Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen Human-derived cerebral organoids for investigating human cortical malformations Cappello, Silvia Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Fehlbildungen des zerebralen Kortex sind häufig mit intellektuellen Beeinträchtigungen und Epilepsie verbunden. Diese Anomalien entstehen im Rahmen der kortikalen Entw icklung durch Störungen bei der Bildung, Migration und der Verknüpfung von Neuronen. Zur Entw icklung therapeutischer Strategien ist es daher unerlässlich, die genetischen Ursachen zu verstehen sow ie die molekularen und zellulären Mechanismen zu untersuchen, die diesen Fehlbildungen zugrunde liegen. Die MPI-Forschungsgruppe nutzt zu diesem Zw eck aus induzierten Stammzellen gew onnene zerebrale Organoide. Summary Malformations of the cerebral cortex are often associated w ith intellectual disability and epilepsy. These disorders arise in the course of cortical development as a consequence of disturbance of neuronal development, migration and connection. In order to develop therapeutic strategies, it is essential to understand the genetic causes and to investigate the molecular and cellular mechanisms underlying these malformations. The MPI research group uses cerebral organoids derived from induced stem cells for this purpose. Einleitung Zu den Mechanismen, die der embryonalen Entw icklung des Gehirns zugrunde liegen, gehören die Bildung von Nervenzellen (Neuronen), ihre Migration, das zielgerichtete Wachstum von Nervenzellfasern und die Bildung von Synapsen. In der embryonalen Großhirnrinde, dem Kortex, befinden sich die neuralen Stammzellennahe der Ventrikel, w o sie sich zunächst vermehren und dann neue Nervenzellen bilden (Neurogenese). Neurale Stammzellen sind stark polarisierte Zellen, deren Zellfortsätze sich über die ganze Dicke der Großhirnrinde erstrecken: An einem Ende stehen sie in Kontakt mit dem darunter liegenden Ventrikel und können so auf Signale in der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) reagieren, am anderen Ende stehen sie in Kontakt mit den Hirnhäuten. © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen A bb. 1: Sche m a tische Da rste llung de r Entwick lung de s Ge hirns in de r Ma us (link s) und im Me nsche n (re chts). Im sich e ntwick e lnde n Ge hirn e ntste he n a us a m Ve ntrik e l positionie rte n ne urona le n Sta m m ze lle n (ra dia le n Glia ze lle n, grün) die Ne rve nze lle n de r Großhirnrinde (bla u). Da be i k önne n a us ne urona le n Sta m m ze lle n durch Ze llte ilung dire k t Ne rve nze lle n ge bilde t we rde n, ode r übe r ba sa le Vorlä ufe r(ge lb) und ra dia le Glia ze lle n (ora nge ). Im Me nsche n und a nde re n Spe zie s m it Ge hirnwindunge n ist die Anza hl de r ba sa le n ra dia le n Glia ze lle n de utlich höhe r a ls in Arte n m it gla tte r Ge hirnobe rflä che (wie de r Ma us) - da s ist a uch ve ra ntwortlich für die höhe re Anza hl a n Ne rve nze lle n. © Ma x -P la nck -Institut für P sychia trie /C a ppe llo Neurale Stammzellen können nicht nur Nervenzellen generieren, sondern auch noch höher spezialisierte Vorläuferzellen, die basalen radialen Gliazellen [1]. Diese Zellpopulation findet sich besonders häufig bei Spezies mit hochgradig gefalteter Großhirnrinde, w ie dem Menschen, w as die Vermutung nahelegt, dass sie eine besondere Rolle bei der Vergrößerung des menschlichen zerebralen Kortex spielen [2, 3]. Diese Vorläuferzellen bringen selbst Neurone hervor, die w andern und den zerebralen Kortex bilden, der aus sechs verschiedenen Zellschichten besteht. Jede dieser Schichten enthält eine spezialisierte Population von Nervenzellen (Abb. 1). Gestörte Entwicklung der Großhirnrinde Die Bedeutung der spezifischen Anordnung verschiedener Nervenzellen in sechs kortikalen Schichten w ird besonders deutlich, w enn die Entw icklung des Großhirns gestört ist: zum Beispiel, w enn die Neurone nicht zu ihrer korrekten Position w andern, sondern an ihrem Entstehungsort nahe der Ventrikel bleiben und so genannte Heterotopien bilden [4, 5]. Fehlbildungen des zerebralen Kortex sind auch das Ergebnis von Beeinträchtigungen der Zellteilung und der Vermehrung von neuralen Stammzellen und führen häufig zu schw eren Formen der Epilepsie (Abb. 2). © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen A bb. 2: Sche m a tische Da rste llung de r m ögliche n ze llulä re n Me cha nism e n, die Fe hlbildunge n de r Großhirnrinde zugrunde lie ge n k önne n. (Fa rbk odie rung de r Ze lltype n wie in Abb. 1). Ve rschie de