisch durch evozierte Potentiale und bildge­
bende Verfahren nachweisen (7 Abschn. 3.6). Auch
der Einfluss von operanten Lernvorgängen lässt
sich objektivieren: Wenn der Partner anwesend ist,
der den Kranken üblicherweise tröstet, sinkt die
Schmerzschwelle, der Gesichtsausdruck wird ge­
quälter, die evozierten Potentiale zeigen eine inten­
sivere Reaktion an, die aktivierten Hirnareale sind
in bildgebenden Verfahren ausgedehnter (und zwar
schon vor der bewussten Schmerzwahrnehmung).
Bei der operanten Verhaltenstherapie lernen die
Partner deshalb, auf Schmerzen nicht mehr mit Zu­
wendung zu reagieren, um das Schmerzverhalten
nicht zu verstärken.
Auch der Plazeboeffekt, d. h. die Schmerzlin­
derung allein infolge der Erwartung, dass ein Mittel
hilft, auch wenn es pharmakologisch unwirksam ist,
lässt sich objektivieren. Diese Erwartung aktiviert
das körpereigene Opioidsystem. Umgekehrt lässt
sich der Plazeboeffekt aufheben, wenn man das
Opioidsystem mit dem Opiatantagonisten Naloxon
blockiert. Bei plazebobedingter Schmerzlinderung
finden sich in bildgebenden Verfahren auch ent­
sprechende Hirnaktivitätsänderungen, die auf eine
veränderte Schmerzinterpretation hindeuten. Al­
lerdings ist nur ein Teil der Schmerzpatienten für
Plazeboeffekte empfänglich (zum Plazeboeffekt
7 Abschn. 6.2.6).
Phantomschmerzen Phantomschmerzen, d. h. die
»Wahrnehmung« von Schmerzen in Gliedmaßen,
die infolge einer Amputation gar nicht mehr exis­
tieren, sind auf die Reorganisation von Hirnarealen
zurückzuführen. Die kortikalen Projektionsgebiete
des amputierten Glieds, die keinen Input mehr er­
halten, werden von anderen Projektionen sozu­
sagen mitbenutzt. Da der kortikale Ort aber festlegt,
wo die Reize räumlich wahrgenommen werden,
empfindet der Betroffene die Schmerzen als aus
dem amputierten Glied kommend, auch wenn dies
gar nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen
lassen sich durch konsequente Analgesie vor der
Amputation verhindern oder abschwächen. Eine
Prothese, die den Stumpf elektrisch stimuliert,
macht die kortikale Reorganisation wieder rück­
gängig und vermindert die Phantomschmerzen.
Eine weitere Behandlungsmöglichkeit, die ebenfalls
die neuronale Plastizität benutzt, ist die Spiegel­
therapie (7 Abschn. 4.2.1).
Chronische Schmerzen Als chronische Schmerzen
werden Schmerzen mit einer Dauer von mehr als
6 Monaten bezeichnet. Hier findet sich, wie er­
wähnt, häufig keine organische Ursache, die die
Schmerzen erklären könnte. Die häufigsten chroni­
schen Schmerzen sind chronische Rückenschmer­
zen sowie Kopfschmerzen (Migräne und Span­
nungskopfschmerz). Das verhaltensmedizinische
Schmerzmodell unterscheidet prädisponierende,
auslösende und aufrecht erhaltende Faktoren des
Schmerzes. Prädisponierend sind eine genetische
Disposition, frühe mit Schmerz verbundene Er­
lebnisse (z. B. schmerzhafte medizinische Unter­
suchungen), eine Überlastung von Körperregionen
31
2.2 · Psychobiologische Modelle
(z. B. der Muskulatur des Nackens, der Schulter und
des Rückens bei Computerarbeit) und Modell­
lernen (z. B. bei Kindern, deren Eltern ebenfalls an
Schmerzen leiden). Die auslösenden Faktoren um­
fassen akute und chronische Stresssituationen mit
Erhöhung der Muskelspannung, was zu einem
­Circulus vitiosus von Stress und Muskelspannung
führen kann. Außerdem spielen Fehlinterpretatio­
nen von Körperwahrnehmungen als Schmerz eine
Rolle sowie eine Kausalattribution der Schmerzen
als Zeichen einer körperlichen Krankheit, ähnlich
wie bei der Somatisierungsstörung. Zu den aufrecht
erhaltenen Faktoren gehören operante Konditionie­
rung (z. B. Zuwendung durch den Ehepartner bei
Schmerzäußerungen) und dysfunktionale Kogni­
tionen (z. B. Katastrophisieren) sowie maladap­
tives Schmerzverhalten (z. B. Angst-VermeidungsStrategie oder Durchhaltestrategie), die weiter un­
ten am Beispiel der chronischen Rückenschmerzen
beschrieben werden.
Chronische Rückenschmerzen Chronische Rücken­
schmerzen sind eine häufige Ursache von Arbeits­
unfähigkeit, stationärer Krankenhausbehandlung,
medizinischer Rehabilitation und Frühberentung.
Meist findet man keine organischen Veränderungen
an der Wirbelsäule, die die Schmerzen erklären
­würden. Menschen, die chronische Rückenschmer­
zen entwickeln, reagieren in Stresssituationen bevor­
zugt mit einer Verkrampfung der Rückenmusku­
latur (individualspezifische Reaktion). Infolge der
eintretenden Schmerzen verkrampft sich die Mus­
kulatur zusätzlich, so dass ein Teufelskreis entsteht.
Die Betroffenen schonen sich aus Angst, durch kör­
perliche Aktivität ihrem Rücken zu schaden, immer
mehr und vermeiden körperliche Anstrengungen
(Angst-Vermeidungs-Strategie), was zwar kurz­
fristig zur Entlastung führt (negative Verstärkung
des Vermeidungsverhaltens), langfristig aber zu
­einer Zunahme der Schmerzen. Wenn sie sich ein­
mal körperlich anstrengen und dabei Schmerzen
verspüren, entwickeln sie oft starke Befürchtungen,
dass sich ihr Gesundheitszustand immer mehr ver­
schlechtern wird (katastrophisierende Gedanken).
Kommt infolge des sozialen Rückzugs und der Auf­
gabe von Aktivitäten noch eine Depression hinzu, ist
das Chronifizierungsrisiko der Rückenschmerzen
noch größer. Den Gegenpol stellen Schmerzpatien­
2
ten dar, die auf Schmerzen mit Durchhalteappellen
reagieren und sich immer weiter körperlich anstren­
gen, auch auf die Gefahr hin, sich zu überfordern.
Diese Durchhaltestrategie erhöht ebenfalls das
Chronifizierungsrisiko.
Die wichtigste Therapie besteht in körperlicher
Aktivität trotz Schmerzen. Dies gilt auch bei akuten
Rückenschmerzen, bei denen Bettruhe auf das ab­
solut Notwendige begrenzt werden sollte. In der
Rehabilitation kommen ein gezieltes Funktionstrai­
ning, Üben arbeitsplatzbezogener Tätigkeiten und
verhaltensmedizinische Verfahren wie Stressbewäl­
tigungstraining und Patientenschulungen (Rücken­
schule) zum Einsatz.
>> Die wichtigste Behandlungsmaßnahme
bei chronischen Rückenschmerzen besteht in
körperlicher Aktivität.
Eine ausschließlich medikamentöse Behandlung
stößt bei chronischen Schmerzen an ihre Grenze,
zumal Schmerzmittel auf Dauer selbst schmerzaus­
lösend wirken können. Deshalb ist ein multimoda­
les Vorgehen angezeigt, in welchem auch psycholo­
gische Behandlungsverfahren ihren Platz haben.
Verhaltensmedizin Verhaltensmedizinische Thera­
piebausteine sind Stressbewältigungstrainings, Ent­
spannungsmethoden (7 Abschn. 8.2.5), Biofeedback
sowie Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei ler­
nen die Patienten z. B. ihre Aufmerksamkeit von
den Schmerzen abzulenken oder sich in Gedanken
an einen besonders schönen Ort zu versetzen, wo
sie sich früher einmal sehr wohl fühlten (geleitete
Imagination).
Biofeedback dient dazu, üblicherweise auto­
matisch ablaufende körperliche Regulationsvorgän­
ge – Muskelspannung, Herzfrequenz, Blutdruck,
Körpertemperatur oder Gehirnströme – vermehrt
unter bewusste und aktive Kontrolle zu bekommen.
Um diese Kontrolle zu ermöglichen, werden die
­jeweiligen Vorgänge gemessen und in optische oder
akustische Signale umgewandelt, so dass die Patien­
ten unmittelbar sehen oder hören können, wenn
sich beispielsweise der Muskeltonus verändert. Mit
der Aufforderung, das optische Signal auf einem
Bildschirm nicht über eine angezeigte Schwelle ge­
langen zu lassen, können sie lernen, den Muskel­
tonus (oder andere o. g. Vorgänge) aktiv zu beein­
32
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
flussen und zu steuern. Das Erlernen der nötigen
»inneren Einstellungsprozesse« erfolgt dabei über
operante Konditionierung, auch wenn noch nicht
völlig geklärt ist, wodurch Biofeedback wirkt. Die
Veränderung der körperlichen Vorgänge ist meist
die Folge von Entspannungszuständen. Biofeed­
back ist somit eine Form des Lernens, die Körper­
wahrnehmung, Entspannung und Selbstkontrolle
schult. Auch die schmerzevozierten Potenziale
(und damit die Schmerzwahrnehmung) lassen sich
durch Biofeedback beeinflussen. Bei Migräne ler­
nen die Patienten, die Blutgefäße des Gehirns, die
im Migräneanfall erweitert sind, wieder zu ver­
engen, entweder direkt über einen Sensor, der über
der Schläfenarterie angebracht ist, oder indirekt,
indem sie lernen, eine Erwärmung der Hand zu
­bewirken, die eine Verengung der Kopfgefäße nach
sich zieht. Hierzu wird ihnen über einen Tempera­
turfühler die Hauttemperatur der Hand zurück­
gemeldet.
Die anfangs hohen Erwartungen mit Hilfe von
Biofeedback ein so großes Maß an Kontrolle über
die körperlichen Vorgänge zu ermöglichen, dass
z. B. Medikamente gegen Schmerzen oder Blut­
hochdruck überflüssig würden, sind jedoch ent­
täuscht worden. So ist es zwar möglich, die genann­
ten Körperfunktionen willentlich zu beeinflussen,
jedoch nicht in dem Ausmaß, wie ursprünglich er­
hofft. Dennoch ist Biofeedback eine fruchtbare zu­
sätzliche Intervention bei vielen Beschwerden wie
z. B. Migräne, Spannungskopfschmerz, Schlafstö­
rungen, Bluthochdruck und Lähmungen (z. B. nach
Schlaganfall).
iiVertiefen
Birbaumer N, Schmidt RF (2010) Biologische
Psychologie, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg
New York (umfassendes, grundlegendes Werk)
Schandry R (2011) Biologische Psychologie,
3. Aufl. Beltz, Weinheim (gut verständliche Einführung)
Segerstrom SC, Miller GE (2004) Psychological
stress and the human immune system: A metaanalytic study of 30 years of inquiry. Psycho­
logical Bulletin 130:601–630 (umfassende Übersicht über die Forschung)
2.3
Psychodynamische Modelle
H. Faller, H. Lang
Lernziele
Der Leser soll
55 Kernkonzepte psychodynamischer Modelle
(­unbewusste Konflikte, implizite Beziehungs­
muster) benennen können,
55 unterschiedliche Abwehrmechanismen
­definieren können,
55 das Konzept des sekundären Krankheitsgewinns
kennen.
>> Psychodynamische, d. h. an der Psychoana­
lyse orientierte Modelle, nehmen an, dass
­unbewusste Konflikte und Beziehungsmuster,
die ihre Wurzeln bereits in der Kindheit haben
können, psychischen Störungen zugrunde
­liegen.
