Artikel als PDF

Werbung
AKTUELL
KUNST
Die Gefälligkeit des Verfremdeten
Jedermann kennt die Werke des tschechischen
Künstlers Alphonse Mucha – er selbst ist längst
vergessen. Doch sein gestalterischer Einfluss ist
heute noch spürbar, wie das Zürcher Museum
Bellerive in einer neuen Ausstellung belegt.
Jugendstilkünstler
Das Zürcher Museum Bellerive
widmet dem Jugendstilkünstler
Mucha eine eigene Ausstellung
unter dem Titel «Mucha Manga
Mistery». Das Haus erinnert
nicht nur an das umfangreiche
grafische Schaffen des Tschechen
in Paris. Es dokumentiert auch,
dass sein Einfluss in der gestalterischen Welt bis heute spürbar
ist, etwa in der japanischen
Version von Comic-Heften, den
Manga. Mehr noch war Mucha
in der Kunst der 68er-Bewegung
präsent. Die US-amerikanische
Flower-Power-Bewegung liess
sich von den ornamentalen Darstellungen inspirieren. Und heute sind Muchas Werke nicht weit
6
von der Fantasy-Grafik entfernt,
die auch die Herzen der jüngeren Generation entzücken.
Muchas Lebenslauf führte ihn
aus der südmährischen Provinz
nach Wien, wo er als eaterdekorateur arbeitete, weiter über
München und schliesslich im Sog
der Weltausstellung 1887 nach
Paris, wo er an der renommierten
Académie Julian studierte.
Objekt der Begierde
Mucha schuf sieben Jahre später
das Bühnenplakat für Sarah
Bernhardt. Die Diva war so begeistert, dass sie den Künstler
unter Vertrag nahm. Er gestaltete die kommenden sechs Jahre
nicht mehr nur Plakate für sie,
sondern oftmals auch ihre Kostüme und Bühnenbilder.
Gestalter Mucha traf das ästhetische Empfinden der vorletzten Jahrhundertwende präzis,
wie das Museum Bellerive in einem Einführungstext schreibt:
«Verträumt blickende Frauen,
die als Projektionsfläche sämtliche Facetten zwischen realer Person und Allegorie bedienen
konnten, bilden das zentrale
Motiv.» Mit Ranken und Blüten
geschmückt erscheinen sie als
Göttinnen: «Als Objekte der Begierde verkörpern sie förmlich
Alphonse Mucha:
«Lorenzaccio»,
Plakat für Sarah Bernhardt,
1896
ZHDK
Ein ungewöhnliches Bild der
französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt: Auf diesem Plakat
(siehe erstes Bild rechts) ist sie
nicht als die berühmte Kameliendame zu sehen. Hier tritt sie
vielmehr in einer männlichen
Rolle auf. Denn Bernhardt spielte im Winter 1896 in der Pariser
Uraufführung des romantischen
Stücks «Lorenzaccio» des französischen Dramatikers Alfred de
Musset die Titelrolle. Das Werbeplakat für die Inszenierung am
éâtre de la Renaissance galt in
jener Zeit als revolutionär zukunftsweisend. Es stammte aus
der Werkstatt eines Tschechen,
des Künstlers Alphonse Maria
Mucha (1860–1939).
kulturtipp 5 l 13
EGMONT VERLAGSG. KÖLN/EMA 2011
ZHDK
ZHDK
AKTUELL
Alphonse Mucha: Bières de la Meuse,
Stanley Mouse/Alton Kelley: Konzertplakat
Tsukiji Nao: «Adekan 3», Manga-Cover,
Werbeplakat, 1897
für das Fillmore Auditorium,1966
2010
die 1900 aufkommende Kaufkraft und verführen zu grossstädtischem Vergnügen.»
Diese Grafik verkörperte für
spätere Generationen indes alles
andere als materiellen Hedonismus. In den 60ern und 70ern erlebte die dekorative Kunstbewegung besonders in Kalifornien
eine Renaissance. Nun dienten
diese Grafiken als Gegenwelt
zum bürgerlichen Wohlstand,
der in der Nachkriegszeit als korrupt empfunden wurde. Künstler wie der Friedensaktivist Wes
Wilson entwickelten Muchas
Grafik weiter, blieben aber erstaunlich nahe beim Original.
Für Werbung und Musik
Auch die Künstler Alton Kelley
und Stanley Mouse prägten die
oppositionelle grafische Bewe-
kulturtipp 5 l 13
Was meinen Sie?
Frage: Ist die JugendstilGrafik noch zeitgemäss?
Schreiben Sie uns Ihre
Meinung (bitte auch Wohn ort angeben)!
kulturtipp
«Stichwort Manga»
Postfach, 8024 Zürich, oder
[email protected]
gung jener Zeit mit, unter anderem mit ihrer Werbung für das
Zigarettenpapier Zig-Zag, das
zum Rauchen von HaschischZigaretten angeblich besonders
geeignet gewesen sein soll. Und
sie arbeiteten für Musiker wie
Grateful Dead, Jimi Hendrix
und die Steve Miller Band. Heute schliesst sich der MuchaKreis: Nachdem die orientalische Kunst den europäische Ju-
gendstil mitprägte, sind nun die
Bezüge zwischen Mucha und
den modernen japanische Manga-Künstlern erkennbar.
Wegweisende Kunst
Bleibt die Frage, weshalb eine
grafische Schule 120 Jahre später
beim Publikum noch immer auf
breiten Zuspruch stösst? Muchas
Kunst ist leicht verständlich, sie
ist gefällig und nicht provokativ.
Muchas Arbeiten waren Werbung mit künstlerischem Anspruch und hoben sich damit
von der damaligen Alltagsreklame ab. Spätere Generationen erkannten, dass sich diese Form
der Werbung für ihre eigene
Botschaft vereinnahmen liess, sei
es eine «bessere Welt mit Drogen» oder die kommerzialisierten Fantasy-Märchen.
Mucha selbst profitierte ein Leben lang von seiner wegweisenden Kunst. Nach dem Ersten
Weltkrieg ging er zwar in Frankreich vergessen. Aber er konnte
mit seiner Familie in der Tschechoslowakei Fuss fassen und erledigte lukrative Auftragsarbeiten
wie die Gestaltung von Briefmarken oder Banknoten. Doch 1939
marschierten die Deutschen in
Prag ein. Mucha kam in ein Lager
und starb nach kurzer Zeit an
einer Lungenentzündung. Die
Nationalsozialisten hatten offenkundig kein Verständnis für den
Charme seiner künstlerischen Arbeiten.
Rolf Hürzeler
Mucha Manga Mystery
Alphonse Muchas wegweisende
Grafik
Mi, 6.3.–So, 14.7.
Museum Bellerive Zürich
7
Herunterladen