ne Schritte de r Entwick lung de r Großhirnrinde (obe re Ze ile ) k önne n fe hle rha ft ve rla ufe n und zu dive rse n Entwick lungsstörunge n de s Ge hirns führe n (m ittle re Ze ile ). Die hä ufigste n Folge n sind Entwick lungsve rzöge runge n, inte lle k tue lle Störunge n und Epile psie . © Ma x -P la nck -Institut für P sychia trie /C a ppe llo Interessanterw eise lassen sich die genetischen Ursachen von Fehlbildungen des menschlichen Gehirns in spezifische Klassen unterteilen. Hierzu gehören vor allem Mutationen von Genen, die am Umbau des Zytoskeletts beteiligt sind. Das Zytoskelett ist verantw ortlich für die dynamischen morphologischen Veränderungen der Zellen und ihre Bew egung. Tiermodelle reichen nicht aus Studien an Mäusen mit Genmutationen, die in Patienten mit kortikalen Fehlbildungen identifiziert w urden, reproduzieren die beim Menschen beobachteten Erkrankungen nur teilw eise. Somit sind Tiermodelle nicht ausreichend, um die für diese Erkrankungen verantw ortlichen Mechanismen zu erklären [4, 5]. Einige Mauslinien bilden die Fehlbildungen des zerebralen Kortex zw ar umfassend ab [6] und ermöglichen eine tiefergehende Charakterisierung der molekularen und zellulären Mechanismen, die der Entw icklung dieser Krankheiten zugrunde liegen (Abb. 1). Dennoch zeigen die umfassenden Unterschiede zw ischen den Phänotypen von Menschen und Mäusen, w ie extrem komplex und divers der zerebrale Kortex organisiert ist. Für die Forschungsgruppe ist es daher entscheidend, alternative Modelle zu nutzen, w elche die Untersuchung des Verhaltens menschlicher Zellen ermöglichen. Es ist entscheidend, kortikale Fehlbildungen in Mausmodellen und parallel in menschlichen Modellen abzubilden, w enn man seit Langem bestehende Fragen beantw orten w ill: Etw a die Frage, w elche gemeinsamen oder artspezifischen molekularen und zellulären Mechanismen der Entw icklung kortikaler Fehlbildungen zugrunde liegen, oder die Frage, auf w elche Weise heterotopische Nervenzellen die neuronalen Schaltkreise stören und so zur Epilepsie führen. Heterotopien sind häufig auf bestimmte Hirnareale beschränkt, w as darauf schließen lässt, dass nicht alle Vorläuferzellen und Neurone betroffen sind. In Zusammenarbeit mit Ärzten w urde eine Exom-Analyse an Patienten durchgeführt, die an Heterotopien leiden. Bei dieser Analyse w urden die für Proteine kodierenden © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen Bereiche der DNA von Patienten und ihren gesunden Eltern sequenziert und miteinander verglichen. Die Untersuchung brachte neue Genmutationen ans Licht. Analyse von humanen neuralen Stammzellen und Neuronen Vor einigen Jahren entdeckten Yamanaka und seine Kollegen eine Reihe von Transkriptionsfaktoren, die den zellulären Phänotyp einer Körperzelle in den einer pluripotenten Stammzelle zurückverw andeln können. Da man sie mit bestimmten Faktoren zu verschiedenen Zelltypen differenzieren kann, bieten diese induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) in nie dagew esener Weise die Möglichkeit, spezifische Modelle zur Untersuchung von Krankheitsbildern beim Menschen auf unterschiedlichem genetischem Hintergrund zu entw ickeln. Außerdem können mit ihrer Hilfe neue Medikamente zur Therapie entdeckt und getestet w erden. Die Möglichkeit der zellulären Reprogrammierung von Körperzellen hat das Modellieren menschlicher Erkrankungen und Fehlbildungen revolutioniert [7]. In kürzester Zeit haben sich reprogrammierte Zelllinien zu einer unverzichtbaren und flexiblen zellulären Plattform sow ohl für die Grundlagenforschung als auch für die regenerative Medizin entw ickelt. So konnte ein passendes Modell zur Entw icklung des menschlichen Gehirns etabliert w erden, das die einzigartige Möglichkeit bietet, Modellsysteme von Fehlbildungen zu validieren und sich der Komplexität des menschlichen Gehirns anzunähern (Abb. 3). A bb. 3: Sche m a zur He rste llung de r hum a ne n 2D und 3D Mode llsyste m e . Von P a tie nte n m it Entwick lungsstörunge n de s Ge hirns k önne n Körpe rze lle n e ntnom m e n und zu induzie rte n pluripote nte n Sta m m ze lle n (iP SC s) re progra m m ie rt we rde n. Die se we rde n zu ne urona le n Sta m m ze lle n und Ne rve nze lle n diffe re nzie rt (se pa ra t ode r in Form von k om ple x e re n R ose tte n). De s W e ite re n k önne n ze re bra le O rga noide a us iP SC s ge wonne n we rde n - da s be ste m om e nta n ve rfügba re Mode llsyste m für da s sich e ntwick e lnde m e nschliche Ge hirn. Die unte rste Ze ile ze igt Be ispie lbilde r