2.3.1
Psychoanalytische
­Entwicklungspsychologie
Das Bild des Säuglings im Wandel In der psycho­
analytischen Entwicklungspsychologie spielt die
frühe Kindheit eine große Rolle. Das Erleben des
Säuglings und kleinen Kindes wurde anhand der
Köperorgane, auf die sich, so die Theorie Freuds,
die sexuelle Lust des Kindes richte, in Phasen einge­
teilt (Stadienmodell: orale, anale, phallische Phase;
7 Abschn. 2.3.2). Im Zentrum der frühkindlichen
Entwicklung stand die Bewältigung des Ödipus­
komplexes. Diese theoretischen Annahmen waren
jedoch retrospektiv aus pathologischen Phänome­
nen bei erwachsenen Patienten entwickelt und so­
zusagen auf die normale Kindheitsentwicklung zu­
rückdatiert worden. Als man in jüngerer Zeit dazu
überging, Säuglinge direkt zu beobachten, wandelte
sich das Bild des Kindes. Es wurde klar, dass Säug­
linge bei ihren Bedürfnisspannungen bereits diffe­
renzierte Emotionen empfinden und aktiv mit ihren
primären Bezugspersonen interagieren, bei denen
sie auf ein intuitives Elternverhalten treffen. Sie sind
zu komplexen Wahrnehmungs- und kognitiven
Leistungen in der Lage und erforschen früh ihre
Umwelt, um eigene Wirkungen auf diese zu erkun­
33
2.3 · Psychodynamische Modelle
den. Beispiel: Verbindet man den Fuß eines Säug­
lings durch einen Faden mit einem Mobile, so er­
kennt er bald, dass er dieses selbst in Bewegung
setzen kann, und wiederholt diesen Effekt immer
wieder: Neugier und Funktionslust statt sexueller
Lust. Situationen hoher Spannung, gesteuert von
»Trieben«, »Versagungen« und »Verführungen«
sind nicht das Normale, sondern entstehen dann,
wenn Eltern aufgrund eigener unbewältigter Kon­
flikte oder psychischer Belastungen nicht in der
Lage sind, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu
werden. In moderner psychoanalytischer Sicht­
weise spielt die kindliche Sexualität keine so große
Rolle mehr. Andere Bedürfnisse, wie diejenigen
nach Bindung und Kommunikation, aber auch
­Exploration sind wichtiger. Beispiel: Der Säugling
nimmt in der »oralen Phase« nicht deswegen Dinge
in den Mund, weil er sich dadurch sexuelle Lust ver­
schaffen will, sondern um ihre Beschaffenheit her­
auszufinden.
Implizite Beziehungsmuster Im Zentrum der psy­
choanalytischen Theorie stehen unbewusste intra­
psychische Konflikte, die das Erleben und Ver­
halten bestimmen. Innere Konflikte entstammen
jedoch den interpersonellen Erfahrungen, die ein
Mensch im Verlaufe seiner Entwicklung gemacht
hat. Diese Erfahrungen schlagen sich in Verhaltensund Erlebensmustern nieder, die nicht bewusst,
sondern implizit und im prozeduralen Gedächtnis
repräsentiert sind (implizites Beziehungswissen).
Dieses implizite Wissen enthält z. B. Annahmen da­
rüber, wie man seine Gefühle ausdrücken darf und
seine Ziele verfolgen kann, oder Erwartungen, wie
andere reagieren werden, wenn man sich ihnen ge­
genüber auf eine bestimmte Art oder Weise verhält.
Beispiel einer auf Video aufgezeichneten Interak­
tionssequenz: Ein 18 Monate alter Junge sitzt zu­
sammen mit seiner depressiven Mutter auf dem
Sofa. Er trinkt sein Fläschchen, die Mutter raucht
eine Zigarette und starrt ins Leere. Nachdem er aus­
getrunken hat, hüpft er auf dem Sofa auf und ab,
ohne dass seine Mutter reagiert. In dem Augen­
blick aber, in dem er zu ihr hinüber krabbelt,
schimpft sie: »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst
nicht auf dem Sofa hüpfen!« In dieser Sequenz wird
deutlich, dass ihr Schimpfen nicht durch das vor­
herige Hüpfen, sondern durch seine Annäherung
2
ausgelöst wurde. Wenn sich derartige Erlebnisse
wiederholen, erwirbt das Kind ein implizites Be­
ziehungswissen derart, dass Ausdruck von Nähe
wahrscheinlich mit Zurückweisung beantwortet
wird. Es wird deshalb Nähewünsche unterdrü­
cken, um Zurückweisungen zu verhindern. In einer
späteren Szene sieht man, wie der Kleine auf
­
seine Mutter zuläuft und die Hand nach ihr aus­
streckt; doch kurz bevor er sie berührt, zieht er
die Hand wieder zurück. Er würde gerne mit der
Mutter ­Kontakt a­ ufnehmen, lässt es aber dann doch
lieber bleiben. Er entwickelt einen Konflikt zwi­
schen ­
Nähewünschen und ihrer Abwehr. Die
­Abwehr von Nähebedürfnissen dient der Bewäl­
tigung realer Erfahrungen. Auf deren Basis ent­
stehen unbe­wusste Beziehungsschemata, wie sie
auch von der Bindungs­theorie beschrieben werden
(7 Abschn. 4.7.3).
Affektregulation Wie gelingt es Säuglingen, ihre
Gefühle zu regulieren? Um dies zu lernen, benö­
tigen sie die einfühlsame Reaktion eines Gegen­
übers, der primären Bezugsperson, üblicherweise
der Mutter. Deren Aufgabe ist es, die vom Kind
zum Ausdruck gebrachten Gefühle zu reflektieren
(­Affektspiegelung), und zwar in einer markierten,
übertriebenen Weise, so dass das Kind merkt, dass
es sich nicht um den eigenen Affekt der Mutter, son­
dern um seinen von der Mutter wahrgenommenen
und zurückgespiegelten Affekt handelt (»Als-obAffekt«). Das Kind sieht sozusagen im Gesicht der
Mutter seinen eigenen Zustand. Beispiel: Wenn es
sich weh getan hat, wird die Mutter den Schmerz in
ihrem eigenen Gesicht etwas dramatisiert darstellen
und danach beruhigend und tröstend zum Kind
sprechen, wodurch sich dessen Schmerz abmildert.
Dies geschieht zunächst ganz automatisch. Später
kann das Kind diese Strategie auch bewusst einset­
zen, nachdem es die Fähigkeit zum symbolischen
Denken entwickelt hat: Es bildet dann eine Reprä­
sentation, d. h. eine Vorstellung des Gefühls, welche
es ihm ermöglicht, gezielt Bewältigungsstrategien
anzuwenden oder sich von dem Gefühl zu distan­
zieren. Eine ähnliche Rolle kann das Spielen ein­
nehmen, in welchem das Kind beispielsweise so tut,
als ob sein Teddybär sich weh getan hat, ihn tröstet
und das schmerzliche Gefühl auf diese Weise ver­
arbeitet.
34
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Mentalisierung Wenn die Mutter die kindlichen
Gefühle auf einfühlsame Weise widerspiegelt und
feinfühlig, prompt und angemessen auf die kind­
lichen Bedürfnisse reagiert, entwickelt das Kind die
Vorstellung, dass es selbst, aber auch andere Men­
schen Wesen mit geistigen Zuständen, Wünschen,
Bedürfnissen und Absichten sind. Diesen Prozess
nennt man Mentalisierung, sein Ergebnis eine t­ heory
of mind (7 Abschn. 4.7.3). In Abhängigkeit vom Aus­
maß der mütterlichen Feinfühligkeit kann dieser
Mentalisierungsprozess mehr oder weniger gut ge­
lingen. Wenn eine Mutter die Kontaktwünsche ihres
Kindes zurückweist, wenn sie es zu sehr kontrolliert
oder auch überstimuliert, wenn sie ­infolge eigener
konflikthafter Einstellungen dem Kind nicht gerecht
wird, am extremsten aber bei sexuellem oder aggres­
sivem Missbrauch, kann das Kind diese Fähigkeit,
sich in andere hineinzuver­setzen, nicht ausreichend
erwerben. Dies scheint z. B. bei der Borderline-Per­
sönlichkeitsstörung der Fall zu sein.
2.3.2
Traditionelle Stadien der
­psychosexuellen Entwicklung
nahme. In der Bezeichnung dieser Phase kommt
zum Ausdruck, dass der Mund und die Haut wich­
tige Medien der frühen Umweltkommunikation des
Säuglings sind. Gestillt und gefüttert werden, getra­
gen und gehalten werden führen zu einem Urgefühl
von Geborgensein und Versorgung, das als Urver­
trauen bezeichnet wird. Bildet sich dieses Gefühl
der Sicherheit nicht angemessen aus, können z. B.
Dispositionen für eine spätere Depression oder
auch eine Störung des zwischenmenschlichen Kon­
takts resultieren.
Anal-muskuläre Phase Diese Phase hat ihren Na­
men daher, dass nun Reinlichkeitserziehung und
motorische Expansion bedeutsam werden. Zum
einen gewinnt das Kind Kontrolle über die Aus­
scheidungsfunktionen, zum zweiten kann es sich
von seinen Eltern weg bewegen und dadurch Auto­
nomie erlangen. Zugleich aber können Scham und
Zweifel auftreten, weil die ersten Versuche der Ver­
selbständigung wortwörtlich »in die Hose gehen«
können. Übermäßige Einschränkungen der autono­
men Regungen des Kindes durch die Eltern können
mit Trotz und Rebellion beantwortet werden.
Das traditionelle Stadienmodell der psychosexuel­
len Entwicklung geht auf Sigmund Freud, den Be­
gründer der Psychoanalyse zurück. Erik H. Erikson
erweiterte das Modell über die Kindheit hinaus in
das Erwachsenenalter. Die Information über die
kindliche Entwicklung gewann Freud, wie erwähnt,
aus den Erinnerungen seiner Patienten.
Im Stadienmodell der psychosexuellen Ent­
wicklung werden typische Phasen beschrieben, die,
wenn sie gestört werden, zu einer späteren neuro­
tischen Erkrankung disponieren können. Diese
Phasen sind nach den Organsystemen bezeichnet,
die in der jeweiligen Zeit eine wichtige Rolle spielen.
In den Bezeichnungen der Phasen kommt zum Aus­
druck, dass die psychische und sexuelle Entwick­
lung in engem Zusammenhang mit der körper­
lichen Entwicklung stehen. Einen Überblick über
die Stadien der psychosexuellen Entwicklung gibt
. Tab. 2.1. Im Folgenden werden die Phasen bis zur
Adoleszenz näher erläutert.
Phallisch-ödipale Phase In der ödipalen Phase
t­ reten die eigentlichen Sexualorgane in den Vorder­
grund. Freud hat zwar auch die bisherigen Phasen
als psychosexuelle Stadien verstanden, dabei aber
den Begriff der Sexualität weit über die übliche
Defini­tion hinaus auf jegliche lustvolle Empfindung
aus­gedehnt. In der ödipalen Phase verspürt der klei­
ne Junge eine heftige Zuneigung zu seiner Mutter,
das kleine Mädchen zu seinem Vater (»Wenn ich
groß bin, heirate ich dich!«). Das jeweils gleichge­
schlechtliche Elternteil wird dadurch zum Rivalen,
den man verdrängen möchte. Dies führt zu einem
inneren Konflikt, weil der kleine Junge den Vater
(analog das kleine Mädchen seine Mutter) nicht nur
loswerden will, sondern ihn (bzw. sie) zugleich auch
gerne hat. Konkurrenzerleben und Phantasien der
Rivalität verursachen Schuldgefühle. Sexualstörun­
gen, wie z. B. Verlust des Interesses an der Sexualität
oder erektile Dysfunktion, können hier eine Wurzel
haben.
Oral-sensorische Phase Das Neugeborene ist ange­
Latenzphase Nach der ödipalen Phase ist nach
Freud die frühkindliche Sexualentwicklung ab­
wiesen auf Wärme, Hautkontakt und Nahrungsauf­
35
2.3 · Psychodynamische Modelle
2
..Tab. 2.1 Stadien der psychosexuellen Entwicklung (nach Freud, Erikson)
Lebensalter
in Jahren
Psychosexuelle
Phasen
Umkreis der Bezie­
hungspersonen
Psychosexuelle Modalitäten
Psychosoziale
­Krisen
Bis 1½
Oral-sensorische
Phase
Mutter (Vater)
Empfangen und (sich-) ein­
verleiben, atmosphärisches
Fühlen, Hören, Sehen, Riechen
Urvertrauen vs.
Urmisstrauen
1½ bis 3
Anal-muskuläre
Phase
Eltern
Festhalten und hergeben,
Trotz – Fügsamkeit
Autonomie vs.
Scham und Zweifel
3 bis 5 (6)
Phallisch-ödipale
Phase
Familie
Vergleichen und konkurrieren,
Geschlechtsrollenfindung
Initiative vs. Schuldgefühl
6 bis 10
Latenzphase
Wohngegend,
Schule
Etwas »Richtiges« machen, etwas
mit anderen zusammen machen
Leistung vs. Minder­
wertigkeitsgefühl
10 bis 18
(20)
Pubertät und
Adoleszenz
»Eigene« Gruppen,
»die Anderen«,
­Führer  –  Vorbilder
Wer bin ich? (Wer bin ich nicht?);
das Ich in der Gemeinschaft
­Identitätsdiffusion
20 bis 40
Frühes Erwach­
senenalter – 
Genitalität
Freunde, sexuelle
Partner, Rivalen,
­Mitarbeiter
Sich im Anderen verlieren und
finden
Intimität vs.
­Isolierung
40 bis 60
Mittleres Erwach­
senen­alter
Gemeinsame Arbeit,
Zusammenleben
in der Ehe
Schaffen, versorgen
Generativität vs.
Stagnation
Über 60
Spätes Erwach­
senenalter
»Die Menschheit«,
»Menschen meiner
Art«
Sein, was man geworden ist;
wissen, dass man einmal nicht
mehr sein wird
Integrität vs.
­Verzweiflung
geschlossen, und das Sexuelle tritt in die Latenz
­zurück. Nun werden Gleichaltrige (die peer group)
wichtiger. In der Schule geht es um Leistung und
Kompetenz. Auf der anderen Seite können Min­
derwertigkeitsgefühle auftreten, wenn sich ein
Kind den Leistungsanforderungen nicht gewachsen
fühlt.
Pubertät und Adoleszenz In der Pubertät werden
durch die körperliche Entwicklung (hormonelle
Veränderungen, Auftreten der sekundären Ge­
schlechtsmerkmale) zum einen die ödipalen Stre­
bungen der Kindheit wiederbelebt, zum anderen
geht es um eine Ablösung aus dem familiären Kon­
text und die Hinwendung zu anderen Menschen.
Die eigene Identität im Vergleich zu anderen bildet
sich aus. Dass diese Anforderungen nicht von allen
Heranwachsenden gleich gut bewältigt werden,
zeigen Störungen wie die Pubertätsmagersucht
­
(Anorexia nervosa), bei der die Annahme der weib­
Identität vs.
lichen Identität einschließlich der Körpermerkmale
ein wichtiges Thema sein kann (7 Abschn. 4.8.1).
Kritik Kritisch zur psychosexuellen Stadienlehre
ist anzumerken, dass sie das Konflikthafte und po­
tenziell Pathologische in den Vordergrund stellt,
weil sie ja auf der Basis von Patientenberichten ge­
wonnen wurde. Außerdem weiß man heute auf­
grund von Längsschnittuntersuchungen, dass die
Erinnerungen Erwachsener an ihre Kindheit nur
sehr schwach mit damals tatsächlich vorgefallenen
Ereignissen zusammenhängen. Die beschriebenen
Phasen sollte man auch nicht streng voneinander
abgrenzen, sondern eher als Entwicklungsthemen
betrachten, die mehr oder weniger stark während
der gesamten Biographie eine Rolle spielen können.
Psychotraumatologie Sexueller und aggressiver
Missbrauch von Kindern ist viel häufiger, als man
früher annahm. Missbrauch stellt ein Trauma dar,
36
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
das Langzeitfolgen wie eine psychische Störung,
z. B. eine Depression, hervorrufen kann. Dabei
spielen auch Interaktionen mit genetischen Dis­
positionen eine Rolle. Mit der psychologischen Be­
handlung von Traumaopfern befasst sich die Psy­
chotraumatologie. Ein Trauma ist definiert als ein
Lebensereignis, auf welches fast alle Menschen mit
starker psychischer Belastung reagieren würden.
Dazu gehören neben kindlichem Missbrauch auch
andere aggressive oder sexuelle Gewalterfahrun­
gen wie Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme,
Kriegserlebnisse, Folter, aber auch Naturkatastro­
phen oder schwere Unfälle. Die psychische Be­
lastung bildet sich zwar mit der Zeit meist wieder
zurück; aber bei einem Teil der Betroffenen (10 %
der Männer, 20 % der Frauen) entwickelt sich eine
posttraumatische Belastungsstörung. Risikofak­
toren sind neben der Art und Schwere des Traumas
vorbestehende oder wiederholte Traumatisierun­
gen und die Vermeidung, sich mit dem Trauma aus­
einanderzusetzen. Denn dann kann das Trauma
nicht im Gedächtnis abgespeichert werden und
drängt sich dem Erleben immer wieder unverarbei­
tet auf, als würde es jeweils erneut durchlebt werden
(Intrusionen, flashbacks). In der Therapie lernen die
Betroffenen zuerst Strategien anzuwenden, um sich
gegen das Eindringen der Traumabilder zu schützen
(Stabilisierung). Danach konfrontieren sie sich vor­
sichtig und schrittweise mit der traumatischen Er­
fahrung (Exposition), um sie auf diese Weise in das
autobiographische Gedächtnis zu integrieren.
2.3.3
Drei-Instanzen-Modell,
­Triebmodell
Das psychoanalytische Strukturmodell der Persön­
lichkeit unterscheidet drei Instanzen: Es, Ich und
Über-Ich.
Es Das Es ist die Quelle der Wünsche, Antriebe und
Begierden. Diese unbewussten Impulse, die unwill­
kürlich aus der Tiefe (deshalb Tiefenpsychologie)
auftauchen, wurden als Triebe bezeichnet. Die Psy­
choanalyse hat sich vor allem mit dem Sexualtrieb
und dem Aggressionstrieb beschäftigt. Diese Triebe
drängen auf Befriedigung, stoßen aber auch auf
­Widerstand und Verbote.
Über-Ich Das Über-Ich vertritt die verinnerlichten
Normen der sozialen Umwelt und deren moralische
Forderungen. Es ist eine warnende Instanz, die wir
als die »Stimme des Gewissens« kennen. Während
ursprünglich die elterlichen Verbote und Gebote die
triebhaften Bedürfnisse einschränkten, wird diese
Aufgabe im Laufe der Entwicklung zunehmend von
der inneren moralischen Instanz des Über-Ichs
übernommen. Das Über-Ich umfasst auch eine
­ideale Vorstellung von sich selbst, der man nach­
strebt (Ich-Ideal).
Ich Das Ich vermittelt zwischen Es und Über-Ich.
Es berücksichtigt die Forderungen der Realität und
versucht einen Kompromiss zu erzielen zwischen
den Triebbedürfnissen des Es auf der einen Seite
und den moralischen Ver- und Geboten des ÜberIchs auf der anderen Seite. Es kann entweder einen
Triebimpuls akzeptieren und seine Befriedigung
ermöglichen und dies lustvoll genießen, aber auch
auf die Erfüllung eines Triebwunsches bewusst ver­
zichten oder ihn schließlich unbewusst abwehren
(7 Abschn. 2.3.5). Das Ich vertritt das Realitätsprin­
zip, während das Es vom Lustprinzip regiert wird.
Da das Ich in einem Spannungsverhältnis zwischen
unterschiedlich wirkenden Kräften aus dem Es und
dem Über-Ich steht und es zu entsprechenden Kon­
flikten zwischen Über-Ich und Es kommen kann,
spricht man von Psychodynamik.
Topographisches Modell Neben dem Instanzen­
modell gibt es noch das topographische Modell. Es
unterscheidet 3 Bereiche, die sich mit den 3 Instan­
zen Ich, Es und Über-Ich überschneiden:
44das Bewusste,
44das Vorbewusste,
44das Unbewusste.
Diejenigen psychischen Inhalte, zu denen wir im
aktuellen Erleben Zugang haben, werden als das
­ ewusste bezeichnet. Das Vorbewusste ist uns
B
zwar aktuell nicht bewusst, kann aber ohne größe­
ren Aufwand bewusst gemacht werden: Es ist be­
wusstseinsfähig. Das Unbewusste, das nach Freud
den größten Teil des Seeelenlebens ausmacht, wird
hingegen nur sehr selten bewusst. Es setzt dem Be­
wusstwerden oft sogar einen Widerstand entgegen.
Die Bewusstmachung erfordert deshalb bestimmte
37
2.3 · Psychodynamische Modelle
therapeutische Techniken wie die freie Assoziation
(7 Abschn. 8.2.1).
Während das Es vollständig dem Unbewussten
zugeordnet wird, haben Ich und Über-Ich sowohl
bewusste als auch vor- und unbewusste Anteile. Die
Abwehr als eine Funktion des Ichs erfolgt beispiels­
weise gleichwohl unbewusst (7 Abschn. 2.3.5).
Das Geniale an Freuds Theorie ist die große Be­
deutung, die dem Unbewussten für das Erleben und
Verhalten des Menschen zugeschrieben wird. Diese
Entdeckung wurde durch die neuen Ergebnisse der
Hirnforschung voll bestätigt. Neurowissenschaftler
bezeichnen heute wie schon damals Freud das be­
wusste Erleben im Alltag als die »Spitze des Eis­
bergs«, unter der die allermeisten kognitiven und
Wahrnehmungsprozesse unbewusst ablaufen. Aller­
dings ist das Unbewusste, wie es von den Neurowis­
senschaften beschrieben wird, nicht aus neuro­
tischen Motiven verdrängt worden, sondern stellt
ein sehr adaptives Verhaltenssteuerungssystem dar
(7 Abschn. 4.3.1).
Psychodynamische Persönlichkeitsmodelle
werden in 7 Abschn. 4.6.2 dargestellt.
2.3.4
Trieb-, Ich-, Selbst- und Objektpsychologische Modelle
Die Psychoanalyse ist keine einheitliche Theorie.
Vielmehr finden sich unter dem Oberbegriff »psy­
choanalytisch« viele unterschiedliche, teilweise
­heterogene Modelle.
Vier Modelle der Psychoanalyse
55Trieb-psychologisches Modell: Dieses ­frühe
Modell stellt den Konflikt zwischen einem
Triebwunsch und der Abwehr in den Vordergrund. Psychische Störungen entstehen
demnach durch ein Übermaß an Triebunterdrückung.
55Ich-psychologisches Modell: Hier steht die
Rolle des Ich im Vordergrund, das die
­Funktionen der Emotionsregulation und
­Realitätsanpassung ausübt. Psychische
­Störungen entstehen, wenn das Ich zu
schwach ist, diese Aufgaben zu leisten.
2
55Selbst-psychologisches Modell: Im Zentrum dieses Modells stehen Selbstbild und
Selbstwertgefühl. Psychische Störungen
entstehen, wenn ein Mensch keine kohärente Identität und kein ausreichendes
Selbstwertgefühl ausbilden kann (narzisstische Störung).
55Objekt-psychologisches Modell: Als Ob­
jekte werden in der psychoanalytischen
­Terminologie die anderen Menschen bezeichnet. Hier geht es um zwischenmenschliche Beziehungsmuster, die das Erleben
und Verhalten steuern. Psychische Störungen entstehen, wenn diese Muster dysfunktional sind.
2.3.5
Abwehrmechanismen
>> Eine Möglichkeit des Ichs, mit unbewussten
Triebregungen, inneren Konflikten oder un­
erträglichen Gefühlen umzugehen, ist die
Abwehr. Abwehrvorgänge halten diese unan­
genehmen Zustände vom bewussten ­Erleben
fern, und der Mensch weiß in der ­Regel gar
nicht, dass er sich solcher Mechanismen
­bedient, weil auch die Abwehr selbst unbe­
wusst erfolgt.
Abwehrvorgänge können bei der Entstehung psy­
chischer Symptome eine Rolle spielen. Sie sind je­
doch nicht per se pathologisch, sondern kommen
auch im normalen Alltagsleben (sog. Freudsche
Fehlleistungen wie Versprecher) oder bei der psychi­
schen Bewältigung schwerer körperlicher Erkran­
kungen vor. Man unterscheidet eine ganze Reihe von
Abwehrmechanismen je nach der Art und Weise,
wie unerwünschte Motive oder Gefühle verarbeitet
werden (. Tab. 2.2).