für die je we ilige n Schritte . © Ma x -P la nck -Institut für P sychia trie /C a ppe llo Menschliche IPS-Zellen w erden aus den Körperzellen von Patienten generiert und können in neuronale Stammzellen und Neurone differenziert w erden. Mit Hilfe des CRISPR/Cas9-Systems, einer kürzlich entw ickelten Technologie zum Genome-Editing, können Kontroll- und Patientenzelllinien mit demselben genetischen Hintergrund hergestellt w erden, die sich nur durch Mutationen in bestimmten Genen unterscheiden. So kann die Rolle dieser spezifischen Gene in der Entw icklung des Gehirns untersucht w erden. Dadurch lassen sich © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen allgemeine zelluläre Mechanismen identifizieren, die der Bildung von Heterotopien zugrunde liegen. Außerdem können die zellulären und funktionalen Eigenschaften der umprogrammierten neuronalen Stammzellen und Neurone untersucht und so verschiedene Entw icklungsprozesse eingehend unter die Lupe genommen w erden. Das endgültige Ziel ist es, die elektrophysiologischen Eigenschaften von Nervenzellen innerhalb des menschlichen Zellmilieus zu analysieren. “Mini-Gehirne“ liefern neue Erkenntnisse Gleichzeitig können aus Patientenzellen zerebrale Organoide oder „Mini-Gehirne“ als dreidimensionale Strukturen entw ickelt w erden: Die Zellen w erden zunächst in pluripotente Stammzellen reprogrammiert. Aus diesen Stammzellen entw ickeln sich in vitro komplexe 3D-Strukturen, die Gehirn-spezifische Zelltypen enthalten. Die so entstandenen Zellverbände spiegeln in einer sehr vereinfachten Form die Gehirnentw icklung, speziell des Gehirns des Patienten, w ider. Aufgrund ihrer einfachen Gew innung und der Ähnlichkeit mit menschlichen Organen öffnen Organoide neue Möglichkeiten für die translationale Forschung, der w eitestgehend direkten Übertragung von Forschungserkenntnissen in die klinische Anw endung. Zerebrale Organoide oder Mini-Gehirne gelten als vielversprechend für die regenerative Medizin. Sie sollen Medikamententests erleichtern und neue Erkenntnisse über die molekularen und zellulären Eigenschaften des Gehirns liefern. Im Hinblick auf die oben beschriebenen Fragestellungen können diese Technologien dazu beitragen, die W issenslücke zu schließen, die zw ischen den Resultaten aus Mausmodellen und dem W issen über Fehlbildungen im menschlichen Gehirn klafft. Die Identifikation eines Netzw erks von Genen und Signalw egen, die für kortikale Fehlbildungen verantw ortlich sind, w ird - zusammen mit dem Verständnis für die funktionalen Aspekte dieser Krankheiten - w egw eisend sein bei der Suche nach gemeinsamen molekularen und zellulären Mechanismen. Das kann dazu beitragen, neue Strategien für einen therapeutischen Ansatz zu entw ickeln. Das übergeordnete Ziel der Max-Planck Forschungsgruppe ist es, Fehlbildungen zu korrigieren und ein diagnostisches, genetisches Screening zu entw ickeln, das sehr frühzeitig die Patienten identifiziert, die das Risiko in sich tragen, eine Epilepsie zu entw ickeln. Literaturhinweise [1] Götz, M.; Huttner, W.B. The cell biology of neurogenesis Nature Review s Molecular Cell Biology 6, 777-788 (2005) [2] Fietz, S.A.; Kelava, I.; Vogt, J.; Wilsch-Bräuninger, M.; Stenzel, D.; Fish, J.L.; Corbeil, D.; Riehn,A.; Distler, W.; Nitsch, R.; Huttner, W.B. OSVZ progenitors of human and ferret neocortex are epithelial-like and expand by integrin signaling Nature Neuroscience 13, 690-699 (2010) [3] Hansen, D.V.; Lui, J.H.; Parker, P.R.L.; Kriegstein, A.R. Neurogenic radial glia in the outer subventricular zone of human neocortex Nature 464, 554-561 (2010) © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2016/2017 | Cappello, Silvia | Mini-Gehirne aus menschlichen Zellen: Eine neue Technologie zur Erforschung von Fehlbildungen der Großhirnrinde des Menschen [4] Guerrini, R.; Parrini, E. Neuronal migration disorders Neurobioloogy of Diseases 38, 154-166 (2010) [5] Cortical neuronal migration mutants suggest separate but intersecting pathways Bielas, S.;, Higginbotham, H.; Koizumi, H.; Tanaka, T.; Gleeson, J.G. Annual Review of Cell Developmental Biology 20, 593-618 (2004) [6] Bizzotto, S.; Francis, F. Morphological and functional aspects of progenitors perturbed in cortical malformations Frontiers in Cellular Neuroscience 9, 30 (2015) [7] Harris, J.; Srubek Tomassy, G.; Arlotta, P. Building blocks of the cerebral cortex: from development to the dish W iley Interdisciplinary Review of Developmental Biology 4529-4544 (2015) © 2017 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/6