Verdrängung Verdrängung ist der Prototyp eines
Abwehrmechanismus. Verdrängen heißt Vergessen
aufgrund unbewusster Motive. Beispiel: »Das habe
ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht
getan haben, sagt mein Stolz. Und bleibt unerbitt­
lich. Endlich gibt das Gedächtnis nach« (Nietzsche).
38
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
..Tab. 2.2 Abwehrmechanismen
2
Mechanismus
Verdrängung
Ausschaltung bestimmter verpönter Motive und Konflikte aus dem bewussten Erleben
Verschiebung
Verlagerung einer Emotion (z. B. Angst, Wut) von einem bedrohlichen auf ein ungefährliches
Objekt (»Prügelknabe«, ein Objekt als Ersatz für ein anderes Objekt)
Verleugnung
Abwehr der Realität von traumatisierenden Wahrnehmungen – der Gegenstand einer bedrohlichen Wahrnehmung wird als nicht existent angesehen (»Kopf-in-den-Sand-Stecken«)
Projektion
Verlagerung eigener abgewehrter Wünsche, Impulse, Ängste, Schwächen und Schuld­gefühle
in den anderen (»Sündenbock« = Adressat einer Projektion, dient zur Entlastung von Selbstvorwürfen)
Spaltung
Widersprüchliche Aspekte bzw. Gefühlszustände – z. B. Wahrnehmen von Gut und Böse
bei sich oder beim anderen – werden so auseinander gehalten, als beträfen sie verschiedene
Personen
Identifikation
Unbewusste Übernahme von Einstellungen, Verhaltensweisen und Wertmaßstäben einer
anderen Person oder Gruppe
Reaktionsbildung
Aktivierung des entgegengesetzten Impulses (statt Hass übertriebene Freundlichkeit;
­Überkompensation)
Rationalisierung
Falsche Begründung eines bestimmten Sachverhalts (»Pseudoerklärung«)
Isolierung
Künstliches Abtrennen der Gefühle vom gedanklichen Inhalt
Ungeschehen­
machen
Vorausgegangenes nichtakzeptables Handeln soll durch nachfolgendes Handeln aufge­hoben
werden
Sublimierung
Ablenkung sexueller Triebenergie auf ein nichtsexuelles, kulturell oder sozial wertvolles Ziel
Konversion
Umwandlung von psychischen Konflikten in körperliche Symptome
Verschiebung Eine Emotion, die zu äußern einem
Angst macht, wie z. B. Wut auf den Chef, der einen
gerade kritisiert hat, gegen den man sich aber nicht
zur Wehr setzen kann, wird auf ein weniger gefähr­
liches Objekt, wie z. B. einen Arbeitskollegen, der
sich das eher gefallen lässt, verschoben.
Verleugnung Verleugnung bedeutet das Nicht-
Wahrhaben-Wollen einer bedrohlichen Informa­
tion. Sie findet sich häufig nach der Mitteilung einer
schwerwiegenden Diagnose. Beispiel: Ein Patient,
der gerade von seinem Stationsarzt erfahren hat,
dass er an einer unheilbaren Krebskrankheit leidet,
beschwert sich kurze Zeit später gegenüber der Sta­
tionsschwester: »In diesem Krankenhaus bekommt
man ja eh nicht gesagt, was man hat.« Verleugnung
richtet sich also eher nach außen, gegen die bedroh­
liche Realität, Verdrängung mehr nach innen, gegen
unbewusste Triebwünsche.
Verleugnung ist kein Alles-oder-Nichts-Phä­
nomen. Auch wenn ein Kranker in einem Augen­
blick sich so verhält, als wisse er überhaupt nicht,
dass er an Krebs erkrankt ist, kann er in einer ande­
ren Situation, in der er sich emotional unterstützt
fühlt, durchaus die Information aus dem Unbe­
wussten »hervorholen«. Verleugnung kann als
eine Art Notfall- oder Schutzmechanismus ver­
standen werden, der verhindert, dass der Betroffe­
ne von Angst oder Verzweiflung überschwemmt
wird. In einer Situa­tion, in der er sich sicher fühlt,
kann er die Verleugnung dann schrittweise wieder
zurücknehmen und sich mit der bedrohlichen
­Realität auseinander­setzen. Kurzfristig kann Ver­
leugnung deshalb ganz hilfreich sein. Langfristig
kann sie aber dazu führen, dass die Patienten not­
wendige diagnostische und therapeutische Maß­
nahmen unterlassen und sich dadurch selbst ge­
fährden.
39
2.3 · Psychodynamische Modelle
>> Verleugnungsprozessen kann man als Ärztin
oder Arzt am besten vorbeugen, indem man
Informationen schrittweise vermittelt und sich
am Informationsbedürfnis des Patienten und
seinen Verarbeitungsmöglichkeiten orientiert,
um ihn nicht emotional zu überfordern.
Projektion Eigene Wünsche, Impulse oder Affekte,
die ich mir selbst nicht eingestehen kann, werden
anderen zugeschrieben. Man sieht »den Splitter im
Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen
Auge«. Der andere fungiert als »Sündenbock« für
die eigenen uneingestandenen Schwächen. Beispiel:
Eine Patientin, die voll uneingestandener Wut auf
ihre Arbeitskollegen ist, beklagt sich, von ihnen ge­
mobbt zu werden. Sie nimmt ihre eigene Aggres­
sivität nicht wahr, ist aber sehr empfindlich für ver­
meintliche Aggressivität der anderen.
Spaltung Bei der Spaltung werden widersprüchli­
che Impulse, die eigentlich miteinander unverein­
bar sein müssten, abwechselnd ausgelebt. Die Um­
welt (oder auch die eigene Person) wird entweder
schwarz oder weiß wahrgenommen, nicht aber im
realistischeren Grauton. Beispiele: Eine Patientin
mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die ihren
Partner bis gestern noch für ihre letzte Hoffnung
und den einzigen Retter aus ihrem Elend wahrge­
nommen hat, ist aufgrund einer geringfügigen
­Enttäuschung nun der festen Meinung, dass er von
Grund auf böse und schuld an ihrem Unglück sei.
Ein Patient mit einer narzisstischen Persönlich­
keitsstruktur schwankt vom einen Augenblick
zum anderen zwischen Größenideen (»Ich bin der
­Größte!«) und Minderwertigkeitsgefühlen (»Ich
bin ein Nichts!«). Spaltungsvorgänge findet man
auch bei Patienten, die das Behandlungsteam in die
Guten und die Bösen aufteilen, beispielsweise den
Stationsarzt idealisieren und die Stationsschwester
verteufeln.
Identifikation Um Gefühle von Minderwertigkeit
abzuwehren, kann man versuchen, sich mit einer
berühmten Person zu identifizieren und so sein zu
wollen wie diese. Beispiel: Jugendliche, die sich in
einer Identitätskrise befinden und sich anziehen wie
ihr bewunderter Star. Als Identifikation mit dem
Aggressor bezeichnet man eine Abwehrform, bei
2
der man sich aus der Rolle des Opfers in die Rolle
des Täters begibt. Dann ist man nicht länger hilflos
ausgeliefert, sondern selbst derjenige, der andere
angreift.
Reaktionsbildung Bei der Reaktionsbildung wird
eine Gegenreaktion aktiviert. Anstelle von Aggres­
sivität, die nicht erlaubt ist, zeigt der Betroffene
übertriebene Friedfertigkeit. Die dadurch abge­
wehrte Aggressivität wird jedoch für die Umgebung
gleichwohl untergründig spürbar, die Freundlich­
keit wirkt gezwungen und unecht.
Rationalisierung Diese Abwehrform ist in den
­ lltagssprachgebrauch übergegangen. Man versteht
A
darunter eine Pseudoerklärung, die anstelle der
wahren Motive vorgeschoben wird. Beispiel: Ein
Patient mit Lungenkrebs, der an einem Rezidiv
­leidet, macht andere, weniger bedrohliche Gründe
für seinen Husten verantwortlich, z. B. einen grip­
palen Infekt.
Isolierung Hier werden die mit einem Gedan­
keninhalt normalerweise einhergehenden Gefühle
nicht wahrgenommen. Man spricht deshalb auch
von Isolierung vom Affekt. Beispiel: Ein lebens­
bedrohlich Erkrankter redet ohne jede gefühls­
mäßige Beteiligung über seine Krankheit, so als
ginge es um eine andere Person, nicht aber um ihn
selbst.
Ungeschehenmachen Es werden Handlungen un­
ternommen, die eine frühere, aber inakzeptable
Handlung unwirksam und rückgängig machen
­sollen. Beispiele: Ein Patient mit einer Zwangs­
neurose entwickelt einen Waschzwang, um sich
von unbewussten Schuldgefühlen rein zu waschen.
Ein Patient nach Herzinfarkt unternimmt Kraft­
proben, um sich zu beweisen, dass er noch »ganz
der Alte« ist.
Sublimierung Hierunter verstand Freud, dass
s­ exuelle Triebenergie in einen anderen »Aggregats­
zustand« überführt und beispielsweise in wissen­
schaftliche oder künstlerische Leistungen um­gesetzt
wird. Solche Leistungen kann man selbstverständ­
lich auch aus anderen Gründen als Abwehrprozes­
sen erbringen.
40
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Konversion Unter Konversion verstand Freud die
2
Umwandlung von psychischen Vorgängen in kör­
perliche Innervationen. Unter einer Konversions­
neurose wurde demnach eine Störung verstanden,
bei der körperliche Beschwerden auftreten, die als
symbolischer Ausdruck eines unbewussten Kon­
flikts erklärbar sind. Zwei Beispiele: Ein Dirigent hat
den unbewussten Impuls, seinen Rivalen anzu­
greifen. Da dieser Impuls inakzeptabel ist, ent­
wickelt er stattdessen eine Lähmung des rechten
Arms. Ein Angestellter, der auf eine höhere Position
befördert wurde, der er sich unbewusst nicht ge­
wachsen fühlt, entwickelt Schwindelgefühle und
Standunsicherheit.
Konversionssymptome treten meist in den Be­
reichen der Motorik, Sensibilität und Sinneswahr­
nehmung auf: funktionelle Lähmungen, psycho­
gene Anfälle, die klar von epileptischen Anfällen
unterschieden werden können, Sensibilitätsstörun­
gen oder psychogene Sehstörungen. Dabei findet
man keinen organischen Befund, der die subjek­
tiven Ausfälle erklären könnte. Heutzutage wird der
Begriff Konversionsstörung vor allem auf Symp­
tome im Bereich der Neurologie angewendet, ohne
dass man die ursprüngliche Theorie einer Um­
wandlung unbewusster Phantasien in symbolische
körperliche Beschwerden durchgehend aufrecht­
erhält. Im ICD-10 werden Konversionsstörungen
auch als dissoziative Störungen bezeichnet. Im
Begriff Dissoziation kommt zum Ausdruck, dass die
Betroffenen kein Wissen davon haben, dass sie ihre
Beschwerden durch unbewusste Prozesse selbst er­
zeugen. Eine dissoziative Störung muss von einer
Simulation, d. h. dem bewussten Vortäuschen der
Beschwerden, abgegrenzt werden.
2.3.6
Primärer und sekundärer
­Krankheitsgewinn
Psychische Symptome verursachen Leid. Auf der
anderen Seite gehen sie auch mit einer Entlastung
für den Kranken einher: Die Konfliktspannung
wird durch die Abwehrprozesse abgemildert, und
der Betroffene spürt den Konflikt nicht mehr so
sehr wie zuvor. Diese innerpsychische Entlastung
durch die Krankheit bezeichnet man als primären
Krankheitsgewinn.
Beispiel: Der oben erwähnte Dirigent mit der
Konversionsstörung kann nun in seiner unbewuss­
ten Phantasie nicht mehr in die Situation geraten,
seinen Rivalen anzugreifen, da er ja gelähmt ist. Das
nimmt Druck von ihm.
>> Als sekundären Krankheitsgewinn bezeich­
net man die äußeren Vorteile, die ein Kranker
aus seiner Krankheit zieht. Der sekundäre
Krankheitsgewinn kann unbeabsichtigt, aber
auch bewusst sein.
Beispiel: Unser Dirigent muss aufgrund seiner Läh­
mung nicht zur Arbeit gehen und sich damit auch der
unangenehmen Konkurrenzsituation am Arbeits­
platz nicht aussetzen. Häufige Formen des s­ ekundären
Krankheitsgewinns sind Zuwendung durch den Ehe­
partner (7 Abschn. 2.2.2 »chronische Rückenschmerzen«) sowie Entlastung von Verpflichtungen zu Hau­
se oder bei der Arbeit (Krankschreibung, Frühberen­
tung). Bei manchen Kranken kann der Wunsch, für
einen Unfall entschädigt zu werden oder wegen einer
chronischen Krankheit eine Rente zu bekommen
(Rentenbegehren), so übermächtig werden, dass
alle Behandlungsversuche fehlschlagen.
2.3.7
Struktur und Konflikt
In der multiaxialen operationalisierten psycho­
dynamischen Diagnostik (OPD), die im Rahmen
der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie­
verfahren (7 Abschn. 8.2.1) eingesetzt wird, unter­
scheidet man zwischen den Achsen Struktur und
Konflikt. Weitere 3 Achsen betreffen Krankheits­
erleben und Behandlungsvoraussetzungen, Bezie­
hungsmuster und die ICD-Diagnose.
Struktur Unter der Achse Struktur wird beurteilt,
wie gut das Ich seine Funktionen erfüllt. Zu den IchFunktionen gehören eine differenzierte, ganzheit­
liche und realistische Wahrnehmung von sich selbst
und anderen Menschen, die Regulierung von Im­
pulsen und Affekten, die Kommunikation mit an­
deren Menschen und das Eingehen stabiler Bezie­
hungen. Wenn diese Funktionen nicht gut erfüllt
werden, liegt eine gering integrierte Ich-Struktur
vor. Dies ist z. B. bei der Borderline-Persönlichkeits­
störung der Fall.
41
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
Konflikt Unter der Achse Konflikt wird beurteilt,
wie gut es einem Menschen gelingt, einander wider­
strebende Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen.
Ein Konfliktthema lautet beispielsweise »Individua­
tion versus Abhängigkeit«. Hier geht es um Bedürf­
nisse nach Nähe und Zusammensein einerseits,
Alleinsein und Distanz andererseits. Manche Men­
schen können diese beiden Bedürfnisse nicht mit­
einander in Einklang bringen und entscheiden sich
einseitig für einen der beiden Pole. Die einen stre­
ben enge, harmonische Beziehungen um jeden Preis
an; die anderen können sich aus Angst, vereinnahmt
zu werden, überhaupt nicht auf eine Beziehung ein­
lassen und kämpfen andauernd um ihre Eigenstän­
digkeit. In der OPD wird eine ganze Reihe weiterer
Konfliktthemen beschrieben, z. B. Unterwerfung
versus Kontrolle oder Versorgung versus Autarkie.
iiVertiefen
Dornes M (2001) Der kompetente Säugling.
­Fischer, Frankfurt (gut lesbare Einführung in die
Säuglingsforschung)
Dornes M (2008) Die Seele des Kindes. Fischer,
Frankfurt (sehr verständlich geschriebene Einführung in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie)
Mertens W (2008) Psychoanalyse. Beck,
­München (gut verständliche Einführung einschließlich neuerer Entwicklungen)
2.4
Sozialpsychologische Modelle
H. Faller
Lernziele
Der Leser soll
55 Intra- und Interrollenkonflikte unterscheiden
können,
55 psychische Schutzfaktoren nennen können,
55 die Komponenten der sozialen Unterstützung
beschreiben können,
55 die beiden Modelle der Wirkung sozialer
­­Unterstützung (Stress-Puffer-Modell, Haupt­
effektmodell) erläutern können.
2.4.1
2
Psychosoziale Einflüsse
auf Gesundheit und Krankheit
Soziale Rollen, Normen und Einstellungen können
– vermittelt über das Gesundheitsverhalten – die Ge­
sundheit beeinflussen.
>> Unter einer sozialen Rolle versteht man
die Gesamtheit der Verhaltenserwartungen,
die an den Inhaber einer bestimmten Posi­
tion im Netzwerk der sozialen Beziehungen
gerichtet werden.
Soziale Rollen führen zu einer gewissen Berechen­
barkeit des Verhaltens von Menschen in sozialen
Situationen. So kann sich ein Patient normalerweise
darauf verlassen, dass er vom Arzt eine Diagnose
mitgeteilt bekommt und eine angemessene Be­
handlung erhält. Jeder Mensch ist Inhaber mehrerer
Rollen, mit denen er unterschiedlich stark identifi­
ziert ist (Rollenidentifikation) oder zu denen er
auch Distanz hält (Rollendistanz).
Rollen legen das Verhalten nicht hundertpro­
zentig fest, sondern lassen einen Spielraum für fle­
xibles Verhalten in unterschiedlichen Situationen.
Dies kann bis zu einem Konflikt zwischen unter­
schiedlichen Rollenerwartungen gehen. Bestehen
unterschiedliche Erwartungen innerhalb einer Rol­
le, spricht man von einem Intrarollenkonflikt. Bei­
spiel: Ein Arzt möchte einerseits seinem Patienten
die optimale und notfalls auch kostspielige Therapie
zukommen lassen, andererseits sieht er sich durch
die Krankenkassen unter Kostendruck gesetzt und
möchte deshalb möglichst preiswerte Medikamente
verordnen.
Wenn konflikthafte Erwartungen zwischen ver­
schiedenen Rollen bestehen, die ein und dieselbe
Person innehat, spricht man von einem Interrollen­
konflikt. Beispiel: Eine Krankenhausärztin, die zu­
gleich Mutter eines kleinen Kindes ist, sieht auf der
einen Seite die Erwartung an sich gerichtet, auf der
Station Überstunden zu machen, um neu aufge­
nommene Patienten zu versorgen, und muss ande­
rerseits ihre Tochter vom Kindergarten abholen.
Der Konflikt resultiert hier also aus schwer zu ver­
einbarenden Anforderungen aus der Rolle als Ärz­
tin und der Rolle als Mutter.
Arbeitslosigkeit bedeutet den Verlust einer
zentralen sozialen Rolle. Sie bringt nicht nur finan­
42
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
zielle Einbußen mit sich, sondern auch den Verlust
der wichtigsten Quelle sozialer Anerkennung,
den Verlust einer sinnvollen Tätigkeit und eines
strukturierten Tagesablaufs. Arbeitslose leiden an
vermindertem Selbstwertgefühl, Resignation und
Rückzugstendenzen. Sie tragen ein erhöhtes Krank­
heits- und Sterberisiko. Schlafstörungen, depressive
und Angststörungen sind häufig. Die Inanspruch­
nahme des medizinischen Versorgungssystems ist
erhöht. Am stärksten belastet sind Langzeitarbeits­
lose. Ob Arbeitslosigkeit krank macht (Kausalitäts­
hypothese) oder Krankheit zu Arbeitslosigkeit führt
(Selektionshypothese), lässt sich wissenschaftlich
bis heute nicht abschließend beantworten. Für die
Kausalitätshypothese spricht, dass eine Wiederauf­
nahme der Arbeit auch mit einer Verbesserung des
seelischen Befindens einhergeht. Für die Selektions­
hypothese spricht, dass ein Drittel aller Kündigun­
gen krankheitsbedingt erfolgt. Wahrscheinlich spie­
len beide Mechanismen eine Rolle.
Soziale Normen Soziale Normen sind Regeln, die
sich auf das Verhalten aller Menschen in der Gesell­
schaft beziehen. Verhalten, das von der Norm
­abweicht, wird negativ sanktioniert, um der Norm
Geltung zu verschaffen. Normen unterscheiden sich
im Grad ihrer Formalisierung und im Ausmaß der
Sanktionen. Normen können auch das Gesundheits­
verhalten betreffen. Beispiel: Mit der Safer-Sex-Kam­
pagne im Rahmen der HIV-Prävention wird ver­
sucht, eine Verhaltensnorm zu verändern. Es wird
angestrebt, dass die Benutzung eines Kondoms zur
Norm beim Geschlechtsverkehr wird. Durch die Än­
derung der Einstellungen in der Öffentlichkeit sollen
solche Verhaltensänderungen gefördert werden.
Hintergrundinformation
Überlegenheit sanktionierender Institutionen
In Public-goods-Experimenten erhalten die Mitspieler ein bestimmtes Vermögen und entscheiden dann, wie viel sie davon in einen »öffentlichen Topf« geben, von dem alle umso
mehr profitieren, je mehr darin investiert wird. Manche Mitspieler investieren viel, in der Erwartung, dass andere ihrem
Beispiel folgen und dadurch der Nutzen für alle am größten
wird. Manche hingegen investieren gar nichts und partizi­
pieren lediglich vom öffentlichen Gut (free rider, »Schwarzfahrer«). Wie kann man verhindern, dass wenige Free-Rider
alle anderen entmutigen zu kooperieren, so dass das Ausmaß
der Investition in das öffentliche Gut auf Null sinkt?
Ein Experiment: Die Mitspieler konnten wählen, ob sie einer
Institution beitreten wollen, in der es keine Sanktionen gab,
oder aber einer anderen, in der unkooperatives Verhalten
sanktioniert werden konnte. Jeder erhielt dann 20 Geldein­
heiten und konnte davon so viel er wollte in das öffentliche
Gut einbringen. Jedes Gruppenmitglied profitierte gleichermaßen vom öffentlichen Gut, unabhängig vom eigenen Beitrag. Diese Spielanordnung stellt natürlich eine Versuchung
dar, selbst nichts abzugeben, aber von den Beiträgen der anderen zu profitieren. Dies führte dazu, dass die Koopera­tion in
der sanktionsfreien Gruppe bald gegen Null ging. In der an­
deren Gruppe bestand für jeden die Möglichkeit, »Schwarz­
fahrer« zu bestrafen. Jede Bestrafung kostete das bestrafte
Gruppenmitglied 3 Geldeinheiten, war allerdings auch für
denjenigen, der die Sanktion ausübte, mit einem Verlust von
1 Geldeinheit verbunden. Bestrafung führte also auch für den,
der bestrafte, zunächst zu einem Nachteil. Auch wenn nur
­wenige Teilnehmer unter Inkaufnahme dieses Nachteils für die
Einhaltung der Kooperationsnorm sorgten, führte dies binnen
kurzem in der sanktionierenden Gruppe zu einem Anstieg der
Kooperation, so dass bald über 90 % der Mitspieler hohe Beiträge oder gar ihr ganzes Vermögen investierten (und damit
letztlich auch den höchsten Nutzen für sich selbst zogen).
Zu Beginn des Spiels hatten sich zwei Drittel der Teilnehmer
für die sanktionsfreie Gruppe entschieden, nur ein Drittel für
die sanktionierende. Die Teilnehmer hatten jedoch nach jeder Spielrunde die Möglichkeit, in die andere Gruppe zu
wechseln. Von Runde zu Runde wechselten immer mehr Teilnehmer in die sanktionierende Gruppe. Diese »Abstimmung
mit den Füßen« demonstrierte klar die Überlegenheit einer
sanktionierenden Institution, weil eine wechselseitige Kooperation, die auch für jeden Einzelnen den Nutzen maximierte, nur dort realisiert wurde (Gürerk et al. 2006).
Einstellungen Unter einer Einstellung versteht man
die Bewertung eines konkreten Objekts, z. B. eines
bestimmten Gesundheits- oder Sexualverhaltens.
Die Psychologie versucht seit langem herauszufin­
den, auf welche Weise Einstellungen und Verhalten
am besten verändert werden können. Ein wesent­
liches Ergebnis ist, dass die Änderung von Einstel­
lungen oft nicht ausreicht, auch das Verhalten zu
verändern. Zwischen Einstellungen und Verhalten
besteht nur ein schwacher Zusammenhang. Die
­effektivste Methode einer Einstellungsänderung ist
ironischerweise, zunächst das Verhalten zu ändern.
Die Einstellungsänderung folgt dann der Verhal­
tensänderung nach (7 Abschn. 10.4.2).
2.4.2
Psychische Risikound Schutzfaktoren
In sozialpsychologischen Modellen werden psy­
chische Risiko- und Schutzfaktoren im Hinblick auf
43
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
die Krankheitsentstehung untersucht. Als Risikofak­
toren gelten beispielsweise belastende Lebensereig­
nisse, insbesondere Verlusterlebnisse, mangelnde
soziale Integration, erlernte Hilflosigkeit und De­
pression (7 Abschn. 4.4.5). Daneben hat die Gesund­
heitspsychologie unter unterschiedlichen Bezeich­
nungen eine Reihe einander ähnlicher Konzepte als
sog. Schutzfaktoren beschrieben, die der Entste­
hung von Krankheiten entgegenwirken sollen.
Schutzfaktoren
55Internale Kontrollüberzeugung: Überzeugung, durch das eigene Verhalten den
­Gesundheitszustand positiv beeinflussen zu
können.
55Selbstwirksamkeit: Überzeugung, ein bestimmtes gesundheitsförderliches Verhalten auch unter widrigen Umständen ausführen zu können (Kompetenzerwartung).
55Dispositioneller Optimismus: Zuversicht,
Probleme bewältigen zu können, im Sinne
eines Persönlichkeitsmerkmals.
55Hardiness (Robustheit): Gefühl, seine
­Umwelt kontrollieren zu können; Veränderungen als Chance sehen.
55Kohärenzsinn (sense of coherence): Gefühl,
dass die Ereignisse des Lebens erklärbar
sind (Verstehbarkeit), bewältigt werden
können (Bewältigbarkeit) und sich die Bewältigung auch lohnt (Sinnhaftigkeit)
(­Salutogenese; 7 Hintergrundinformation
»Salutogenese«).
Kritik Bei diesen sog. Schutzfaktoren stellt sich zu­
nächst die Frage, ob es sich jeweils um eigenständi­
ge Konstrukte handelt oder diese Eigenschaften
nicht vielmehr einen breiten Überlappungsbereich
aufweisen. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob es
sich um von der Gesundheit unabhängige Faktoren
handelt, die die Gesundheit beeinflussen, oder eher
um Bestandteile der (psychischen) Gesundheit.
Dies ist insbesondere dann nicht zu klären, wenn im
Rahmen einer Querschnittsstudie zu ein und dem­
selben Messzeitpunkt ein Zusammenhang zwischen
einem sog. Schutzfaktor und der psychischen Ge­
sundheit festgestellt wird. Dann lässt sich nicht klä­
2
ren, was Ursache und was Folge ist, ob Optimismus
zu Wohlbefinden führt oder Wohlbefinden zu
­Optimismus oder beides Teilkomponenten psychi­
scher Gesundheit sind.
Günstiger als beim Konzept der Salutogenese
(7 Hintergrundinformation »Salutogenese«) sieht
die Forschungslage bei internaler Kontrollüberzeu­
gung, dispositionellem Optimismus und Selbst­
wirksamkeit aus. Hier existieren Längsschnittunter­
suchungen, die zeigen, dass eine hohe Ausprägung
auf den genannten Variablen förderlich für eine
aktive Krankheitsbewältigung und das Gesund­
heitsverhalten ist. Teilweise ließen sich sogar posi­
tive Effekte in Bezug auf den körperlichen Krank­
heitsverlauf, z. B. die Rekonvaleszenz nach Opera­
tionen, nachweisen.
Hintergrundinformation
Salutogenese
Das Modell der Salutogenese geht auf den amerikanischisraelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. Er
sieht Krankheit und Gesundheit als 2 Pole einer Dimension
und versucht, Faktoren zu identifizieren, die ein Individuum
in Richtung auf den Pol Gesundheit bewegen, d. h. der Gesundheitsförderung (statt der Vermeidung von Krankheit)
dienen. Als gesundheitsförderlichen Faktor hat Antonovsky
das sog. Kohärenzgefühl (sense of coherence), d. h. ein Gefühl
von Stimmigkeit, beschrieben. Es setzt sich aus 3 Komponenten zusammen:
55 dem Gefühl, dass die Anforderungen des Lebens nicht
willkürlich und zufällig, sondern vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit),
55 dem Gefühl, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, diesen Anforderungen gerecht zu werden
und die Schwierigkeiten zu lösen (Bewältigbarkeit),
55 dem Gefühl, dass es sich auch lohnt, sich zu engagieren
und Energie zu investieren (Sinnhaftigkeit).
In den vorliegenden Studien fanden sich positive Korrelationen mit psychischer Gesundheit sowie negative Zusammenhänge mit Ängstlichkeit und Depressivität oder Stress. Aber
diese Zusammenhänge gehen lediglich auf Querschnitts­
studien zurück, so dass die Frage von Ursache oder Folge
­offen bleiben muss. Mit körperlichen Erkrankungen oder
auch dem Gesundheitsverhalten konnten bisher nur wenige
und zudem inkonsistente Zusammenhänge gefunden werden. Deshalb muss das Modell gegenwärtig als noch nicht
ausreichend bestätigt angesehen werden, so dass vor un­
realistischen Erwartungen gewarnt wird. Es wird gleichwohl
oft in einem ideologischen, gesundheitspolitischen Kontext
verwendet, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu
begründen.
2
44
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
2.4.3
Soziale Unterstützung
>> Soziale Unterstützung (syn. sozialer Rück­
halt) ist die hilfreiche Interaktion mit einem
anderen Menschen bei der Bewältigung
­eines Problems.
Komponenten der sozialen Unterstützung
55Emotionale Unterstützung: verständnisvolle Zuwendung, Trost, Ermutigung
55Instrumentelle Unterstützung: praktische
Hilfe, finanzielle Unterstützung, Hilfe bei
täglichen Arbeiten
55Informationelle Unterstützung: Informa­
tionsvermittlung, Rat, Anleitung
55Bewertungsunterstützung: Übereinstimmung in Wertvorstellungen und Meinungen
Oft wird nur die vom Betroffenen wahrgenomme­
ne Unterstützung erforscht, also sein persönliches
Erleben, wie gut er sich von anderen Menschen
­unterstützt fühlt, nicht die tatsächlich erhaltene
­Unterstützung. Wahrgenommene Unterstützung ist
aber auch von der Bewertung durch die jeweilige
Person abhängig. Bei depressiven Menschen ist bei­
spielsweise das Gefühl, gemocht zu werden, gerin­
ger ausgeprägt als bei Gesunden. Wahrgenommene
Unterstützung ist eine relativ stabile Erwartung,
ein Persönlichkeitsmerkmal. Wahrgenommene und
erhaltene Unterstützung überlappen sich kaum.
Soziale Integration Von der funktionellen sozia­
len Unterstützung lässt sich die soziale Integration
abgrenzen, d. h. die Integration in ein Netzwerk
von sozialen Beziehungen (strukturelle Unterstüt­
zung). Sie hat eine Verhaltenskomponente – das
aktive Engagement in einem breiten Spektrum
­
sozia­ler Aktivitäten und Beziehungen – und eine
­kognitive Komponente – ein Gefühl der Zugehörig­
keit und Identifikation mit sozialen Rollen. Gegen­
pol ist die soziale Isolation.
Geschlechtsunterschiede Schon kleine Mädchen
haben mehr Freundinnen als Jungen Freunde.
­Frauen haben zeitlebens engere und größere soziale
Netzwerke. Sie bieten anderen mehr Unterstützung
an und erhalten auch selbst mehr Hilfe. Sowohl
Frauen als auch Männer profitieren mehr von weib­
licher Unterstützung als von männlicher. In einer
Laborstudie profitierten Männer unter Stress von
verbaler Zuwendung durch ihre Frauen, nicht
aber umgekehrt. Frauen profitierten hingegen von
nonverbaler Zuwendung (Berührung) durch ihre
Männer.
Die Wirkung sozialer Unterstützung wird durch
Oxytozin vermittelt. Hierfür sprechen experimen­
telle Befunde, die zeigen, dass die Gabe von Oxyto­
zin die Wirkung sozialer Unterstützung verstärkt.
Umgekehrt profitieren manche Männer, die eine be­
stimmte Variante des Oxytozinrezeptorgens tragen,
weniger von sozialer Unterstützung. Mög­licherweise
trägt die bessere Verfügbarkeit von Oxytozin zur
besseren sozialen Einbindung von Frauen bei. Oxy­
tozin hat die ursprüngliche Funktion, die MutterKind-Beziehung zu fördern (7 Abschn. 4.4.5). In der
Evolution hat sich dies als förderlich dafür erwiesen,
dass Mütter ihren Nachwuchs besser vor Gefahren
schützen können. Kinder lernen im Laufe ihrer Ent­
wicklung, dass die Mutter ihnen Sicherheit ver­
mittelt. Dieses Sicherheitslernen bildet die Grund­
lage für die stressmildernde Wirkung von sozialer
Unterstützung durch andere Bezugspersonen im
weiteren Lauf des Lebens.
Gesundheitsförderliche Effekte Soziale Unterstüt­
zung und soziale Integration wirken gesundheits­
förderlich und schützen vor Krankheit. Auch bei
schon bestehender Krankheit fördern sie einen
günstigen Verlauf. So hatten beispielsweise Herz­
infarktpatienten nach einer Bypass-Operation
einen schnelleren Genesungsverlauf, wenn sie
­
sozia­le Unterstützung erfuhren (Besuche vom Ehe­
partner). Soziale Unterstützung fördert die Immu­
nabwehr und die Wundheilung. Das Mortalitäts­
risiko bei einer koronaren Herzkrankheit ist ge­
ringer bei gut unterstützten Patienten. Verheiratete
Krebspatienten erhalten häufiger die notwendige
Therapie und haben eine geringere Sterblichkeit
als unverheiratete Krebspatienten. Allerdings schei­
nen die positiven Effekte sozialer Integration bei
Männern etwas stärker ausgeprägt zu sein als bei
Frauen.
Für die gesundheitsprotektiven Effekte sozialer
Unterstützung werden 2 Wirkmechanismen unter­
45
2.4 · Sozialpsychologische Modelle
schieden: das Stress-Puffer-Modell und das Haupt­
effektmodell.
>> Das Stress-Puffer-Modell besagt, dass die
Wirkungen von Stress durch soziale Unter­
stützung abgemildert (abgepuffert) werden.
Stress ist nicht mehr so schlimm, wenn man über­
zeugt ist, dass es jemanden gibt, der einem bei der
Bewältigung hilft. Die belastende Situation er­
scheint dann weniger schwierig zu bewältigen,
emotionale und physiologische Reaktionen sind
abgeschwächt. Beispiel: In einer Längsschnittunter­
suchung mit gesunden schwedischen Männern im
Alter von 50 Jahren oder älter besaßen diejenigen
Studienteilnehmer, die im Jahr zuvor viele belasten­
de Lebensereignisse erlitten hatten, in der Folgezeit
ein höheres Risiko zu versterben. Dieses Risiko
war jedoch bei denjenigen Männern abgeschwächt,
die ein hohes Maß an emotionaler Unterstützung
zur Verfügung hatten. Hier handelt es sich um einen
typischen Interaktionseffekt (7 Abschn. 3.4.1): Der
Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit
wird durch das Vorhandensein eines 3. Faktors,
nämlich die soziale Unterstützung, abgeschwächt.
Der Stress-Puffer-Effekt wird möglicherweise
über verminderte negative Emotionen vermittelt.
Negative Emotionen wie Angst und Depression wer­
den durch emotionale Zuwendung abgeschwächt.
Dadurch vermindern sich entzündungsfördernde
Botenstoffe (proinflammatorische Zytokine), wäh­
rend stressmildernde Peptidhormone wie Oxytozin
und Endorphine ansteigen.
>> Das Haupteffektmodell besagt, dass soziale
Unterstützung generell günstig ist, unab­
hängig davon, ob sich jemand in Stress befin­
det oder nicht.
Das Haupteffektmodell scheint insbesondere für die
soziale Integration zu gelten. Eine große Zahl von
Studien hat in konsistenter Weise den Zusammen­
hang zwischen guter sozialer Integration und Ge­
sundheit bestätigt. Gesunde Erwachsene, die sozial
besser integriert sind, d. h. verheiratet sind, in Fa­
milien leben oder viele Freunde haben, haben eine
geringere Sterblichkeit. Dies gilt auch in Bezug auf
die Sterblichkeit in Folge spezifischer Erkrankun­
gen, wie Herzerkrankungen und Krebs, ebenso wie
für die Anfälligkeit für virale Infekte oder auch den
2
kognitiven Abbau im Alter. Wie groß das Netzwerk
ist, spielt dabei eine geringere Rolle. Vielmehr ist es
wichtig, wie sehr man sich verbunden fühlt, also
qualitative Kriterien. Diese Wirkung wird wahr­
scheinlich über das Gesundheitsverhalten ver­mittelt.
Menschen, die in einem sozialen Netzwerk ver­
bunden sind, stehen unter stärkerer sozialer Kon­
trolle im Hinblick auf normgerechtes Gesundheits­
verhalten. Die Bezugsgruppe, in die man einge­
bunden ist, gibt einem eine Norm vor, wie man sich
verhalten soll, um »dazu zu gehören« bzw. aner­
kannt zu werden (soziale Regulation). Die wichtigs­
te Bezugsgruppe ist zumeist die Familie. Die Ehe­
frau sorgt beispielsweise dafür, dass ihr Mann nicht
so viel raucht und trinkt, sich gesund ernährt und
Sport treibt. Am wichtigsten scheint dabei zu sein,
dass sie ihn ermutigt und ihm versichert, dass sie
es ihm zutraut, ein bestimmtes Gesundheitsver­
halten (z. B. regelmäßig zu trainieren) auszuüben.
Dadurch wird seine Selbstwirksamkeit gestärkt,
und es fällt ihm leichter, mit dem Training anzu­
fangen. Wenn er einmal damit begonnen hat, würde
ohne den kontinuierlichen Ansporn womöglich
das Risiko steigen, dass er seine sportliche Aktivität
­wieder aufgibt und in eine passive Lebensweise zu­
rückfällt. So aber entwickelt er ein Gefühl der Ver­
antwortung für sich selbst und seine Familie.
Umgekehrt sind Verlusterlebnisse, Einsamkeit
oder konflikthafte soziale Beziehungen mit einem
erhöhten Krankheitsrisiko verbunden. Geringe so­
ziale Unterstützung und Integration begünstigen
die Entwicklung einer Depression. Diese ist selbst
wiederum ein Risikofaktor für die koronare Herz­
krankheit.
iiVertiefen
Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2013) Einführung Gesundheitspsychologie. 3. Aufl. Reinhardt, München (guter Einstieg in die Thematik)
2
46
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
2.5
Soziologische Modelle
H. Faller
Lernziele
Der Leser soll
55 die 3 Indikatoren der sozialen Schicht nennen
können,
55 den sozialen Gradienten der Gesundheit beschreiben können,
55 Modelle zur Erklärung des sozialen Gradienten
der Gesundheit erläutern können.
2.5.1
Einflüsse der gesellschaftlichen
Opportunitätsstruktur
Soziologische Modelle befassen sich mit dem Ein­
fluss von Merkmalen der Sozialstruktur auf Gesund­
heit und Krankheit. Innerhalb einer Gesellschaft
sind die Chancen, z. B. für Bildung als Vorausset­
zung des Gesundheitsverhaltens, ungleich verteilt.
Der Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen,
wie Bildung, Arbeit und soziale Integration, wird
als soziale Opportunitätsstruktur bezeichnet. Der
wichtigste zusammenfassende Indikator der Oppor­
tunitätsstruktur ist die soziale Schichtung.
>> Die soziale Schicht (syn. sozioökonomischer
Status) wird anhand von 3 Merkmalen
­bestimmt (sog. meritokratische Triade):
55Bildung
55Beruf
55Einkommen
Im Begriff »meritokratisch« wird zum Ausdruck
gebracht, dass der soziale Status durch Leistung
»verdient« wurde.
Gesundheitliche Ungleichheit Der sozioökonomi­
sche Status steht mit der Sterblichkeit (Mortalität)
und der Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in Zu­
sammenhang. Beispiele: Erwachsene ohne Abitur
haben eine kürzere Lebenserwartung als Erwachse­
ne mit Abitur. Die Differenz beträgt bei Männern
3 Jahre und bei Frauen 4 Jahre. Zwar steigt die Le­
benserwartung auch in den unteren Schichten,
aber nicht so schnell wie in den oberen Schichten,
so dass der Unterschied größer wird. Säuglings- und
Kindersterblichkeit sind in der Unterschicht höher,
stationäre Behandlungen wegen Infektionskrank­
heiten dauern bei Unterschichtkindern länger, ihr
Zahnstatus ist schlechter. Menschen mit Hauptoder Realschulabschluss erleiden häufiger einen
Herzinfarkt als Abiturienten. Für viele andere
Krankheiten ließ sich eine solche soziale Ungleich­
heit ebenfalls belegen. Auch psychische Störungen,
wie Angststörungen, Depression, Substanzmiss­
brauch und Persönlichkeitsstörungen, sind bei Per­
sonen mit niedrigerem sozialen Status häufiger. Die
wenigen Ausnahmen von diesem Muster sind
Brustkrebs, Asthma, Allergien und Neurodermitis.
Für die Entstehung dieser Krankheiten spielen die
weiter unten beschriebenen Einflussfaktoren wie
Gesundheitsverhalten und Stress offensichtlich eine
geringere Rolle.
Meist findet sich ein sozialer Gradient mit linear
abgestuften Risiken je nach den Schichtstufen. Die­
ser soziale Gradient zeigt sich während der ganzen
Lebensspanne, nimmt im Alter jedoch ab. Schon die
Schichtzugehörigkeit als Kind sagt gesundheitliche
Unterschiede im Erwachsenenalter voraus. Die mit
niedriger Schicht verbundenen gesundheitlichen
­Risikofaktoren werden also schon sehr früh ange­
legt. Selbst ein überwiegend genetisch beeinflusstes
Merkmal wie die Körpergröße zeigt einen Schicht­
gradienten. Männer der Unterschicht sind 5 cm
­kleiner als Männer der Oberschicht. Bei Frauen be­
trägt der Unterschied 3,5 cm.
Erklärungsmodelle In der Soziologie werden haupt­
sächlich 2 Erklärungsmodelle diskutiert: sozia­le
Verursachung (schlagwortartig formuliert: »Armut
macht krank.«) und sozialer Abstieg (schlagwort­
artig: »Krankheit macht arm.«). Für das Modell des
sozialen Abstiegs, auch Drift-Hypothese genannt,
finden sich Hinweise bei psychischen Störungen,
wie der Schizophrenie (7 Abschn. 4.10.4) oder bei
Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit den
­Arbeitsplatz verloren haben. Häufiger wird jedoch
das Modell der sozialen Verursachung für relevant
erachtet. Als Einflussfaktoren gelten sowohl mate­
rielle Lebensbedingungen als auch psychosoziale
und Verhaltensfaktoren, die in den unteren sozialen
Schichten ungünstiger ausgeprägt sind. Die medizi­
nische Versorgung spielt demgegenüber eine geringe
Rolle.
47
2.5 · Soziologische Modelle
Krankheitsförderliche Faktoren
bei niedrigerem sozialem Status
55Unhygienische oder beengte Wohnverhält­
nisse, Lärm, Luftverschmutzung: Diese
mit ungünstigen Lebensverhältnissen verbundene Benachteiligung wird strukturelle
oder materielle Deprivation genannt.
55Physische und psychische Arbeitsbelas­
tungen: schwere körperliche Arbeit, Lärm,
Eintönigkeit, geringe Möglichkeit des Mitentscheidens, weniger Anerkennung
(7 Abschn. 4.8.3 »Anforderungs-Kontrollmodell«, »Gratifikationsmodell«).
55Ungünstiges Gesundheitsverhalten:
­Zigarettenrauchen, ungesunde Ernährung,
geringere körperliche Aktivität, deshalb
größere Verbreitung der Risikofaktoren für
Krankheiten.
55Geringere Nutzung von Gesundheitsange­
boten: seltenere Teilnahme an Präventionsmaßnahmen, geringere Inanspruchnahme
medizinischer Leistungen.
55Psychosoziale Risikofaktoren: mehr Stress
(höhere Sekretion von Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol), geringere Stressbewältigungsressourcen, weniger unterstützende
soziale Netzwerke, mehr negative Emotionen (Angst, Depression).
Starkes Übergewicht (Adipositas) und Bewe­
gungsmangel kommen bei Menschen mit ge­
ringerer ­Bildung häufiger vor. Auch das Zigaretten­
rauchen ist in den unteren Schichten deutlich
­stärker verbreitet. Rauchen wiederum ist der wich­
tigste ein­
zelne Risikofaktor für die Entstehung
einer Vielzahl von Krankheiten, insbesondere von
Herz-Kreislauf-Krankheiten (Herzinfarkt, Schlag­
anfall) und Krebserkrankungen (Lungenkrebs,
viele andere Tumor­arten). In der Pathogenese der
koronaren Herzkrankheit spielen entzündliche
­Prozesse eine Rolle. In der unteren Schicht finden
sich höhere Werte für Entzündungsindikatoren
(­Interleukin 6, C-reak­tives Protein). Dies könnte
zur Risikoerhöhung beitragen. Schon im Kindes­
alter zeigt sich eine entzündungsförderliche Gen­
expression.­
2
Auch Persönlichkeitseigenschaften können eine
Rolle als Verursacher spielen. Gewissenhaftigkeit ist
neben Intelligenz der beste Prädiktor des Bildungs­
niveaus, aber auch des Gesundheitsverhaltens.
Niedriger sozioökonomischer Status und ungünsti­
ges Gesundheitsverhalten könnten die gemeinsame
Folge einer niedrigen Ausprägung dieses Persön­
lichkeitsmerkmals sein.
Gesundheitspolitische Maßnahmen versuchen,
gesundheitliche Chancengleichheit herbeizufüh­
ren. Sie sind jedoch bisher nicht sehr erfolgreich
gewesen (7 Abschn. 11.1.4).
2.5.2
Einflüsse ökonomischer und
ökologischer Umweltfaktoren
Soziologische Modelle betrachten nicht nur die so­
ziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft,
sondern vergleichen auch unterschiedliche Gesell­
schaften miteinander, um Hinweise auf ökonomi­
sche und ökologische Umwelteinflüsse zu erhalten.
Gesellschaften unterscheiden sich im Hinblick auf
das Ausmaß der Industrialisierung (Industrie- vs.
Entwicklungsländer), Urbanisierung (Anteil der
Bevölkerung, der in Städten vs. auf dem Land lebt)
und der Teilnahme an den Welthandelsbeziehun­
gen (Globalisierung).
Industrialisierung Sowohl innerhalb der Industrie­
länder als auch weltweit lässt sich in den letzten Jahr­
zehnten eine Zunahme des Wohlstands konstatie­
ren. So hat sich im 20. Jahrhundert der durchschnitt­
liche Lebensstandard in Westeuropa zumindest
verzehnfacht. In der Bundesrepublik Deutschland
als Beispiel für ein Industrieland kann dies daran
­illustriert werden, wie lange ein Arbeiter im produ­
zierenden Gewerbe durchschnittlich arbeiten muss,
um ein bestimmtes Produkt erwerben zu können.
Um eine Waschmaschine zu kaufen, musste ein
­Arbeiter im Jahr 2012 3 Tage arbeiten, im Jahr 1960
waren dazu noch 27 Tage erforderlich, für ein Fern­
sehgerät im Jahr 2012 4 Tage, 1960 noch 42 Tage.
Auch die Kosten für Nahrungsmittel sanken relativ:
Für 1 Liter Milch waren im Jahr 2012 3 Minuten
­Arbeitszeit aufzuwenden (1960 10 Minuten), für
1 Kilogramm Brot 2012 10 Minuten (1960 19 Minu­
ten). Sehr stark sanken insbesondere die Kosten für
48
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Mobilität (z. B. Flugreisen) oder Kommunikation
(z. B. Telefongespräche). Die Zunahme des Wohl­
stands hat eine größere individuelle Freiheit mit sich
gebracht. Dies zeigt sich in folgenden Punkten.
Folgen des Wohlstands für die Lebens­
gestaltung
55Eigener Haushalt: Menschen leben seltener
in einer Großfamilie zusammen. Sie entziehen sich dadurch der sozialen Kontrolle und
der Notwendigkeit, auf andere Rücksicht zu
nehmen. Dies geht nur, weil das günstigere
Wirtschaften, das eine Großfamilie erlaubt,
heutzutage nicht mehr ins Gewicht fällt.
55Arbeitszeitverkürzung: Die effektive Jahresarbeitszeit hat sich in den letzten 100 Jahren
halbiert. Dadurch bleibt mehr Zeit für die individuelle Lebensgestaltung.
55Wahl des Wohnorts: Individuelle Mobilität
und Freiheit bei der Wahl des Wohnorts
­haben zugenommen (zu nachteiligen Folgen der Mobilität auf die Familiengründung
7 Abschn. 4.9.4).
55Emanzipation der Frau: Die Freiheiten von
Frauen hinsichtlich Berufstätigkeit, Wahl
des Partners, Reversibilität der Partnerwahl
(Scheidung) als Folge der finanziellen Unabhängigkeit haben zugenommen.
Zeitbudget Generell kann eine Zunahme der Frei­
zeit konstatiert werden, die sich von 1900 bis heute
verdoppelt hat, und dies auch noch vor dem Hinter­
grund einer Zunahme der Lebenszeit um mehr als
die Hälfte. Während der Anteil der Arbeitszeit von
34 % auf 9 % zurückging und der Anteil für die Be­
friedigung der Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen)
mit 41 % bzw. 40 % konstant blieb, stieg der Anteil
der Freizeit von 25 % auf 51 % an.
Armut Zwischen 1990 und 2010 hat sich die Zahl
der Armen weltweit halbiert. Seitdem lebt rund
1 Mrd. Menschen weniger unter Armut und Hun­
ger. Ursache dafür ist das zunehmende wirtschaft­
liche Wachstum in den Entwicklungsländern. Vor
der industriellen Revolution kämpften die Men­
schen weltweit mit Armut und Hunger. Doch auch
heute gibt es noch viele Länder, in denen große
­Armut herrscht. Einer der Gründe, weshalb die ar­
men Länder kein ausreichendes Wirtschaftswachs­
tum erzielen, sind Infektionskrankheiten, wie Mala­
ria und Aids. Diese könnten mit mehr Hilfe durch
die entwickelten Länder erfolgreicher bekämpft wer­
den. Weitere Gründe von Armut sind geographische
Nachteile (z. B. fehlende Häfen), fehlende Infra­
struktur (z. B. Trinkwasser, Elektrizität, S­ traßen),
politische Fehlentwicklungen (z. B. Korruption),
Handelsschranken, Überschuldung, zu wenig Fi­
nanzmittel (z. B. für den Kauf von Dünger), eine zu
hohe Geburtenziffer (sog. demographische Falle),
fehlende Schulbildungsangebote, fehlende Gesund­
heitsversorgung, Diskriminierung der Frauen oder
ethnischer Minderheiten, Kriege und Bürgerkriege.
Der wichtigste Grund ist das Versagen der Regierun­
gen, das sich in Korruption und fehlender Rechts­
staatlichkeit äußert. Nur 5 % der knapp 50 Länder
Schwarzafrikas sind liberale Demokratien. Die klas­
sische Entwicklungshilfe ist insbesondere deshalb
gescheitert, weil den Empfängerländern die Institu­
tionen fehlen, die dafür sorgen, dass die Gelder
zweckentsprechend verwendet werden.
Urbanisierung Während in den Industrieländern
die Kernstädte schon wieder schrumpfen, nimmt
in den Entwicklungsländern die Migration vom
Land in die großen Städte immer mehr zu. Mega­
städte entstehen, der Anteil der Weltbevölkerung,
der in Städten lebt, wächst. Menschen flüchten
vom Land wegen zu geringer Erträge der Landwirt­
schaft, U
­ mweltzerstörung oder vor Bürgerkriegen.
Sie erhoffen sich vom Leben in der Stadt bessere
­Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Bildung, Woh­
nung und Gesundheitsversorgung und bessere
­Infrastruktur. Diese Hoffnungen erfüllen sich nicht
für alle. In Schwarzafrika, Mittel- und Südasien
­leben 50 % der Stadtbewohner in Slums, in Süd­
amerika 30 %. Pilotprojekte streben an, die Woh­
nungssituation zu verbessern. Slumbewohner erhal­
ten Grundeigentum als Anreiz dafür, angemessene
Wohnungen zu bauen. Zugleich soll eine funktionie­
rende Infrastruktur geschaffen werden. Insgesamt
geht Urbanisierung mit wirtschaftlicher Entwick­
lung, Zunahme des durchschnittlichen Pro-KopfEinkommens und Abnahme der Geburtenrate ein­
her (7 Abschn. 4.9.4).
49
2.5 · Soziologische Modelle
Globalisierung Als Ursache des zunehmenden
Wohlstands wird die Steigerung der Produktivität in
Folge von internationaler Arbeitsteilung angesehen.
Länder können sich auf diejenigen Produkte spezi­
alisieren, die sie besonders gut und kostengünstig
herstellen können. Beide Partner eines Handels­
austausches profitieren davon. Für Industrieländer
bedeutet dies die Chance, sach- und humankapital­
intensive Produkte zu exportieren und lohnintensiv
hergestellte Produkte billiger zu erwerben, die in
ehemaligen Entwicklungsländern kostengünstiger
hergestellt werden können. Damit einher geht je­
doch auch das Risiko, dass ineffiziente Arbeitsplät­
ze, bei denen die Lohnkosten die Produktivität
übersteigen, verloren gehen. Für die Entwicklungs­
länder bedeutet Globalisierung vor allem Abbau
der Handelsbeschränkungen, Öffnung der Märkte
der Industrienationen für die Produkte der Ent­
wicklungsländer und Investitionen internationaler
Unternehmen, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen.
Für alle Nationen bedeutet Globalisierung poten­
ziell die Förderung von Demokratie und der univer­
sellen Geltung der Menschenrechte.
Es lässt sich empirisch zeigen, dass der Wohl­
stand eines Landes, gemessen am Bruttoinlands­
produkt pro Person, umso größer ist, je größer die
wirtschaftliche Freiheit in diesem Land ist, gemes­
sen an Indikatoren wie dem geringen Einfluss des
Staates auf die Wirtschaft, freien Außenhandels­
beziehungen, einer stabilen Währung, Rechtssicher­
heit, Schutz des Eigentums und einer niedrigen
Regulierungsdichte, z. B. am Arbeitsmarkt.
Entwicklung hat auch psychologische Auswir­
kungen. Je höher der Entwicklungsstand einer Ge­
sellschaft, gemessen an Lebensstandard, Bildungs­
niveau und Lebenserwartung, desto zufriedener
und glücklicher sind die Menschen und desto ge­
ringer ist die Selbstmordrate. Damit muss die weit
verbreitete These, dass die Modernisierung der Ge­
sellschaft Unglück und Unzufriedenheit mit sich
bringt, in Frage gestellt werden.
2
Einflussfaktoren gesellschaftlicher
­Strukturen auf Gesundheit
55Das Ausmaß der Einkommensungleichheit
(Gini-Koeffizient) innerhalb einer Gesellschaft (je geringer, desto günstiger). Neuere
Studien auf breiterer Datenbasis konnten
diesen Zusammenhang allerdings nicht bestätigen. Wenn überhaupt vorhanden, ist
der Effekt sehr klein.
55Das Ausmaß der gegenseitigen Verbun­
denheit der Mitglieder einer Gesellschaft
(soziale Kohäsion).
55Das Ausmaß des Vertrauens, das man seiner
gesellschaftlichen Umwelt entgegenbringt
(soziales Kapital).
Lebenserwartung Infolge der Verbesserung der Le­
bens- und Ernährungsbedingungen (ausreichende
Ernährung, sauberes Trinkwasser, hygienische
Wohnungen) ist es in den letzten hundert Jahren zu
einer kontinuierlichen Zunahme der Lebenser­
wartung gekommen (7 Abschn. 4.9). Noch immer
besteht jedoch eine starke Diskrepanz zwischen der
Lebenserwartung in Industrieländern und in Ent­
wicklungsländern. Auch die Körpergröße, ein stark
genetisch bedingtes Merkmal, nahm in den vergan­
genen Jahrzehnten kontinuierlich zu, wahrschein­
lich als Folge verbesserter Ernährungsbedingungen.
Selbst in einem so kurzen Zeitraum wie 10 Jahren
konnte ein derartiger Effekt nachgewiesen werden:
Rekruten aus der ehemaligen DDR erreichten
­binnen 10 Jahren nach der Wende die Größe ihrer
westdeutschen Altersgenossen, denen sie zuvor kör­
pergrößenmäßig um 2 cm unterlegen waren.
Wohlstandskrankheiten Mit der Industrialisierung
und den damit einhergehenden verbesserten Le­
bensbedingungen nahmen insbesondere Infek­
tionskrankheiten stark ab. Die Industrialisierung hat
jedoch ihren Preis: die sog. Wohlstandskrankheiten,
die durch das Gesundheitsverhalten mitbedingt
sind. Hier sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkran­
kungen anzuführen. Risikofaktoren der koronaren
Herzkrankheit und des Schlaganfalls sind Zigaret­
tenrauchen, arterielle Hypertonie (Bluthoch­druck),
Hypercholesterinämie (erhöhte Blutfettwerte) und
50
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Hyperglykämie (Diabetes mellitus). Diese Risiko­
faktoren sind ganz überwiegend vom Verhalten ab­
hängig (Zigarettenrauchen, zu wenig körperliche
Aktivität, Über- und Fehlernährung). Dass Überge­
wicht eine Folge des Lebensstils ist, lässt sich anhand
einer Studie mit Immigranten zeigen. Einwanderer
in die USA im 1. Jahr nach der Einwanderung waren
zu 8 % übergewichtig, im Unterschied zu 22 % der
Amerikaner. Aber nach 15 Jahren waren die Ein­
wanderer inzwischen fast genauso häufig überge­
wichtig (19 %) wie die Einheimischen.
Soziale Instabilität Eine soziologische Theorie be­
sagt, dass soziale Instabilität (Anomie) die Suizid­
rate fördert (Emile Durkheim). Ein Beispiel ist
der Verlauf der Suizidrate des russischen Bevölke­
rungsanteils in Estland während des Unabhängig­
keitsprozesses. Während die russischen Einwohner
Estlands zu Zeiten der Sowjetunion, als sie noch
privilegiert waren, eine niedrigere Suizidrate auf­
wiesen als die Esten, stieg die Suizidrate während
des Verlusts ihrer privilegierten Position auf Werte
über diejenigen der Esten (und auch der Russen in
Russland).
Soziale Veränderungen sind jedoch nicht per se
negativ. So konnte in den neuen Bundesländern, wo
sich nach der Wende erhebliche soziale Veränderun­
gen – zwar meist positiver, aber z. T. auch negativer
Art, wie Anstieg der Arbeitslosigkeit – voll­zogen,
eine Abnahme der Suizidrate festgestellt werden.
­Suizide erfolgen oft im Rahmen einer psychischen
Störung, insbesondere einer Depression. Durch die
bessere Erkennung und Behandlung e­ iner Depres­
sion kann dementsprechend die Suizidrate gesenkt
werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür,
dass in der ehemaligen DDR nach der Wende die
Suizidrate abnahm und auf das niedrigere Niveau
der alten Bundesrepublik fiel. In der DDR durfte zu­
vor über Depression und Suizid nicht gesprochen
werden, weil es nicht mit der sozialistischen Ideo­
logie vereinbar war. Nachdem dieses Tabu aufge­
brochen worden war, konnten entsprechende dia­
gnostische und therapeutische Maßnahmen einge­
leitet werden, mit dem Ergebnis einer besseren Be­
handlung der Depression und einer niedrigeren
Suizidrate.
Gegenwärtig ist die Prävalenz psychischer Stö­
rungen in Ost- und Westdeutschland gleich hoch.
Dies spricht gegen starke regionale oder gesell­
schaftliche Einflüsse auf die Entstehung psychischer
Störungen. Die Schizophrenie tritt beispielsweise
weltweit in allen untersuchten Ländern mit einer
ungefähr gleich hohen Lebenszeitprävalenz von 1 %
auf, was gegen einen starken ökonomischen oder
ökologischen Einfluss spricht.
iiVertiefen
Mielck A (2005) Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Huber, Bern (zusammenfassende Darstellung der empirischen Befunde zur Schicht­
abhängigkeit von Gesundheitsindikatoren)
Schwartz FW, Walter U, Siegrist J, Kolip P, Leidl R,
Dierks ML, Busse R, Schneider N (Hrsg) (2012)
Public Health. Gesundheit und Gesundheits­
wesen. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München (umfassende, handbuchartige Übersicht)
Siegrist J (2005) Medizinische Soziologie, 6. Aufl.
Urban & Fischer, München (viele Beispiele zu
­sozialer Ungleichheit und Krankheit)
http://www.springer.com/978-3-662-46614-8
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